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Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
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EINTRAGUNG NR. 26

Übersicht: Die Welt existiert. Aussatz. 41°.

Morgen. Durch die Zimmerdecke blickt der Himmel zu mir herein, fest wie immer, rund, rotwangig. Ich glaube, ich würde mich weniger wundern, wenn ich statt dessen eine viereckige Sonne, Menschen in bunten Kleidern aus Tierwolle und undurchsichtige Steinwände erblicken würde. Sie existiert also noch, die Welt, unsere Welt. Vielleicht ist es aber nur die Trägheit der Materie — der Generator ist schon abgestellt, doch die Getriebe knirschen und drehen sich noch — zwei Umdrehungen, drei, und nach der vierten stehen sie still...
Kennen Sie dieses seltsame Gefühl: Man wacht mitten in der Nacht auf, öffnet die Augen, blickt in die Finsternis, glaubt, man habe sich verirrt. Hastig tastet die Hand ins Dunkel, sucht die Wand, die Lampe, den Stuhl. So suchte ich in der Staatszeitung nach etwas — da, da war es: Gestern fand die von allen Nummern ungeduldig erwartete Feier der Einstimmigkeit statt. Der Wohltäter, der schon so oft seine unfehlbare Weisheit bewiesen hat, wurde zum achtundvierzigsten Male einstimmig wieder gewählt. Einige Feinde des Glückes versuchten die Feier zu stören. Durch ihr staatsfeindliches Verhalten haben sie das Recht verwirkt, Bausteine des gestern erneuerten Fundaments des Einzigen Staates zu sein. Ihren Stimmen Bedeutung beizumessen, wäre genauso töricht, wie wenn man glauben würde, ein Husten im Konzertsaal gehöre zu einer heroischen Sinfonie. Jeder von uns weiß das. Oh, Allerweisester! Sind wir wirklich gerettet, trotz allem, was geschehen? In der Tat, was könnte man auf diesen kristallklaren Syllogismus erwidern?
Dann folgten noch drei Zeilen:
Heute um 12 Uhr wird die Staatsverwaltung gemeinsam mit dem Gesundheitsamt und den Beschützern über einen wichtigen Staatsakt beraten.
Nein, noch standen die Mauern, ich fühlte sie. Das seltsame Empfinden, ich hätte mich verirrt, war mit einemmal verschwunden, es kam mir nicht mehr sonderbar vor, dass ich einen blauen Himmel und eine kreisrunde Sonne sah. Alle gingen wie sonst zur Arbeit.
Festen Schrittes eilte ich über den Prospekt. Ich kam zur Kreuzung und bog in eine Seitenstraße ein. Merkwürdig, dachte ich, die Leute machen einen Bogen um das Eckgebäude, als wäre dort ein Rohr gebrochen, als schösse kaltes Wasser auf den Gehsteig.
Noch zehn, fünf Schritte — und ich war gleichfalls mit kaltem Wasser übergossen, ich taumelte und sprang auf den Fahrdamm... etwa zwei Meter über mir klebte ein viereckiges Stück Papier an der Mauer, und darauf las ich in giftgrünen Lettern das unverständliche Wort MEPHI. Vor dem Plakat ein krummer Rücken, durchsichtige, flügelähnliche Ohren, die vor Zorn oder vor Erregung bebten. Den rechten Arm erhoben, den linken wie einen zerbrochenen Flügel hilflos nach hinten streckend, sprang er in die Höhe, um das Plakat abzureißen, doch er konnte es nicht erreichen.
Wahrscheinlich dachte jeder der Vorübergehenden: Wenn ich zu ihm hingehe und ihm helfe, dann denkt er bestimmt, ich fühlte mich irgendwie schuldig, und deswegen... Ich gestehe, auch ich hatte diesen Gedanken. Doch ich erinnerte mich daran, wie oft er mein Schutzengel gewesen, wie oft er mich gerettet hatte, und so trat ich entschlossen auf ihn zu, streckte die Hand aus und riss das Plakat herunter.
S wandte sich um, seine Augen bohrten sich in mich hinein, bis auf den tiefsten Grund, suchten und fanden dort etwas. Dann deutete er mit einer leichten Bewegung der linken Augenbraue auf die Mauer, wo das viereckige Papier mit dem Wort MEPHI gehangen hatte, und über sein Gesicht huschte ein Lächeln, das zu meiner Verwunderung fast heiter wirkte. Doch wieso wunderte ich mich eigentlich darüber? Die beängstigend langsam ansteigende Temperatur der Inkubationszeit ist dem Arzt stets unangenehmer als ein Ausschlag und 40° Fieber — denn in diesem Fall sieht man wenigstens sofort, um welche Krankheit es sich handelt. Das Wort MEPHI, das heute auf allen Mauern stand, war wie ein Ausschlag. Ich verstand das Lächeln von S...
In der Untergrundbahn sah ich überall diesen weißen, entsetzlichen Ausschlag — auf Wänden, Bänken und Spiegeln klebten Zettel mit der Aufschrift MEPHI. Die Nummern saßen stumm auf ihren Plätzen. In der Stille konnte ich das Geräusch der Räder deutlich hören; es klang wie das Rauschen entzündeten Blutes. Einer stieß seinen Nachbarn mit der Schulter an, der darauf zusammenfuhr und ein Paket mit Papieren fallen ließ. Die Nummer links neben mir las in einer Zeitung, immer die gleiche Zeile, und die Zeitung zitterte leise in seinen Händen. Überall, in Rädern, Händen, Zeitungen, Augenwimpern schlug ein Puls, schneller, immer schneller, und wenn ich heute mit I dorthin ginge, würde das Thermometer vielleicht auf 39, 40, 41 Grad steigen.
Auf der Werft herrschte eine drückende, von dem Summen eines fernen, unsichtbaren Propellers kaum unterbrochene Stille. Die Maschinen standen schweigend und finster da. Nur die Kräne bewegten sich langsam, lautlos, wie auf Zehenspitzen. Sie senkten sich, packten mit ihren Greifern
blaue Klumpen gefrorener Luft und luden sie in die Zisternen des Integral. Wir trafen Vorbereitungen zum Probeflug.
»Ob wir wohl noch diese Woche fertig werden?« fragte ich den zweiten Konstrukteur. Er hat ein Gesicht wie aus Porzellan, auf das Augen und Lippen wie blaue und rosa Blümchen gemalt sind; aber heute waren die Blumen verblichen, wie ausgewaschen.
Wir rechneten. Plötzlich verstummte ich und riss vor Entsetzen den Mund auf. Ganz oben unter der Kuppel, auf dem blauen Klumpen Luft in den Greifern des Krans, schimmerte ein winziges weißes Quadrat, ein Plakat. Ich zitterte am ganzen Leibe — wahrscheinlich vor Lachen. Ja, ich hörte, wie ich lachte. (Wissen Sie, wie das ist, wenn man sein eigenes Lachen hört?)
»Stellen Sie sich vor«, sagte ich zu dem zweiten Konstrukteur, »Sie säßen in einem altmodischen Flugzeug, der Höhenmesser zeigt auf 5000, der eine Flügel ist gebrochen, Sie stürzen wie ein Stein in die Tiefe, und unterwegs rechnen Sie aus: morgen von 12 bis 2, von 2 bis 6, um 6 Abendessen... Lächerlich, nicht wahr? Genauso unsinnig wie unsere ganze Rechnerei.« Die blauen Blümchen öffneten sich weit. Wenn ich aus Glas wäre, könnte er sehen, dass ich in drei, vier Stunden... Was würde er wohl dazu sagen?

