Ein hässlicher Tag
Der Roman und der Tod des jungen Herrn brachten Anna der Marie vom dritten Stock näher. Marie hatte viel Verständnis für die Ereignisse und erwartete Anna vor der Portierloge, um ja nicht die Fortsetzung eines einzigen Tages zu versäumen. Marie war ein liebes Mädchen und wusste viel. Sie öffnete Anna die Türen zu allen Wohnungen im Hause Wenzelsplatz 33 und sie öffnete ihr die Türe zur ganzen Welt.
„Euer Baumeister ist der größte Dieb der Stadt", sagte sie. „Er hat den Staat beim Einkauf der alten Kriegsmaterialien betrogen und die Stadt beim Kanalisationsbau. Er hat sieben Zinshäuser und zu den Arbeitern ist er wie ein Hund. Kennst du denn nicht das Lied, das sie von ihm singen?"
Anna kannte das Lied nicht, und Marie begann auf der Stelle, als sie mit den Einholetaschen auf dem Hofe standen, zu singen:
Baumeister Rubesch heiß ich,
Was Verdienen und Schröpfen heißt, weiß ich,
Wer nicht pariert, den schmeiß' ich, Auf die Gesetze......
„Marie, Mariechen, ich bitte dich, die Fenster stehen offen", erschrak Anna.
„Na, und was haben sie von ihren Kindern? Einen Dreck. Die Söhne sind gestorben und aus dem Mädchen wird eine Nutte. Eure Alte läuft herum und ringt die Hände. Glaubst du, dass sie auch nur ein einziger Mensch bedauert? Weißt du, wie viele Menschen der Baumeister auf dem Gewissen hat? Und die hatten auch Mütter und Kinder. Eure Alte, — so einen Drachen musst du dir suchen. Millionen, sieben Zimmer und ein Mädchen. Und du alter Esel lässt dich aussaugen, schindest dich vom Morgen bis zur Nacht und besorgst auch noch die Wäsche. Was sie an dir erspart, schickt sie der Tochter in die Schweiz, damit die mit ihrem Mann im Kurort leben kann und nicht arbeiten muss. Du dummes Ding, du, außer zum Einkaufen kommst du nicht aus dem Haus und hockst am Sonntag noch in der Küche. Weißt du nicht, dass sie dir nach den Gesetzen am Sonntag Ausgang geben muss? An diesem Sonntag kommst du mit und wenn du kein Kleid hast, leih' ich dir eins. Ich habe zwei. Was meckerst du da?"
„Ich bin doch noch so dumm, Marie. Ich fürchte mich."
„Was fürchten, wovor denn?"
„Na, ich kenn' mich doch noch nicht in der Stadt aus. Ich bin doch nicht so erfahren wie du."
Anna erzählte Marie von Landru und Kis. Marie starrte sie mit ihren großen grauen Augen erstaunt an und schrie auf:
„Um Gottes willen!"
Sie bog sich, bis ihr am Hals die Adern zu sehen waren, und ihr Lachen schallte über den Hof:
„Mensch, da halt dich fest. Mein Oller ist ein Klempner, das muss ich ihm heute erzählen, damit er mich auch zulötet. Menschenskind, bist du aber blöd." „Marie, um Gottes willen, die Fenster sind offen."
Als sich Marie satt gelacht hatte, wurde sie ernst und ihre Augen blitzten.
„Siehst du, dieses unverschämte Luder, sie redet den Mädchen vom Lande solchen Unsinn ein, damit sie sie besser ausbeuten kann. Höre nichts und denke nichts und bleib schön dumm, und wenn du dich krank geplagt hast, werfen sie dich auf die Straße, dort kannst du dann vor Hunger krepieren."
„Die denkt bestimmt nicht so", verteidigte Anna ihre gnädige Frau.
„Ob sie denkt oder nicht denkt. Sie tut es, und alle tun es, auch ihr Mann. Sie sind alle gleich. Sie beutet eine aus und er tausend. Das bleibt sich egal."
Durch den Hof erschallte ein lauter Ruf. Und es war so, als ob Blechgeschirr zur Erde fiele.
„Anna, wie lange wollen Sie sich noch unterhalten?"
Das Fenster im ersten Stock war offen und umrahmte die mächtige Gestalt der Frau Rubesch. Anna schoss das Blut in die Wangen, sie ließ Marie stehen und lief nach Hause.
„Na, Anna, zerreiß dich nur. Idiot!" schrie Marie hinter ihr her.
Frau Rubesch blickte in die Küche.
„Na, die Marie, das ist gerade die richtige für Sie", sagte sie, und mit dem Finger drohend, „geben Sie acht, Anna!"
Am nächsten Sonntag nach dem Mittagessen nahm sich Anna ein Herz und bat die gnädige Frau um Ausgang. Sie kämpfte mit diesem Entschluss den ganzen Sonnabend und Sonntag Vormittag, und an diesen beiden Tagen musste Marie ihr viel böse Namen geben, bevor Anna den Mut fand, zu sagen:
„Gnädige Frau, darf ich heute Nachmittag ausgehen?" Frau Rubesch sah sie an:
„Aha, es fängt schon an", sagte sie unfreundlich. „Na, gehen Sie in Gottes Namen, wenn Sie das Geschirr abgewaschen haben. Aber geben Sie bloß acht, Anna."
An diesem Nachmittag gingen die beiden Mädchen aus. Marie hatte Anna fein herausgeputzt. Ihre Herrschaft war mit dem Vorortzug hinausgefahren, und Marie nahm Anna zu sich in die Küche. Sie borgte ihr ein schwarz-weiß-kariertes Kleid. Sie probierte den Strohhut mit der blauen Blume solange, bis er richtig saß. Sie selbst zog ein rosa Kleidchen mit blassblauem Einsatz an und setzte eine karierte Mütze auf. Beide sahen sehr gut aus, und Anna konnte sich im kleinen Spiegel an der Wand nicht satt sehen. Sie hatte ein feierliches Gefühl. Wenn man sich Hals und Achseln und die Beine bis zu den Knien so sorgfältig wäscht, wie Anna heute nach dem Geschirrabwaschen, wenn man außerdem so schöne, weiße Wäsche, die noch nach dem Plätteisen riecht, und ein wunderschönes Kleid an hat, muss man das Gefühl eines göttlichen Nachmittags haben.
„So und jetzt gehen wir auf den Graben", sagte Marie, als sie angekleidet waren. Es war eine Freude mit Marie zu gehen. Es war ein schöner Nachmittag, die halbe Stadt war hinausgepilgert, und auf den Straßen waren weniger Menschen als sonst. Trotzdem war für Anna hier mehr Gefahr als für gewöhnlich. Aber Marie führte sie zwischen Straßenbahnen und Automobilen so sicher und glatt durch, als ob sie auf weichen Wiesen gingen.
Unten am Wenzelsplatz verstellte ihnen ein junger glatthaariger Mann, mit einer schwarzen flatternden Krawatte den Weg und breitete die Arme aus:
„Wohin denn, schöne Frauen, wohin Goldene und Schwarze?"
Marie blickte ihn verächtlich an, mit vorgebeugtem Kopf und ein wenig schielend: „Hau ab, Mensch!"
Anna erschrak heftig, aber Marie sagte das so ruhig, ohne Zorn und mit solch vollendetem, gassenbübischem Ernst, dass der Jüngling in ein lautes Gelächter ausbrach. Marie kicherte gleichfalls, dann hob sie den Kopf und lief, Anna bei der Hand fassend, davon. Sie lachte noch, als sie schon um die Ecke waren, und ihr Gelächter sprang auf Anna über. Hinter einem blauen Briefkasten versteckt lachten sie beide lange. Dann beguckten sie sich auf der Nationalstraße und auf dem Graben sehr eingehend die Schaufenster der Seidengeschäfte, in der Zeltnergasse Pelze und Hüte und auf dem Altstädter-Ring die altertümlichen Bauten.
