| Die Geschichte des Kerekes SandorEin großer Kampf bereitete sich vor. Der Abgeordnete Jandak war es,  der als erster die Massen aufrief. Er scheute sich nicht, die Parole in  die Welt zu schreien, welche die anderen sich erst zuzuflüstern  begannen: „Eine neue Partei, die das Proletariat in die Revolution  führt! Weg mit der überlebten alten Partei!" Das mittelböhmische  Kohlenrevier wurde gewonnen. Der Kampf um die Fabriken der Hauptstadt  endete siegreich. Jetzt ging es um die Bergleute und Metallarbeiter des  Ostrauer Gebietes, um die Weber, Spinner und Holzarbeiter, um die  Eisenbahnarbeiter, um die Arbeiter der Pilsener Waffenfabrik. Jandak  führte. Er war immer informiert. Er wusste in jeder Lage Rat. Er war  immer bereit, die Argumente seines Gegners zu zerpflücken. Er war  scharf wie ein Messer, tapfer wie ein Stier und beweglich wie eine  Forelle. Es gab keinen Tag, an dem er nicht in einer  Arbeiterversammlung gesprochen hätte, keine Woche, wo nicht im  „Volksrecht" einer seiner Artikel erschienen wäre, die vor Witz  sprühten und sich mit einem Satz des zu behandelnden Stoffes  bemächtigten. Jandak war der populärste Name der Zeit. Man nannte ihn  in allen Fabriken und Arbeiterversammlungen. Tausende von Hoffnungen  knüpften sich an ihn, und Hunderte harter Hände klatschten Jandak  entgegen, wenn er, immer ein bisschen vorgeneigt und die Stirn zum  Angriff vorbereitet, die Tribüne bestieg. Die Herrscher der Partei  entfesselten eine wilde Zeitungshetze gegen ihn. In den Aufsätzen kam  alles vor: Judengeld, Verrat an die Hohenzollem, pathologische  Neigungen, die Schuld am Tode von Frontsoldaten, auch die Seidenkleider  seiner Frau und Lackschuhe seiner Tochter, um einige Brillanten,  goldene Ketten und ein Automobil vermehrt. Abgeordneter Jandak war ein  schöner, fünfundvierzigjähriger Mann mit wundervoll vorgewölbter Stirn,  sinnlichem Munde und mächtigem Kinn, eine interessante Mischung  zwischen Muskel-, Gehirn- und Lebemenschen. Ein seltsames Gemisch von  proletarischer Zähigkeit, intellektueller Schärfe und — Raubtier.  „Abgeordneter Jandak", das war das Schlagwort des Tages.Toni hatte einst dem jungen Jandak unter dem Vorstadtviadukt gesagt: „Dein  Vater wird nicht mit uns gehen."
 Das war der proletarische Verstand im Arbeiter, der ihn so sprechen  ließ. Aber auch dieser war nicht unfehlbar. Toni hatte seit dieser Zeit  oft Gelegenheit, sich zu überzeugen, dass der Vater und Gatte eleganter  Frauen ein guter Führer der revolutionären Arbeiter sein konnte. Das  Wort „Verzeih" hatte in Tonis Wörterschatz keinen Platz.
 Niemand hätte es je von ihm hören können. Aber die Unterredung unter dem  Viadukt tat ihm leid, und er verzieh sie sich nicht.
 Auf einer Versammlung im Volkshaus, in einer begeisterten Versammlung  zeigte sich der Sieg der linken Richtung in der Arbeiterschaft  deutlich. Jandak schritt nach Beendigung seiner Rede unter dem  Beifallsbrausen der Anwesenden von der Treppe der Bühne herunter und  setzte sich an den Tisch von Toni und Anna. Damals blickte ihn Toni  lange und scharf an. Er kämpfte in seinem Innern einen heftigen Kampf.  Dann sagte er zu dem Abgeordneten mit finsterer Miene:
 „Ich habe dir lange nicht getraut, Jandak, weil ich deine Frau in  Seidenkleidern gesehen habe und deine Tochter Lackschuhe trägt. Aber  jetzt glaube ich dir."
 Dies war für Toni sehr viel. Beide Männer erröteten bei diesen Worten. Auch  Anna errötete.
 „Na, lass man", sagte Jandak überrascht. „Man muss sich erst kennen  lernen, bevor man miteinander auf Tod und Leben geht."
 Dieser Tag wurde für Toni auch anderer Dinge wegen unvergesslich. Als  er und Anna gegen 10 Uhr von der Versammlung zurückkehrten, stand  Kerekes Sandor unter der Straßenlaterne in der Jesseniusgasse.
 „Ich hätte gerne mit dir gesprochen", sagte er zu Toni, und Anna  bemerkte, dass seine ausgetrocknete Stimme sehr erregt klang. Sie  beunruhigte sich deswegen. Sie führten ihn hinauf. Anna brühte in der  Küche Kaffee auf, und die Männer setzten sich in der Stube hin.
 „Sind wir allein?" fragte Kerekes.
 Toni bejahte und schloss die Türe, die in die Küche führte.
 „Graf Belaffi Imre ist in Prag!"
 Kerekes Sandor war blasser als je. Seine Wangen machten den Eindruck von altem  Papier.
 „Wer ist das?"