 

EINTRAGUNG NR. 27

Übersicht: Keine Übersicht — ich kann nicht.

Ich bin allein in den endlosen unterirdischen Gängen. Über mir ein stummer Betonhimmel. Irgendwo tröpfelt Wasser von den Steinen herab. Da ist die schwere, undurchsichtige Tür, dahinter ein dumpfes Geräusch. Sie hat gesagt, sie werde pünktlich um 16 Uhr zu mir kommen. Doch es ist schon fünf, zehn, fünfzehn Minuten nach 16 Uhr, und niemand ist zu sehen. Ich will noch fünf Minuten warten. Wenn sie dann nicht kommt...
Irgendwo tröpfelt Wasser von den Steinen herab. Traurig, glücklich denke ich: Gerettet! Ich kehre um und gehe langsam durch den Korridor zurück. Das zitternde Licht der Deckenlampen verblasst...
Plötzlich wird hinter mir eine Tür aufgerissen, schnelle Schritte, die dumpf und weich von den Wänden widerhallen, nähern sich — und sie steht vor mir, ein wenig außer Atem vom schnellen Laufen.
»Ich wusste, dass du kommen würdest, ich wusste es!« Sie blickte auf und... Wie soll ich beschreiben, wie es ist, wenn ihre Lippen die meinen berühren? Durch welche Formel soll ich den Sturm in meiner Seele ausdrücken, der alles, alles außer ihr, hinwegfegt? Ja, in meiner Seele — lacht darüber, wenn ihr wollt. Sie schlug langsam die Augen auf und sagte leise: »Genug... später. Wir müssen gehen.« Sie öffnete eine Tür. Alte, ausgetretene Stufen, ein unerträglicher Lärm, Pfeifen, Licht...
Inzwischen sind fast vierundzwanzig Stunden vergangen. Ich habe mich zwar ein wenig beruhigt, aber immer noch
fällt es mir schwer, meine Erlebnisse einigermaßen genau zu schildern. In meinem Kopf sieht es aus, als wäre eine Bombe explodiert — geöffnete Münder, Flügel, Schreie, Blätter, Worte, Steine, ein wüstes Durcheinander. Ich entsinne mich, dass mein erster Gedanke war: Zurück! Schnell zurück! Denn ich wusste: Während ich in den unterirdischen Gängen wartete, zerstörten die Bewohner des unbekannten Landes die Grüne Mauer und brachen in unsere Stadt ein, die wir mit großer Mühe von der niedrigen Welt gesäubert hatten. Etwas Ähnliches hatte ich wohl zu I gesagt; sie lächelte:
»Aber nein! Wir sind nur hinter der Grünen Mauer.« Da öffnete ich die Augen und erblickte ein Reich, das bisher jeder nur durch das trübe Glas der Grünen Mauer gesehen hatte.
Die Sonne schien... doch es war nicht unsere gleichmäßig über die spiegelnde Fläche der Straße verteilte Sonne, es waren lebendige Splitter, tanzende Flecke, die die Augen blendeten und mich schwindlig machten. Kerzengerade Bäume, hoch wie der Himmel, stumme grüne Fontänen, knorrige Äste... und all das bewegte sich, flüsterte und rauschte. Dicht vor mir sprang ein struppiges Knäuel auf und stürzte in wilder Flucht davon. Ich blieb wie angewurzelt stehen, ich konnte nicht mehr weiter, denn unter meinen Füßen war keine glatte, ebene Fläche, sondern etwas widerlich Weiches, Lebendiges, Grünes. Ich war wie betäubt, ich glaubte, ich müsse ersticken — ja, ersticken, das ist das richtige Wort. Unbeweglich stand ich da und hielt mich mit beiden Händen an einem schwankenden Ast fest.
»Fürchte dich nicht! Das ist nur am Anfang so, das geht vorüber! Nur Mut!« sagte I. Auf dem wie toll hüpfenden grünen Netz entdeckte ich
neben I ein scharfes, wie aus Papier geschnittenes Profil... Der Doktor! Ich erkannte ihn sofort. Die beiden nahmen mich an den Händen und zogen mich lachend mit sich fort. Ich stolperte weiter, glitt alle Augenblicke aus. Um mich Gekrächze, Moos, Erdhaufen, Adlerschreie, Äste, Baumstämme, Flügel, Blätter, schrille Pfiffe... Der Wald lichtete sich, ich sah eine große Wiese und viele Menschen, oder, besser gesagt, Lebewesen.
Jetzt komme ich zu dem, was am schwersten zu beschreiben ist. Denn was ich auf dieser Lichtung erblickte, ging über alle Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus. Jäh wurde mir klar, warum I stets so hartnäckig geschwiegen hatte, denn ich hätte ihr niemals geglaubt, nein, selbst ihr nicht. Es ist durchaus möglich, dass ich morgen auch mir selbst und meinen Aufzeichnungen nicht mehr glaube. Um einen kahlen Felsblock inmitten der Wiese drängten sich drei- oder viertausend ... Menschen. Nun, nennen wir sie Menschen, anders kann man diese Geschöpfe wohl nicht bezeichnen. Anfangs erkannte ich nur unsere blaugrauen Uniformen unter der Menge, und in der nächsten Sekunde entdeckte ich neben ihnen schwarze, rote, gelbe, braune, graue und weiße Menschen — ja, es konnten nur Menschen sein. Sie waren alle ohne Kleider und hatten ein kurzes, glänzendes Fell wie das ausgestopfte Pferd im Prähistorischen Museum. Aber die Weibchen hatten die gleichen Gesichter wie unsere Frauen, zart und rosig, und ihre Brüste, groß, fest, von schöner geometrischer Form, waren nicht behaart. Bei den Männchen war nur ein Teil des Gesichts nicht mit Haaren bedeckt, wie bei unseren Ahnen.
Dieser Anblick war so verblüffend, dass ich stehen blieb und sie anstarrte. Plötzlich war ich allein, I stand nicht mehr neben mir; ich