Dann trieben sie sich vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes herum, worauf eine Fachbelehrung über das Schließen von Spangen, Riemen, Knöpfen an Leibchen und Damenwäsche folgte. Als es dämmerte, schlugen sie den Weg nach der Hybernerstraße, zum Volkshause, ein. Denn dort veranstaltete die Vereinigung „Karl Marx" einen geselligen Nachmittag, und dort wurde Marie von dem Klempner Bode erwartet. Der Theatersaal des Volkshauses befindet sich in dessen innerem Hof, den sie einiger verstaubter Bäume wegen Garten nennen. Er besitzt eine Glaswand und sieht überhaupt, mit Ausnahme seines Pappdaches, eher wie ein Treibhaus aus. Wenn er beleuchtet ist, kann man hineinsehen wie in eine Laterne. Schon der erste Anblick, vom Durchgang aus, machte Anna diesen Raum, der bis zur Decke von blauem Rauch erfüllt und bis auf den letzten Platz besetzt war, lieb. Die Menschen, die dicht gedrängt an runden Tischen mit karierten Tischtüchern saßen, waren ihr in Gesichtsausdruck und in der Kleidung nahe, und es gab unter ihnen viele Mädchen, wie sie beide waren. Es sah hier viel heimatlicher aus als in den Restaurants, die sie nur von der Straße aus kannte, wo an weißgedeckten Tischen, die mit einer künstlichen Blume geschmückt sind, jeder für sich allein sitzt, um zu zeigen, dass er nicht belästigt zu werden wünscht. Hier war es lebhaft und warm. Der Klempner der Marie kam ihnen bis zur Tür entgegen. Es war ein Junge mit welligen Haaren, lustig und die Zähne bleckend.
„Tag'chen Marie", sagte er und reichte ihnen die Hände.
„Das ist die Anna aus dem ersten Stock, von der du mir erzählt hast, nicht?"
„Ja, ja, das ist unser kleines Paket", und Marie klopfte Anna auf die Schulter.
Bode besorgte ihnen zwei Stühle an einem runden Tisch, und sie nahmen inmitten von Arbeitern und Arbeiterinnen hinter Biergläsern, Selterwasserflaschen und vielen Aschbechern Platz.
Im Saal war eine kleine Bühne, auf der Jünglinge und Mädchen allein und im Chor auftraten, Gedichte vortrugen und Lieder sangen. Ein Trommlerorchester spielte dazu. Die Musik und der Gesang gefielen Anna sehr. Von den Gedichten verstand sie nur wenig.
Neben Anna saß ein junger Metallarbeiter. Als die Musik und der Gesang aufhörten und das Publikum in Beifall ausbrach, wandte er sich zu ihr.
„Du bist wohl das erste Mal bei uns, Genossin?" Das Wort „Genossin" und das Duzen brachten Anna in Verlegenheit und sie errötete. Marie stieß sie unter dem Tisch mit dem Fuß an, kicherte und — dies war schon Mariens Schicksal — steckte die ganze Umgebung so an, dass jeder mitlachte, mochte er wissen, worum es sich handelte oder nicht. Aber Marie war gutmütig und half Anna. Sie schilderte dem jungen Arbeiter, woher Anna käme, dass sie erst seit kurzem in Prag sei, bei Rubesch in Dienst stehe und eine Furie von Herrin hätte, die sie nirgendwohin weglassen wollte. Schon waren sie im Gespräch. Annas Gesellschafter kannte Pilgram. Er war einige Male auf einer Gewerkschaftsversammlung dort gewesen. Er war auch durch Annas Dorf durchgekommen. Vielleicht konnte er sich sogar an ihr Häuschen erinnern, dessen Lage Anna ihm schilderte. Den Architekten Rubesch kannte er zur Genüge. Das sei einer der gewissenlosesten Ausbeuter der ganzen Stadt. Das Wort Ausbeuter hörte Anna zum ersten Mal, aber es gefiel ihr und schien ihr interessant zu sein.
Anna war wohl zumute. Alle Leute ringsherum waren ihr nahe und es schien ihr, als wäre sie mit ihnen bereits einmal zusammengekommen und hätte mit ihnen gesprochen und nur vergessen, wo das gewesen war. Der junge Metallarbeiter erzählte Anna vom Architekten Rubesch und von dem letzten Streik der Bauarbeiter. Marie saß neben ihnen. Sie legte die halbgeschlossene Hand auf das rote Tischtuch neben die Bierflaschen und Gläser. Die Faust Bodes umklammerte die Hand Maries, und Bodes Faust war so mächtig, dass Maries Hand sich in ihr verlor. Beide blickten sich an und lächelten. Die Trommler spielten einen lustigen Marsch.
„Das ist die Marseillaise, das französische Revolutionslied", erklärte Annas Gesellschafter.
„So", wunderte sich Anna und ließ ihren Blick eine Sekunde auf seinen Augen ruhen. Doch diese Sekunde genügte, um ihr zu zeigen, dass sie blau und schön waren. Annas Begleiter hieß Toni. So nannte ihn Bode. .
An einem anderen Tisch, schräg gegenüber und etwas weiter zur Tür zu, saß, Anna mit dem Profil zugekehrt, ein junger rothaariger Bursche. Er war besser gekleidet als die andern; sein Gesicht war beinahe mädchenhaft. Schon vorher hatte er sich einige Male nach Anna umgesehen. Jetzt sah er sie mit vollen Augen und einem langen Blick an, den sie nicht unbemerkt lassen konnte. Aber in den großen Augen des Burschen war keine Zudringlichkeit, nur Wohlgefallen und Bewunderung, vielleicht auch ein bisschen Neugierde. Anna wurde verlegen. Doch auch Marie sah die Blicke des Jungen.
„Na, und du, Albert", rief sie dem Jungen zu. „Unsere Anna gefällt dir, was?" — Der Jüngling lachte ruhig und liebenswürdig und Anna errötete.
„Das ist Albert Jandak, ein Student, der Sohn des Abgeordneten Jandak", rief Marie und drohte Albert.
„Du hübscher Kerl, du." Der Abgeordnete Jandak blickte gleichfalls herüber. Er saß neben dem Sohn. Ein hübscher Mann mit einem glatten fröhlichen Gesicht und geringelten Haaren. Er sah eher aus wie ein älterer Bruder des Studenten und nicht wie sein Vater. Er belächelte den Erfolg seines Sohnes und zeigte dabei gesunde, weiße Zähne.
„Na, ihr Mädels, wird was aus ihm werden?" sagte er und nahm den Sohn um die Schulter.
„Natürlich", rief Marie.
„Sei doch ruhig, Alter", brummte Albert und errötete. Sie lachten. Am herzlichsten der Abgeordnete. Bloß der Metallarbeiter Toni blickte kalt und unfreundlich drein. Vom Tisch der beiden Jandaks wandte sich jetzt ein Dritter um, der bei ihnen gesessen hatte. Die Augen dieses Dritten waren schwarz, hart und scharf wie eines Messers Schneide. Sie beunruhigten, und wenn er einen anblickte, war es unmöglich, wegzusehen. Der Dritte hatte dunkles Haar und einen dunklen Vollbart und über die ganze Wange zog sich eine Narbe, die den Bart teilte und als weiße Rinne durch die rechte Hälfte des Bartes lief. Durch die Lücken zwischen den einzelnen Tischen schlängelte sich irgendein alter Arbeiter, und als er an dem schwarzen Genossen vorbeikam, legte er ihm die Faust auf die Schulter.
„Genosse Plecity, wie gefällt es dir bei uns?"
„Was soll mir an euren Alfanzereien gefallen", antwortete Plecity ohne Lachen und erhob seine harten Augen zu ihm. „Ihr glaubt wohl, dass Ihr die Bourgeoisie mit Gedichten besiegen werdet?"
Anna missfiel diese Antwort außerordentlich. Auf der Bühne traten jetzt Mädchen und Jünglinge auf und begannen mit den ersten charakteristischen Sätzen eines Sprechchorwerkes. Toni beugte sich zu Anna und sagte ihr:
„Das ist ein sehr interessanter Genosse. Er ist erst unlängst aus Russland zurückgekehrt. Er hat in der Roten Armee gekämpft, wurde von Denikin gefangen genommen und entging nur durch Zufall der Hinrichtung. Ich werde dir noch von ihm erzählen, wenn wir uns wieder sehen."
