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Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
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EINTRAGUNG NR. 1

Übersicht: Eine Zeitungsnotiz. Die weiseste aller Linien. Ein Poem.

Ich schreibe hier genau ab, was ich in der heutigen Staatszeitung lese:
»In hundertzwanzig Tagen ist unser erstes Raketenflugzeug Integral vollendet. Es naht die große historische Stunde, da sich der Integral in den Weltraum aufschwingen wird. Vor einem Jahrtausend haben eure heroischen Vorfahren diesen Planeten dem Einzigen Staat Untertan gemacht. Ihr seid es, deren gläserner, elektrischer, Feuer speiender Integral die unendliche Gleichung des Alls integrieren wird. Eure Aufgabe ist es, jene unbekannten Wesen, die auf anderen Planeten — vielleicht noch in dem unzivilisierten Zustand der Freiheit — leben, unter das segensreiche Joch der Vernunft zu beugen. Sollten sie nicht begreifen, dass wir ihnen ein mathematisch-fehlerfreies Glück bringen, haben wir die Pflicht, sie zu einem glücklichen Leben zu zwingen. Doch bevor wir zu den Waffen greifen, wollen wir es mit dem Wort versuchen. Im Namen des Wohltäters wird sämtlichen Nummern des Einzigen Staates bekannt gegeben: jeder, der sich dazu befähigt glaubt, ist verpflichtet, Traktate, Poeme, Manifeste, Oden und andere die Schönheit und erhabene Größe des Einzigen Staates preisende Werke zu verfassen.
Diese Werke werden die erste Botschaft sein, die der Integral in den Weltraum trägt. Heil dem Einzigen Staat! Heil dem Wohltäter! Heil den Nummern!« Mit glühenden Wangen schreibe ich diese Worte nieder. Ja, wir werden diese herrliche, das ganze Weltall um-
fassende Gleichung integrieren! Wir werden die wilde, krumme Linie geradebiegen, sie zur Tangente, zur Asymptote machen. Denn die Linie des Einzigen Staates ist die Gerade. Die große, göttliche, weise Gerade, die weiseste aller Linien.
Ich, Nr. D-503, der Konstrukteur des Integral, ich bin nur einer der vielen Mathematiker des Einzigen Staates. Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik aus Assonanzen und Rhythmen zu schaffen. Ich kann nur das wiedergeben, was ich sehe, was ich denke, genauer gesagt, was WIR denken. WIR — das ist das richtige Wort, und deshalb sollen meine Aufzeichnungen den Titel WIR tragen.
Aber sind sie nicht eine von unserem Leben, von dem mathematisch vollkommenen Leben des Einzigen Staates abgeleitete Größe, und wenn das stimmt, müssen sie nicht ganz von selber zum Poem werden? Ja, sie müssen es, ich glaube, ich weiß es.
Ich schreibe diese Zeilen und fühle meine Wangen dabei glühen. Das ist wahrscheinlich das gleiche, was eine Frau empfindet, wenn sie zum ersten Mal den Herzschlag eines neuen, noch winzig kleinen Menschenwesens in sich spürt. Dieses Werk — das bin ich, und doch bin ich es nicht. Viele Monate noch muss ich es mit meinem Blut nähren, bevor ich es unter Schmerzen gebären und dem Einzigen Staat darbringen kann. Aber ich bin bereit wie jeder von uns, oder fast jeder.

 

EINTRAGUNG NR. 2

Übersicht: Das Ballett. Die quadratische Harmonie. X.

