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Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
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EINTRAGUNG NR. 6

Übersicht: Ein Zufall. Das verfluchte klar. 24 Stunden.

Ich wiederhole: Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, in meinen Aufzeichnungen nichts zu verschweigen. Darum muss ich an dieser Steile bemerken — so betrüblich es auch ist —, dass selbst in unserem Staat der Prozess der Verhärtung, der Kristallisation des Lebens noch nicht abgeschlossen ist. Wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht (das ist klar), bei uns hingegen... Was sagen Sie dazu: Heute las ich in der Staatszeitung, dass übermorgen der Tag der Gerechtigkeit auf dem Platz des Würfels stattfindet. Also hat wieder irgendeine Nummer den Lauf der großen Staatsmaschine gehemmt, wieder ist etwas Unvorhergesehenes, nicht Vorausberechnetes geschehen. Auch mit mir ist etwas geschehen, zwar in der Persönlichen Stunde, das heißt, in jener Zeitspanne, die für Unvorhergesehenes bestimmt ist, dennoch...
Ich kam um 16 Uhr, genau gesagt, 10 Minuten vor 16 Uhr, nach Hause. Plötzlich rasselte das Telefon. »D-503?« fragte eine weibliche Stimme. »Ja.«
»Ich bin's, I-330. Ich hole Sie gleich ab, wir gehen zusammen zum Alten Haus. Einverstanden?« I-330... Diese I hat etwas Aufreizendes, sie stößt mich ab, erschreckt mich fast. Aber gerade darum sagte ich ja. Fünf Minuten später saßen wir im Flugzeug. Ein majolikablauer Maihimmel. Die warme Sonne folgte uns summend in ihrem goldenen Flugzeug, ohne uns einzuholen und ohne zurückzubleiben. Aber dort, vor uns, hing eine milchig-weiße Wolke, hässlich und rund wie die Backen eines antiken Cupido, und das störte mich. Das vordere Fenster des Flugzeuges war geöffnet, ein scharfer Wind wehte, meine Lippen wurden trocken. Unwillkürlich feuchtete ich sie an und dachte an nichts anderes. In der Ferne tauchten trüb-grüne Flecken auf, das Land jenseits der Mauer. Dann erfasste mich ein leichter Schwindel, es ging hinab, immer tiefer, einen steilen Hang hinunter: wir landeten vor dem Alten Haus. Das morsche, düstere Gebäude ist rings von einer gläsernen Hülle umschlossen, sonst wäre es natürlich längst eingestürzt. Vor der Glastür hockte ein uraltes Weib; ihr Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt, der Mund bestand nur aus Falten, er sah aus wie zugewachsen, und man konnte nicht glauben, dass sie ihn noch öffnen könne. Doch die Alte sagte:
»Na, Kinderchen, wollt ihr euch mein Häuschen ansehen?«, und ihr verrunzeltes Gesicht strahlte. »Ja, Großmutter, es hat mich wieder einmal hierher gezogen«, antwortete I.
Die Runzeln lachten: »Ja, die Sonne! Ach, du Teufelsmädchen! Ich weiß schon, ich weiß! Na gut, geht nur hinein, ich will in der Sonne sitzen bleiben... « Meine Begleiterin war offenbar kein seltener Gast in diesem Haus. Ich wollte etwas von mir abschütteln, es war wohl immer noch jenes bedrückende Bild — die Wolke am blanken Majolikahimmel.
Als wir die breite, dunkle Treppe hinaufgingen, sagte I: »Ich habe die alte Frau sehr gern.« »Warum?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ihres Mundes wegen. Vielleicht auch aus keinem besonderen Grund. Ich habe sie einfach gern.«
Ich zuckte die Achseln. Lächelnd fuhr sie fort: »Ich fühle mich schuldbewusst. Selbstverständlich darf es kein >Einfach-Gernhaben< geben, sondern nur ein Gernhaben, das begründet ist. Alle Urelemente müssen... « »Klar«, sagte ich, ertappte mich sogleich bei diesem Wort und blickte I verstohlen an. Hatte sie es bemerkt oder nicht?
Sie blickte zu Boden, ihre gesenkten Lider glichen heruntergelassenen Vorhängen. Dabei fiel mir ein: Wenn man abends um 22 Uhr durch die Straßen geht, sieht man in den hellerleuchteten, durchsichtigen Glashäusern hier und dort dunkle Zimmer mit zugezogenen Gardinen, und dahinter... Was sie dann wohl tut? Warum hat sie mich heute angerufen, und was soll das alles bedeuten? Ich öffnete eine schwere, undurchsichtige, knarrende Tür, und wir traten in einen dunklen Raum (so etwas nannten
unsere Vorfahren Wohnung). Ein seltsames Musikinstrument stand dort, ein Flügel, und in dem ganzen Zimmer war der gleiche regellose Wirrwarr von Formen und Farben wie in der alten Musik. Eine weiße Decke, dunkelblaue Wände, alte Bücher in roten, grünen, orangefarbenen Einbänden, gelbe Bronzen — zwei Leuchter und eine Buddha-Statuette —, die Linien der Möbel epileptisch verzerrt, zuckend, in keine Gleichung zu bringen. Nur mit größter Anstrengung vermochte ich dieses Chaos zu ertragen. Meine Begleiterin hingegen hatte offenbar eine kräftigere Konstitution.
»Diese Wohnung gefällt mir am besten von allem im Alten Haus«, sagte sie, und plötzlich schien sie sich auf irgend etwas zu besinnen; ihr Lächeln — ein Biss, die scharfen weißen Zähne blitzten: »Sie ist die hässlichste aller Wohnungen von einst.«
»Der hässlichste aller Staaten von einst«, verbesserte ich sie. »Jener Tausenden von mikroskopisch kleinen Staaten, die beständig miteinander Krieg führten, grausam wie...«
»Ja, ich weiß... «, unterbrach mich I ernst. Wir gingen durch ein Zimmer, in dem Kinderbetten standen (in jener Epoche waren die Kinder noch Privateigentum). Und dann ein Raum nach dem anderen — blitzende Spiegel, riesige Schränke, unerträglich bunte Sofas, ein ungeheurer Kamin, ein großes Mahagonibett. Unser schönes durchsichtiges, unzerbrechliches Glas sah ich nur in Form von armseligen, trüben Fensterscheiben. »Seltsam, hier haben die Menschen >einfach so< geliebt, geglüht, sich gequält...« (wieder schlug sie die Augen nieder), »welch eine sinnlose, unwirtschaftliche Verschwendung menschlicher Energie — nicht wahr?« Damit sprach sie meine eigenen Gedanken aus, doch in ihrem Lächeln las ich die ganze Zeit dieses aufreizende X. Hinter ihren gesenkten Lidern ging irgend etwas vor, das mich aus dem Gleichgewicht brachte.