 „Erinnerst du dich nicht? Mein Peiniger im Kerker. Der  Honved-Oberleutnant Graf Belaffi Imre. Er wohnt im Hotel, Blauer  Stern', Zimmer sechzehn. Ich bin ihm gefolgt. Niemand hat mich bemerkt.  Er hat mich nicht erkannt."
 „Was will er hier?"
 „Er will den Terror gegen die kommunistische Bewegung organisieren und  sie im Keime ersticken. Dies für den Anfang. Später will er die  magyarischen Flüchtlinge ausfindig machen und sie von der hiesigen  Regierung für die ungarischen Galgen anfordern. Er ist Mitglied des  internationalen Verbandes zur Bekämpfung des Kommunismus."
 Auf der Pergamenthaut bildeten sich rote Flecken.
 „Weißt du das sicher? Oder vermutest du es nur?"
 „Ich habe keine Beweise, aber die ganze Sache ist sonnenklar."
 Toni dachte nach.
 „Man muss die Partei benachrichtigen." Kerekes Sandor winkte ab.
 „Die Partei?"
 „Die Linke!" Kerekes Sandor winkte nochmals müde mit der Hand.
 „Ich werde das selbst besorgen."
 „Was willst du tun?"
 „Ich erschlage ihn." Toni antwortete nicht.
 „Das wird die Krönung meines Lebens sein. Belaffi Imre ist eine Bestie,  und der revolutionären Bewegung entstellt unwiederbringlicher Schaden,  falls er am Leben bleibt. Ich habe nur noch Wochen zu leben und werde  die Revolution nicht mehr erleben. So werde ich den Genossen meinen  Dank abstatten für die Aufnahme, die sie mir bereitet haben, und meinen  ungarischen Freunden einen Dienst erweisen."
 Anna brachte zwei Tassen Kaffee. Sie blickte ihren Mann und den Gast  an. Ihre mütterlichen Triebe erwachten und erkannten augenblicklich die  Gefahr. Ihr Herz zog sich zusammen. Was geschieht? In ihrem Leib machte  sich das Kind mit einem energischen Ruck bemerkbar. Die Männer  verstummten und sie blieb stehen, weil sie sich nicht entschließen  konnte, wegzugehen.
 „Geh, Anna, wir haben etwas zu besprechen." Sie ging.
 „Wir müssen die Partei verständigen", sagte Toni nochmals.
 „Hast du persönliche Bedenken gegen den individuellen Terror?"
 „Nein, wenn er organisiert und revolutionsförderlich ist, dann nicht!  Es kann aber doch nicht jeder von uns tun, was ihm einfällt. Die  revolutionäre Notwendigkeit deiner Tat ohne Kenntnis der allgemeinen  Situation können wir nicht selbst beurteilen." Kerekes lachte bitter.
 „Merkwürdig, wie die Genossen nicht erkennen wollen, was  Konterrevolution ist und wie sich die Arbeiterschaft eines jeden Landes  erst davon überzeugen muss, bevor sie sie erkennt. Wem in der Partei  willst du es mitteilen? Der Abgeordnetenfraktion, dem Sekretariat? Lass  es sein, du würdest die Sache unnötig komplizieren und der Polizei die  Suche erleichtern. Belaffi muss sterben. Er ist der gefährlichste  Feind. Falls er am Leben bleibt, kostet das vielen Genossen das Leben."
 „Horthy schickt zehn neue, wenn du ihn erschlägst."
 „Keiner von ihnen wird ein Belaffi sein. Ihr kennt ihn nicht. Ich kenne  ihn."
 So verabschiedete er sich. In der Nacht, als Anna sich neben Toni  legte, fragte sie unruhigen Herzens, tat aber doch so, als ob dies eine  ganz gewöhnliche Frage wäre:
 „Was wollte er denn?"
 „Frag nicht", sagte Toni, und seine Stimme war ernst. Das Herz schlug  ihr, und wieder machte sich das Kind durch zwei Bewegungen bemerkbar.  Es fiel ihr ein, dass auch das Kind sich gegen die Gefahr wehrte, die  auch seine Gefahr war. Es kostete sie Anstrengung, ein Weinen zu  unterdrücken. Morgens erst schlief Toni mit der Überzeugung ein, dass  wirklich niemand da sei, mit dem man sich beraten könnte. Mag er ihn  drum erschlagen.
 Frühmorgens, als Toni sich ankleidete und Anna Milch holte, kam Kerekes wieder.
 „Diese Kleider habe ich von einem ungarischen Studenten und Emigranten  bekommen. Ich sehe darin aus wie ein heruntergekommener Intelligenzler  und das erweckt im Hotel Misstrauen. Borg mir deine Arbeiterkleidung."
 Toni gab sie ihm.
 „Gehst du?" fragte er.
 „Ja."
 „Gleich?"
 „Ja."
 Tonis Herz klopfte. Er wollte den Genossen auf den Flur begleiten.
 „Komm nicht mit, es darf uns niemand sehen. Wenn sie mich fangen, will  ich einen Prozess gegen die magyarische Konterrevolution inszenieren,  dass der Welt der Atem stockt. Diese Kleider habe ich dir heut morgen  gestohlen, als niemand von euch zu Hause war. Ich habe den Augenblick  abgewartet, als deine Frau Milch holen gegangen ist und du austreten  warst. Merk dir das und vergiss es nicht. Wenn sie mich nicht fangen,  werf ich dir heute die Kleider durch das Flurfenster in die Küche."
 Dann ging Kerekes Sandor, den Grafen Belaffi umzubringen.