Frühling. Aus der wilden, unbekannten Weite jenseits der Grünen Mauer weht der Wind gelben Blütenstaub herüber. Dieser süßliche Staub macht die Lippen trocken — man muss sie alle Augenblicke mit der Zunge anfeuchten —, alle Frauen, die mir begegnen, haben diese süßen Lippen (die Männer natürlich auch). Das verwirrt das logische Denken ein wenig.
Doch was für ein Himmel! Tiefblau, von keiner einzigen Wolke befleckt (was für einen jämmerlichen Geschmack müssen unsere Vorfahren gehabt haben, wenn diese dummen, unförmigen Dampfklumpen ihre Dichter begeistern konnten). Ich liebe einen sterilen, peinlich sauberen Himmel. Nicht ich allein, wir alle, ich täusche mich nicht, lieben ihn. An einem Tag wie heute ist die ganze Welt aus dem unzerbrechlichen ewigen Glas gegossen, aus dem die Grüne Mauer und alle unsere Gebäude bestehen. An solchen Tagen sieht man die blauste Tiefe dieser Dinge, nimmt unbekannte Größen, wunderbare Gleichungen wahr — man entdeckt sie im Allergewöhnlichsten, Alltäglichsten...
Heute morgen zum Beispiel war ich auf der Werft, wo der Integral gebaut wird. Plötzlich fiel mein Blick auf die Maschinen. Mit geschlossenen Augen, selbstvergessen, drehten sich die Kugeln der Regulatoren. Die blitzenden Hebel neigten sich nach rechts und nach links, stolz wiegte sich die Balancierstange in den Schultern, der Meißel der Stemmmaschine knirschte im Takt einer unhörbaren Musik. Da ging mir die Schönheit dieses prächtigen, von bläulichem Sonnenlicht überfluteten Maschinenballetts auf.
Unwillkürlich fragte ich mich dann: Warum ist das schön? Warum ist der Tanz schön? Die Antwort: Weil er eine unfreie, eine gebundene Bewegung ist, weil sein tieferer Sinn die vollkommene ästhetische Unterwerfung, die ideale Unfreiheit ist. Wenn es stimmt, dass unsere Ahnen in Augenblicken der höchsten Begeisterung sich dem Tanz hingaben (religiöse Mysterien, Militärparaden), dann kann das nur das eine bedeuten: der Trieb zur Unfreiheit ist dem Menschen angeboren, und wir in unserem heutigen Leben tun nur bewusst...
Ich werde unterbrochen, in meinem Numerator ist eine Klappe gefallen. Ich blicke auf: O-90, natürlich. In einer halben Minute ist sie bei mir, sie will mich zum Spaziergang abholen.
Die liebe O! Ich fand schon immer, dass sie genau wie ihr Name aussieht: sie ist zehn Zentimeter unter der Mutternorm, ganz rund, wie gedrechselt, und bei jedem Wort, das sie sagt, formt ihr Mund ein rosiges O. Am Handgelenk hat sie tiefe runde Grübchen wie ein Kind. Als sie in mein Zimmer kam, kreiste das Schwungrad der Logik noch in mir, und das Trägheitsgesetz wollte es, dass ich O von der Formel erzählte, die ich eben gefunden hatte, die Formel, die alles umfasst, uns, die Maschinen und den Tanz. »Wunderbar, nicht wahr?« fragte ich. »Ja, wunderbar, der Frühling!« antwortete O mit strahlendem Lächeln.
So etwas! Der Frühling... sie redet vom Frühling! Ach, diese Frauen... Ich schwieg.
Drunten auf der Straße. Der Prospekt ist von Leben erfüllt: bei solchem Wetter verwenden wir unsere persönliche Stunde nach dem Mittagessen gewöhnlich zu einem Ausgleichsspaziergang. Wie immer erklang aus
sämtlichen Lautsprechern der Musikfabrik der Marsch des Einzigen Staates. In mustergültig ausgerichteten Viererreihen marschierten die Nummern im Takt zu den feierlichen Klängen — Hunderte, Tausende, alle in blaugrauen Uniformen, mit goldenen Abzeichen an der Brust — die uns vom Staat gegebene Nummer, die wir tragen. Und ich — wir vier in dieser Reihe, wir sind nur eine der unzähligen Wellen des gewaltigen Stromes. Zu meiner Linken geht O-90 (wenn einer meiner behaarten Ahnen diese Aufzeichnungen vor tausend Jahren geschrieben hätte, dann hätte er vielleicht »meine O-90« gesagt), rechts zwei andere, mir unbekannte Nummern, eine weibliche und eine männliche.
Strahlendes Glück des blauen Himmels, die goldenen Abzeichen blinken wie winzige Sonnen, nirgends ein Gesicht, das verdüstert ist, überall heller Glanz, alles aus einer leuchtenden, lächelnden Materie gewoben. Und die ehernen Takte: Tra-ta-ta-tam, tra-ta-ta-tam, sind sonnenbeglänzte eherne Stufen, mit jeder Stufe steigt man hinauf, immer höher hinauf ins schwindelnde Blau... Plötzlich sah ich alle Dinge wieder so wie heute morgen auf der Werft. Mir war, als erblickte ich dies alles zum ersten Mal in meinem Leben: die schnurgeraden Straßen, das lichtfunkelnde Glas des Straßenpflasters, die langgestreckten Kuben der durchsichtigen Wohnhäuser, die quadratische Harmonie der blaugrauen Marschblöcke. Nicht eine Generation nach der anderen war nötig gewesen: ich allein hatte den alten Gott und das alte Leben besiegt. Ich hatte das alles geschaffen, ich war wie ein Turm, und ich wagte nicht, die Ellbogen zu bewegen, damit die Mauern, Kuppeln und Maschinen nicht einstürzten und zersplitterten ... Im nächsten Augenblick — ein Sprung durch die Jahr-
hunderte, von Plus zu Minus. Mir fiel ein Bild im Museum ein (wahrscheinlich eine Assoziation der Kontraste): eine Straße des 20. Jahrhunderts, ein verwirrend buntes Gewühl von Menschen, Rädern, Tieren, Plakaten, Bäumen, Farben und Vögeln... Aber das hat es tatsächlich gegeben! Mir erschien das alles so unwahrscheinlich und absurd, dass ich mich nicht beherrschen konnte und in lautes Gelächter ausbrach. Sogleich kam das Echo — ein Lachen zu meiner Rechten. Ich blickte nach rechts und sah weiße, ungewöhnlich weiße, scharfe Zähne im Gesicht einer mir unbekannten Frau.