Ich wollte ihr widersprechen, wollte sie anschreien, aber ich musste ihr zustimmen — sie hatte recht. Wir blieben vor einem Spiegel stehen. In diesem Augenblick sah ich nur ihre Augen. Da kam mir der Gedanke: Der Mensch ist genauso unzivilisiert wie diese scheußlichen Wohnungen; sein Kopf ist undurchsichtig, nur zwei kleine Fenster gestatten einen Blick ins Innere: die Augen. Anscheinend hatte sie meine Gedanken erraten, denn sie wandte sich um:
»Nun? Das sind meine Augen.« (Sie sagte das natürlich nicht laut, sondern nur mit den Blicken.) Vor mir zwei traurig-dunkle Fenster, dahinter ein unbekanntes, fremdes Leben. Ich sah nur, dass dort drinnen ein Feuer brannte, irgendein Kamin, und da waren Gestalten, ähnlich wie...
Es war ganz natürlich: ich sah mein Spiegelbild in ihren Augen. Aber dieses Spiegelbild war unnatürlich und glich mir ganz und gar nicht (das kam gewiss von der bedrückenden Umgebung) — ich fühlte deutlich ein Entsetzen, fühlte mich gefangen, in diesem Käfig eingeschlossen, vom wilden Wirbel des einstigen Lebens fortgerissen. »Ach«, sagte I, »gehen Sie doch bitte für eine Minute ins Nebenzimmer.«
Ich ging hinaus und setzte mich. Von einem Bücherbrett lächelte mir das stupsnasige, asymmetrische Gesicht eines antiken Dichters entgegen (ich glaube, es war Puschkin). Wie kommt es nur, dass ich hier sitze und dieses Lächeln gelassen hinnehme? Ja, warum bin ich überhaupt hier? Woher kommt dieser sonderbare Zustand? Diese aufreizende, abstoßende Frau, dieses seltsame Spiel.
Nebenan klappte eine Schranktür, Seide rauschte leise, es kostete mich große Selbstbeherrschung, nicht hineinzugehen und ihr sehr harte Worte zu sagen. Doch da kam sie schon. Sie trug ein kurzes, altmodisches gelbes Kleid, einen schwarzen Hut und schwarze Strümpfe. Das Kleid war aus dünner Seide, ich konnte hindurchsehen und erkennen, dass die Strümpfe bis übers Knie reichten. Ihr Hals war entblößt, ich sah den Schatten zwischen ihren Brüsten...
»Das soll wohl originell sein, aber glauben Sie denn wirklich...«
»Ja«, unterbrach mich I, »originell sein heißt, sich von den anderen unterscheiden. Folglich zerstört die Originalität die Gleichheit... Das, was in der idiotischen Sprache unserer Ahnen banal sein bedeutete, das heißt bei uns: seine Pflicht erfüllen. Denn... «
Ich konnte nicht mehr an mich halten. »Das brauchen Sie mir gar nicht erst zu sagen... «
Sie trat zur Büste des stupsnasigen Dichters, schlug die Augen nieder und sagte, diesmal anscheinend ganz ernst (vielleicht um mich zu besänftigen), etwas sehr Kluges: »Finden Sie es nicht höchst sonderbar, dass die Leute einmal solche Gestalten geduldet haben? Nicht nur geduldet, dass sie sie sogar verehrt haben? Welch sklavischer Geist! Nicht wahr?«
»Klar... das heißt, ich wollte... « (O dieses verfluchte klar!)
»Schon gut, ich verstehe. Und diese Dichter waren mächtiger als die gekrönten Häupter jener Zeit, Warum hat man sie nicht isoliert, nicht ausgerottet? Bei uns...« »Ja, bei uns...«, begann ich. Plötzlich lachte sie spöttisch. Ich erinnere mich, dass ich am ganzen Leib zitterte. Am liebsten hätte ich sie gepackt, und ich weiß nicht mehr, was... Ich musste irgend etwas tun. Ich öffnete mechanisch mein goldenes Abzeichen und sah auf die Uhr. 10 Minuten vor 5.
»Meinen Sie nicht, dass es Zeit ist für uns?« sagte ich so unbefangen wie möglich.
»Und wenn ich Sie bitten würde, mit mir hier zu bleiben?« »Wissen Sie, was Sie damit sagen? In zehn Minuten muss ich im Auditorium sein.«
»Alle Nummern sind verpflichtet, an dem Kurs für Kunst und Wissenschaft teilzunehmen«, sagte I mit meiner Stimme. Dann blickte sie auf und sah mich an; hinter den dunklen Augenfenstern glühte das Feuer. »Ich kenne einen Arzt vom Gesundheitsamt, er ist auf mich abonniert. Wenn ich ihn bitte, schreibt er Ihnen ein Attest, dass Sie krank waren. Nun?« Ich begriff endlich, wohin dieses ganze Spiel führte. »Auch das noch! Sie wissen wohl, dass ich, wie jede anständige Nummer, eigentlich sofort zu den Beschützern gehen müsste und... «
»Aber uneigentlich« — sie lächelte spöttisch — »wüsste ich zu gern, ob Sie hingehen oder nicht.« »Sie bleiben hier?« Ich griff nach der Türklinke. Sie war aus Messing, wie meine Stimme. »Einen Augenblick bitte. Darf ich?«
Sie ging zum Telefon, wählte eine Nummer — ich war so aufgeregt, dass ich sie mir nicht merkte — und sagte: »Ich erwarte Sie im Alten Haus. Ja, ich bin allein.« Ich drückte auf die kalte Messingklinke: »Gestatten Sie, dass ich Ihr Flugzeug nehme?« »Natürlich, bitte... «
Am Ausgang träumte die Alte wie eine Pflanze in der Sonne vor sich hin. Wieder wunderte ich mich, dass der zugewachsene Mund sich öffnete und sprach:
»Und Ihre Freundin — ist sie allein im Haus?« »Ja, allein.«
Die Alte schüttelte schweigend den Kopf. Selbst ihr schwaches Hirn schien zu begreifen, wie tollkühn, wie wahnwitzig diese Frau handelte.
Punkt fünf Uhr war ich in der Vorlesung. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich der Alten nicht die Wahrheit gesagt hatte — I war jetzt nicht allein. Vielleicht quälte und lenkte gerade dies mich jetzt ab, dass ich die Alte gegen meinen Willen belogen hatte. Ja, sie war nicht allein.
21.30 Uhr — ich hatte eine freie Stunde. Ich hätte noch heute zu den Beschützern gehen und Anzeige erstatten können. Aber diese dumme Geschichte hatte mich müde gemacht. Außerdem beträgt die gesetzliche Frist für eine Anzeige zweimal vierundzwanzig Stunden. So hatte es noch Zeit bis morgen.