 Im Alteisenlager, wo er für gewöhnlich übernachtete, kleidete er sich  um, und in das Futter von Tonis Rock nähte er eine Schlaufe ein, um  eine Axt mit kurzem Griff einhängen zu können. Er ging in die Stadt und  kam kurz nach 7 Uhr in das Hotel „Blauer Stern". Der Portier sah ihn  die Treppe hinaufsteigen, blickte sich nach ihm um, aber schenkte ihm  keine besondere Aufmerksamkeit. Kerekes kam bis zum ersten Stock. Er  klopfte an die Tür von Nr. 16. Niemand antwortete. Er klopfte nochmals.
 „Wer ist da?" klang es verschlafen in deutscher Sprache.
 „Ö ffnen Sie", sagte Kerekes ungarisch. Er hörte Schritte, die sich der  Tür näherten.
 „Wer ist da?" klang es nochmals deutsch.
 „Ö ffnen Sie, Graf, ich habe wichtige Nachrichten", antwortete Kerekes  ungarisch. Die Tür öffnete sich. Graf Belaffi Imre stand im Pyjama und  Pantoffeln vor ihm.
 Kerekes zog die Axt unter dem Rock hervor und schlug ihn nieder.
 Die Mittagszeitungen brachten bereits die Nachricht von dem Verbrechen.  Die Händlersfrau Endler und die Wachtmeistersfrau Klaban fragten Anna  auf dem Flur, als sie Wasser holen ging:
 „Haben Sie schon von dem Mord im ,Blauen Stern' gehört?"
 Frau Endler, die im Begriff war, ins Theater zu gehen, richtete sich das  Strumpfband und sagte:
 „Sie schreiben, dass er hierher gekommen ist, um ein Ding zu drehen. Es handelt  sich sicher um Falschgeld."
 „Nein", sagte die Wachtmeistersfrau mit Bestimmtheit. „Das ist sicher  Spionage. Sie können mir das glauben."
 Toni las die „Nationalpolitik" in der Mittagspause, als. er in der  Kantine saß. Das Herz zog sich ihm zusammen. Jetzt war es 4 Uhr. Das  Gedröhn der Arbeit ging weiter. Es kostete Toni viel Anstrengung, seine  Bewegungen so zu kontrollieren, dass keinem der Kollegen auffiel, wie  erregt er war. Die Nachricht des Mittagsblattes war sehr merkwürdig.
 Mord im Hotel „Blauer Stern"Vor  Schluss des Blattes erhalten wir folgende Meldung: Heute morgen wurde  im Hotel „Blauer Stern , auf dem Graben, ein furchtbarer Mord verübt.  Der 32jährige Industrielle Gustav Breuer aus Hannover wurde auf die  schrecklichste Weise umgebracht. Als das Zimmermädchen nach 9 Uhr  morgens, nachdem sie vergeblich geklopft hatte, in sein Zimmer trat,  fand sie ihn auf dem Boden inmitten einer Blutlache liegen. Das  Mordinstrument, eine kleine Axt mit kurzem Stiel, lag neben ihm. Der  Kopf Gustav Breuers ist bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Das  Gehirn ist ausgelaufen. Der Mord geschah nach dem Gutachten der Ärzte  gegen 1/2 8 Uhr morgens. Sein Motiv ist rätselhaft. Alle  Wertgegenstände Breuers blieben unberührt. Trotzdem ist die Polizei dem  Mörder oder den Mördern auf der Spur. Ihre Nachforschung wird durch die  Aussage des Hotelportiers Josef Müller erleichtert, der den Mörder  gesehen hat und ihn genau beschreibt. Beim Durchsuchen des Zimmers  wurden Beweise dafür gefunden, dass Breuer aus unlauteren Motiven  eingereist war. Vielleicht ergibt sich hier eine Spur zur Aufklärung  des rätselhaften Mordes."
 Es war nicht sehr viel, was die Mittagsausgabe der „Nationalpolitik"  berichtete. Zum Nachdenken allerdings war es genug. Gustav Breuer,  Kaufmann aus Hannover — welcher Unsinn. Wie war das zu erklären? Hat  sich Kerekes geirrt und jemand anders umgebracht? War das doppelte  Opfer überflüssig, und was noch mehr hieß, dumm und unsinnig? Oder war  der Name Gustav Breuer von Belaffi Imre nur angenommen worden? Der  Hotelportier hatte den Genossen Kerekes gesehen und genau beschrieben.  Die Polizei ist dem Genossen Kerekes auf der Spur. Toni dachte an  seinen Arbeitsanzug und an Anna. „Du bist heute so blass, Krousky,  fehlt dir was?"Der alte Blaschek, ein Hilfsarbeiter, hatte dies  gesagt, als er ihm eine Kanne Wasser zum Anfeuchten des Sandes  mitgebracht hatte. Toni antwortete nicht.
 Die Erlösung nahte. In der Gießerei nebenan mussten nur noch die  Siemens-Öfen geöffnet werden, dann würde die Sirene heulen. Auch dieser  Augenblick kam. Toni sprang zu seinem Kleiderschrank. Er zog schnell  den Rock über das blaue Hemd, wusch sich gar nicht. Er eilte aus der  Fabrik, um von keinem aufgehalten zu werden. Er lief zum Zeitungsstand  und kaufte alle Abendblätter. Im Gehen las er:
 „Der Mörder aus dem ,Blauen Stern' verhaftet!"
 Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Mörder war verhaftet. Toni  durchflog die Spalten des Blattes, suchte den Namen Kerekes Sandor.  „Die Verhaftung des Mörders." So lautete der Untertitel. Toni  verschlang den Artikel:...  Milan Iwanowitsch... Hotelportier gibt an... Oberkellner und  Bardamen... den Mörder verhaften... Polizeikommissar Bubnik... den  29jährigen Iwanowitsch.
 Tonis Augen durchflogen das Blatt mit fieberhafter Schnelligkeit. „Das Verhör  des Mörders", las er in Fettdruck.
 „...  Iwanowitsch behauptet, Gustav Breuer nie gesehen und nie von ihm  gehört... in der Wohnung einer unbekannten Dirne... das Gepäck des  Iwanowitsch ... "
 Nein, das ist es nicht, was er sucht.
 „... Milan Iwanowitsch mit neuen Zeugen... "
 Zum Teufel, was mischt sich denn immer ein gewisser Milan Iwanowitsch hinein.  Er las bis zu Ende... „beharrt  darauf... In der Untersuchung wird fortgeschritten. Die genauen  Berichte von dieser sensationellen und in der Geschichte der  Kriminalistik einzig dastehenden Mordtat bringen wir in der  Morgenausgabe unseres Blattes."
 Genug. Genug.
 Der Name Kerekes war nicht zu finden. Er kehrte nochmals zum Untertitel „Die  Verhaftung des Mörders" zurück und las wieder:
 „Der verhaftete Mörder entpuppte sich als der 29jährige Milan  Iwanowitsch aus Agram, welcher der Polizei gut bekannt und ein  internationaler, vielfach vorbestrafter Betrüger ist."
 Was ist das? Milan Iwanowitsch? Er stürzte sich nochmals auf den Satz.  Es war kein Zweifel. Hier stand Milan Iwanowitsch. Toni blieb mitten  auf der Straße stehen und richtete seine Augen wieder ins Leere. Dann  stopfte er mit einer ruhigen Bewegung die Abendblätter in die Tasche  und eilte weiter. In einem Park setzte er sich und las nochmals. Zuerst  die Verhaftung des Mörders. Es war so, wie er auf der Straße gelesen  hatte. Dann las er alles der Reihe nach. Zuerst wiederholte sich die  Nachricht aus dem Mittagsblatt. Das vergebliche Klopfen des  Zimmermädchens, ihr Eintritt in das Zimmer, der furchtbare, die Nerven  erschütternde Anblick. Die Verständigung der Polizeikommission, das  ärztliche Gutachten, über zwanzig furchtbare Schläge mit der Axt, deren  jeder einzelne tödlich war, und dann:
 „In der Höhle des internationalen Räubers."Schon  die oberflächliche Untersuchung im Zimmer des Gustav Breuer brachte  eine sensationelle Überraschung. Das erste, was den Detektiven in die  Hände fiel, war ein Handkoffer, in dem unter anderen verdächtigen  Dingen ein Paket ungestempelter Banknoten im Gesamtwert von etwa 1500  Mark gefunden wurde, die der Serie nach zu schließen aus Ungarn oder  Österreich hereingeschleppt worden waren. Es zeigte sich bald, dass  sich die Polizei im Zimmer eines höchst gefährlichen internationalen  Taschendiebes, Betrügers und Mädchenhändlers befand. Das Zimmer Nr. 16  im Hotel zum. „Blauen Stern" war ein Räuberlager. Man fand hier  verschiedene fremde Geldsorten im Werte von 23 000 Mark, fünf goldene  Herren- und zwei Damenuhren, darunter einige sehr wertvolle, zwei  goldene Zigarettenetuis, fünf Brillanten von bedeutendem Wert, eine  silberne Damenhandtasche. Diese Gegenstände rührten unzweifelhaft von  Taschendiebstählen her. Der Besitzer einer Uhr wurde bereits  festgestellt. Die Bestohlenen werden aufgefordert, sich auf dem  Polizeipräsidium zu melden. Außerdem fand man in Breuers Zimmer eine  ganze Kollektion unanständiger Photographien, einige von ihnen waren  von einer geradezu provozierenden Obszönität. Eine ausgedehnte  Korrespondenz zeugte davon, dass Breuer ein Mädchenhändler großen Stils  war. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Ermordete einer  der gefährlichsten internationalen Verbrecher war. Überraschend ist,  dass die Papiere des Ermordeten in vollkommener Ordnung zu sein  schienen, und dass seine Photographie im Verbrecheralbum nicht  vorhanden war. Die Polizei ist mit den Behörden von Hannover bereits in  Verbindung getreten.