Anna blickte wieder in Tonis Augen und antwortete „Ja". Zum Schluss spielte das Trommlerorchester die Internationale. Alle standen auf und sangen mit. Auch Anna erhob sich, aber singen konnte sie nicht. Gegen 10 Uhr begleiteten Toni und Bode die beiden Mädchen nach Hause. Auf den Straßen ging es noch lebhaft zu und Mariens Gelächter zitterte zwischen den Schaufenstern der Geschäfte und dem farbigen Licht der Lichtreklamen. Die eleganten Paare, die eben aus den Dancings oder vom Theater nach Hause gingen, drehten sich indigniert nach ihnen um.
Im Düster des Hauseingangs auf dem Wenzelsplatz blieben sie noch eine Zeitlang stehen. Marie scherzte mit
Bode, und Anna senkte die Lider vor den ernsten Blicken Tonis. Marie lieh sich von Anna ein Taschentuch. Sie verknotete es mit ihrem eigenen und band sich mit den beiden Taschentüchern den Rock oberhalb des Knies fest.
„Na, ihr Jungs", schrie sie wie eine Zirkusreiterin, und bevor sie begriffen, was geschah, stand sie vor dem Hauseingang auf den Händen, ließ die Füße in der Luft baumeln und trommelte mit den Absätzen gegen die Tür. Dann schüttelte sie sich vor Lachen, und alle lachten mit.
„Gehst du auch manchmal aus, Genossin?" fragte Toni. Anna schüttelte den Kopf.
„Um sieben Uhr, abends, Bier holen", sagte Marie bereitwillig. Als Anna und Toni sich die Hände zum Abschied reichten, und als sich beide Hände aneinanderpressten, die ihren von der Wäsche aufgerauht und aufgesprungen und seine hart vom Eisen, war Anna sehr wohl. Das Wort „Genossin", das Toni ihr nach dem Gute-Nacht-Gruß noch nachrief, klang hell und freundschaftlich, und Anna war warm. Sie schämte sich nicht mehr und errötete nicht mehr.
Es war ein schöner Abend, und Anna dachte den ganzen Montag daran. Im Souterrain, in der Waschküche, während sie über dem Seifenschaum sang und der Waschkessel summte. Sie dachte noch Dienstag daran, als sie die Wäsche rollte und zusammenlegte. Dienstag abend wurde sie von Toni erwartet. Sie erschrak ein wenig, als sie, zwei Biergläser in der Hand, durch das Haustor schritt und ihn erblickte. Er begleitete sie zur Kneipe und durch den Hof zurück bis zur Treppe. Mittwoch kam er wieder. Sie blieb mit ihm einen Augenblick stehen, und Frau Dworak kam in dieser Zeit zweimal lächelnd aus der Portierloge, um die beiden anzusehen. Oben warf die gnädige Frau einen ungläubigen Blick auf das schaumlose Bier. Beim dritten Mal ging Anna bereits nach dem Abendbrot für 10 Minuten hinunter und dann bat sie, die Augen senkend, Frau Rubesch, abends nochmals ausgehen zu dürfen.
„Aha", sagte die gnädige Frau. „Da hat Ihnen sicher jemand erzählt, dass Sie ein Recht darauf hätten. Aber geben Sie gut acht. Ich bemerke schon seit längerer Zeit, dass mit Ihnen etwas vorgeht. Ich will Ihnen nur sagen, liebe Anna, Ihr Recht nimmt Ihnen kein Mensch. Aber wenn Sie nur das tun werden, wozu Sie verpflichtet sind, dann werde auch ich nur das tun, was ich muss." Als die gnädige Frau aus der Küche hinausging und die Tür hinter sich zuschlug, nicht sehr stark, aber doch stärker als gewöhnlich, erschien Fräulein Dadla. Sie lächelte, schaute sich im Küchenspiegel an und richtete sich die Haare an den Schläfen.
„Verlieben Sie sich nur, Anna. Wenn wir mal heiraten, ist der Spaß ohnehin zu Ende. Mama ist noch aus der alten Schule, da haben sie immer zu Hause gesessen und haben den Großvätern Hosenträger und Paradepantoffeln gestickt."
Die bösen Worte der gnädigen Frau berührten Anna seltsamerweise nicht erheblich. Das war das Kaufgeld und sie wusste aus ihrer Jugend, dass nichts umsonst ist. Es war auch wirklich nicht teuer, denn unten wartete Toni. Es war Sommer und die Abende waren lang. Sie fuhren mit der Straßenbahn nach der Vorstadt zu den Judenöfen. Die Judenöfen, das ist das Nizza und das Scheveningen der Proletarier und auch ihr Hotel garni. Diese Ebene am Rande der Stadt, mit kleinen Hügelchen, farblosem und zertretenem Gras, sieht aus wie ein hässlicher Kahlkopf, und dennoch hat man unter den Palmen von Capri und den Oliven von Brioni nie heißer geliebt als hier. Es gibt hier viele Mulden, kleine und große, von denen niemand weiß, ob sie durch Menschenhand entstanden sind oder ob die Natur sie geschaffen hat. Es liegen hier viel löchrige Töpfe und Waschnäpfe und viele Bauabfälle herum. Der unaufhörliche Angriff der Stadt schreitet in rascher Bewegung auch bis hierher vor. Die Stadt hat die Judenöfen bereits von zwei Stellen umklammert, und die ersten Pioniere der städtischen Bauten sind schon bis zur Ebene vorgedrungen. Bald wird es keine Judenöfen mehr geben. Aber jetzt weitet sich noch der blaue Himmel über den Judenöfen, und der schmutzige Dunst, der über der Stadt steht, hat sich mit dessen reinem Blau noch nicht vermengt. Die Frauen der Vorstadt sitzen hier an warmen Tagen im ausgerupften Gras. Sie öffnen die Knöpfe und mit weit ausgebreiteten Knien ihre Röcke lüftend, stricken sie Strümpfe und beobachten ihre Kinder, damit sie nicht die farbigen Aufdrucke der Flaschen an den Mund führen. Hier spielt die Jugend bei Tag Fußball und Murmeln. Hier vergraben die Einbrecher nachts ihre Beute. Hier umarmen sich die Liebenden der Vorstadt, und dann verwandeln sich die Sandmulden in süße Hotelzimmerchen. Sie liegen nahe beieinander, aber von einer Mulde zur anderen ist nicht zu sehen. Der Sternenhimmel ersetzt die Deckenbeleuchtung der Hotels. Die alten Arbeiter stehen am Abend nach dem Tagewerk nur in Hemdsärmeln, Zigarren rauchend, in den Straßen der Vorstadt an den Schwellen der Zinshäuser und beobachten die jungen Paare, die ungeduldig zu den Judenöfen eilen. Die Mädchen tragen geplättete Kattunldeider. Die Männer haben sich eben gewaschen und einen frischen Kragen angezogen. Die alten Arbeiter nehmen die Pfeife aus dem Mund, lächeln einer längst vergangenen Erinnerung nach und sagen: „Na ja, er führt sie zur Hinrichtung." Des Nachts patrouilliert die Polizei in den Judenöfen und beleuchtet die Gesichter der Liebenden mit Taschenlampen.
Hierher ging Anna mit Toni. Und wenn sie sich in einer Kaule zurechtgekuschelt hatten und bei der Hand hielten, erzählten sie sich vieles; sie schwiegen auch viel. Die Judenöfen sind nicht minder verlockend als die Boudoirs der schönen Damen und die Uferhaine in den Büchern des Fräulein Dadla Rubesch.
Hier küsste Toni Anna zum ersten Mal mit einem festen langen Kuss. Als sie seine Lippen fühlte, schwindelte ihr und sie drückte sich an den Geliebten, sie presste sich ganz an ihn und erzitterte.
In diesem Augenblick dachte sie an die Liebespaare in den Romanen des Fräulein Dadla.