 

EINTRAGUNG NR. 7

Übersicht: Die Augenwimper. Taylor. Bilsenkraut und Maiglöckchen.

Nacht. Grün, orange, blau, ein Flügel aus Mahagoni, ein zitronengelbes Kleid. Ein bronzener Buddha. Plötzlich hob er die metallenen Lider — und Saft entströmte ihm. Auch aus dem gelben Kleid rann Saft, an dem Spiegel hingen kleine Tropfen, das große Bett und die Kinderbettchen tröpfelten, und im nächsten Augenblick werde auch ich... Ein banger, süßer Schreck überkommt mich... Ich wachte auf. Gleichmäßiges bläuliches Licht, das Glas der Wände leuchtete, die gläsernen Stühle, der gläserne
Tisch. Das beruhigte mich, mein Herz pochte nicht mehr so ungestüm. Sanft, Buddha... was für ein Unsinn! Mir ist klar, dass ich krank bin. Früher habe ich nie geträumt. Träumen — das soll bei unseren Vorfahren etwas ganz Normales und Alltägliches gewesen sein. Ihr ganzes Leben war ja ein entsetzliches Karussell: Grün-orange Buddha-Saft. Wir aber wissen, dass Träume eine gefährliche psychische Krankheit sind. Und ich weiß: Bis zu diesem Tag war mein Gehirn ein chronometrisch regulierter, blitzender Mechanismus ohne das geringste Stäubchen, jetzt aber...
Ja, ich spüre in meinem Gehirn einen Fremdkörper wie ein feines Wimpernhaar im Auge; man fühlt sich im ganzen recht wohl, aber dieses Haar im Auge — nicht für eine Sekunde lässt es sich vergessen. In meinem Kopfkissen ertönte ein heller, kristallklarer Ton: 7 Uhr, aufstehen. Durch die gläsernen Wände rechts und links sah ich gleichsam mich selbst, mein Zimmer, meine Kleider, meine Bewegungen — tausendfach wiederholt. Das gab mir neuen Mut, ich empfand mich als Teil eines gewaltigen, einheitlichen Organismus. Und welch exakte Schönheit: keine überflüssige Geste, Neigung, Drehung. Ja, dieser Taylor war zweifellos der genialste Mensch der alten Zeit. Er kam freilich nicht darauf, seine Methode auf das ganze Leben auszudehnen, auf jeden Schritt, auf sämtliche vierundzwanzig Stunden des Tages, er vermochte nicht, sein System von einer zu vierundzwanzig Stunden zu integrieren. Dennoch — wie konnten die Menschen von damals ganze Bibliotheken über einen gewissen Kant schreiben, während sie Taylor, diesen Propheten, der zehn Jahrhunderte vorausblickte, kaum erwähnten! Das Frühstück war zu Ende. Wir hatten die Hymne des Einzigen Staates gesungen und marschierten in Viererreihen zum Lift. Die Motoren summten leise, es ging rasch nach unten, tiefer, immer tiefer, und ich spürte einen leichten Schwindel...
Da war wieder dieser unsinnige Traum oder irgendeine unklare Funktion, die von diesem Traum herrührte. Gestern, als wir mit dem Flugzeug landeten, hatte ich das gleiche Gefühl. Im übrigen ist das nun alles vorbei: Punkt.
Und es ist sehr gut, dass ich ihr gegenüber so entschieden und schroff war.
In der Untergrundbahn fuhr ich zur Werft, wo der noch unbewegliche, noch nicht vom Feueratem durchglühte schlanke Leib des Integral auf Stapel lag und in der Sonne blitzte. Ich schloss die Augen und träumte in Formeln: in Gedanken rechnete ich noch einmal aus, wie groß die Anfangsgeschwindigkeit des Integral sein musste. In jedem Atom einer Sekunde verändert sich die Masse des Integral (es gibt Explosionshitze ab). Ich gelangte zu einer höchst komplizierten Gleichung mit transzendentalen Größen.
Wie im Traum sah ich, dass sich jemand neben mich setzte, mich leicht mit dem Ellbogen anstieß und »Verzeihung« murmelte.
Ich öffnete die Augen, und zuerst war mir, als jagte etwas durch den Raum (eine Assoziation vom Integral): ein Kopf — er flog, weil er abstehende, rosige Ohren hatte, die wie Flügel aussahen. Dann die Kurve des gebeugten Nackens, der krumme Rücken, zweifach gebogen, wie ein S...
Und durch die gläsernen Mauern meiner algebraischen Welt drang wieder ein Wimpernhaar; es ist doch sehr unangenehm, dass ich heute... »Bitte sehr, bitte sehr.« Ich lächelte meinem Nachbarn
zu und verbeugte mich. Auf seinem Abzeichen funkelte die Nummer S-4711 (darum also hatte ich ihn von Anfang an mit dem Buchstaben S in Verbindung gebracht! Es war ein vom Bewusstsein nicht registrierter visueller Eindruck). Seine Augen blitzten, sie waren zwei spitze Drillbohrer, die sich schnell drehten und immer tiefer in mich eindrangen; im nächsten Augenblick würden sie auf den Grund stoßen und das sehen, was ich sogar vor mir selbst verbarg...
Mit einemmal wusste ich, was das Wimpernhaar bedeutete: Er war ein Beschützer, und es war am einfachsten, wenn ich ihm sofort alles sagte.
»Wissen Sie, gestern war ich im Alten Haus...»Meine Stimme klang fremd und gepresst. Ich räusperte mich.
»Das ist ja ausgezeichnet!« entgegnete er. »Das gibt uns Material für sehr lehrreiche Schlüsse.« »Aber ich war dort nicht allein, ich begleitete die Nummer I-330, und da... «
»I-330? Gratuliere! Eine sehr interessante, begabte Frau. Sie hat so viele Verehrer.«
Jetzt fiel es mir ein, er hatte sie damals auf dem Spaziergang begleitet. Vielleicht war er sogar auf sie abonniert. Nein, ich konnte ihm nichts davon sagen, das war unmöglich, soviel war mir klar.