 Die Verhaftung des Mörders „Wie wir bereits  berichteten, wurde als Mörder oder als einer der Mörder ein Mann namens  Milan Iwanowitsch bereits in den Vormittagsstunden verhaftet. Das  Hauptverdienst hieran gebührt dem Hotelportier des ,Blauen Stern',  Josef Müller. Er war nach der Zimmerfrau der erste Zeuge, der nach der  Feststellung des Mordes von der Untersuchungskommission vernommen  wurde. Er gab folgendes an:
 „Sieben Minuten nach halb acht sah ich, wie vom ersten Stockwerk  ein Mann über die Stiege herunterkam, den ich vor fünf Minuten hatte  hinaufgehen sehen. Er trug einen grauen Sportanzug, braune Gamaschen  und eine karierte Mütze. Er war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen  schwarzen Backenbart und schwarze Augen. Er war eine typisch semitische  Erscheinung (Milan Iwanowitsch ist Jugoslawe! D. Red.) Ich prägte mir  die Zeit genau ein, denn der Mann war mir verdächtig. Seine Wangen  waren aschfahl. Seine Augen spiegelten Entsetzen. Sein Gang war eilig.  Es schien, dass er fliehen wollte. Ich grüßte ihn, dies schien ihn zu  überraschen, und ich sah, dass es ihm Überwindung kostete, mir höflich  zu danken. Er grüßte mit einem unnatürlichen Lachen und führte nur die  Hand zur Mütze. Der Mann war mir bekannt. Am Donnerstag der vergangenen  Woche, als ich meinen Ausgang hatte, besuchte ich mit meinem Freund  Joseph Koudelka, Oberkellner im Ratskeller, und mit den Damen Paula  Schütz und Josepha Mala den ,Seklpavillon . Wir kamen gegen drei Uhr  morgens hin. In einer Loge saß eine Gesellschaft von vier Herren und  einigen Halbweltdamen. Die Gesellschaft fiel durch ihre laute  Unterhaltung und durch die große Zeche auf. Sie tranken ,Pommery' und  bewirteten die Zigeunerkapelle, die sich zum Ärger der anderen Gäste  nur ihnen widmete. Ihre Zeche muss sehr hoch gewesen sein. Meiner  Schätzung nach an die tausend Mark. Der ermordete Gustav Breuer befand  sich in jener Gesellschaft. Er wohnte schon damals in unserem Hotel,  und auch der Herr, den ich heute morgen gesehen habe, war damals im  ,Sektpavillon in der gleichen Gesellschaft. Ein Irrtum ist  ausgeschlossen. In der Zeit gegen halb acht Uhr morgens ist keiner der  Gäste zum ersten Stock hinaufgegangen, noch aus dem ersten Stock  heruntergekommen. Nur jener vorerwähnte Herr. Es gingen nur  Hotelpersonal und Arbeiter, die auf dem Dachboden arbeiteten, die  Treppe hinauf und hinunter. Ich kann nicht genau sagen, wann der Herr,  dessen semitisches Aussehen mir besonders auffiel, zum ersten Stockwerk  hinaufging, denn ich habe in dem Augenblick, als ich ihn sah, zwei  Damen Auskunft erteilt und deshalb nicht auf die Uhr gesehen. Meiner  Schätzung nach kann er vier bis fünf Minuten oben gewesen sein. Ich  beharre nicht auf dieser Zeitangabe von vier bis fünf Minuten, aber ich  behaupte, dass er keineswegs länger als eine Viertelstunde oben gewesen  ist."Nach dieser überaus wertvollen Information trat sofort der  ganze Polizeiapparat in Tätigkeit. Allen Polizeirevieren und den  Gendarmeriestationen der Umgebung wurde eine genaue Beschreibung des  Mörders mitgeteilt, so wie sie Herr Müller angegeben hatte. Die  Hauptbahnhöfe standen unter erhöhter Bewachung. Um 11 Uhr kam auch  tatsächlich aus Radotin die Nachricht, dass es der Gendarmerie gelungen  war, den Mörder auf der Bahnstation zu verhaften. Er hatte sich eine  Fahrkarte nach Marienbad gekauft und auf den Vormittagszug gewartet.  Der Polizeikommissar Bubnik fuhr sofort nach Radotin und ließ den  Mörder in die Hauptstadt überführen, wo er gleich einem eingehenden  Verhör unterzogen wurde. Der Verhaftete wurde als der  neunundzwanzigjährige Milan Iwanowitsch identifiziert, der bei der  Polizei gut bekannt und ein vielfach vorbestrafter internationaler  Hochstapler ist."
 Letzte Nachrichten„Kurz vor Schluss  des Blattes wird uns gemeldet: Heute Nachmittag wurde der verhaftete  Milan Iwanowitsch mit einigen Zeugen konfrontiert. Der Portier des  Hotels ,Blauer Stern erkannte ihn mit aller Bestimmtheit. Er wurde  außerdem vom Kellner Koudelka, von der Privaten Paula Schütz und von  der Prostituierten Josepha Mala sowie vom Oberkellner des  ,Sektpavillons', Nowak, als Teilnehmer jener Orgie erkannt, die sich  Donnerstag im ,Sektpavillon abgespielt hatte.
 Alle Zeugen erklärten  Irrtum für ausgeschlossen. Iwanowitsch beharrte trotz dieser  vernichtenden Beweise bei seinem Leugnen. In der Untersuchung wird  fortgefahren. Wir bringen im Morgenblatt genaue Nachrichten von diesem  sensationellen und in der Geschichte der Kriminalistik vereinzelt  dastehenden Mord."
 Toni war von dieser Nachricht ganz verwirrt. Er saß auf einer Bank,  die Arme hingen ihm am Körper herab, die Augen blickten starr ins  Leere. Milan Iwanowitsch, Gustav Breuer? Was war geschehen, und was  geht vor? Kein Wort von dem Genossen Kerekes, kein Wort vom Grafen  Belaffi? Was geht vor? Er las noch einige Abendblätter, überall das  gleiche. Ihm schwindelte. Dann erhob er sich, langsam, wie von schwerer  Arbeit ermüdet, und ging zur Straßenbahnstation. Die Abenddämmerung  senkte sich herab. Er fuhr in die Stadt an die Straßenecke, wo Kerekes  Sandor Zeitungen zu verkaufen pflegte. Kerekes war nicht zu sehen. Toni  wusste nicht, wo er wohnte. Toni kam nach Hause. Anna begrüßte ihn vom  Plättbrett aus freundlich.„Du warst schon einmal zu Hause, nicht?"