konnte mir nicht erklären, wie und wohin sie verschwunden war. Rings um mich nur diese Geschöpfe, deren Fell in der Sonne wie Atlas glänzte. Ich fasste einen von ihnen an der warmen, dunkelbraunen Schulter: »Hören Sie, um des Wohltäters willen, haben Sie gesehen, wohin sie gegangen ist? Sie war eben noch hier... « Er warf mir einen finsteren Blick zu: »Pst! Leise!« und deutete auf den Felsblock in der Mitte der Lichtung. Dort oben stand sie, hoch über den Köpfen der Menge. Die Sonne schien mir genau ins Gesicht, so dass ich I als kohlschwarze, eckige Silhouette auf der blauen Leinwand des Himmels sah. Niedrige Wolken flogen vorbei, und mir war, als glitten nicht die Wolken über den Himmel, sondern der Felsblock, und darauf sie selbst, und mit ihr die Menschenmenge und die ganze Lichtung, als glitte alles lautlos dahin wie ein Schiff. Die Erde wurde leicht, ganz leicht und schwamm mir unter den Füßen weg ... »Brüder...«, sprach I, »Brüder! Ihr alle wisst, dass sie in der Stadt hinter der Mauer den Integral bauen. Ihr wisst, dass der Tag naht, da wir diese Mauer — und alle Mauern — niederreißen werden, auf dass der frische, grüne Wind die ganze Erde erfasse. Aber der Integral wird diese Mauern dort hinauftragen, zu tausend anderen Welten, die euch in der Nacht als helle Feuer durch die schwarzen Blätter zublinken... «
Um den Felsblock wogte, schäumte, heulte es: »Nieder mit dem Integral! Nieder!«
»Nein, Brüder, nein! Der Integral muss unser werden. Wenn er zum ersten Mal in den Himmelsraum emporjagt, werden wir an Bord sein. Denn der Erbauer des Integral ist einer der Unseren. Er hat den Mauern den Rücken gekehrt, er ist mit mir hierher gekommen, um bei euch zu sein. Es lebe der Erbauer des Integral!«
Eine Sekunde — und ich stand irgendwo hoch oben, unter mir Köpfe, schreiende Münder, erhobene Arme. Ein seltsames, berauschendes Gefühl: Ich war über alle anderen erhoben, ich war ein Einzelwesen, eine Welt, ich hatte aufgehört, eine Nummer zu sein...
Müde und glücklich wie nach einer Umarmung sprang ich von dem Felsen herunter. Sonne, Stimmen von oben und I.s Lächeln. Eine goldhaarige, nach Kräutern duftende Frau mit atlasglänzendem Körper trat auf mich zu. Sie hielt eine hölzerne Schale in den Händen, setzte sie an die roten Lippen, und dann reichte sie sie mir. Ich trank gierig, mit geschlossenen Augen, um das Feuer in mir auszulöschen, ich trank süße, kalte Funken. Und das Blut in meinen Adern, die ganze Welt, kreiste tausendmal schneller, die leichte Erde flog wie eine Daunenfeder. Und alles wurde schwerelos, einfach und klar.
Plötzlich erkannte ich auf dem Felsblock die riesigen Buchstaben MEPHI. Ich wunderte mich nicht darüber, denn das war ja der starke Faden, der alles verband. Dann sah ich eine Zeichnung, ich glaube, ebenfalls auf diesem Stein: ein geflügelter Jüngling mit durchsichtigem Körper, und an der Stelle des Herzens saß eine rotglühende Kohle. Ich begriff, was diese Kohle bedeutete, nein, ich fühlte es, so, wie ich jedes Wort von I (sie stand wieder auf dem Felsblock und sprach) fühlte, ohne zuzuhören. Ich fühlte, dass alle im gleichen Takt atmeten, dass alle irgendwohin flogen, wie damals die Vögel über der Grünen Mauer... In dem atmenden Dickicht der Leiber rief eine tiefe Stimme:
»Aber das ist ja Wahnsinn!«
Ich glaube, ich — ja, ich bin ganz sicher, ich war es — sprang auf den Felsblock und schrie: »Ja, es ist Wahnsinn! Alle müssen den Verstand verlieren, alle, alle — so schnell wie möglich! Es muss sein, ich weiß es!«
I stand lächelnd an meiner Seite. In mir glühte eine rote Kohle... Von dem, was dann geschah, blieben nur kleine Splitter in meinem Gedächtnis haften. Langsam glitt ein Vogel vorbei. Ich sah, dass er lebendig war wie ich: er wandte den Kopf nach rechts und nach links und starrte mich mit seinen schwarzen, runden Augen an...
Ein Rücken, mit glänzendem, elfenbeinfarbenem Fell bedeckt. Ein dunkles Insekt mit winzigen durchsichtigen Flügeln kroch über diesen Rücken. Der Rücken zuckte, um den Käfer abzuschütteln, zuckte ein zweites Mal... Verschlungenes grünes Gitterwerk — Blätter. In ihrem Schatten lagen Menschen und kauten etwas, das mich an die legendäre Nahrung unserer fernen Ahnen erinnerte — eine lange, gelbe Frucht und etwas, das dunkel aussah. Eine Frau gab mir davon, und das belustigte mich, denn ich wusste nicht, ob dieses Zeug überhaupt genießbar war. Dann wieder eine Menschenmenge, Köpfe, Beine, Arme, Münder. Eine Sekunde lang erkannte ich die Gesichter ganz deutlich — aber im nächsten Augenblick waren sie verschwunden, zerplatzt wie Seifenblasen. Durchsichtige, flügelähnliche Ohren huschten vorüber — oder kam mir das nur so vor? Ich zupfte I am Ärmel. Sie wandte sich um: »Was ist?« »Er ist hier... « »Wer?«
»S .. Er war eben hier .. in der Menge... « Die kohlschwarzen feinen Brauen hoben sich, sie lächelte. Ich konnte nicht verstehen, warum sie lachte. »Begreifst du denn nicht, was es bedeutet, wenn er oder irgendeiner von ihnen hier ist?" flüsterte ich erregt.
»Was willst du? Keinem von ihnen würde es je in den Sinn kommen, uns hier zu suchen. Denke doch einmal nach! Hättest du dir vorstellen können, dass wir hier sind, dass so etwas überhaupt möglich ist? In der Stadt können sie uns vielleicht festnehmen, aber nicht hier. Du träumst.«
Sie lächelte übermütig, und ich lachte gleichfalls. Die Erde unter meinen Füßen schwamm, trunken, heiter und leicht...