»Verzeihen Sie«, sagte sie, »aber Sie haben alles so entzückt betrachtet wie ein gewisser mythischer Gott an seinem siebten Schöpfungstag. Sie sehen aus, als wären Sie sicher, dass Sie und kein anderer auch mich geschaffen haben. Sehr schmeichelhaft für mich... « All das sagte sie ganz ernst, fast mit einem gewissen Respekt (vielleicht wusste sie, dass ich der Konstrukteur des Integral bin). Und dennoch — in ihren Augen oder in ihren Brauen war ein merkwürdig aufreizendes X; ich konnte diese Unbekannte nicht erfassen, sie nicht in Zahlen ausdrücken. Ich war sehr verlegen und versuchte verwirrt, mein Lachen logisch zu begründen. Es sei völlig klar, sagte ich, dass dieser Kontrast, dass diese unüberbrückbare Kluft zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit... »Aber warum soll diese Kluft unüberbrückbar sein?« unterbrach sie mich. Wie weiß ihre Zähne waren! »Man kann eine Brücke über sie schlagen. Stellen Sie sich vor: Trommeln, Bataillone, Menschen in Reih und Glied — das hat es auch damals gegeben, folglich... Nun, das ist doch ganz klar!« rief sie. (Was für eine seltsame Gedankenübertragung: sie gebrauchte die gleichen Worte, die ich vor dem Spaziergang niedergeschrieben
hatte!) »Sehen Sie«, sagte ich, »wir haben die gleichen Gedanken. Wir sind eben keine Einzelwesen mehr, sondern jeder von uns ist nur einer von vielen. Wir gleichen einander so sehr... « »Sind Sie ganz sicher?«
Ihre hochgezogenen Brauen bildeten einen spitzen Winkel zur Nase, es sah aus wie ein exakt gezeichnetes X, und das verwirrte mich von neuem. Ich blickte nach rechts, nach links, wieder nach rechts... Da schritt sie, schlank, sehnig, geschmeidig wie eine Gerte, I-330 (jetzt erst sah ich ihre Nummer); links ging O, die so ganz anders war, nur aus Kreisen und Kurven zu bestehen schien, und am Ende unserer Reihe eine mir unbekannte männliche Nummer — zweifach gekrümmt wie ein S. Keiner glich dem anderen. Wir waren alle verschieden... Die I-330 hatte offenbar meinen zerstreuten Blick bemerkt, denn sie sagte seufzend: »O weh!« Dieses »O weh« war durchaus angebracht, doch wieder war etwas in ihrem Gesicht oder in ihrer Stimme... Ich entgegnete scharf: »Kein O weh! Die Wissenschaft schreitet voran, und es ist klar, dass wir alle, wenn auch nicht jetzt, so doch in fünfzig oder hundert Jahren... « »Dass wir dann alle die gleichen Nasen haben... « »Ja, die gleichen Nasen!« Ich schrie es fast. »Denn die Verschiedenheit der Nasen ist ein Grund zum Neid... Wenn ich eine Knollennase habe, und ein anderer... « »Was wollen Sie? Ihre Nase ist geradezu klassisch, wie man früher sagte. Aber wie ist es mit Ihren Händen... Zeigen Sie mir einmal Ihre Hände. Zeigen Sie sie doch!« Ich kann es nicht ausstehen, wenn man meine Hände betrachtet. Sie sind dicht behaart, haben einen richtigen Pelz. Das ist ein verrückter Atavismus. Ich hielt ihr meine Hände hin und sagte gleichgültig: »Affenhände.«
Sie sah sie an und dann mein Gesicht. »Das ist wirklich ein interessanter Zusammenklang.« Sie maß mich mit einem abschätzenden Blick und zog wieder die Brauen hoch.
»Er ist auf mich eingetragen«, flöteten die rosigen Lippen O.s voller Stolz.
Sie hätte lieber schweigen sollen. Ihre Bemerkung war überflüssig. Überhaupt, die liebe gute O... wie soll ich nur sagen... Es stimmt etwas nicht mit der Geschwindigkeit ihrer Zunge. Die Sekundengeschwindigkeit der Zunge muss stets ein wenig geringer sein als die Sekundengeschwindigkeit des Denkens; umgekehrt ist es von Übel. Vom Akkumulatorenturm am Ende des Prospekts schlug die Uhr fünf. Die persönliche Stunde war um. I-330 ging mit jener S-ähnlichen männlichen Nummer fort. Er hat ein Achtung gebietendes Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich war ihm schon begegnet, ich konnte mich im Augenblick nur nicht darauf besinnen, wo. Beim Abschied lächelte I mir rätselhaft zu. »Schauen Sie doch morgen einmal im Auditorium 112 herein«, sagte sie.
Ich zuckte die Achseln: »Wenn ich eine Order erhalte, ich meine, für dieses Auditorium, das Sie mir genannt haben... «
Mit einer Bestimmtheit, die mir unverständlich war, sagte sie: »Sie werden eine Order bekommen.« Diese Frau wirkte auf mich ebenso unangenehm wie ein unlösbares irrationales Glück, das unvermutet in einer Gleichung auftaucht, und ich war froh, dass ich mit der lieben O, wenn auch nur für kurze Zeit, allein blieb. Arm in Arm gingen wir bis zu der vierten Straßenkreuzung. An der Ecke musste sie links, ich rechts abbiegen. »Ich würde heute so gern zu Ihnen kommen und die
Gardinen herunterlassen. Gerade heute, jetzt, in diesem Augenblick... «, sagte O und sah mich schüchtern mit ihren runden, kristallblauen Augen an. Was sollte ich dazu sagen? Erst gestern war sie bei mir gewesen, und sie wusste genauso gut wie ich, dass unser nächster Geschlechtstag erst übermorgen war. Ihre Zunge war wieder einmal schneller als ihr Denken, ähnlich der (manchmal so schädlichen) Frühzündungen eines Motors. Zum Abschied küsste ich sie zweimal, nein, ich will genau sein, dreimal auf ihre wundervollen blauen, von keiner Wolke getrübten Augen.