 „Nein, nein."
 „Wer hat denn dann deinen anderen Anzug aus dem Schrank genommen?"
 Sie blickte ihn fragend an. Toni errötete.
 „Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen. Ich war doch beinahe den  ganzen Nachmittag daheim, und jetzt fand ich ihn auf dem Küchentisch.  Ich habe zuerst an Diebe gedacht. Aber es fehlt nichts."
 „Lass das sein."
 Anna wunderte sich aufs neue. Auch sie errötete, weil er ihren  freundschaftlichen Blick zurückwies.
 Toni zwang sich, die Kartoffelsuppe herunterzulöffeln. Er hätte sich  gerne überwunden, aber das Essen blieb ihm im Halse stecken. Er legte  den Löffel auf den Tisch.
 „Die Suppe ist gut. Ärgere dich nicht." Anna blickte ihn besorgt an.
 „Fehlt dir irgend etwas?"
 „Nein", sagte er abweisend. Er setzte sich an den Tisch, um.  Schreibarbeiten für seine Organisation zu verrichten, und es gelang  ihm, sich in die Arbeit zu vertiefen. Dann wusch er sich und ging  schlafen. Als Anna das Bett machte, fand sie auf der Bettdecke die  Abendausgabe vom „Volksrecht". Das Blatt war auf der Seite  aufgeschlagen, auf der ein Artikel über den Mord im Hotel „Blauer  Stern" mit einer auffälligen Überschrift stand. Toni erschrak. Wie  konnte er glauben, oder besser gesagt, nicht daran denken, dass das  Parteiblatt auch Nachrichten über den Fall bringen würde, und was  konnte ihn glauben machen, dass Anna nichts erfahren würde. Tonis  Verlegenheit war Anna nicht entgangen. Als sie im Bett eine Zeitlang  schweigend nebeneinander gelegen hatten, streichelte Anna ihrem Mann  mütterlich die Haare und küsste ihn auf die Stirn. Sie hatte noch  keinen Verdacht, nur eine große Sorge. Toni rührte sich nicht.
 Er schlief auch dann nicht ein, als sie schon lange neben ihm ruhig  atmete. Ein wildes Karussell von Menschen und Geschehnissen drehte sich  in seinem Hirn. Der Kaufmann aus Hannover, Milan Iwanowitsch, Kerekes,  der Hotelportier, die Kellner, Dirnen und die Zigeunermusik. Er sank  nur für Minuten in bleiernen Schlaf, aus dem er immer wieder auffuhr.  Des Morgens lag er mit geschlossenen Augen und tat so, als ob er  schliefe. Er wartete auf den Augenblick, wo Anna Milch holen ging. Dann  sprang er auf, zog nur das Notwendigste an und lief zum Kiosk, um eine  Zeitung zu kaufen. Im Hinaufgehen und später am Kaffeetisch las er  folgendes:
 „Sensationelle Wendung in der Mordaffäre"Teilgeständnis  des Mörders. — Der ermordete Breuer ist mit dem Grafen Belaffi Imre  identisch. — Eine Bande internationaler Verbrecher und Mädchenhändler  verhaftet.
 „Gestern abend ergab sich in der Mordaffäre Hotel ,Blauer Stern  eine sensationelle Wendung. Der verhaftete Iwanowitsch legte ein  Teilgeständnis ab. Er bestreitet zwar jede Beteiligung an der Mordtat,  aber es ist sicher, und die Polizei zweifelt auch nicht daran, dass er  der tatsächliche Mörder ist. Auf Grund der Aussagen des Iwanowitsch  wurden gestern eine Reihe von Verhaftungen vorgenommen. Ein großer Teil  einer internationalen Bande von Räubern, Taschendieben, Mädchenhändlern  und Falschspielern ist hinter Schloss und Riegel gebracht. Dem Rest der  Bande wird nachgeforscht. Die Aussagen des Iwanowitsch haben auch das  Geheimnis um die Person des Ermordeten gelüftet. Es ist der  Honved-Offizier Graf Emmerich Belaffi (ungarisch Belaffi Imre). Er  entstammt einer bekannten ungarischen Adelsfamilie.Die Mitglieder  der Bande haben falsche Namen und Papiere benutzt, auch der Name Gustav  Breuer war falsch. Auf der Polizei haben sich schon eine Reihe  Geschädigter gemeldet. Auch das Gepäck des Mörders mit  kompromittierendem Inhalt wurde gefunden. Der Portier des ,Hotel garni'  hat es zur Polizei gebracht. Er las in der Zeitung die Beschreibung des  Mörders und erklärte, dass dies der gleiche Mann war, der in dem Hotel  unter dem Namen Haniewski wohnte und gestern morgen bei ihm sein Gepäck  deponiert hatte. Von dem Gewicht dieser neuen Beweismittel erdrückt,  hat der Verhaftete wenigstens ein Teilgeständnis abgelegt.