 

EINTRAGUNG NR. 28

Übersicht: Beide. Entropie und Energie. Ein undurchsichtiger Körperteil.

Liebe Leser, wenn Ihre Welt der Welt unserer fernen Ahnen gleicht, dann stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten irgendwo im Ozean den sechsten, siebten Weltteil, irgendein Atlantis, entdeckt und erblickten dort seltsame Städtelabyrinthe, Menschen, die ohne Flügel und ohne Flugzeug in der Luft schweben, Steine, die von der bloßen Kraft des Blickes emporgehoben werden... Nicht einmal mit der glühendsten Phantasie hätten Sie sich dergleichen ausmalen können. So etwa war mir gestern zumute, denn seit dem 200jährigen Krieg war noch nie einer von uns hinter der Grünen Mauer, wie ich Ihnen bereits sagte. Ich weiß, es ist meine Pflicht, Ihnen ausführlich von dieser sonderbaren Welt zu berichten, die sich mir gestern auftat. Aber ich bin heute einfach nicht fähig, darauf zurückzukommen. Neues, immer wieder Neues stürmt auf mich ein, eine wahre Flut von Ereignissen, und ich vermag nichts davon festzuhalten...
Als erstes hörte ich Stimmengewirr vor meiner Tür und erkannte die Stimme von I, geschmeidig, und eine andere, monoton, starr wie ein hölzernes Lineal — die von U. Dann sprang die Tür krachend auf, und beide stürzten zugleich in mein Zimmer.
I stützte die Hand auf die Lehne meines Sessels und sah die andere mit bösem Lächeln an:
»Hören Sie«, sagte sie zu mir, »diese Frau will Sie offenbar vor mir beschützen. Sie tut, als wären Sie ein kleines Kind.«
Darauf entgegnete die andere mit zitternden Kiemen: »Er ist ja auch ein Kind! Darum sieht er nicht, was Sie von ihm wollen und dass Sie nur Komödie spielen. Jawohl! Und ich fühle mich verpflichtet...«
Einen Augenblick lang sah ich im Spiegel die gekrümmte Linie meiner Brauen. Ich sprang auf, schüttelte meine behaarten Fäuste und schrie: »Hinaus! Sofort hinaus!«
Die Kiemen schwollen an, verfärbten sich ziegelrot, fielen sofort wieder zusammen und wurden aschfahl. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor; sie schluckte nur und ging hinaus. Ich stürzte auf I zu: »Das kann ich mir nie verzeihen, nie! Sie hat es gewagt, dich zu kränken... Aber konntest du dir denn nicht denken, dass ich glaubte, sie wolle... Sie hat das nur getan, weil sie sich auf mich einschreiben möchte, aber ich... «
»Sie wird keine Zeit mehr dazu haben. Und wenn es tausend solcher Frauen wie sie gäbe. Ich weiß, dass du nicht diesen tausend glaubst, sondern mir allein. Denn nach dem, was gestern geschehen ist, bin ich ganz dein, wie du es gewollt hast. Ich habe mich in deine Hände gegeben, du kannst in jedem beliebigen Augenblick... «
»Was kann ich in jedem beliebigen Augenblick?« plötzlich begriff ich, was sie meinte. Das Blut schoss mir in Wangen und Ohren, und ich schrie: »Hör auf! Nie mehr ein Wort davon! Du weißt doch, dass mein früheres Ich nicht mehr existiert!« »Ach, der Mensch ist wie ein Roman; bevor man nicht die letzten Seiten gelesen hat, kennt man das Ende nicht. Wäre es anders, dann lohnte es das Lesen gar nicht...«
I strich mir übers Haar. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich spürte an ihrer Stimme, dass sie in weite Fernen blickte, dass sie mit den Augen einer Wolke folgte, die langsam und lautlos über den Himmel zog, ohne dass man wusste, wohin.
Nach einer Weile schob sie mich mit einer zärtlichen Handbewegung von sich fort:
»Höre, ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen. Weißt du, dass seit heute Abend in allen Auditorien Veränderungen vor sich gehen?« »Veränderungen?«
»Ja. Ich kam vorhin vorbei und sah drinnen lange Tische stehen und Ärzte in weißen Kitteln.« »Was mag das bedeuten?«
»Ich weiß es nicht, keiner weiß es bis jetzt, und das ist das Schlimmste dabei... Aber sie kommen vielleicht zu spät...«
Ich kann schon längst nicht mehr unterscheiden, wer sie und wer wir sind, und so konnte ich nicht sagen, was mir lieber war: ob sie zu spät oder nicht zu spät kommen sollten. Nur eines war mir klar: I stand jetzt dicht am Rande des Abgrunds.
»Aber das ist ja Wahnsinn«, sagte ich. »Ihr gegen den Einzigen Staat. Es ist genauso, als wollte man die Hand
gegen die Gewehrmündung pressen, um die Kugel zurückzuhalten. Das ist heller Wahnsinn!«
Sie lächelte: »Alle müssen den Verstand verlieren, so schnell wie möglich! Erst neulich hat das jemand gesagt. Erinnerst du dich noch?«
Ja, so stand es in meinen Notizen. Also war es wirklich so gewesen. Ich blickte sie schweigend an; das dunkle Kreuz auf ihrem Gesicht trat heute besonders deutlich hervor.