»Ja, das stimmt! Sehr interessant.« Ich lächelte, immer breiter und törichter, und fühlte, dass dieses Lächeln meine ganze Nacktheit und Torheit offenbarte ... Die Bohrer fraßen sich in mich hinein, dann schnellten sie zurück. S lächelte zweideutig, nickte mir zu und ging zur Tür. Ich entfaltete meine Zeitung (mir war, als blickten alle mich an). Eine Notiz sprang mir in die Augen, die mich so sehr erregte, dass ich darüber das Wimpernhaar, die Bohrer und alles übrige vergaß. Es war nur eine kurze Notiz: »Wie aus wohlinformierten Kreisen verlautet, wurden erneut die Spuren einer bisher nicht fassbaren Organisation entdeckt, deren Ziel die Befreiung der Nummern von dem wohltätigen Joch des Staates ist.« Befreiung? Es ist wirklich erstaunlich, wie stark die verbrecherischen Instinkte im Menschen sind. Ich sage ganz bewusst: verbrecherisch. Denn die Freiheit und das Verbrechen sind so eng miteinander verknüpft wie... nun, wie die Bewegung eines Flugzeugs mit seiner Geschwindigkeit: ist die Geschwindigkeit eines Flugzeugs gleich Null, bewegt es sich nicht. Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, begeht er keine Verbrechen. Das ist völlig klar. Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist, ihn vor der Freiheit zu bewahren. Kaum ist uns das gelungen, da kommen ein paar erbärmliche Narren...
Nein, ich begreife einfach nicht, warum ich nicht sofort, gestern noch, zu den Beschützern gegangen bin. Heute suche ich sie bestimmt auf, gleich nach 16 Uhr. Um 16.10 Uhr verließ ich das Haus, und an der nächsten Ecke begegnete ich O. Gut, dass ich sie treffe, sie kommt mir wie gerufen, dachte ich, sie hat einen gesunden Menschenverstand. Sie wird mich gewiss verstehen und mir helfen.
Aber ich brauchte ja gar keine Hilfe, ich war fest entschlossen.
Die Schornsteine der Musikfabrik bliesen donnernd den Marsch des Einzigen Staates, den gleichen, täglichen Marsch. Wie beglückend ist diese alltägliche Wiederholung!
O nahm meinen Arm: »Wir wollen Spazierengehen.« Die runden blauen Augen waren weit geöffnet, sie glichen
blauen, klaren Fenstern, und ich konnte ungehindert hindurchblicken, ohne an etwas hängenzubleiben. Dahinter verbarg sich nichts, nichts Fremdes, nichts Überflüssiges jedenfalls.
»Nein, ich habe keine Zeit, ich muss... « Ich sagte ihr, wohin ich gehen wollte. Zu meiner großen Verwunderung sah ich: der kreisrunde, rosige Mund wurde zum Halbmond, dessen Spitzen nach unten zeigten zeigten, als hätte sie Säure getrunken. Ich fuhr auf:
»Ihr weiblichen Nummern seid anscheinend unheilbar von Vorurteilen verseucht, ihr seid völlig unfähig, abstrakt zu denken! Entschuldigen Sie, aber das ist einfach dumm!«
»Sie gehen zu den Spionen... pfui! Aber ich, ich war im Botanischen Museum und habe Ihnen Maiglöckchen mitgebracht... «
Warum dieses »aber ich«? Typisch weiblich. Wütend (ja, ich war wütend, ich gebe es zu) nahm ich die Maiglöckchen.
»Na, riechen Sie einmal an Ihren Maiglöckchen. Gut, ja? Also haben Sie wenigstens so viel Logik, festzustellen: Maiglöckchen riechen gut. Aber können Sie von dem Geruch selbst, von dem Begriff Geruch, sagen, er sei gut oder schlecht? Sie können es nicht? Es gibt Maiglöckchengeruch und es gibt den widerlichen Geruch des Bilsenkrauts; beides ist Geruch. Der Staat unserer Vorfahren hatte Spione — und wir haben auch welche. Ja, Spione. Ich fürchte dieses Wort nicht. Denn es ist klar, dass der Spion damals ein Bilsenkraut war, während er bei uns ein Maiglöckchen ist. Jawohl, ein Maiglöckchen!« Der rosige Halbmond zuckte. Ich glaubte, sie lächelte, jetzt aber weiß ich, dass mir das nur so vorkam. Und ich sagte noch lauter:
»Ja, Maiglöckchen! Da gibt es nichts zu lachen, gar nichts!« Runde, glatte Kugelköpfe kamen vorüber; sie wandten sich erstaunt um. O nahm mich zärtlich am Arm: »Sie sind heute so merkwürdig. Sie sind doch nicht krank?« Der Traum — das gelbe Kleid — der Buddha... Richtig, ich musste zum Gesundheitsamt gehen. »Ja, ich bin wirklich krank«, sagte ich sehr erfreut (ein unerklärlicher Widerspruch: wieso freute ich mich?). »Dann müssen Sie sofort zum Arzt gehen. Sie wissen doch, Sie haben die Pflicht, gesund zu sein — es wäre lächerlich, wenn ich Ihnen das klarmachen wollte.« »Sie haben natürlich recht, liebe O, völlig recht!« Ich ging nicht zu den Beschützern. Es half nichts, ich musste mich zum Gesundheitsamt begeben. Dort wurde ich bis 17 Uhr festgehalten. Am Abend kam O zu mir (übrigens ist dort abends ohnehin geschlossen). Wir zogen die Gardinen nicht zu, sondern lösten Aufgaben aus einem alten Mathematikbuch, denn eine solche Beschäftigung beruhigt und klärt den Geist. O-90 saß über ihrem Buch, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, und stieß vor Anstrengung mit der Zunge gegen die linke Wange. Wie kindlich, wie bezaubernd das war! Auch in mir war alles gelöst, exakt, einfach...
Sie ging. Ich war wieder allein. Ich holte zweimal tief Atem (das ist sehr gut vor dem Schlafengehen), und plötzlich spürte ich einen seltsamen Geruch, der mich anwiderte...
Bald wusste ich, woher er kam — in meinem Bett war ein Maiglöckchenstängel versteckt. Alles in mir empörte sich, alles war von neuem aufgerührt. Es war wirklich sehr taktlos von ihr, mir diese Maiglöckchen ins Bett zu stecken... Nun, ich bin nicht zu den Beschützern gegangen. Aber es ist nicht meine Schuld, dass ich krank bin.