Nein, Toni stöhnte nicht, sprach kein Wort, nur Anna seufzte leise: „Toni!" Hier erzählten sie sich aus dem Leben, und das war sehr schön. Es war so, als ob Viola und Cello oder Oboe und Waldhorn sich dieselbe Melodie reichten. Oder vielleicht eher noch, als ob zwei Kinder sich einen Ball zuwarfen, jetzt mit beiden Händen, jetzt mit der Rechten, jetzt mit der Linken, und der Ball fliegt, und man klatscht in die Hände und kniet nieder. Toni erzählte von seiner Jugend, vom halbzerstörten Haus, in dem die Eltern mit vielen Kindern ewig stritten, und in dem es nach altem Brei, Abwässern und Abfällen roch. Von seinem Vater, einem Weber in der Leuteschinderanstalt der Brüder Perutz; man sah den Vater nur des Abends und am Sonntag. Er war ein vierzigjähriger Mann, dessen Kleidung und Lungen von einer Baumwollstaubschicht bedeckt waren. Er war von unverdautem Zorn über Lohnabzüge und von der Angst vor der Arbeitslosigkeit ständig betäubt. Er erzählte von zwei Brüdern, von denen der eine an Skrofulose starb, und der andere Bäcker wurde, und von der Schwester, die schon vom zehnten Lebensjahre an der Mutter bei der Bedienung half. Die Mutter war Bedienerin, Wäscherin, Sacknäherin, Korbträgerin auf den Märkten, Tagelöhnerin bei einem Gärtner, Aufwartefrau in Wirtshäusern, wo sie die Treppen und Aborte wusch. Kurz, sie machte alles, was eine Hoffnung auf einen ärmlichen Verdienst bot. Toni reichte Anna seine Erinnerung, und sie gab ihm die ihre sogleich zurück. Ihre Hütte hatte ein Loch im Dach. Das war mit einer Reklametafel einer Kaffee-Ersatz-Firma repariert, und auf dieser Tafel war eine Taube zu sehen, die im Schnabel ein Paket Zichorie trug. Es sah so aus, als ob sie jeden Augenblick vom Dache wegfliegen wollte. Das war reizend. Der Vater war ein wenig Maurer, ein bisschen Hüttenbesitzer und ein wenig Landarbeiter. Die ewige Sorge, wie er das Futter für die Kuh und die fünf Mark Zinsen für die Hütte besorgen würde, hatte ihn zum Trinker und Familientyrann gemacht. Die Mutter plagte sich zu Hause und bei fremden Leuten. Sie schleppte Körbe voll Pilze, Himbeeren, Preiselbeeren, Stachelbeeren und Schwarzbeeren, Ranzen voll Butter und weißem Käse nach Pilgram. Auch Anna hatte Schwestern. Es waren ihrer fünf, und eine von ihnen hatte immer Kopf- und Magenschmerzen. Diese Kleine nahm Anna im Rückenkorb auf die Weide mit, und diejenigen, die schon zur Schule gingen, waren Gänsehüterinnen bei den Bauern, Obstpflückerinnen oder auch Büschelklauberinnen, die hinter den Schnittern einhergingen. Alles für ein Stück Brot und einen halben Pfennig die Stunde. „Jetzt müssen wir das alles zurückzahlen, für uns und für die, die vor uns waren", sagte Toni hart. „Müssen wir?" fragte Anna.
Wenn Toni morgens zur Schule ging, blieb er bei den Neubauten stehen. Er fand dort Unternehmer, die bereit waren, seine Arbeit zu bezahlen. Und diese Kutscher, selbst ausgebeutet, waren keineswegs kleinere Ausbeuter als die anderen; denn sie selbst bekamen für hundert aufgeschichtete Ziegel 1 1/2 Pfennig, und sie zahlten ihm dafür einen halben Pfennig. Wenn man beim Bau Geld verdient, kann man natürlich nicht rechtzeitig zur Schule kommen. Außerdem hat man dicke Staubschichten an den Beinen und bloßen Füßen. Der Lehrer, der keine Ahnung hat, wie gut es tut, zu verdienen, und wie verflucht fein ein Stückchen blutige Presswurst mit Speck riecht, wenn man sie zum Munde führt, der Lehrer schimpfte dann, stellte einen in die Ecke und gab im Betragen eine Drei. Toni rächte sich dafür an den reichen Jungen, die schöne Kleider hatten und Schinkenbrot mit zur Schule brachten. Er liebte von den Lehrern nur einen, den, der zu allen gleich böse war. Mit dem erlebte er einmal eine lustige Sache. Er und Pohl und Braun verkleideten sich eines Tages als die drei Könige aus dem Morgenland. Unter den Röcken trugen sie die Hemden der Mütter, die Kronen, einen Blumenstock, den sie auf Stricken aufgezogen hatten und gebrannten Kork, damit sich der Negerdarsteller schwarz anmalen könnte.
Aber erst im Hauseingang, wo sie singen wollten, richteten sie sich her. Dort mussten sie sich auch wieder umkleiden und ein wenig reinigen, weil sie auf der Straße von Schutzleuten verfolgt wurden. Sie gingen die Stockwerke ab und plötzlich, als sie an einer Wohnung klingelten, erschien in der halbgeöffneten Tür das Gesicht ihres bösen Lehrers.
„Na, ihr Gesindel", schrie er wie in der Schulklasse. „In welche Schule geht ihr denn?"
Ihre Überraschung dauerte genau zwei Sekunden. Dann rasten sie die Treppe hinunter. Toni war im Leben noch nicht so gelaufen. Pohl glitt aus und rollte ein ganzes Stockwerk auf dem Hintern hinunter. Unten, als sie sich gefasst hatten und sahen, dass nur ein Blumenstock und ein Weihwedel zerbrochen waren, brachen sie in ein Indianergeheul aus. Sie freuten sich, dass ihr Lehrer sie nicht erkannt hatte, sie kleideten sich um und liefen auf die Straße. Dort brüllten sie noch vor Lachen, freilich nur mehr aus Lausbüberei. Sie brüllten so, dass die braven Bürger sie beschimpften.
Anna fing seine Erklärung mit beiden Händen. Auch sie hatte Geld verdient. Im Sommer wachsen in den Pilgramer Wäldern Pilze. Aber man muss das Geheimnis kennen, um sie zu finden. Die Jungen pfeifen bei der Pilzsuche, weil der Pilz neugierig ist und den Kopf herausstreckt. Die Mädels, die nicht pfeifen können, versuchen es mit Schmeicheln, küssen den Pilz und sagen: „Vergelt's Gott und bescher uns, lieber Gott, noch hundertmal soviel." Herrenpilze, Pfifferling und andere verwandte man zu Hause für die Kartoffelsuppe, Champignons werden gereinigt, in einen irdenen Topf getan, der Topf wird in ein zweimal geknotetes Tuch geschlagen, und dann geht es nach Pilgram auf den Markt. Wenn es keine Pilze gibt, dann wachsen in den Wäldern andere Dinge, und wenn nichts wächst, dann holt man Reisig.
Aber man musste auf den Flurwächter Acht geben. Der war nicht zu erweichen, weder durch Bitten noch durch Weinen, der nahm jeden Sack mit. Wenn Anna und ihre Schwestern mit vollen Säcken heimkehrten und durchs Dorf gingen, schrieen ihnen die Bauernmädchen „Kra, kra" zu. Das sollte bedeuten, dass sie im Walde die Nester der Krähen ausgeplündert hätten. Das Weiden ist im Herbst auch keine leichte Sache. Wenn das Vieh ruhig die Stoppeln benagt, kann man die Beine am Feuer wärmen, singen und über die Jungen lachen, die Peitschenkämpfe und Feuersprünge veranstalten. Aber wenn sich der Reif auf die Felder legt, da heißt es im Kartoffelacker herumjagen, und du freust dich, wenn ein frischer Kuhfladen fällt, in dem du dir die Füße wärmen kannst. Ja, glaubte denn Toni, sie wäre noch nie mit einem roten Ränzel vor der Türe gestanden und hätte noch nie ihr Liedchen gesungen? Ihr Schuldirektor war ein braver Mann, er war Feuerwehrhauptmann, hatte 22 Bienenstöcke, und er kümmerte sich um nichts anderes. Trotzdem hatte Anna eine Drei im Fleiß, weil sie vieles vergaß. Der Vater war einmal 12 Stunden eingesperrt, weil er die Kinder nicht zur Schule schickte.