 

EINTRAGUNG NR. 3

Übersicht: Der Rock. Die Mauer. Die Gesetzestafel.

Ich habe meine gestrigen Aufzeichnungen noch einmal durchgelesen, und es kommt mir so vor, als ob ich mich nicht klar genug ausgedrückt hätte. Uns Nummern ist das alles freilich sonnenklar. Doch wer weiß, vielleicht haben Sie, unbekannte Leser, denen der Integral meine Aufzeichnungen bringen wird, das große Buch der Zivilisation nur bis zu der Seite gelesen, bei der unsere Vorfahren vor 900 Jahren stehen geblieben sind. Es ist durchaus möglich, dass Sie nicht einmal solch elementare Dinge wie die Stunden-Gesetzestafel, die Persönlichen Stunden, die Mutternorm, die Grüne Mauer und den Wohltäter kennen. Ich finde es lächerlich und zugleich sehr schwierig, Ihnen dies alles auseinanderzusetzen. Es ist genauso, wie wenn ein Schriftsteller, nun, sagen wir des 20. Jahrhunderts, in seinem Roman erklären müsste, was ein Rock, eine Wohnung, eine Gattin ist. Übrigens, wenn
sein Buch für unzivilisierte Völker übersetzt wurde, dann konnte man kaum ohne eine Anmerkung zu dem Wort Rock auskommen.
Wenn der Wilde Rock las, dachte er gewiss: »Wozu das? Das ist doch nur eine Last.« Ich glaube, auch Sie werden große Augen machen, wenn ich Ihnen sage, dass seit dem 200jährigen Krieg keiner von uns in dem Land jenseits der Grünen Mauer gewesen ist.
Aber, verehrter Leser, denken Sie nur einmal ein wenig nach: Die ganze Geschichte der Menschheit, soweit wir sie kennen, ist die Geschichte des Übergangs vom Nomadentum zu wachsender Sesshaftigkeit. Daraus folgt, dass die Lebensform der zähesten Sesshaftigkeit (nämlich die unsere) auch die vollkommenste ist (wiederum die unsere). Nur in prähistorischen Zeiten, als es noch Nationen, Kriege und Handel gab, als mehr als nur ein Amerika entdeckt wurde, zogen die Menschen sinn- und planlos von einem Ende der Welt zum anderen. Aber wozu, wer braucht das jetzt noch?
Ich gebe zu, die Gewöhnung an diese Sesshaftigkeit wurde nicht sofort und auch nicht ohne Mühe erreicht. Im 200jährigen Krieg, als alle Landstraßen zerstört und mit Gras überwuchert waren, musste es anfangs recht unangenehm sein, in Städten zu leben, die durch grüne Ein­öden voneinander abgeschnitten waren. Aber was hat das schon zu bedeuten? Nachdem der Mensch seinen Affenschwanz verloren, hat er wahrscheinlich auch nicht sofort gelernt, die Fliegen ohne dieses Hilfsmittel zu verjagen. Anfangs kam er sich ohne Schwanz zweifellos sehr kläglich vor. Anfangs hat er seinen Schwanz bestimmt schmerzlich vermisst. Jetzt aber — können Sie sich vorstellen, dass Sie einen Schwanz hätten? Oder dass Sie nackt auf der Straße herumliefen, ohne Rock (vielleicht
tragen Sie noch einen Rock)} Mir geht es ebenso: Ich kann mir keine Stadt ohne die Grüne Mauer denken, kein Leben, das nicht in das Zahlengewand der Gesetzestafel gekleidet ist.
Die Gesetzestafel... Von der Wand meines Zimmers blicken ihre purpurnen Zahlen auf goldenem Grund mir wohlwollend-streng in die Augen. Unwillkürlich muss ich an das denken, was die Alten Ikone nannten, und ich möchte Verse schreiben oder beten (was übrigens das gleiche ist). Ach, warum bin ich kein Dichter, um dich würdig zu preisen, o Gesetzestafel, du Herz und Puls des Einzigen Staates! Wir alle (vielleicht auch Sie) haben schon als Schulkinder das größte aller uns erhaltenen Denkmäler der alten Literatur gelesen, den Eisenbahnfahrplan. Vergleichen Sie ihn einmal mit der Gesetzestafel, und Sie werden sehen: Das eine ist Graphit, das andere Diamant, beide bestehen aus dem gleichen Element, C, Kohlenstoff, aber wie durchsichtig-klar ist der Diamant, wie leuchtet er! Ihnen geht gewiss der Atem aus, wenn Sie die Seiten des Fahrplans entlangjagen. Die Stunden-Gesetzestafel hingegen verwandelt jeden von uns in einen stählernen sechsrädrigen Helden des großen Poems. Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Exerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen ... Ich will ganz offen sein: Die absolute, endgültige Lösung