 

EINTRAGUNG NR. 8

Übersicht: Die irrationale Wurzel. R-13. Das Dreieck.

Vor langer Zeit, ich ging noch zur Schule, begegnete ich zum ersten Mal √-1. Ich kann mich noch genau an alle Einzelheiten erinnern, an den hellen, kugelförmigen Schulsaal, an Hunderte von runden Knabenköpfen, an Plapa, unseren Mathematiklehrer. Wir hatten ihm den Spitznamen Plapa gegeben; er war schon ziemlich abgenutzt, und wenn der diensthabende Schüler ihm den Stöpsel in den Rücken steckte, sagte der Lautsprecher immer »Pla-pla-pla-schschsch —«, und dann begann sofort die Mathematikstunde. Einmal erzählte uns Plapa von irrationalen Zahlen, und ich entsinne mich noch deutlich, dass ich mit den Fäusten auf den Tisch hämmerte und schrie: »Ich mag √-1 nicht! Reißt √-1 aus mir heraus!« Diese irrationale Wurzel wuchs in mir, sie war ein Fremdkörper, ein furchtbares Gewächs, das an mir zehrte, mich verschlang. Man konnte diese Wurzel nicht definieren, sie auch nicht unschädlich machen, weil sie außerhalb der Ratio war.
Und nun meldete sie sich plötzlich wieder, diese Wurzel. Ich las meine Aufzeichnungen durch und erkannte, dass ich mich selbst zum Narren gehalten, mich selbst belogen hatte, nur um √-1 nicht zu sehen. Es ist alles dummes Zeug, dass ich krank bin usw. — ich hätte sehr wohl zu den Beschützern gehen können. Vor drei Tagen noch hätte ich gewiss nicht lange überlegt und wäre sogleich hingegangen. Warum aber jetzt... warum? Heute geschah das gleiche wie gestern. Punkt 16 Uhr stand ich vor der blitzenden Glasmauer. Über mir flammten die goldenen Buchstaben des Schildes in der Sonne. Durch die gläsernen Wände sah ich in dem Gebäude eine lange Reihe blaugrauer Uniformen. Ihre Gesichter strahlten wie die Lampen in den Kirchen der alten Zeit. Sie waren gekommen, um eine große Tat zu vollbringen — um ihre Lieben, ihre Freunde und sich selbst auf dem Altar des Einzigen Staates zu opfern. Und ich — es trieb mich, zu ihnen zu eilen, es ihnen gleichzutun. Doch ich vermochte es nicht, meine Füße waren tief in das gläserne Pflaster eingesunken, ich stand wie angewurzelt, stumpf vor mich hinstarrend, unfähig, mich von der Stelle zu rühren... »He, Mathematiker, träumst du?«
Ich fuhr zusammen. Ich erblickte lackschwarze, lachende Augen und wulstige Negerlippen. Der Dichter R-13, mein alter Freund, stand vor mir, und neben ihm die rosige O. Ich wandte mich verärgert ab (wenn sie mich nicht gestört hätten, wäre es mir vielleicht gelungen, √-1 mit Stumpf und Stiel auszureißen und hineinzugehen). »Ich träume nicht, ich habe nur etwas eingehend betrachtet«, sagte ich schroff.
»Nun ja, mein Lieber, Sie sollten nicht Mathematiker sein, sondern Dichter! Kommen Sie doch zu uns, den Poeten. Wenn Sie wollen, arrangiere ich das sofort.« R-13 spricht unglaublich viel und schnell, die Worte sprühen nur so aus dem wulstigen Mund heraus; jedes p ist eine Fontäne.
»Ich bin ein Diener der Wissenschaft und werde es bleiben«, entgegnete ich mit finsterem Gesicht. Ich liebe solche dumme Späße nicht, ich verstehe sie nicht einmal; aber R-13 hat die hässliche Angewohnheit, Witze zu machen.
»Gehen Sie mir mit Ihrer Wissenschaft! Diese Wissenschaft ist nichts als Feigheit! Ihr wollt einfach das Unendliche mit einem Mäuerchen umgeben und fürchtet euch,
hinter diese Mauer zu blicken. Ja! Und wenn ihr hinüberseht, dann kneift ihr die Augen zu!«
»Die Mauern sind der Anfang jener menschlichen...«, begann ich. R spritzte mir eine ganze Fontäne ins Gesicht, O lachte übermütig. Ich winkte ab: Lacht nur, das macht mir nichts aus. Mir war nicht zum Lachen zumute. Ich musste irgend etwas tun, um diese verfluchte √-1 zu betäuben.
»Wie wäre es«, sagte ich, »wir gehen auf mein Zimmer und lösen Rechenaufgaben.« (Ich dachte an die stille Stunde von gestern; vielleicht würde sie heute wiederkehren.)
O sah R an, dann richtete sie ihre klaren, runden Augen auf mich, und ihre Wangen nahmen das zarte Rosa unserer Billetts an.
»Heute?... Ich habe ein Billett für ihn« — sie deutete mit dem Kopf auf R —, »und am Abend ist er beschäftigt, so dass... «
Die feuchten, wie Lack glänzenden Lippen schnalzten: »Wir kommen auch mit einer halben Stunde aus, nicht wahr, O? Ihre Rechenaufgaben interessieren mich nicht. Gehen wir doch zu mir und unterhalten uns ein wenig.« Ich hatte Angst, mit mir allein zu bleiben, oder, genauer gesagt, mit diesem neuen, mir fremden Menschen, der durch einen seltsamen Zufall meine Nummer trug — D-503. Ich folgte R. Es fehlt ihm zwar der exakte Rhythmus, er hat eine verdrehte, lächerliche Logik, dennoch sind wir Freunde. Nicht umsonst haben wir uns vor drei Jahren diese reizende, rosige O ausgesucht. Das verbindet uns noch stärker als die gemeinsame Schulzeit. Wir saßen in Rs Zimmer. Auf den ersten Blick sah alles genauso aus wie bei mir: die Gesetzestafel, gläserne Stühle, Tisch, Schrank und Bett aus Glas. Doch kaum war R hereingekommen, da hatte er die beiden Sessel zurechtgerückt — und die Flächen waren wie weggefegt, das feste, dreidimensionale Ordnungssystem zerstört, alles wurde uneuklidisch.
R ist immer noch der gleiche wie früher. In Taylor-Kunde und Mathematik war er stets der Letzte in der Klasse. Wir erzählten von dem alten Plapa, wie wir seine gläsernen Beine mit kleinen Dankesbriefen beklebt hatten (wir liebten Plapa sehr). Dann sprachen wir von unserem Religionslehrer. (Im Religionsunterricht haben wir natürlich nicht die Zehn Gebote unserer Vorfahren gelernt, sondern die Gesetze des Einzigen Staates.) Er hatte eine ungewöhnlich laute Stimme, sie drang wie Sturmesheulen aus dem Lautsprecher, und wir Kinder wiederholten den Text mit schreienden Stimmen. Einmal hatte ihm der freche R-13 gekautes Löschpapier ins Sprachrohr gestopft, und bei jedem Wort schossen Papierklümpchen heraus. R wurde selbstverständlich bestraft, es war auch wirklich ein hässlicher Streich gewesen, aber wir lachten alle — ich muss gestehen, ich auch.
»Und wenn er lebendig gewesen wäre wie die Lehrer in alten Zeiten, dann hätte er erst gespuckt...« Eine Fontäne spritzte über die dicken, schnalzenden Lippen. Die Sonne drang durch Decke und Wände und spiegelte sich im Fußboden. O saß auf Rs Knien, in ihren Augen schimmerten kleine Sonnenflecke. Mir war warm geworden, und ich verabschiedete mich. Die irrationale Wurzel rührte sich nicht mehr.
»Na, wie steht's mit dem Integral? Können wir bald zu den Marsmenschen fliegen und sie beglücken? Beeilt euch, sonst schreiben wir Dichter so viele Verse, dass euer Integral nicht mehr hochkommt. Jeden Tag von 8 bis 12 Uhr...« R-13 schüttelte den Kopf und kratzte sich auf dem Rücken. Er hatte einen viereckigen Rücken, der wie ein hinten aufgeschnallter Koffer aussieht (ich musste an ein altes Bild denken: Im Reisewagen). Ich wurde mit einemmal lebendig:
»Ach, Sie schreiben auch für den Integral? Über welches Thema? Was haben Sie zum Beispiel heute geschrieben?« »Heute habe ich keinen Strich getan, ich war mit anderen Dingen beschäftigt...« »Womit?«
R machte ein düsteres Gesicht: »Womit, womit? Nun, wenn Sie es unbedingt wissen wollen — mit einem Urteilsspruch. Ich habe ein Urteil poetisiert. Da hat so ein Idiot, einer von unseren Dichtern... Zwei Jahre saß er neben mir, war ganz normal, und auf einmal fängt er an zu schreien: >Ich bin ein Genie, für mich gibt es kein Gesetz!< und ähnlichen Unsinn... Na ja... ach!« Die dicke Unterlippe hing herab, der Lack der schwarzen Augen wurde stumpf. R-13 sprang auf, kehrte uns den Rücken zu und starrte durch die gläserne Wand. Ich blickte auf seinen Rücken, der wie ein fest verschlossener Koffer war, und dachte: Was mag er wohl jetzt in diesem Koffer suchen?
»Zum Glück sind die vorsintflutlichen Zeiten der Shakespeares und Dostojewskijs — oder wie man sie damals nannte — vorbei«, sagte ich betont laut. R wandte sich mir zu. Die Worte sprühten, sprudelten wie immer aus seinem Mund hervor, doch mir schien, dass seine Augen allen Glanz verloren hatten. »Ja, lieber Mathematiker, zum Glück, zum Glück! Wir sind vollkommen glückliche arithmetische Durchschnittsgrößen... Wie heißt das doch bei euch? Von Null zu Unendlich integrieren, vom Kretin zu Shakespeare... Ja, so ist das!«
Ich weiß nicht, warum mir plötzlich I-330 einfiel, ihre Stimme; irgendein hauchdünner Faden verband sie mit R-13. Aber was für ein Faden? Wieder regte sich die irrationale Wurzel. Ich öffnete mein Abzeichen: 17.35 Uhr. O hatte laut Billett noch 45 Minuten Zeit. »Ich muss gehen...« Ich küsste O, drückte R die Hand und ging zum Lift.
Draußen überquerte ich die Straße und blickte zurück: In dem hellen, sonnendurchfluteten Glasblock waren hier und dort undurchsichtige, blaugraue Zellen, Zellen eines rhythmischen, taylorisierten Glücks. Ich spähte zum 7. Stock hinauf, wo sich das Zimmer von R-13 befand; die Gardinen waren zugezogen.
Liebe O... Lieber R... In ihm ist etwas, das ich nicht recht begreife. Und trotzdem bilden ich, er und O ein Dreieck, wenn auch kein gleichschenkeliges, so doch ein Dreieck. Wir sind, mit den Worten unserer Vorfahren ausgedrückt (vielleicht verstehen Sie, lieber Leser, auf fernen Planeten diese Sprache besser als die unsere), eine Familie. Und es tut wohl, für eine kleine Weile auszuruhen, sich in einem einfachen, starken Dreieck von allem abzuschließen.