Toni erzählte vom Hunger seiner Lehrjahre. Essen, essen! Über Mittag, wenn die Fabriksirenen heulten, lief er wie ein wilder Junge aus dem Gießersaal und gerade in das Geschäft gegenüber, wo eine dicke Krämersfrau war. Er kniete am Korb nieder, in dem harte Brötchen waren und 'wühlte bis zum Grund, von wo er sich in der schmutzigen Mütze die zerbrochenen und zerbröckelten Brötchen hervorholte, weil sie ihm die Krämersfrau billig überließ. „Wie dieser verfluchte Junge bloß die Stückchen findet", lachte sie gutmütig. Aber als sie sich einmal unbeobachtet hinter ihn stellte und sah, dass der Junge am Roden des Korbes heimlich die Brötchen zerbrach, gab sie ihm ein paar Kopfnüsse, und er ging nicht mehr in dieses Geschäft. Die Vorstellung, dass er sich einmal mit Abfällen beim Schlächter voll stopfen könnte, mit Wurststückchen, Schinkenabfällen und verdorbenen Speckstücken, die man für Katzen kauft, erregte ihn bis zur Raserei. Der Anblick eines Gurkenfasses vor einem Geschäft trieb ihm den Speichel in die Mundwinkel. Weiß denn die Anna, wie man Katzen tötet? Pfui Teufel! Man lockt das Tier mit einem Stückchen Wurst in die Stube, und wenn es durch die Tür kommt, schließt einer die Tür, klemmt die Katze ein und hält sie. Der andere erschlägt sie mit Stockhieben auf den Kopf. Pfui, welche Gemeinheit! Die Katze hat ein zähes Leben und heult unerträglich. Er hat das einmal in der Wohnung des Freundes gemacht, aber er konnte das Fleisch nicht essen. Nein, nicht dass es schlecht gewesen wäre, aber wegen des Totschlagens und wegen der Augen der Katze.
Anna gab ihm die Erinnerung gleich zurück. Butterbrot, das war die Sehnsucht ihrer Jugend. Sie hatten daheim eine Kuh, und dass die lebte, war das Verdienst der Kinder, die des Nachts bei den Bauern Heu stahlen; aber keines von ihnen bekam je ein bisschen Butter zu kosten. Denn, was sie im Körbchen nach Pilgram zum Verkauf trugen, ging für Zinsen drauf.
Das war eigentlich die erste große Erinnerung ihres Lebens. Die Mutter schlug Butter, und Anna, ein kleines Mädchen, sehnte sich so stark nach einem Stückchen Butterbrot, dass sie heulte und schrie, sich zu Boden warf und mit den Beinen stampfte. Als weder Schreien noch Schläge halfen, strich ihr die Mutter ein Butterbrot. Aber das Mädchen mit dem roten Zopf hatte nicht einmal Zeit, den ersten Bissen zu schlucken. In der Tür zeigte sich der Vater und sein erster Blick ließ ihr und der Mutter das Blut erstarren. Das Mädelchen ließ das Brot fallen und lief zur Tür hinaus. Es rannte zum Bach hinunter und die Schritte ihres Vaters klangen hinter ihm; irgendwo weit hinten weinte die Mutter. Nahe am Bach erreichte er sie, erwischte sie am Kleid, packte sie, hob sie hoch und warf sie weit weg. Das Kind flog, und in dem kleinen Seelchen leuchtete ein Ahnen der letzten Stunde. Es fiel in weiches Moos, ins Geäst der Bäume auf dem anderen Ufer des Baches. Dort öffnete es die krampfhaft geschlossenen Augen, und von dort holte es die entsetzte Mutter. Bis hierher konnte Anna mit Toni Schritt halten, aber
weiter nicht mehr; denn dann kamen die Trommeln der Mobilisation und die schwere Melodie der Kriegsmärsche. Das wilde Orchester der Front mit der Grundmelodie des Artilleriefeuers, den hohen Tönen der pfeifenden Geschosse und dem dumpfen Widerhall in den Kasernen. Der langgezogene, beängstigende Gesang der Gefangenschaft. Zum Schluss das Lied der Heimkehr, das nur fröhlich begann. Toni war Metallarbeiter. Gießer in einem Eisenwerk.
„Wie sieht es denn bei euch aus?" fragte sie, „erzähl mir doch, was du dort machst."
Er erzählte ihr von den großen Gießereisälen, von ihrem Sand und Eisen, von den hunderten Arbeitern, die dort arbeiteten, von Martinsöfen, in denen das Eisen zur Weißglut erhitzt, sich glucksend auflöst. Vom Schmelzen des Eisens, wenn sich die schwarzen Gießereisäle mit einem weißen, surrenden Licht erfüllen, und wenn die Arbeiter mit Trögen und Stangen herbeieilen, um die Glut wegzutragen und in Formen zu gießen. Er erzählte von Sandbauten, die in die Erde getrieben werden und von beweglichen Kränen zu Häupten der Gießer, die in Riesenbottichen das flüssige Eisen wegfahren. Von den Gefahren der Arbeit, von den Arbeitern, die von Stahlplatten zertrümmert wurden, und von den Verbrennungen, von kleinen Explosionen in den Formen. Er erzählte, wie das flüssige Eisen sich in der Luft in glühende Brocken verwandelt, die den Arbeitern hinter das Hemd und in die Haare fallen. Er sprach von dem Büro, von den Ingenieuren und Meistern, von den Streitigkeiten mit ihnen bei der Verteilung der Arbeit und der Festsetzung des Akkordlohnes. Er gab ihr einen Begriff von den Arbeitern, Genossen und ihren Organisationen. Anna verstand nur halb, sie hatte den Eindruck von etwas Großem und Schwarzem, das zeitweise in weißem Licht erglüht, von etwas Wildlebendigem, das zu besiegen gleich schön und gefährlich war. Alles dies beherrschte Toni. Denn ihr Toni war stark und ehrenhaft. Toni war stark. Wenn er sie umarmte, so oft sie nebeneinander in den Mulden der Judenöfen saßen, dann konnte man sich ruhig auf den teuren Arm stützen, und er gab nie nach. Auch seine Lippen waren so wie seine Worte, sein Ja und Nein.
„Liebst du mich, Toni?" schmiegte sie sich an ihn.
„Ja", und er blickte ihr fest in die Augen.
„Und es geht uns gut, nicht?"
„Wie meinst du das?"
„So, ich meine, es geht uns besser als früher."
„Besser wohl, aber gut noch nicht." Als ob er nachdachte:
„Und warum denkst du, Anna, dass es uns besser geht?"
„So im allgemeinen, weil wir uns lieb haben, und weil wir es uns einrichten konnten."
Aber Tonis Gedanken waren eine andere Richtung gewohnt, und sein „wir" hatte einen weiteren Umkreis als das von Anna.
„Nein", sagte er, „wenn es uns besser geht, so haben das die Genossen für uns erkämpft, die vor uns waren, und ein wenig auch wir selbst. Aber wir müssen für uns und für die, die nach uns kommen, weiterkämpfen."
„Ja", wunderte sich Anna, drückte sich enger an ihn und blickte mit großen Augen zu ihm auf. Wenn sie in der Dämmerung oder schon im Dunkel im leichten Schritt der Liebenden von den Judenöfen zurückkehrten, konnten sie sich nicht voneinander trennen. Sie hielten sich immer eng umschlungen. Sie kamen an den Schachbrettern der Familiengärten mit ihren lächerlich kleinen Zäunen vorbei, hinter denen die Familien der Briefträger und Bankdiener leidenschaftlich das Spiel von Land und Wirtschaft spielen. Sie kamen an riesigen Müllhaufen vorbei, wo des Morgens Ketten von Wagen hinfahren, um die Asche, die Küchenabfälle und die ausgekämmten Haare ganzer Stadtteile auszuschütten, die an irgendeinem Ende immer von einem giftigdichten Rauch dampfen. Hier begegneten sie eines Tages dem schönen, vollbärtigen Mann mit der Narbe, den Anna an dem Abend im Volkshause kennen gelernt hatte. Er ging mit dem Studenten Jandak, dem Sohn des Abgeordneten. Toni und Anna erkannten die beiden in der Dämmerung nicht und kamen Arm in Arm bis zu ihnen. Da wollte Anna rasch von Toni wegspringen. Aber er hielt sie erst recht fest, als ob er ihr zurufen wollte: „Warum denn, glaubst du, ich schäme mich unserer Liebe?"