des Problems Glück haben selbst wir noch nicht gefunden: Zweimal am Tag, von 16 bis 17 und von 21 bis 22 Uhr, spaltet sich der gewaltige Organismus in einzelne Zellen auf — das sind die von der Gesetzestafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Zu dieser Zeit sehen Sie folgendes Bild: Die einen sitzen hinter geschlossenen Gardinen in ihren Zimmern, andere gehen im Takt zu den ehernen Klängen des Marsches auf dem Prospekt spazieren, wieder andere sitzen am Schreibtisch, wie ich in diesem Augenblick. Aber ich glaube — man mag mich einen Idealisten oder Phantasten nennen —, ich glaube ganz fest daran, dass wir irgendwann, früher oder später, auch für diese zwei Stunden einen Platz in der allgemeinen Formel finden werden, dass dann die Gesetzestafel sämtliche 86.400 Sekunden des Tages umfassen wird. Viel Unwahrscheinliches habe ich von jenen Zeiten gelesen und gehört, da die Menschen noch in Freiheit, nicht organisiert und wie die Wilden lebten. Aber am unbegreiflichsten war es mir immer, wie der damalige Staat, so unvollkommen er auch gewesen sein mag, es dulden konnte, dass die Menschen ohne Verordnungen lebten, die denen unserer Gesetzestafel vergleichbar wären, ohne Pflichtspaziergänge, ohne genau festgelegte Essenszeiten, dass sie aufstanden und zu Bett gingen, wann es ihnen gerade einfiel; einige Historiker berichten sogar, dass damals die ganze Nacht Lampen in den Straßen brannten, dass die Leute nachts durch die Straßen gingen und fuhren.
Ich kann das einfach nicht fassen. Wie beschränkt ihre Einsicht auch war, sie mussten doch erkennen, dass dieses Leben Selbstmord war, ein langsamer Selbstmord. Der Staat (die Humanität) verbot, einen Menschen zu töten, verbot aber nicht, Millionen umzubringen. Einen zu töten,
das heißt die Summe aller Menschenleben um 50 Jahre zu verringern, war ein Verbrechen, aber die gleiche Summe um 50 Millionen Jahre zu verringern, war keines. Ist das nicht lächerlich?
Jede beliebige zehnjährige Nummer unseres Staates kann dieses mathematisch-moralische Problem in einer halben Minute lösen; sie aber vermochten es nicht, nicht einmal all ihre Kants zusammen (weil keiner dieser Kants draufkam, ein System wissenschaftlicher Ethik zu schaffen, einer Ethik nämlich, die auf Substraktion, Addition, Division und Multiplikation beruht).
Und ist es nicht absurd, dass der Staat von damals (dieses Gebilde wagte sich Staat zu nennen) das Geschlechtsleben ohne jegliche Kontrolle ließ? Die Menschen konnten sich vergnügen, wann und wie sie wollten, und sie zeugten Kinder wie die Tiere, in blinder Lust, ohne sich um die Lehren der Wissenschaft zu kümmern. Ist das nicht lächerlich: Sie kannten sich in Gartenbau, Geflügelzucht, Fischzucht aus (wir haben zuverlässige Quellen darüber) und vermochten dennoch nicht, die letzte Sprosse dieser logischen Leiter zu erklimmen: die Kinderzucht. Sie kamen nicht auf unsere Vater- und Mutternorm. Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist so töricht und unwahrscheinlich, dass Sie, unbekannter Leser, mich vielleicht für einen üblen Witzbold halten. Sie werden denken, dass ich mich über Sie lustig mache und mit todernster Miene den größten Unsinn von mir gebe.
Aber erstens bin ich gar nicht fähig, einen Witz zu machen — jeder Witz ist eine unklare Funktion, also eine Lüge —, und zweitens behauptet die Wissenschaft des Einzigen Staates, dass das Leben unserer Vorfahren so und nicht anders war, und die Wissenschaft des Einzigen Staates kann sich nicht irren. Woher hätte damals, als
die Menschen in Freiheit, nämlich wie Tiere, wie Affen in Herden, lebten, die Staatslogik herkommen sollen? Was konnte man von ihnen erwarten, wenn man sogar noch in unseren Tagen irgendwoher aus der Tiefe, aus dem wilden Abgrund, das wilde Echo des Affen vernimmt? Zum Glück vernehmen wir es nur selten. Zum Glück sind das nur unbedeutende kleine Schäden, die wir leicht beheben können, ohne den ewigen Lauf der ganzen Maschine zu stoppen. Wenn wir einen verbogenen Bolzen entfernen müssen — dazu haben wir die geschickte, starke Hand des Wohltäters und die scharfen Augen der Beschützer... Übrigens, da fällt mir ein, diese S-ähnliche Nummer von gestern habe ich, glaube ich, einmal aus dem Beschützeramt herauskommen sehen. Jetzt begreife ich, warum ich unwillkürlich Ehrfurcht vor ihm empfand und warum mir so unbehaglich zumute wurde, als die sonderbare I-300 in seiner Gegenwart... Ich muss gestehen, diese I... Es läutet zum Schlafengehen: 22.30 Uhr. Bis morgen.