 

EINTRAGUNG NR. 9

Übersicht: Liturgie. Jamben und Trochäen. Die eiserne Hand.

Ein strahlend klarer Tag. An solch einem Tag vergisst man seine Sorgen, Unzulänglichkeiten und Gebrechen, alles ist kristallen, ewig, wie unser neues Glas... Auf dem Platz des Würfels. Sechsundsechzig riesige konzentrische Kreise — die Tribünen. Und Sechsundsechzig
Reihen — die Gesichter leuchten still wie die Lampen in den Kirchen der Alten, die Augen spiegeln den Glanz des Himmels wider, oder vielleicht auch den Glanz des Einzigen Staates. Blutrote Blumen, die Lippen der Frauen. Zarte Girlanden, Kindergesichter in der vordersten Reihe, ganz nahe dem Ort der heiligen Handlung. Tiefe, feierliche, gotische Stille.
Die uns erhaltenen Schilderungen beweisen, dass unsere Ahnen während ihrer Gottesdienste nichts dergleichen erlebten. Doch sie dienten einem dummen, unbekannten Gott — und wir verehren eine weise, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannte Gottheit. Ihr Gott gab ihnen nichts außer einem ewigen, qualvollen Suchen, ihm fiel nichts Besseres ein, als sich aus einem unbekannten Grund für sie zu opfern — wir aber bringen unserem Gott, dem Einzigen Staat, ein Opfer dar, ein genau durchdachtes, vernünftiges Opfer. Ja, dieses Opfer war eine feierliche Liturgie für den Einzigen Staat, eine Erinnerung an die schweren Tage und Jahre des 200jährigen Krieges, der erhabene Feiertag des Sieges der Masse über den einzelnen, der Summe über die Zahl... Auf den Stufen des sonnenblitzenden Würfels stand ein einzelner. Sein Gesicht war weiß, nein, nicht weiß, es hatte keine Farbe mehr, es war gläsern, durchsichtig wie die Lippen. Nur die Augen waren zwei schwarze Schlünde, sie sogen gierig jene Welt ein, zu der er noch vor wenigen Minuten gehört hatte. Das goldene Abzeichen mit der Nummer hatte man ihm abgenommen, seine Hände waren mit einem Purpurband zusammengebunden (das ist eine uralte Sitte. Sie ist gewiss damit zu erklären, dass die Menschen einst, als dies alles nicht im Namen des Einzigen Staates geschah, sich berechtigt glaubten, Widerstand zu leisten, und darum mit Ketten gefesselt wurden).
Oben auf dem Würfel, neben der Maschine, reckte sich stumm wie aus Erz gegossen jener, den wir den Wohltäter nennen. Sein Gesicht war von unten nicht zu erkennen, man sah nur seine strengen, majestätischen, quadratischen Umrisse. Aber die Hände... Sie erinnerten an Hände, wie man sie bisweilen auf Photographien sieht; weil sie der Kamera zu nahe sind, werden sie riesig und verdecken alles andere. Diese schweren Hände, die noch müßig auf den Knien ruhten, waren wie Stein, die Knie konnten kaum ihr Gewicht tragen... Plötzlich hob sich die eine ganz langsam — eine gemessene, strenge Geste —; der gehobenen Hand gehorchend, löste sich eine Nummer von den Tribünen und schritt zu dem Würfel. Ein Staatsdichter, dem das Glück beschieden war, den Feiertag mit seinen Versen zu weihen. Der göttliche, eherne Rhythmus dröhnte über die Tribünen hin und über jenen Narren mit den gläsernen Augen, der dort auf den Stufen stand und die logischen Folgen seiner Wahnsinnstat erwartete... Feuersbrunst. In den Jamben erzittern die Häuser, sprühen als flüssiges Gold empor, stürzen donnernd zusammen. Die grünen Bäume krümmen sich, sinken, das Harz fließt — und schon sind sie schwarze, verkohlte Skelette. Und da erschien Prometheus (damit sind natürlich wir gemeint) :
Und zwang das Feuer in Maschin' und Stahl, das Chaos in die Fesseln des Gesetzes.
Alles war neu, stählern: die Sonne war Stahl, die Bäume, die Menschen. Plötzlich kam ein Wahnsinniger und »befreite das Feuer von seiner Kette« — und wieder wird alles zugrunde gehen...
Leider habe ich ein schlechtes Gedächtnis für Verse, aber an diesen erinnere ich mich noch: eine lehrreichere und schönere Metapher kann es kaum geben. Wieder eine langsame, strenge Bewegung, und ein zweiter Dichter stand auf den Stufen des Würfels. Ich wäre beinahe von meinem Sitz aufgesprungen — war das ein Spuk? Nein, er war es, mein Freund mit den wulstigen Lippen... Warum hat er nichts davon verraten, dass ihm die große Ehre... Seine Lippen zuckten, sie waren aschfahl. Ich begriff: vor dem Wohltäter, vor den Beschützern zu stehen, das ging fast über die Kraft, dennoch, wie konnte man sich nur so erregen...
Schneidende, rasche Trochäen, messerscharf. Beilhiebe. Sie kündeten von einem unerhörten Verbrechen, von gotteslästerlichen Versen, in denen der Wohltäter mit Namen belegt wird, wie... Nein, ich bringe es nicht über mich, die Worte zu wiederholen.
R-13 war totenbleich; mit niedergeschlagenen Augen (ich hätte nicht vermutet, dass er so schüchtern ist) stieg er die Stufen hinab und setzte sich auf seinen Platz. Eine halbe Sekunde lang sah ich ein Gesicht neben ihm — ein scharf umrissenes schwarzes Dreieck —, und im gleichen Augenblick war es wie weggewischt: meine Augen, Tausende von Augen, waren auf die Maschine dort oben gerichtet. Die übermenschliche Hand machte eine dritte Bewegung. In einem unsichtbaren Wind schwankend, stieg der Verbrecher hinauf, eine Stufe, noch eine — ein Schritt, der letzte seines Lebens — und er lag, das Gesicht zum Himmel gekehrt, den Kopf zurückgeworfen, auf seinem letzten Lager. Schwer, ehern wie das Schicksal, schritt der Wohltäter um die Maschine herum, legte die riesige Hand auf den Hebel... Totenstille. Aller Augen hingen an dieser Hand. Welch feurig glühender Sturm, welch
innerer Aufruhr — das Werkzeug, die Resultate von 100.000 Volt zu sein! Welch großes Los! Eine unendliche Sekunde. Die Hand hatte den Strom eingeschaltet und sank herab. Die unerträglich helle Schneide des Strahls blitzte auf — ein Zittern, ein kaum vernehmliches Geräusch in den Röhren der Maschine. Der ausgestreckte Körper war in eine dünne, leuchtende Rauchwolke gehüllt — und da zerschmolz er vor unseren Augen, zerfloss, löste sich mit erschreckender Schnelligkeit auf. Nichts blieb von ihm als eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers, das noch eben rot im Herzen pulsierte... All das war höchst einfach, jedem von uns vertraut. Es war nichts weiter als die Dissoziation der Materie, die Spaltung der Atome des menschlichen Körpers. Dennoch war es jedes Mal von neuem ein Wunder, ein Zeichen der übermenschlichen Macht des Wohltäters. Dort oben, vor Ihm, standen zehn weibliche Nummern mit glühenden Wangen und vor Erregung halbgeöffneten Lippen. Die Blumen in ihren Händen schwankten sacht im Wind. (Diese Blumen stammten natürlich aus dem Botanischen Museum. Ich kann an Blumen nichts Schönes finden, wie auch an allen anderen Dingen der unzivilisierten Welt, die wir längst hinter die Grüne Mauer verbannt haben. Schön ist nur das Vernünftige und Nützliche: Maschine, Stiefel, Formeln, Nahrung usw.)
Nach altem Brauch schmückten diese zehn Frauen die noch nasse Uniform des Wohltäters mit Blumen. Mit dem majestätischen Schritt eines Oberpriesters stieg Er langsam die Stufen herab, ging langsam an den Tribünen vorbei — die Frauen streckten Ihm die Arme wie zarte weiße Zweige entgegen, donnernde Hochrufe, ein Sturm aus Millionen von Kehlen. Dann die gleichen Rufe für die Beschützer, die irgendwo unsichtbar in den Reihen sitzen.
Wer weiß, vielleicht hat die Phantasie der Menschen von einst unsere Beschützer vorausgeahnt, als sie die wohlwollend-strengen Schutzengel schuf, die jedem Menschen von seiner Geburt an zugesellt waren. Etwas von der alten Religion, etwas Reinigendes, wie Sturm und Gewitter, war in der ganzen Feier spürbar. Ihr, die ihr diese Zeilen lesen werdet, kennt ihr solche Augenblicke? Ihr tut mir leid, wenn ihr sie noch nicht erlebt habt...

 

EINTRAGUNG NR. 10

Übersicht: Der Brief. Die Membrane. Das zottige Ich.