„Der Arbeit alle Ehre", sagte der rote Soldat, und in seinem bohrenden Blick zeigte sich etwas Hässliches und Spöttisches. „Du hast in diesen Tagen noch soviel Zeit zur Liebe?" fragte dieses ironische Lächeln. Tonis Gesicht verfinsterte sich, und das Blut stieg ihm zu Kopf. „Der Arbeit alle Ehre", sagte der junge Jandak weich, und seine blauen Augen wandten sich nicht mehr von ihrem Gesicht, bis er vorbeigegangen war. Auch Anna errötete, denn sie fühlte, wie Jandak ihr die Wange und die Haare gestreichelt hatte, mit einer Zärtlichkeit, in der ebensoviel stille Bewunderung wie Schüchternheit lagen. Annas Nerven packte eine ferne, ferne Erinnerung an das Zimmer des jungen Herrn.
Die Liebenden schwiegen noch lange nachher, als die beiden Genossen schon längst in der Dämmerung verschwunden waren. Tonis Hand glitt von Annas Hüfte ab. Er machte ein zorniges Gesicht. Mit welchem Recht verurteilte ihn Plecity? Hatte er seine Pflichten vernachlässigt? Wie oft in der Woche sah er denn Anna! Es gab selten einen Abschied an der Haustüre auf dem Wenzelsplatz, wo er nicht sagen musste: „Morgen kann ich nicht. Ich habe Vertrauensmännersitzung und übermorgen Genossenschaft. Ich werde Donnerstag auf dich warten, Annchen. Ach nein, da habe ich ja Gewerkschaft."
Annas und Tonis Hände fanden sich erst wieder im Licht der Vorstadtstraßen, an der Endstation der Straßenbahn, und im Wagen auf der vordersten Plattform hinter dem Rücken des Wagenführers blickten sie sich wieder in die Augen, schmiegten sich Hüfte an Hüfte aneinander und pressten die Hände. „Toni", Anna öffnete die Lippen, ohne einen Laut zu geben. Sie freute sich über die Leere der abendlichen Straßenbahn und ihre dröhnende Fahrt durch die leeren Gassen, und sie freute sich der Heimlichkeit ihrer Zärtlichkeiten. Aber auch heute sagte ihr Toni an der Haustüre zwischen dem ersten und zweiten Kuss zum Abschied: „Morgen ist Vollversammlung. Übermorgen ist Sonnabend, da ist Sitzung der Vereinigung Karl Marx. Sag doch mal, willst du nicht mitkommen? Es gibt eine sehr interessante Debatte. Es ist im Gartensaal des Volkshauses." — Natürlich wollte sie. Sie werde es sich schon einrichten. Sie kehrte sich schon lange nicht mehr an die kalten Blicke, mit denen Frau Rubesch sie ansah.
„Ich komme. Gute Nacht, Toni." Sie warf sich ihm an den Hals, presste sich an seine Brust und sie verstärkte die Festigkeit ihrer Küsse, bis ihre Zähne die seinen berührten und leicht knirschten.
„Gute Nacht, Annerl. Komm, komm bestimmt." Aber sonnabends konnte Anna nicht zur Versammlung der marxistischen Vereinigung kommen. Aus Czernowitz kam irgendein rumänischer Herr nach Prag, der Schwager des Baumeisters mit seiner Frau. Sie wohnten im „Schwarzen Ross", und man sah, dass dem Herrn viel an ihnen gelegen war. Sie waren zum Abendessen bei der Familie Rubesch. Fräulein Dadla kaufte Anna zu dieser Gelegenheit ein schwarzes Servierkleid und eine weiße Schürze, und sie setzte ihr auch ein weißes Häubchen auf. Sie quälte sie an diesem Tage sehr damit, wie sie bei Tisch servieren sollte. Heute, wieder am Sonnabend, lud das Ehepaar Herrn und Frau Rubesch zum Abendbrot ins „Schwarze Ross" ein. Frau Rubesch bereitete sich auf diesen Besuch sehr vor und beriet sehr lange mit dem Fräulein, wie sie sich festlich kleiden und dabei doch die Trauer wahren sollte. Nachmittags schickte sie Anna mit einem Auftrag zu ihrer Schwester, von der Anna irgendein Paket holen sollte. Als sie in der Küche die Ärmel herunterstreifte und die Schürze aufband, um wegzugehen, lief Fräulein Dadla herbei. Das Fräulein war sehr erregt und ließ sogar die Tür zur Diele ein wenig geöffnet, um zu hören, ob Mama käme. Als die gnädige Frau hereinguckte, stellte sich Fräulein Dadla zum Küchenspiegel, ordnete sich die Haare und sagte, als ob sie mit Anna von der Wäsche gesprochen hätte: „Ja, und die Manschetten waschen Sie mir auch in Seifenschaum." Als die gnädige Frau wieder weggegangen war, setzte das Fräulein die Reihe ihrer erregten Befehle fort. Sie gab Anna ein Briefchen und Geld für die Straßenbahn. Vom Bahnhof sollte sie schnell in den dritten Bezirk fahren. Die Adresse steht auf dem Briefumschlag. Aber schnell und sofort. Im zweiten Stock, gleich die zweite Tür rechts war der Brief Herrn Ingenieur Rudolf Fabian abzugeben. Das stand auch auf dem Umschlag. Und hier ist noch ein Zettelchen. Die Sachen sollte sie auf dem Rückweg im Delikatessengeschäft kaufen. Drei Flaschen Haut-Sautemes, feinen Aufschnitt, Butter und Käse. Das Päckchen aus dem Delikatessengeschäft sollte sie vor Mama im Winkel neben dem Keller verstecken.
„Aber nur schnell, nur schnell, damit niemand die Verspätung bemerkt." Anna ging zur Stadt. Sie hatte den besten Willen, alles so zu erledigen, wie es ihr aufgetragen worden war. An den Herrn Ingenieur glaubte sie nicht, weil ihr Marie erzählt hatte, das sei kein Ingenieur, sondern ein Kabarettsänger und ein altes Schwein dazu, und dass da mal eine schöne Schweinerei entstehen würde. Aber das interessierte Anna wenig. Sie war glücklich, dass sich abends niemand zu Hause aufhalten würde, und dass sie lange mit Toni zusammenbleiben konnte. Sie erledigte ihren Auftrag bei der Schwester der Frau Baumeister. Mit einer großen Pappschachtel in der Hand bestieg sie den Straßenbahnwagen und fuhr in den dritten Bezirk. Als der Wagen von der dritten Haltestelle abfuhr, erlebte Anna eine freudige Überraschung. Sie sah Toni auf der Straße. „Toni", schrie sie, und als es schien, dass er sie nicht hörte, beugte sie sich ganz aufgeregt von der Plattform und schrie und winkte mit der Hand, „Toni! Toni!" Er wandte sich um, und sein Gesicht erhellte sich. Er war noch im Arbeitskleid. Unter dem Rock trug er ein blaues Hemd, und auf dem Kopf saß seine schmutzige Mütze. Es war Sonnabend, und er hatte schon um 4 Uhr nachmittags Arbeitsschluss. Er lief gleich hinter dem Wagen der elektrischen Bahn her. So lange sie sich beide sahen, blickten sie sich mit verliebten Augen an. Auf der nächsten Station stieg sie aus und lief ihm entgegen. Sie begrüßten sich und leuchteten sich mit Augen und Zähnen an. Als Anna erzählt hatte, was zu erledigen war, las Toni die Adresse des Briefes und entschloss sich, Anna zu begleiten. Sie bestiegen von neuem die Straßenbahn und stiegen am Ziel aus. Sie gingen durch die Balbinstraße. Das ist eine stille, stark ansteigende Straße ohne Wagenverkehr. Fünfzig Schritte vor ihnen zog ein Kaufmannslehrling, ein zarter, glatthaariger Junge in einem weißen Mantel, einen Handwagen mit leeren Kisten. In solchen Kisten werden Bücklinge transportiert. Die Kisten waren hoch geschichtet, mit einem Strick zusammengebunden und reichten über des Knaben Kopf. Die Räder des Wagens donnerten langsam über das Pflaster, sie schoben sich nur mühsam vorwärts. Man sah, dass der Junge seine Last nur schwer bewältigte.