»I, Liebste, lass uns handeln, ehe es zu spät ist... Wenn du willst, werde ich alles aufgeben, alles vergessen und mit dir in das Land hinter der Grünen Mauer fliehen, zu diesen... ich weiß nicht, wer sie sind.« Sie schüttelte den Kopf. Daran erkannte ich, dass es schon zu spät war. Sie erhob sich und wollte gehen. Ich nahm ihre Hand:
»Nein! Bleib noch ein wenig, nur noch ein wenig, um des Wohl...«
Sie hob meine Hand langsam zum Licht, meine behaarte Hand, die ich so sehr hasste. Ich wollte sie ihr entwinden, doch sie hielt sie fest.
»Deine Hand... Du weißt ja nicht — nur wenige wissen es —, dass Frauen von hier, aus unserer Stadt, jene Menschen liebten. Auch in dir ist wahrscheinlich ein Tropfen Sonnen- und Waldblut. Vielleicht habe ich dich deswegen... «
Pause. Seltsam; diese Pause, diese Leere, dieses Nichts ließ mein Herz so wild pochen, dass es fast zersprang. Ich schrie: »Nein, ich lasse dich nicht gehen, nicht bevor du mir von ihnen erzählt und mir gesagt hast, warum du sie so liebst. Ich weiß nicht einmal, wer sie sind und woher sie kommen. Wer sind sie? Die Hälfte, die wir verloren haben... H und O — aber wenn h2O entstehen soll, Bäche, Meere, Wasserfälle, Wogen, Strudel, dann müssen sich die beiden Hälften vereinigen... « Ich kann mich noch deutlich an jede ihrer Bewegungen erinnern. Ich erinnere mich, dass sie mein gläsernes Dreieck vom Tisch nahm und es gegen ihr Gesicht presste, während sie sprach. Auf ihrer Wange blieb eine weiße Spur zurück, die sich rötete und dann verschwand. Doch ich kann mich nicht ihrer Worte entsinnen, nur einzelner Bilder und Farben. Ich glaube, sie erzählte etwas vom 200jährigen Krieg. Zuerst sah ich rote Flecke auf grünem Gras, auf der dunklen Erde, auf dem bläulich-weißen Schnee, rote Lachen, die nicht trocknen wollten. Dann gelbes, von der Sonne versengtes Gras, nackte, gelbe, zerzauste Menschen und gelbe, struppige Hunde — und schließlich aufgedunsene Kadaver, vielleicht waren es Hunde, vielleicht auch Menschen... Das alles spielte sich natürlich jenseits der Grünen Mauer ab, denn die Stadt hatte bereits gesiegt, in der Stadt gab es damals schon unsere künstliche Nahrung.
Ich hörte das Rauschen schwerer, schwarzer Falten, die von der Erde bis zum Himmel reichten — Rauchsäulen über brennenden Wäldern und Dörfern. Dumpfes Getöse: endlose Scharen von Menschen werden in die Stadt getrieben, um mit Gewalt gerettet zu werden und das Glück zu lernen.
»Hast du das alles gewusst?« fragte sie mich. »Ja, fast alles.«
»Aber du wusstest nicht, dass eine kleine Gruppe von ihnen trotzdem unversehrt geblieben ist und jenseits der Mauern weiterlebte. Nackt flohen sie in die Wälder. Dort gingen sie bei Bäumen, Tieren, Vögeln, Blumen und bei der Sonne in die Schule. Im Lauf der Zeit bedeckte sich ihr Körper mit Haaren, aber unter diesem Fell bewahrten
sie ihr heißes, rotes Blut. Ihr seid viel schlimmer als sie, ihr seid mit Zahlen bewachsen, ihr wimmelt von Zahlen wie von Läusen. Man muss alles von euch herunterreißen und euch nackt in die Wälder jagen. Ihr müsst lernen, vor Angst, vor Freude, vor Hass und vor Wut, vor Kälte zu zittern, ihr müsst das Feuer anbeten. Und wir, die Mephi, wir wollen... « »Mephi, was ist das?«
»Mephi? Das ist ein uralter Name, das ist jener, der... Auf dem Felsblock dort ist ein Jüngling dargestellt, erinnerst du dich noch? Nein, ich will es dir lieber in deiner Sprache erklären, damit du es besser verstehst. Es gibt zwei Kräfte in der Welt, Entropie und Energie. Die eine schafft selige Ruhe und glückliches Gleichgewicht, die andere führt zur Zerstörung des Gleichgewichts, zu qualvoll-unendlicher Bewegung. Unsere oder, richtig gesagt, eure Vorfahren, die Christen, haben die Entropie als Gott verehrt. Wir aber, die Antichristen, wir... « In diesem Augenblick klopfte jemand leise an die Tür, und jener Mensch mit der gewölbten Stirn, der mir einmal Nachricht von I gebracht hatte, trat ein. Er eilte auf uns zu, blieb stehen, rang nach Luft und brachte lange kein Wort heraus. Er musste aus Leibeskräften gerannt sein. »Nun, was gibt's? Was ist geschehen?« fragte I und nahm ihn am Arm.
»Sie kommen... hierher... «, stieß er endlich hervor. »Beschützer... mit ihnen jener — jener Bucklige.« »S?«
»Ja! Sie sind schon im Nachbarhaus. Gleich werden sie hier sein! Schnell, schnell!«
»Unsinn! Wir haben noch Zeit...« Sie lachte, in ihren Augen tanzten lustige kleine Flammen. Es war entweder tollkühner Mut oder etwas anderes, das ich nicht begriff.