Der gestrige Tag war für mich wie jenes Papier, durch das die Chemiker ihre Lösungen filtrieren: alle schweren Teilchen, alles Überflüssige bleibt darauf zurück. Am Morgen ging ich sauber destilliert und durchsichtig zur Halle hinunter.
Die Kontrolleurin saß an ihrem Tischchen, sah auf die Uhr und trug die Nummer der Hinausgehenden in eine Liste ein. Sie heißt U... ich will ihre Nummer lieber nicht nennen, denn ich fürchte, ich könnte etwas Hässliches über sie schreiben. Obwohl sie eigentlich eine anständige, nicht mehr ganz junge Frau ist. Das einzige an ihr, das mir nicht gefällt, sind ihre Hängebacken, die wie Kiemen aussehen.
Ihre Feder kratzte, ich sah meine Nummer, D-503, auf dem Papier und daneben einen Tintenklecks. Ich wollte sie gerade darauf aufmerksam machen, als sie plötzlich aufblickte und mir süß-säuerlich zulächelte: »Hier ist ein Brief für Sie.«
Ich wusste, dass dieser Brief, den sie bereits durchgelesen hatte, noch von den Beschützern zensiert werden musste (ich glaube, es ist überflüssig, diesen ganz natürlichen Vorgang zu erklären), und dass ich ihn nicht vor 12 Uhr erhalten würde. Aber dieses sonderbare Lächeln hatte mich verwirrt, so sehr verwirrt, dass ich mich später bei der Arbeit am Integral nicht konzentrieren konnte und sogar einmal einen Rechenfehler machte, was mir früher nie passiert ist.
Um 12 Uhr stand ich wieder vor den bräunlich-roten Fischkiemen, sah wieder das gleiche Lächeln — und endlich hielt ich den Brief in der Hand. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht sofort las, ich steckte ihn in die Tasche und eilte in mein Zimmer. Ich riss den Umschlag auf, überflog die Zeilen und — setzte mich... Der Brief war die offizielle Benachrichtigung, die Nummer I-330 habe sich auf mich eingetragen, und ich müsse heute um 21 Uhr bei ihr erscheinen... Adresse umstehend...
Und das, obwohl ich ihr so unmissverständlich gezeigt hatte, wie ich zu ihr stehe! Außerdem wusste sie gar nicht, ob ich nicht doch bei den Beschützern gewesen war — sie konnte von keinem Menschen erfahren haben, dass ich krank war —, ich hatte wirklich nicht hingehen können... Und dennoch...
In meinem Kopf rotierte, heulte ein Dynamo. Der Buddha, das gelbe Kleid, die Maiglöckchen — ein rosiger Halbmond... Auch das noch: heute Abend wollte O zu mir kommen. Soll ich ihr diese Benachrichtigung zeigen? Sie wird mir wohl nicht glauben (wie sollte sie das auch?), dass ich nichts damit zu tun habe, dass ich völlig unschuldig bin. Es wird gewiss zu einer sinnlosen, völlig unlogischen Auseinandersetzung kommen... Nein, nur
das nicht! Mag alles ganz mechanisch seinen Lauf nehmen, ich werde ihr einfach eine Abschrift dieser Benachrichtigung schicken.
Ich steckte den Brief hastig in die Tasche, und dabei sah ich meine hässliche Affenhand. Da fiel mir ein, wie sie, I-330, damals auf dem Spaziergang meine Hand genommen und betrachtet hatte. Dachte sie denn wirklich... Es ist Viertel vor neun. Eine weiße Nacht. Alles ringsum ist wie grünes Glas. Doch das ist ein anderes, dickes Glas, nicht das unsere, nicht das richtige, sondern eine dünne, gläserne Schale, und darunter wirbelt, brodelt, heult etwas... Ich würde mich nicht wundern, wenn jetzt die Kuppeln der Auditorien als runde Rauchwolken langsam emporstiegen, wenn der alte Mond verkniffen lächelte — wie jene Frau heute morgen hinter ihrem Tisch — und wenn in sämtlichen Häusern die Vorhänge zugezogen würden und dahinter...
Ein seltsames Gefühl: Ich spüre plötzlich meine Rippen, sie waren eiserne Bänder und beengten, bedrückten mein Herz. Ich stand vor einer Glastür mit den goldenen Ziffern I-330. I saß mit dem Rücken zu mir am Tisch und schrieb. Ich trat ein...
»Da«, ich hielt ihr mein Billett hin. »Ich habe heute morgen eine Benachrichtigung erhalten und bin gekommen... «
»Wie pünktlich Sie sind! Einen Augenblick bitte. Setzen Sie sich, ich bin sofort fertig.«
Sie blickte wieder auf ihren Brief — was mochte wohl jetzt in ihr vorgehen? Was würde sie in der nächsten Sekunde sagen, was würde sie tun? Wie sollte man das erfahren, berechnen, da bei ihr alles aus dem wilden, längst versunkenen Land der Träume kam? Ich betrachtete sie schweigend. Meine Rippen waren eiserne Spangen,
drückten... Wenn sie spricht, gleicht ihr Gesicht einem wirbelnden, blitzenden Rad, man kann die einzelnen Speichen nicht unterscheiden. Doch im Augenblick stand das Rad still, und ich sah eine seltsame geometrische Figur: Die hochgezogenen Brauen bildeten ein spitzwinkeliges Dreieck, zwei tiefe, spöttische Falten liefen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Diese beiden Dreiecke standen im Widerspruch zueinander und zeichneten das ganze Gesicht mit jenem unangenehmen, aufreizenden X, das einem Kreuz glich. Ein kreuzweise durchgestrichenes Gesicht.
Das Rad drehte sich, die Speichen verschmolzen... »Sie waren also nicht im Beschützeramt?« »Ich war... ich konnte nicht, ich war krank.« »Das habe ich mir gleich gedacht, irgend etwas musste Ihnen dazwischenkommen — ganz gleich was.« Sie lächelte, die scharfen Zähne blitzten. »Aber dafür habe ich Sie jetzt in der Hand. Vergessen Sie nicht: Jede Nummer, die nicht binnen 48 Stunden Anzeige erstattet, wird... «
Mein Herz klopfte so wild, dass es die Rippen zu sprengen drohte. Ich kam mir wie ein dummer Junge vor, den man bei einem Streich ertappt hat, und schwieg. Ich war völlig verwirrt, konnte weder Hand noch Fuß rühren... Sie stand auf und reckte sich wohlig. Dann drückte sie auf einen Knopf, und die Gardinen schlossen sich mit leisem Rauschen. Ich war von der Welt abgeschnitten, allein mit ihr.
I stand irgendwo hinter mir, vor dem Schrank. Ihre Uniform raschelte, glitt zu Boden — ich lauschte gespannt. Da dachte ich, es durchzuckte mich wie ein Blitz ... Neulich musste ich die Krümmung einer neuen Straßenmembrane berechnen (jetzt hängen die elegant dekorierten
Membranen in allen Straßen und registrieren die Gespräche der Passanten für das Beschützeramt), und plötzlich musste ich denken: die konkave, rosige, schwingende Membrane ist eigentlich ein seltsames Wesen, es besteht aus einem einzigen Organ, dem Ohr. Eine solche Membrane war ich jetzt.
Leise klirrte ein Knopf am Kragen — an der Brust — noch weiter unten. Die gläserne Seide glitt über die Schultern, die Knie — zu Boden. Ich hörte, deutlicher als man es sehen konnte, wie das eine, dann das andere Bein aus dem blaugrauen Seidenhaufen stieg. Die straff gespannte Membrane lebte und registrierte: Stille. Nein, scharfe Hammerschläge gegen die Rippen. Ich hörte, sah: Sie überlegte eine Sekunde lang.
Die Schranktür klappte, schloss sich wieder — Seide, Seide... »Bitte.«
Ich wandte mich um. Sie trug ein leichtes, safrangelbes altmodisches Kleid. Das war tausendmal schlimmer, als wenn sie nichts angehabt hätte. Zwei spitze rosige Punkte schimmerten in dem dünnen Gewebe wie zwei Kohlen in der Asche. Zwei zärtlich gerundete Knie... Sie setzte sich in den niedrigen Sessel. Auf dem quadratischen Tischchen vor ihr standen eine Flasche mit einer giftgrünen Flüssigkeit und zwei Gläser mit dünnem Stiel. Im Mund hatte sie eine dünne Papierpfeife, wie man sie in alten Zeiten rauchte (den Namen dafür habe ich vergessen).