 Der Bericht des MördersIwanowitsch  will der Polizei folgendes Märchen glaubhaft machen: Gestern morgen  wollte er dem vermeintlichen Breuer (Emmerich Belaffi) den Ertrag eines  Taschendiebstahls übergeben. Es war dies eine goldene Uhr und eine  Brieftasche mit dem Inhalt von 700 Mark. Auch wollte er ihm eine  Nachricht von einer gewissen „Dame" überbringen, die sich mit  Mädchenhandel befasst. Die Mitglieder der Bande hatten zwar das strikte  Verbot, Belaffi im Hotel zu besuchen, aber Iwanowitsch wagte es  trotzdem, weil er eine Mitteilung erhalten hatte, die eine sofortige  Unterredung mit dem Grafen notwendig machte. Als Iwanowitsch das Zimmer  betrat, fand er den Grafen tot, inmitten einer Blutlache liegend. Er  wollte zuerst die Hotelleitung verständigen, aber er besann sich  beizeiten, in welche Gefahr er dadurch sich und die anderen Mitglieder  der Bande bringen würde. Er versuchte deshalb, so schnell und  unauffällig als möglich zu verschwinden.
 Abgesehen von der geringen  Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung steht ihr die Aussage des  Hotelportiers Müller entgegen, der in der Zeit, als die Tat begangen  wurde, außer dem Hotelpersonal und den Arbeitern, die auf dem Dachboden  arbeiteten, und allerdings auch außer Iwanowitsch niemanden die Treppe  hinauf- oder heruntergehen sah. Iwanowitsch wurde dem gesamten  Hotelpersonal und neun Arbeitern gegenübergestellt und gefragt, ob sich  nicht unter ihnen der Mörder befände. Nach langem Zögern zeigte  Iwanowitsch auf den 54jährigen Dachdecker F. B., mit der Angabe, dass  dieser vielleicht der Mörder sein könnte. F. B. gab zu, dass er im  Laufe des Morgens einige Male vom Dachboden zum Erdgeschoß  heruntergegangen sei. Er war auch vom Portier Müller gesehen worden,  aber er verrichtete die Wege lediglich auf Anweisung des Meisters und  hielt sich nicht eine Minute länger als notwendig auf. Er konnte sich  nicht erinnern, ob er bei seinen Gängen jemandem begegnet war. Die  Richtigkeit seiner Angaben wurde vom Meister, den Dachdeckergehilfen  und anderen Personen vollkommen bestätigt. F. B., ein anständiger und  untadeliger Mann, ist über jeden Verdacht erhaben und wurde auch nicht  in Untersuchungshaft genommen.
 Ein feiner EdelmannIwanowitsch  erzählte von dem ermordeten Grafen Emmerich Belaffi folgendes: Emmerich  Belaffi entstammt einer angesehenen magyarischen Familie. Er war in  Budapest wegen seines ausschweifenden Lebenswandels berüchtigt und  hatte deswegen auch häufig Auseinandersetzungen mit seiner Familie. Im  Kriege war er Honved-Offizier, während des kommunistischen Umsturzes  floh er nach Rumänien. Unter Horthy trat er wieder in militärische  Dienste. Iwanowitsch kannte ihn noch aus seiner aktiven  Militärdienstzeit. Belaffi war ein genialer Falschspieler, und da auch  lwanowitsch dem Falschspiel huldigte, wurden sie bald Bundesgenossen.  Im Herbst des vergangenen Jahres hatte die Militärverwaltung eine  Unterschlagung entdeckt, die Belaffi begangen hatte und die gegen 10000  Dollars betrug. Es kam zu keinem Prozess, weil die Familie das  defraudierte Geld ersetzte. Die Angelegenheit wurde totgeschwiegen.  Belaffi musste den Militärdienst und Ungarn verlassen. Er blieb in  dieser Zeit mit Iwanowitsch in Verbindung. Sie reisten nach Warschau,  lebten zum Teil vom Falschspiel, zum Teil vom Mädchenhandel. Im Laufe  der Zeit lernten sie einige Leute gleicher Gesinnung kennen und  gründeten eine Gesellschaft. Sie arbeiteten in Paris, Bukarest, Wien,  Prag und den westböhmischen Bädern. Belaffi war der Organisator dieser  Gesellschaft und ihr Bankier und genoss allgemeine Autorität."
 Als Toni bis hierher gelesen hatte, nahm er den Mund voll Speichel  und spuckte in hohem Bogen aus. Seine Stirn verfinsterte sich. „So eine  Dummheit, eine solche Blödheit!"In diesem Augenblick kehrte Anna vom Milcheinkauf zurück. Toni ging in der  Stube auf und ab.
 „So eine Schweinerei, eine solche Schweinerei, einen Menschen so zu  überschätzen!"
 „Was ist, Toni?" fragte sie, froh, dass er nunmehr zornig und nicht  traurig war. Er antwortete nicht. Er frühstückte und ging zur Arbeit.  Die Zeitung nahm er mit sich.