»I, ich bitte dich«, sagte ich flehend, »um des Wohltäters willen! Verstehst du denn nicht...«
»Um des Wohltäters willen?« Ein spöttisches Lächeln. »Nun, dann um meinetwillen ... ich bitte dich, geh.« »Ich habe eigentlich noch etwas mit dir zu besprechen ... aber gut, verschieben wir's auf morgen... « Sie nickte mir vergnügt (ja, vergnügt!) zu und ging mit dem Mann hinaus. Ich war allein.
Schnell an den Schreibtisch. Ich schlug mein Manuskript auf und nahm die Feder in die Hand, damit sie mich bei dieser Arbeit fänden, die dem Nutzen des Einzigen Staates diente. Plötzlich bewegte sich jedes einzelne Haar auf meinem Kopf, als wäre es lebendig: »Wenn sie das Manuskript in die Hand nehmen und eine Seite lesen, eine von den letzten? Was dann?«
Ohne mich zu rühren, saß ich am Schreibtisch. Die Wände bebten, die Feder zitterte in meiner Hand, die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen... Verstecken? Aber wo? — alles war ja aus Glas! Verbrennen? Man hätte es vom Korridor und von den anderen Zimmern aus gesehen. Außerdem hatte ich nicht die Kraft, dieses Stück meiner selbst, das mir vielleicht teurer ist als alles übrige, zu vernichten. Nein, ich konnte es nicht. Stimmen, Schritte im Korridor. Da waren sie. Ich konnte gerade noch einen Stoß Blätter ergreifen und mich draufsetzen. Jetzt war ich an den Sessel geschmiedet, der mit jedem einzelnen Atom bebte. Der Boden meines Zimmers war wie das Deck eines Schiffes, er hob und senkte sich... Zusammengekauert blickte ich verstohlen auf. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, sie kamen näher, immer näher. Einige Nummern saßen wie ich erstarrt da, andere eilten ihnen entgegen und rissen die Tür weit auf. Die Glücklichen! Wenn ich doch auch...
»Der Wohltäter ist eine für die ganze Menschheit unumgänglich notwendige, totale Desinfektion, und infolgedessen gibt es in dem Einzigen Staat keine Peristaltik... « Diesen völlig sinnlosen Satz schrieb ich mit tanzender Feder nieder und beugte mich dabei noch tiefer über den Tisch. In meinem Kopf hämmerte eine Grille wie rasend, mit dem Rücken zur Tür lauschte ich angestrengt. Da klirrte die Klinke, ich fühlte einen Luftzug, der Sessel begann sich zu drehen...
Mit unsäglicher Mühe riss ich mich von meinem Manuskript los und wandte mich zu den Eintretenden (wie schwer ist es, Komödie zu spielen... ach, wer hatte mir denn heute etwas von einer Komödie gesagt?). S kam als erster herein, schweigend, finster. Seine Augen bohrten sich in mich, in meinen Sessel, in das Blatt Papier unter meinen zitternden Händen. Dann sah ich bekannte Gesichter im Türrahmen, eines von ihnen löste sich aus der Gruppe — aufgeblähte dunkelrote Kiemen... Mir fiel alles wieder ein, was sich vor einer halben Stunde in meinem Zimmer abgespielt hatte, und mir war völlig klar, dass sie sogleich... Mein Herz, mein ganzes Wesen pochte und hüpfte in jenem (zum Glück undurchsichtigen) Teil meines Körpers, unter dem ich mein Manuskript verborgen hatte.
U trat von hinten an S heran und flüsterte: »Das ist D-503, der Konstrukteur des Integral. Sie haben doch sicherlich schon von seiner Erfindung gehört? Er sitzt immer am Schreibtisch... Er gönnt sich niemals Ruhe.« Was sollte ich dazu sagen? Welch wunderbare Frau. S kam leise auf mich zu, beugte sich über meine Schulter und blickte auf den Tisch. Ich stemmte die Ellbogen auf mein Manuskript, doch er sagte in strengem Ton: »Zeigen Sie, was Sie da haben!«
Glühend rot vor Scham reichte ich ihm das Blatt. Er überflog es, und ich sah, wie in seinen Augen ein Lächeln aufschimmerte, über sein Gesicht huschte und im rechten Mundwinkel haften blieb.
»Etwas doppeldeutig, aber immerhin... Nun, machen Sie weiter, wir wollen Sie nicht länger stören.« Er schlurfte zur Tür, und mit jedem seiner Schritte kehrte allmählich Leben in meine Füße, Hände und Finger zurück. Meine Seele verteilte sich gleichmäßig durch den ganzen Körper, ich atmete befreit auf... Aber U stand immer noch neben mir. Sie beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: »Ihr Glück, dass ich... « Ich weiß nicht, was sie damit sagen wollte. Am Abend erfuhr ich, dass sie drei verhaftet hatten. Natürlich wagte keiner von uns, laut von diesem Vorfall zu sprechen (der erzieherische Einfluss der unsichtbar in unserer Mitte weilenden Beschützer). Unsere Gespräche drehten sich vor allem um das rasche Fallen des Barometers und den bevorstehenden Witterungsumschlag.