Die Membrane schwang immer noch. Der Hammer in mir schlug auf rotglühende Eisenstäbe. Ich hörte deutlich jeden einzelnen Schlag... Konnte auch sie es hören? Nein, sie rauchte ruhig weiter, blickte mich an und schüttelte die Asche achtlos auf mein rosa Billett. Ich fragte sie so kaltblütig wie möglich:
»Warum haben Sie sich eigentlich auf mich eingetragen? Und warum haben Sie mich gezwungen, hierher zu kommen?«
Sie tat, als hörte sie nicht, goss die Gläser voll und nahm einen Schluck.
»Ein ausgezeichneter Likör. Trinken Sie auch einen?« Da erst begriff ich, dass es Alkohol war! Wie ein Blitz zuckte mir ein Erlebnis von gestern durch den Kopf, die steinerne Hand des Wohltäters, der blendend helle Lichtstrahl, der ausgestreckte Körper mit dem weit zurückgebogenen Kopf. Ich erbebte.
»Aber«, sagte ich, »wissen Sie denn nicht, alle, die sich mit Nikotin und besonders mit Alkohol vergiften, wird der Einzige Staat unbarmherzig... «
Die dunklen Brauen schnellten empor, bildeten ein spöttisches Dreieck. »Einige wenige schnell zu vernichten ist vernünftiger, als vielen die Möglichkeit zu geben, sich selbst umzubringen; und die Degeneration usw.... Das ist die nackte Wahrheit.« »Ja, die nackte Wahrheit...«
»Und wenn man die ganze Gesellschaft solcher glatzköpfigen, nackten Wahrheiten auf die Straße hinausließe... stellen Sie sich nur vor, meinetwegen meinen hartnäckigen Verehrer — Sie kennen ihn doch — stellen Sie sich vor, er würde die ganze Lüge seiner Verkleidung abwerfen und sich in seiner wahren Gestalt in der Öffentlichkeit zeigen... ach!«
Sie lachte. Aber ich konnte das untere, traurige Dreieck in ihrem Gesicht deutlich erkennen — zwei tiefe, bittere Falten von der Nase zu den Mundwinkeln. Diese Falten verrieten mir, dass er, der zweifach gekrümmte, bucklige Kerl mit den abstehenden Ohren sie umarmt hatte, sie, eine solche Frau... er...
Ich will versuchen, die anomalen Gefühlen, die ich in diesem Augenblick empfand, zu schildern. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich genau: All das musste so sein; er hatte das gleiche Recht auf Glück wie jede andere anständige Nummer, und es wäre ungerecht von mir... I lachte sonderbar und lange. Dann sah sie mich durchdringend an: »Wissen Sie, vor Ihnen habe ich nicht die geringste Angst. In Ihrer Gegenwart bin ich ganz ruhig. Sie sind ein netter, lieber Mensch — davon bin ich überzeugt —, und Sie denken nicht daran, zu den Beschützern zu laufen und anzuzeigen, dass ich Likör trinke und rauche. Sie werden krank sein oder sonst etwas. Noch mehr — ich bin sogar überzeugt, dass Sie gleich mit mir dieses berauschende Gift trinken werden.« Welch spöttischer, dreister Ton! Jetzt hasste ich sie wieder. Wieso »jetzt«? Ich habe sie doch die ganze Zeit gehasst. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus, machte ein paar Schritte — die rosigen Punkte unter dem gelben Kleid schimmerten — und blieb hinter meinem Sessel stehen. Plötzlich schlang sie die Arme um meinen Hals, presste ihre Lippen auf meinen Mund... Ich schwöre, das kam völlig unerwartet für mich, und vielleicht nur, weil... Denn, was dann geschah, das konnte ich doch nicht wollen — soviel ist mir jetzt klar.
Ich fühlte unerträglich süße Lippen (ich glaube, es war der Geschmack des Likörs) — und ein Schluck des brennenden Giftes floss in meinen Mund, ein zweiter, ein dritter... Ich löste mich von der Erde und stürzte wie ein selbständiger Planet, mich rasend um meine Achse drehend, hinab, immer tiefer hinab — in einer unberechenbaren Bahn...
Alles weitere kann ich nur ungefähr beschreiben, nur mit Hilfe mehr oder minder passender Analogien.
Früher wäre mir das nie in den Sinn gekommen, aber es ist so: Wir Menschen auf der Erde gehen stets über einem brodelnden Feuermeer, das sich tief im Schoß der Erde verbirgt und an das wir nie denken. Mit einemmal war mir, als wäre die dünne Rinde unter meinen Füßen zu durchsichtigem Glas geworden, als könnte ich plötzlich sehen... Ich wurde zu Glas. Ich konnte in mein Inneres blicken.
Da waren zwei Ich, das alte D-503, die Nummer D-503, und das andere... Früher hatte es sehr selten seine behaarten Hände aus der Schale emporgestreckt, doch jetzt war es ganz herausgekrochen, die Schale krachte, gleich würde sie in tausend Stücke zerspringen, und — was dann?
Ich klammerte mich mit aller Kraft an einen Strohhalm, an die Sessellehne, und fragte, nur um die Stimme jenes früheren Ich zu hören:
»Wo... wo haben Sie dieses... dieses Gift her?« »Von einem Arzt, einem meiner Freunde.« »Einem Freund! Wer ist das?«
Und mein anderes Ich sprang plötzlich auf und schrie: »Das erlaube ich nicht! Ich will, dass keiner da ist, außer mir! Ich schlage jeden tot, der... weil ich Sie... « Ich sah, wie jener andere sie grob mit seinen behaarten Händen packte, ihr die Seide vom Leib riss, die Zähne in ihre Schulter grub, ich weiß es noch genau, die Zähne! I befreite sich, wie, weiß ich nicht mehr. Sie stand mit gesenkten Lidern gegen den Schrank gelehnt und hörte mir schweigend zu.
Ich kniete auf dem Fußboden, umschlang ihre Beine, küsste ihre Knie. Ich flehte: »Bitte, bitte, sofort — jetzt, in diesem Augenblick!« Die scharfen Zähne blitzten, die Brauen zuckten spöttisch.
Sie neigte sich zu mir und knöpfte wortlos mein Abzeichen mit der Nummer ab. »Ja, Liebste...!« Ich nestelte hastig an meiner Uniform. Aber I hielt mir, immer noch schweigend, die Uhr auf meinem Abzeichen hin. Fünf Minuten vor halb elf.
Ich erstarrte. Ich wusste, was es bedeutet, sich nach 22.30 Uhr auf der Straße zu zeigen. Alle Wahnideen waren wie weggeblasen, ich war wieder ich. Mir wurde das eine klar: Ich hasse sie, ich hasse sie!
Ohne mich zu verabschieden, ohne mich umzusehen, stürzte ich aus dem Zimmer. Im Laufen steckte ich irgendwie das Abzeichen an die Uniform, rannte die Nottreppe hinunter (ich fürchtete, jemandem im Lift zu begegnen) auf die verlassene Straße.
Alles war an seinem Platz — alles ganz einfach, alltäglich, gesetzmäßig: die hellerleuchteten, gläsernen Häuser, der gläserne bleiche Himmel, die grünliche regungslose Nacht. Aber unter diesem stillen, kühlen Glas toste unhörbar etwas Wildes, Rotes, Zottiges. Auch ich jagte keuchend dahin, um nicht zu spät zu kommen.
Plötzlich merkte ich, dass mein Abzeichen sich gelockert hatte, es löste sich von der Uniform und fiel klirrend auf das gläserne Pflaster. Ich bückte mich, um es aufzuheben — und in der sekundenlangen Stille hörte ich leise, schlurfende Schritte hinter mir. Ich wandte mich um; etwas Kleines, Krummes bog um die Ecke. So kam es mir wenigstens damals vor.
Ich rannte, so schnell ich konnte. Am Eingang meines Hauses blieb ich stehen, die Uhr zeigte eine Minute vor halb elf. Ich lauschte — niemand folgte mir. Alles war nur Einbildung, eine Nachwirkung jenes Giftes. Die Nacht war qualvoll. Das Bett unter mir hob sich, senkte sich, hob sich von neuem und beschrieb eine Sinus-
kurve. Ich sagte mir immer wieder: »In der Nacht müssen alle Nummern schlafen. Das ist ebenso eine Pflicht wie die Arbeit am Tage. Das ist notwendig, damit man tags­über arbeiten kann. In der Nacht nicht zu schlafen, ist ein Verbrechen.«
Trotzdem konnte ich kein Auge zutun. Ich gehe zugrunde. Ich bin nicht mehr fähig, meine Pflichten dem Einzigen Staat gegenüber zu erfüllen... Ich...

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