 Gegen 7 Uhr vormittags kam die Zeitungsausträgerin mit dem  „Volksrecht". Anna räumte die Wohnung auf, machte ihren Morgenschwatz  mit den Nachbarinnen und nahm dann die Zeitung zur Hand. Sie kam bis zu  den Nachrichten vom Mord im Hotel „Blauer Stern". Beim Namen Belaffi  stockte sie. Gleichzeitig kam ihr der Name des Genossen Kerekes in  Erinnerung. Ein wenig von jener vorgestrigen Beklommenheit legte sich  wieder über sie. Die Lebensbeschreibung des Grafen Belaffi erklärte ihr  alles. Auch das Rätsel um Tonis Arbeitskleidung. Seine Erregung und  alles andere. Es war der längste Tag ihres Lebens. Toni, der Vater  ihres Kindes, war in Gefahr. Sie lief in den beiden Käfigen ihrer  Wohnung auf und ab. Immer wieder stieß sie gegen das Gitter. Alle ihre  Versuche, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, waren vergeblich. Die  Pergamenthaut des Genossen Kerekes und deren rote Flecken verfolgten  sie. Seine glühenden und glänzenden Augen erschienen ihr immer1 wieder.  Am schrecklichsten von allem war die Unsicherheit. Dieser Vormittag  dauerte fünf Stunden. Auf dem Flur gingen die Nachbarinnen hin und her.  Ihre Pantoffeln klapperten. Das Wasser zischte aus der Wasserleitung in  die Töpfe. Die älteste Tochter des Kutscherer schrie und mahnte die  weinenden Kinder zur Ruhe. Anna kamen diese Laute schärfer vor als  sonst. Wird plötzlich mitten unter diesen Geräuschen das Klappern von  festen Kommissschuhen zu hören sein? Wird nicht irgendeine harte Faust  an ihre Tür klopfen? Sie wagte sich nicht zu den Nachbarinnen hinaus.  Sicherlich spaziert die Wachtmeistersfrau Klaban in ihrem gestreiften  Morgenrock herum und erzählt Neuigkeiten vom Mord. Oder die Frauen  sprechen vom „Blauen Stern". Möglicherweise erzählen sie auch: „Warum  hat sich denn heute Vormittag Frau Krousky noch nicht gezeigt?  Vielleicht ist es schon so weit. Wir wollen nachsehen." — Anna  fürchtete sich davor. Doch sie kamen nicht. Dann erlosch plötzlich der  Lärm im Hause Jesseniusgasse. Anna bemerkte diese tödliche Stille heute  zum ersten Mal. Das Haus war beim Mittagessen. Auch Anna versuchte, auf  dem Kohlenkübel sitzend, einige Löffel zu essen. Es gelang ihr nicht.  Ein unendlicher Nachmittag erwartete sie. Sie kaufte sich nachmittags  Zeitungen und war glücklich, als sie der Genossin Tinschmann begegnete  und ihr sagen konnte, dass nichts los sei. In den Zeitungen war nichts  Neues. Ein Verzeichnis der Verhafteten, eine Aufzählung des gefundenen  Diebesgutes. Der Mörder leugnete weiter. Die Stunden schleppten sich  hin. Noch sechs, noch fünf Stunden, jede dieser schwarzen Zahlen auf  dem Zifferblatt des Weckers, die eine Stunde bedeutete, hatte zwölf  schwarze Fünf-Minuten-Striche.
 Toni kam erst spät gegen 10 Uhr abends zurück. Nach Arbeitsschluss war  er die Ecken der Stadt und die Bahnhöfe abgelaufen, wo die  Zeitungsverkäufer stehen, und hatte den Genossen Kerekes gesucht. Er  fand ihn nicht.
 Dann hatte er eine Versammlung gehabt. Die erschöpften Nerven Annas  erzitterten aufs neue. Toni bemerkte im Nachtdämmer ihre Erregung  nicht. Er kam ruhig, umarmte und küsste sie und fragte freundschaftlich:
 „Wie geht es dir, Anna, ist was Neues?" Er machte Licht und aß mit  gutem Appetit. Angesichts der Selbstverständlichkeit seiner Ruhe verlor  Anna den Mut, die Frage zu stellen, die sie dreizehn Stunden gequält  hatte. Dann setzte sich Toni an seine Arbeit, bei der er sich nicht  gerne stören ließ. Anna sank der Mut vollends. Erst des Nachts, als sie  nebeneinander lagen, wagte sie es. Sie kämpfte mit sich und schreckte  einige Male davor zurück. Aber dann setzte sie sich ein wenig auf,  beugte sich über ihn und flüsterte:
 „Du hast ihn nicht umgebracht, bestimmt nicht, Toni?" Der Schrecken  Tonis dauerte vielleicht zwei, vielleicht drei Sekunden; dann fuhr er  sie an:
 „Tut es dir vielleicht leid?"
 Sie erschrak. Sie legte sich wieder zurück. Das Herz trommelte. Es war  dunkel. Der Wecker tickte wild. Erst nach einer langen Zeit sagte Toni  sanft:
 „Ich habe ihn nicht umgebracht." Das Herz beruhigte sich.
 „Aber wenn ich ihn umgebracht hätte, hättest du aufgehört, mich zu  lieben?"
 Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. So blieben sie eine Weile liegen. Dann  küsste sie ihn zart auf den Hals und flüsterte:
 „Nein, aber ich glaube, dass ich mich ein wenig gefürchtet hätte. Aber es droht  dir doch keine Gefahr?"
 Sie fühlte, dass er den Kopf schüttelte.
 Es war wieder still.
 Nur der Wecker tickte. Aber viel langsamer und ruhiger als zuvor.
 Zwei Augenpaare blickten wieder zur Decke hinauf. „Eine solche Dummheit, Anna,  solch ein Stück Mensch so zu überschätzen!"
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