 

EINTRAGUNG NR. 4

Übersicht: Der Wilde und das Barometer. Epilepsie. Wenn...

Bis zum heutigen Tag war mir alles im Leben völlig klar (ich habe wohl nicht zufällig eine gewisse Vorliebe für das Wort klar). Heute aber... Ich kann es nicht fassen.
Erstens: Ich habe tatsächlich Order erhalten, zum Auditorium 112 zu kommen, wie sie mir sagte. Obgleich die Wahrscheinlichkeit dafür nur 1500 : 10,000.000 = 3 : 20.000 war (1500 = Anzahl der Auditorien, 10,000.000 = Anzahl der Nummern). Und drittens... Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Das Auditorium. Eine riesige, sonnendurchglühte Halbkugel aus massivem Glas. Zahllose kugelförmige, glattrasierte Köpfe. Ich blickte mich etwas beklommen um. Ob hier nicht irgendwo über den blauen Wogen der Uniformen ein rosiger Halbmond schwebte, die lieben Lippen von O? Da — eine Reihe ungewöhnlich weißer, scharfer Zähne... Nein, es war etwas anderes, das ich suchte. Heute Abend um 21 Uhr wird O zu mir kommen; der Wunsch, sie hier zu sehen, war also ganz natürlich. Ein Klingelzeichen ertönte. Wir erhoben uns, sangen die Hymne des Einzigen Staates, und auf dem Podium begann der goldfunkelnde Lautsprecher des Phonolektors: »Verehrte Nummern! Vor kurzem haben die Archäologen ein Buch aus dem 20. Jahrhundert ausgegraben. Der Autor erzählt darin von einem Wilden und einem Barometer. Der Wilde hatte entdeckt, dass, sooft das Barometer auf Regen stand, es tatsächlich regnete. Da der Wilde Regen haben wollte, kratzte er so viel Quecksilber heraus, bis das Barometer auf Regen stehen blieb.« Auf der Leinwand sah man einen federgeschmückten Wilden, der das Quecksilber aus dem Barometer entfernte. Gelächter. »Sie lachen, aber meinen Sie nicht auch, dass der Europäer jener Epoche weit lächerlicher war als dieser Wilde? Der Europäer begehrte ebenfalls Regen, aber wie hilflos war er dem Barometer gegenüber! Der Wilde hingegen besaß Mut, Energie und Logik, wenn auch eine recht wilde Logik: er stellte fest, dass es eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Indem er das Quecksilber herauskratzte, tat er den ersten Schritt auf jenem großen Wege, den wir... «
Hier (ich wiederhole, ich will in diesen Aufzeichnungen die volle Wahrheit sagen), hier wurde ich gleichsam wasserdicht, undurchdringlich für die belebenden Ströme, die dem Lautsprecher entquollen. Plötzlich war mir, als wäre es sinnlos, dass ich hierher gekommen war (wieso sinnlos? Ich musste kommen, ich hatte ja den Befehl erhalten!). Alles erschien mir leer und hohl. Mit großer Mühe gelang es mir, mich wieder zu konzentrieren, als der Phonolektor bereits zum Hauptthema gekommen war, zu unserer Musik, zur mathematischen Komposition (die Mathematik ist die Ursache, die Musik die Wirkung), zur Beschreibung des kürzlich erfundenen Musikometers. «... Man dreht einfach an diesem Knopf und kann bis zu drei Sonaten in der Stunde komponieren. Welche Mühe machte das Ihren Vorfahren! Sie konnten nur dann schaffen, wenn sie sich in einen krankhaften Zustand, in >Begeisterung<, versetzten, was nichts anderes ist als eine Form der Epilepsie. Ich gebe Ihnen jetzt ein äußerst komisches Beispiel von dem, was man damals zuwege brachte. Sie hören Musik von Skrjabin, 20. Jahrhundert. Diesen schwarzen Kasten« — der Vorhang auf dem Podium teilte sich, wir sahen ein altmodisches Musikinstrument — »diesen Kasten nannte man damals Flügel, was wiederum beweist, wie sehr ihre ganze Musik .,.« Was er dann sagte, habe ich vergessen, wohl deshalb, weil... nun, ich will es offen gestehen, weil sie, I-330, zu dem schwarzen Kasten ging. Wahrscheinlich hatte mich ihr unerwartetes Erscheinen auf der Bühne verwirrt. Sie trug ein seltsames Kostüm, wie es damals Mode war, ein enganliegendes schwarzes Kleid; es betonte das Weiß der entblößten Schultern und Brüste und den warmen zuckenden Schatten dazwischen... und ihre blendend weißen, fast bösen Zähne ...