 

EINTRAGUNG NR. 29

Übersicht: Fäden im Gesicht. Keime. Eine widernatürliche Kompression.

Merkwürdig — das Barometer fällt, aber noch immer haben wir keinen Wind, es herrscht tiefe Stille. Dort oben hat es schon begonnen, das für uns unhörbare Gewitter. Die Wolken stürmen über den Himmel. Bis jetzt sind es nur einzelne gezackte Fetzen. Es hat den Anschein, als wäre man dort oben schon dabei, irgendeine Stadt zu
zerstören, als flögen dicke Brocken von Mauern und Türmen zu uns herab. Diese Brocken wachsen mit erschreckender Schnelligkeit vor meinen Augen, sie kommen immer näher, doch sie müssen noch tagelang durch die blaue Unendlichkeit fliegen, bevor sie auf die Erde aufschlagen.
Hier unten ist alles grabesstill. In der Luft schweben hauchfeine, fast unsichtbare Fäden. Jedes Jahr trägt sie der Herbst aus dem Land hinter der Mauer in die Stadt herüber, und auf einmal spürt man etwas Fremdes, Unsichtbares im Gesicht, man möchte es wegwischen, doch man kann sich nicht davon befreien... An der Grünen Mauer, wo ich heute morgen spazierenging, gibt es besonders viele dieser Fäden. I hatte mir gesagt, ich solle sie in »unserer Wohnung« im Alten Haus treffen.
Unweit von dem dunklen Alten Haus hörte ich kurze, eilige Schritte und einen keuchenden Atem hinter mir. Ich wandte mich um — es war O!
Sie sah ganz anders aus als sonst, rund und straff. Die Uniform spannte sich über ihrem Körper, der mir so vertraut war. Bald würde dieser Körper den dünnen Stoff zerreißen und nach außen drängen, an die Sonne, ans Licht. Ich musste an die grünen Schluchten jenseits der Mauer denken, wo im Frühling die Keime die Erde durchstoßen, um Zweige, Blätter und Blüten zu treiben. O schaute mich schweigend an, ihre blauen Augen strahlten. Dann sagte sie:
»Ich habe Sie gesehen — damals, am Tag der Einstimmigkeit.«
»Ich habe Sie auch gesehen... « Ich erinnerte mich sogleich, dass sie in dem engen Durchgang gestanden hatte, dicht an die Mauer geduckt, den Leib mit den Händen
schützend. Unwillkürlich blickte ich auf diesen Leib, der sich unter der Uniform wölbte. Sie schien es bemerkt zu haben, denn sie wurde rot und lächelte verlegen: »Ich bin so glücklich, so glücklich... Ich sehe und höre nichts von dem, was um mich ist, ich lausche nur in mich hinein...«
Ich entgegnete kein Wort. Auf meinem Gesicht haftete etwas Fremdes, Störendes, und ich konnte mich nicht davon befreien. Plötzlich nahm sie meine Hand und führte sie an ihre Lippen... Diese altmodische Liebkosung, die ich zum ersten Mal in meinem Leben spürte, beschämte und schmerzte mich so sehr, dass ich ihr meine Hand heftig entriss.
»Sind Sie wahnsinnig?... Worüber freuen Sie sich eigentlich? Haben Sie denn vergessen, was Sie erwartet? Nicht sofort natürlich, aber in ein, zwei Monaten ... « Sie erbleichte, alle Rundungen ihres Körpers fielen zusammen. Ich fühlte in meinem Herzen eine unangenehme, krankhafte Kompression, die von dem so genannten Mitleid herrührte. (Das Herz ist nichts anders als eine ideale Pumpe. Eine Pumpe kann niemals eine Kompression bewirken, sie kann niemals eine Flüssigkeit aufsaugen — das wäre technisch unmöglich, geradezu absurd. Daraus folgt, wie unsinnig, widernatürlich und krankhaft Liebe, Mitleid und Ähnliches ist, das eine solche Kompression hervorruft.)
Stille. Neben mir das trübe grüne Glas der Mauer, vor mir ein dunkelroter Steinhaufen... Die Resultante dieser beiden Kräfte war eine glänzende Idee: »Halt! Ich weiß, wie Sie gerettet werden können. Ihr Kind gebären und dann sterben — vor diesem Schicksal will ich Sie bewahren. Sie sollen Ihr Kind großziehen und sehen, wie es auf Ihren Armen heranwächst.«
Am ganzen Leibe zitternd, klammerte sie sich an mich.
»Sie erinnern sich wohl noch an jene Frau«, sagte ich, »damals auf dem Spaziergang. Sie ist jetzt im Alten
Haus. Wir gehen gleich zu ihr, und ich werde alles Nötige veranlassen.«
Im Geist sah ich uns zu dritt durch die unterirdischen Gänge gehen, und schon war O in jenem Land, inmitten von Blumen und Gräsern und Blättern... Aber sie wich betroffen zurück, ihre Mundwinkel zuckten und neigten sich nach unten.
»Das ist doch dieselbe... «, sagte sie.
»Hm, sie ist...«, stotterte ich verlegen, »ja, sie ist dieselbe.«
»Und Sie verlangen von mir, dass ich zu ihr gehe, dass ich sie bitte... dass ich...? Unterstehen Sie sich, noch ein Wort davon zu sagen!«
Gesenkten Hauptes eilte sie davon. Plötzlich wandte sie sich noch einmal um, als hätte sie etwas vergessen, und rief:
»Was ist schon dabei, dass ich sterben muss? Und Ihnen ist ja sowieso alles gleich!«
Stille. Von oben fallen Brocken von zerstörten Mauern und Türmen herab und wachsen mit erschreckender Schnelligkeit vor meinen Augen; doch sie müssen noch Stunden oder gar Tage durch die Unendlichkeit fliegen.
Langsam gleiten unsichtbare Fäden durch die Luft, sie haften an meinem Gesicht, aber ich kann mich nicht von ihnen befreien.
Ich ging zum Alten Haus. In meinem Herzen eine absurde, quälende Kompression ...

 

EINTRAGUNG NR. 30

Übersicht: Die letzte Zahl. Galileis Irrtum. Ist es nicht besser...