„Das ist eine kapitalistische Gewissenlosigkeit", fluchte Toni.
„Wart ein bisschen, ich werde ihm ein wenig helfen."
Toni ging schnell vorwärts. Da verließen den Burschen die Kräfte. Vielleicht war er auch gestolpert. Er ließ die Lenkstange fahren. Der Vorderteil des Wagens senkte sich und die Last schwankte. Die Kisten fielen mit Krachen zu Boden. Zwei Herren und eine Dame, die am Gehsteig vorbeikamen, brachen in Lachen aus. Der Junge, von Anstrengung und Schrecken gerötet, wandte sich nach ihnen um und lachte gleichfalls. Man sah, dass er nur aus Verlegenheit lachte. Aber aus dem nahen Krämerladen lief ein kräftiger Mann im schwarzen Mantel heraus, eilte zu dem Burschen hin, hob die Hände und ohrfeigte ihn, immer noch eine. Der Lehrling sprang halb zur Seite, halb wurde er zum Rad des Wagens getrieben. Er duckte sich dahinter und versteckte das Gesicht hinter den Armen. Der Herr stieß ihn mit dem Fuß in die Schenkel. „Du Lausejunge", brüllte er ihn an, dass die Straße schallte. Das war für Toni, der zehn Schritte vor Anna ging, das Zeichen. Er machte einen langen Satz. Im Augenblick stand er neben dem Mann und schlug ihn ins Gesicht und noch einmal, bums, ins Gesicht. „Du Hund, du."
Lippe und Kinn des Kaufmanns färbten sich blutig rot. Tonis Faust war Eisen gewohnt. Der Kaufmann blickte vollkommen verstört drein, und man sah deutlich, dass er mehr von Überraschung als von Schmerz gepackt war.
Zwei Herren und eine Dame, die vorher den Laufjungen verlacht hatten, traten näher. Vom gegenüberliegenden Gehsteig eilten auch zwei Menschen herbei, und dann trat noch von rückwärts einer hinzu.
Bevor sich Anna vom Schreck erholt hatte, sammelte sich ein Haufen Menschen um den Wagen. Man vernahm Stimmen, darunter auch die Tonis. Der Kaufmann hielt das blutige Taschentuch an die Nase, bückte sich nach dem Bleistift, der ihm heruntergefallen war und steckte ihn wieder hinters Ohr.
Als Anna herbeilief, war es ihr unmöglich, bis zu Toni vorzudringen. Sie sah nur, dass ein älterer Herr vor ihm stand, ein glattrasierter Herr in lichtem, kariertem Anzug und mit einer Hornbrille.
„Gut, mein Herr", erklärte er Toni, „aber das darf kein Grund sein, dass Sie die Rohheit durch eine noch größere Rohheit überbieten. Sehen Sie nur, wie Sie ihn blutig geschlagen haben. So werden wir in unserer Republik nicht weiterkommen. Demokratie verpflichtet."
„Ich pfeif auf Ihre Demokratie, in der sie arbeitende Kinder quälen lassen!" schrie Toni auf.
Bei dieser Antwort veränderte sich die Situation, die bisher ruhig gewesen war, mit einem Schlage.
„Das ist eine unerhörte Frechheit", rief ein junger Mann mit einer Aktentasche zornig aus.
„Also so ist das", sagte der rasierte Herr im lichten Anzug, „Sie sind scheinbar ein Bolschewik!"
„Natürlich bin ich ein Bolschewik", antwortete Toni herausfordernd.
Irgend jemand inmitten der Menge lachte spöttisch auf.
„Aha", schrie einer hasserfüllt und die Frau, die vorher auf dem Gehsteig gelacht hatte, kreischte mit hoher Stimme:
„Das ist ein Bolschewik, seht ihn euch an, das ist ein Bolschewik."
Aus den Menschen um Toni wurde eine Masse, und dieser Masse bemächtigte sich Erregung. Beim Anblick des ersten Bolschewiken aus Fleisch und Blut erwachten in ihrem Unterbewusstsein alle Schrecken der russischen Revolution, welche die Zeitungslektüre dort angehäuft hatte.
Erschießen im Keller durch einen Schuss von hinten, lebende Menschen, die im Müllhaufen vergraben werden, Gräfinnen mit hochgeschürzten Röcken, die man auf glühende Öfen setzt, Handschuhe aus Menschenhaut, die man von den Händen junger Kadetten abgezogen hatte, eine Horde wahnsinnig gewordener Kommissare, die sich zum Mittagessen die gebratenen Säuglinge der Stationsvorsteher servieren lassen, die Herrschaft der Juden, Kommunisierung der Frauen, die Flucht aus dieser Hölle, Fürstinnen in Lumpen, der Untergang aller Kultur, die Plünderung der Kirchen und Museen, die Bilder von Tizian, Correggio, die man als Maurerschürzen verwendet, der Tod aller ehrbaren Menschen, alle guten Sachen den Mördern, Lumpen, Dieben und Juden.
Ein Handwerker aus der Balbinstraße, ein Tischler, den das Leben handeln gelehrt hatte, rief aus dem Kreise, der Toni immer enger umschloss:
„Haltet ihn, ruft die Polizei."
Und plötzlich wiederholte die ganze Menge: „Haltet ihn, lasst ihn nicht los, Polizei, Polizei!"
Zwei Jünglinge, von einer wilden Sehnsucht nach Tatendrang ergriffen, entwirrten sich dem Gedränge und rasten die Straße herunter, als ob es ums Leben ginge. Sie liefen, um die Polizei zu holen. Ein Dritter riss sich gleichfalls los und flog hinter ihnen her. Seine Absätze klapperten auf dem Gehsteig.
Die Angst entfesselte alle Nerven. Es war die Angst um die amerikanischen Öfen, die man nach dreijähriger Sparsamkeit im Vorjahr im Speisezimmer aufgestellt hatte; die Angst um die kirschfarbene Seidenkombination der Frau und um die Kaninchenfelle, die man zu Weihnachten den Kindern gekauft hatte, die Angst um die 100 Mark mit Zinsen, die auf der Sparkasse der Hauptstadt lagen. Die Juden und die Republik, Schüsse und aufgesprungene Lackschuhe, die mit Zuckerspagat verschnürt waren.
„Nur nicht laufen lassen, nur nicht laufen lassen", brüllte die erregte Menge, und die Frau, die zuerst gelacht hatte, kreischte, als ob jemand ihr Gewalt antun würde.
„Haltet ihn, nur nicht laufen lassen." Als der Sturm sich legte, besann sie sich von neuem, drängte die Menge mit den Ellbogen auseinander und schob sich vorwärts.
„Untersucht ihn, untersucht ihn, ob er irgend etwas bei sich hat."
Zwei junge Leute waren tatsächlich bereit, der Aufforderung zu folgen und traten näher an Toni heran, aber der legte die rechte Faust an die linke Schulter und schob den Ellbogen vor. Seine Augen funkelten.
„Haut ab", brüllte er sie an, und sie rührten sich nicht mehr.
Toni benahm sich nicht so, als ob er davonlaufen würde. Er stand, durch seine bloße Existenz die Menschen aufreizend, und hielt sie mit seinen gefährlichen Augen in gebührender Entfernung. Er war bereit zu warten, ebenso wie die Meng© warten wollte, die das Schlagwort des Augenblicks „Polizei" beruhigt hatte.
Die Menge wuchs ungeheuerlich, nur um den Wagen herum war freier Platz, wie eine Luftblase in einer Sirupflasche. Dort standen Toni, der Kaufmann, der entsetzt blickende Laufbursche, der rasierte Herr im lichten Anzug mit der Hornbrille, der hier sichtlich Autorität genoss. Der Kaufmann schnäuzte sich und erklärte dem rasierten Herrn:
„Wissen Sie, was mich die Bücklinge kosten? Ich habe sie noch nicht bezahlt und der Kopf raucht mir, wenn ich dran denke, wo ich das Geld hernehmen soll. Gestern hat er mir eine Ölflasche zerbrochen."