Sie lächelte uns zu. Ein bleckendes, beißendes Lächeln. Dann setzte sie sich und begann zu spielen. Es klang exaltiert, wild und wirr, wie alles aus jener Zeit — bar der Vernunft des Mechanischen. Und alle, die hier saßen, hatten recht: sie lachten. Nur einige wenige .. aber warum auch ich... ich?
Ja, die Epilepsie ist eine Geisteskrankheit, ein Schmerz... ein brennender, süßer Schmerz, wie ein Biss, und ich will, dass er tiefer in mich eindringt, dass ich ihn noch stärker spüre. Und da geht langsam die Sonne auf. Nicht unsere Sonne, die mit kristallblauem, gleichmäßigem Schein durch die gläsernen Wände dringt, nein, eine wilde, unaufhaltsam dahinjagende, alles versengende Sonne — nichts mehr bleibt von mir —, alles zerfällt in kleine Fetzen... Die Nummer links von mir sah mich kichernd an. Ich kann mich noch deutlich erinnern, dass an seinen Lippen ein winziges Speichelbläschen hing und zerplatzte. Dieses Bläschen ernüchterte mich. Ich war wieder ich. Wie die anderen hörte auch ich nur noch das wirre, tosende Rauschen der Saiten. Ich lachte, und alles war plötzlich so leicht und einfach. Was war geschehen? Nur dies: Der Phonolektor hatte jene unzivilisierte Epoche heraufbeschworen. Mit welchem Genuss lauschte ich dann unserer zeitgenössischen Musik (sie wurde zum Schluss als Kontrast gespielt). Die kristallenen chromatischen Tonleitern ineinander verschmelzender und sich wieder lösender unendlicher Reihen, die Akkorde der Formeln Taylors und MacLaurins, die schweren Ganztonschritte der quadratischen Pythagorashosen, die schwermütigen Melodien verebbender Schwingungsbewegungen... Welch erhabene Größe! Welch unerschütterliche Gesetzesmäßigkeit! Wie kümmerlich wirkte dagegen die eigenwillige, sich nur in wilden Phantasien ergehende Musik unserer Vorfahren!
Wie sonst gingen alle in Viererreihen durch die breiten Türen des Auditoriums hinaus. Eine mir wohlbekannte, zweifach gekrümmte Gestalt huschte vorüber; ich grüßte respektvoll.
In einer Stunde würde O zu mir kommen. Ich war in einem Zustand angenehmer und zugleich nützlicher Erregung. Zu Hause ging ich sofort zur Hausverwaltung, zeigte mein rosa Billett vor und erhielt die Genehmigung, die Vorhänge herabzulassen. Dieses Recht haben wir nur an Geschlechtstagen. Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer. Wäre es anders, was könnte dann alles geschehen! Gerade die sonderbaren, undurchsichtigen Behausungen unserer Vorfahren können es bewirkt haben, dass man auf diese erbärmliche Käfigpsychologie verfiel: »Mein Haus ist meine Burg!«
Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riss den Talon ab — und dann... Erst im allerletzten Augenblick, um 22.15 Uhr, löste ich mich von dem rosigen Mund.
Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen und sprach von der Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden, wobei ich mich exakt und gewählt ausdrückte. Sie hörte schweigend zu, und plötzlich tropften Tränen aus ihren blauen Augen und fielen auf mein Manuskript (Seite 7). Die Tinte färbte sich wasserblau und zerfloss. Ich muss die Seite also noch einmal schreiben. »Lieber D, wenn Sie nur... wenn... «
»Was, wenn?«
Die alte Leier; sie möchte ein Kind haben. Oder ist es vielleicht etwas Neues, weil... weil jene andere... ? Sie ist freilich... Nein, das kann nicht sein, es wäre zu unsinnig.