Gestern traf ich mich mit I im Alten Haus. Unter dem verwirrenden Lärm roter, grüner, bronzegelber und weißlicher Farbtöne, der mich am logischen Denken hinderte, und unter dem marmornen Lächeln des krummnasigen alten Dichters hatten wir ein langes Gespräch. Ich will es hier Wort für Wort wiedergeben, da es, wie mir scheint, von entscheidender Bedeutung nicht nur für den Einzigen Staat, sondern für das Weltall ist. Unvermittelt sagte I:
»Ich weiß, dass der Integral übermorgen zum ersten Probeflug startet. Wir werden ihn in die Hand bekommen.« »Wie? Übermorgen?«
»Ja. Setz dich, reg dich nicht auf. Wir dürfen keine Minute verlieren. Unter den hundert, die gestern auf blo­ßen Verdacht hin verhaftet wurden, sind zwölf Mephi. Wenn wir noch zwei, drei Tage warten, sind sie verloren.« Ich schwieg.
»Ihr müsst Elektrotechniker, Mechaniker, Ärzte und Meteorologen als Beobachter an Bord nehmen. Um zwölf, wenn es zur Mittagspause läutet und alle zum Essen gehen, bleiben wir im Korridor und schließen sie in der Kantine ein. Dann ist der Integral unser... Es muss sein, um jeden Preis, hörst du? Der Integral ist unsere Waffe, mit deren Hilfe wir allem mit einem Schlag ein Ende machen können. Ihre Flugzeuge... ha! Ein elender Mückenschwarm gegen einen Geier! Und sollte es wirklich nicht ohne Gewalt gehen, dann brauchen wir nur den Auspuff des Integral nach unten zu richten. Das genügt.«
Ich sprang auf:
»Das ist ja Wahnsinn! Ist dir nicht klar, dass das, was du da planst, eine Revolution ist?«
»Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahnsinn sein?«
»Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben. Das wissen alle.« Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch: »Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist ein Philosoph. Bitte nenn mir die letzte Zahl.« »Was meinst du damit? Ich... ich verstehe nicht, welche letzte Zahl?«
»Nun, die letzte, höchste, die allergrößte Zahl.« »Aber I, das ist ja alles dummes Zeug. Die Anzahl der Zahlen ist doch unendlich. Was für eine letzte Zahl willst du also?«
»Und was für eine letzte Revolution willst du? Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich. Die letzte — das ist etwas für kleine Kinder. Die Kinder fürchten sich vor der Unendlichkeit, doch sie müssen unter allen Umständen ruhig schlafen, und deshalb... «
»Aber was für einen Sinn hat das alles, um des Wohltäters willen? Was für einen Sinn hat das alles, da doch alle glücklich sind?«
»Schön, nehmen wir an, wir seien tatsächlich glücklich. Aber wie geht es weiter?«
»Lächerlich! Eine ganz kindische Frage! Erzähle Kindern eine Geschichte, erzähle sie zu Ende — sie werden trotzdem fragen: Und wie geht es weiter?« »Kinder sind eben die einzig kühnen Philosophen. Und kühne Philosophen sind Kinder. Wie die Kinder muss man immer fragen: Und wie geht es weiter?«
»Es gibt kein Weiter! Punkt, aus! Überall, im ganzen Weltall muss Gleichheit und Gleichmaß herrschen... « »Aha! Gleichmäßigkeit, überall! Da haben wir sie, die Entropie, die psychologische Entropie. Ist dir als Naturwissenschaftler denn nicht klar, dass nur in der Verschiedenartigkeit... in Temperaturunterschieden, in Wärmekontrasten — Leben ist? Wenn aber überall, im ganzen Weltall, gleichartig-warme oder gleichartig-kalte Körper sind... nun, dann muss man sie zusammenstoßen, damit Feuer, eine Explosion, die Hölle entsteht. Und wir werden sie zusammenstoßen.«
»Aber I, begreife doch — gerade das haben ja unsere Vorfahren im 200jährigen Krieg getan... « »Oh, sie hatten recht, tausendmal recht. Sie haben nur einen Fehler gemacht: Sie glaubten später, sie seien die letzte Zahl, etwas, das es in der Natur niemals gibt, niemals. Ihr Irrtum war der Irrtum Galileis — er hatte recht mit seiner Behauptung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, doch er wusste nicht, dass sich das ganze Sonnenzentrum um ein anderes Zentrum bewegt, er wusste nicht, dass die wirkliche, nicht die relative Bahn der Erde durchaus kein naiver Kreis ist...« »Und ihr?«
»Wir? Bis jetzt wissen wir, dass es keine letzte Zahl gibt. Vielleicht werden wir es einmal vergessen. Ja, wir werden es ganz gewiss vergessen, wenn wir alt werden. Und dann fallen auch wir unaufhaltsam hinab, wie im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen, wie ihr übermorgen fallen werdet... Nein, nein, Liebster, du nicht, du bist ja einer der Unseren!«
Stürmisch, mit funkelnden Augen, von Leidenschaft glühend — noch nie hatte ich sie so gesehen — umarmte sie mich. Dann sah sie mir fest in die Augen und sagte:
»Also denk daran — Punkt zwölf!« »Ja, ich vergesse es nicht«, antwortete ich. Sie ging hinaus, und ich war allein mit dem vielstimmigen Lärm von Blau, Rot, Grün, Bronze und Orange. Ja, um zwölf... Plötzlich spürte ich etwas Fremdes in meinem Gesicht, von dem ich mich nicht befreien konnte. Der gestrige Morgen fiel mir ein. U, die Worte, die sie I zugeschrien hatte... Wie kam sie dazu? Verrückt! Ich machte mich eilig auf den Heimweg. Hinter mir ein gellender Vogelschrei über der Grünen Mauer. Vor mir die Stadt im Schein der untergehenden Sonne, ganz aus himbeerrotem, kristallisiertem Feuer — die runden Kuppeln, die riesigen Häuserwürfel, die Spitzen der Akkumulatorentürme, die am Himmel erstarrten Blitzen glichen. All das, diese ganze makellose geometrische Schönheit, sollte ich mit meinen eigenen Händen vernichten... Gab es wirklich keinen Ausweg?
Ich kam an einem Auditorium vorbei (die Nummer habe ich vergessen). Drinnen ein Haufen aufgestapelter Bänke, in der Mitte Tische, mit Tüchern aus schneeweißem Glas bedeckt, auf dem Weiß ein Fleck rötlichen Sonnenblutes. In all dem war ein unbekanntes und deshalb beängstigendes Morgen verborgen. Es ist doch höchst widernatürlich, dachte ich, wenn ein denkendes, sehendes Wesen unter Regellosigkeiten, Unbekannten und allerlei x leben muss. Das ist genauso, als ob man einem Menschen die Augen verbinden und ihn zwingen würde, zu gehen, zu tasten, zu stolpern. Er weiß, dass irgendwo in der Nähe ein Abgrund ist; noch ein Schritt — und nur ein plattgedrücktes, unförmiges Stück Fleisch bleibt von ihm übrig. Was aber, wenn man einfach kopfüber hinunterspringt? Wäre das nicht das einzig Richtige, würde es nicht alles mit einem Male lösen?

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