 

EINTRAGUNG NR. 5

Übersicht: Das Quadrat. Die Herren der Welt. Eine angenehm-nützliche Funktion.

Wieder drücke ich mich unklar aus, wieder spreche ich mit Ihnen, lieber Leser, als wären Sie — nun, sagen wir, mein alter Schulfreund R-13, der Dichter mit den wulstigen Negerlippen, den alle kennen. Sie aber leben auf dem Mond, auf der Venus, auf dem Mars oder dem Merkur, wer weiß, wo und wer Sie sind.
Also, stellen Sie sich ein Quadrat vor, ein lebendiges, schönes Quadrat. Und es soll von sich, von seinem Leben erzählen. Sehen Sie, dem Quadrat würde es nie einfallen, davon zu sprechen, dass alle seine vier Seiten gleich sind, das sieht es schon gar nicht mehr, so selbstverständlich erscheint es ihm. Ich bin die ganze Zeit in einer ähnlichen Lage. Nehmen wir zum Beispiel die rosa Billetts und alles, was damit zusammenhängt: für mich ist das so selbstverständlich wie die vier gleichen Seiten für das Quadrat, Ihnen jedoch erscheint es vielleicht raffinierter als ein Newtonsches Binom.
Nun, hören Sie zu. Irgendein alter Philosoph hat, natürlich rein zufällig, ein kluges Wort gesagt: »Liebe und Hunger regieren die Welt.« Ergo: um die Welt zu beherrschen, muss der Mensch die Beherrscher der Welt be-
zwingen. Unsere Vorfahren haben einen hohen Preis gezahlt, um den Hunger auszurotten, ich meine den 200jäh-rigen Krieg, den Krieg zwischen Stadt und Land. Wahrscheinlich hielten die wilden Heiden nur aus religiösen Vorurteilen hartnäckig an ihrem Brot fest. (Dieses Wort wird heute nur noch als Metapher gebraucht, die chemische Zusammensetzung dieses Stoffes ist uns nicht bekannt.) Aber fünfunddreißig Jahre vor der Gründung des Einzigen Staates wurde unsere heutige Naphtha-Nahrung erfunden. Es waren freilich nur 0,2 Prozent der Bevölkerung der Erde übrig geblieben. Doch dafür erstrahlte das von tausendjährigem Schmutz gereinigte Antlitz der Erde in neuem, ungeahntem Glanz, und diese 0,2 Prozent genossen das Glück im Paradies des Einzigen Staates. Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Glück und Neid Zähler und Nenner jenes Bruches sind, den wir Zufriedenheit nennen. Welchen Sinn hätten die unzähligen Opfer des 200jährigen Krieges gehabt, wenn es in unserem Leben noch immer einen Grund zum Neid gäbe? Und doch existiert er noch, da es immer noch »Knollennasen« und »klassische Nasen« gibt (ich erinnere an das Gespräch auf dem Spaziergang), weil viele um die Liebe der einen werben, während um die andere sich keiner kümmert.
Nachdem der Einzige Staat den Hunger besiegt hatte, führte er einen Krieg gegen den zweiten Beherrscher der Welt, die Liebe. Schließlich war auch dieser Feind geschlagen, das heißt, organisiert, mathematisch festgelegt, und vor rund 300 Jahren trat unsere Lex sexualis in Kraft. Jede Nummer hat ein Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner.
Alles weitere war dann nur noch Technik. In den Laboratorien des Amtes für sexuelle Fragen wird man sorgfältig
untersucht, der Gehalt an Geschlechtshormonen wird genau bestimmt, und dann erhält jeder eine seinen Bedürfnissen entsprechende Tabelle der Geschlechtstage und die Anweisung, sich an diesen Tagen der Nummer Soundso zu bedienen, und man händigt ihm zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosa Billetts aus.
So gibt es nun keinen Grund mehr zum Neid, denn der Nenner des Bruches Zufriedenheit ist Null geworden — und der Bruch wird zur großartigen Unendlichkeit. Das, was bei unseren Vorfahren eine Quelle unzähliger, sinnloser Tragödien war, haben wir zu einer harmonischen, angenehm-nützlichen Funktion gemacht, ebenso wie den Schlaf, die körperliche Arbeit, die Nahrungsaufnahme, die Verdauung und alles übrige. Darin zeigt sich, wie die große Kraft der Logik alles reinigt, was sie berührt. Ach, mögen auch Sie, ferner unbekannter Leser, diese göttliche Kraft erkennen und lernen, ihr in allem zu folgen. Seltsam, ich habe heute von den Gipfelpunkten der Menschheitsgeschichte geschrieben, ich habe die ganze Zeit die reinste Höhenluft des Geistes geatmet, doch in mir selbst ist alles düster, von dunklen Wolken, von Spinnweben verhangen, irgendein vierfüßiges X hat von mir Besitz ergriffen. Vielleicht kommt das nur von meinen Händen, ich hatte sie so lange vor Augen, meine behaarten Hände, die wie Pfoten aussehen. Ich spreche nicht gern von ihnen, ich liebe sie nicht, sie sind ein Überbleibsel aus jener längst vergangenen, unzivilisierten Epoche... Eigentlich wollte ich dies alles ausstreichen, weil es nicht zum Thema gehört, aber dann habe ich mich entschlossen, es doch stehenzulassen. Meine Aufzeichnungen sollen wie ein Seismograph selbst die geringfügigsten Schwankungen meines Gehirns registrieren, denn mitunter sind solche Schwankungen eine Warnung...
Nein, das ist ja absurd, ich hätte es durchstreichen müssen: wir haben alle Elemente gebändigt, es kann keine Katastrophe mehr geben.
Jetzt ist mir plötzlich alles ganz klar: dieses seltsame Gefühl kommt nur von der sonderbaren Lage, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde. Es gibt kein X in mir (das ist unmöglich), im Gegenteil, ich befürchte, dass in Ihnen irgendein X zurückbleibt, lieber Leser. Aber ich glaube, Sie werden mich deswegen nicht verurteilen. Sie werden verstehen, dass es für mich viel schwieriger ist, zu schreiben, als es für alle Schriftsteller in der ganzen Geschichte der Menschheit je gewesen ist. Die einen schrieben für ihre Zeitgenossen, die anderen für ihre Nachkommen, aber keiner hat für seine Vorfahren oder für Wesen geschrieben, die seinen ungesitteten Ahnen aus grauer Vorzeit glichen...

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