„Nein, nein," winkte der Herr ab, „den Burschen dürfen Sie nicht schlagen, das geht nicht."
Der Kaufmann beugte sich zum Lehrling herab, zog ihn an der Schulter näher heran und zeigte auf den Herrn:
„Bitte, sage diesem Herrn da, hast du es schlecht bei mir?"
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Gebe ich dir genug zu essen?" Der Junge nickte.
„Schlage ich dich?" Der Junge schüttelte wieder den Kopf.
„Das haben wir eben gesehen," lachte Toni höhnisch.
„Was haben Sie gesehen? Nichts haben Sie gesehen," erregte sich der Kaufmann.
„Bitte, er bat mich ,Hund' genannt, mich, lieber Herr, ich bin ein größerer Proletarier als Sie, Mann. Ich kann mir bei niemandem am Sonnabend meinen Lohn holen, ich habe keinen Achtstundentag, ich schufte wie ein Hund von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends."
„Und der Lehrling mit Ihnen, bloß dass Sie etwas davon haben und er Maulschellen", schrie Toni.
„Ich habe etwas davon? Wissen Sie denn nicht, was Steuern sind?" ereiferte sich der Kaufmann, und die nervöse Frau kreischte wütend dazwischen:
„Er zahlt sie nicht."
„Selbstverständlich zahlt er sie nicht, gnädige Frau", wunderte sich der Kaufmann. Und sie aufgeputscht:
„Die Bolschewiken zahlen keine Steuern, die müssen wir zahlen, verstehen Sie, Sie... "
„Wissen Sie, mein Herr," fuhr der Kaufmann fort, „wie viel Miete ich für diesen Laden zahle? Danach fragt auch keiner."
„Man merkt es Ihnen an, dass es Ihnen sehr schlecht geht", provozierte Toni.
„Ihnen merkt man es auch an", kreischte die Frau und ballte die Fäuste, „eben Ihnen merkt man es an."
Der Kaufmann bückte sich und schob mit dem Arm achtungsvoll und höflich die Knie der umstehenden Leute beiseite.
„Erlauben Sie bitte, erlauben Sie bitte, nicht auf die Kisten treten," und brummte zum Jungen: „Sammel das auf."
Anna war im Menschenauflauf eingezwängt, nahe dem Wagen. Sie stand entsetzt mit der großen Pappschachtel in der Hand. Bis jetzt hatte sie die Augen auf Toni geheftet, aber nun, als es schien, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, schaute sie sich die Leute ringsumher an. Sie stellte fest, dass ihrer immer mehr wurden, und dass nicht einer unter ihnen war, der sich Tonis angenommen hätte. In dieser stillen Straße wohnten nur Kaufleute, Handwerker und Herren. Arbeiter gab's hier nicht. Da fühlte Anna, dass es ihre Pflicht sei, zu handeln. Ängstlich jemanden suchend, der sie verstehen konnte, heftete sie ihre Hoffnung an den Herrn im hellen karierten Anzug. Dieser mochte vielleicht ehrenhaft sein.
Sie drängte sich bis zu ihm durch und zog ihn sanft am Rock:
„Mein Herr", sagte sie bescheiden, „der Kaufmann hat diesen Jungen geschlagen."
„Ja, das weiß ich schon", antwortete er streng, und durch die Hornbrille blickten sie ein paar kalte Augen an: „Mischen Sie sich bloß nicht herein." Sie trat wieder ängstlich zurück.
Toni erblickte sie und lächelte sie an. Ohne Aufregung, fröhlich und angenehm.
Da sah sie, wie schön er war. Sie blickte ihn an und konnte die Augen nicht von ihm lassen. Sie vergaß die Gefahr, die ihm drohte und sah nur, wie schön er war.
„Na, Anna, fürchte dich nicht." Seine Stimme war hell.
„Sie werden mich nicht beißen, sie würden sich die Zähne zerbrechen, und außerdem sind sie zu feige. Die Bourgeoisie kämpft nicht selbst, sie ist gewöhnt, andere für sich kämpfen zu lassen."
Wiederum lachte jemand verächtlich.
„Wir werden uns nicht mit dir beschmutzen. Wir werden dir schon zum Bolschewismus verhelfen, wir werden dir schon die Bourgeoisie zeigen."
Und die Frau begann sich wieder zu erregen:
„Wo ist denn die Polizei, das ist ein Skandal, das ist wirklich ein Skandal!"
Irgendwo an der Peripherie des Menschenkreises zeigten sich zwei Stöcke und man hörte Schimpfworte. Tonis Geduld riss. Er setzte sich in Bewegung.
„Was soll ich mich hier mit euch unterhalten", brummte er, setzte irgendeinem die Faust unter die Nase und schob ihn beiseite. Mit dem linken Ellbogen stieß er jemand vor die Brust. Er ging, und nicht einer von denen, die ihn umstanden, wartete, bis er ihn anstieß.
„Lasst ihn nicht laufen", schrie irgend jemand auf, aber sichtlich nur deshalb, weil er es nicht selbst tun mochte. Toni warf rechts und links noch ein paar wütende Blicke. Anna ging hinter ihm her, und sie bekam von rückwärts einige Stöße.
„Komm", sagte er ihr, als sie aus dem Kreis gelangt waren und nahm sie an der Hand. Sie schritten die Straße aufwärts. Es folgte ihnen nur ein kleiner Haufen von Feiglingen. Die erregte Frau war dabei, und die allein hatte den Mut, den Versuch zu machen, die beiden aufzuhalten.
Sie jagte mit erhobenem Regenschirm hinter ihnen her. Toni wandte sich um und spannte die Arme.
„Hören Sie mal, ich habe noch nie eine Frau geschlagen, aber wenn Sie keine Ruh' geben, knall' ich Ihnen eine." Die beiden Begleiter der Frau hielten sie zurück und zogen sie fort.
Mit einemmal erhob der zerrissene Haufen ein jähes Geschrei und die paar Menschen, die ihnen gefolgt waren, fielen mit hellem Jubel ein:
„Hierher, hierher, haltet ihn, lasst ihn nicht, hierher, hierher", schrie die ganze Straße wie von Sinnen.
Toni und Anna wandten sich um. Zwei Schutzleute liefen die Straße hinauf, und vor ihnen jagten in wildem Galopp drei Jünglinge. „Dort, dort!"
Toni lachte auf. „Warte mal", sagte er zu Anna, „wir wollen doch nicht weglaufen." Er blieb stehen und wartete.
Die Schutzleute und die Menge waren im Augenblick da. Der rasierte Herr im lichten karierten Anzug übernahm wieder die Führerrolle.
„Ich heiße Dr. Kettner und erstatte gegen diesen Mann die Anzeige wegen Körperverletzung und Beleidigung des Staates."
Sie gingen wieder die Straße hinunter. Die Schutzleute, Toni, der Herr mit der Hornbrille und der Kaufmann. Der ging sichtlich ungern und suchte nach einer Ausrede, die amtlich nicht zur Kenntnis genommen wurde. Er wischte sich immer noch die Nase, aufmerksam forschend, ob noch Blut floss. Die große Menschenmenge zerstreute sich, und die Eskorte zog nur ein paar Neugierige nach sich.
Anna lief neben den Polizisten. Sie führten ihren Liebsten ab. An ihrem Arm baumelte die Pappschachtel, und im Rücken saß ihr die Angst. Es war die Angst ihres vom Alter ergrauten Dorfes, die Angst, die den Dorfmenschen erfasst, wenn er etwas von Gendarmerie, Patrouillen, Bajonetten und den Ungeheuerlichkeiten der Gerichtsszenen hört.
Es gehörte schon große Tapferkeit dazu, dass Anna wagte, den Polizeiärmel zu streifen:
„Herr Wachtmeister, der Herr hat den Jungen geschlagen."
„Mischen Sie sich nicht in Amtsahngelegenheiten ein", brüllte sie die grüne Uniform an, „und verschwinden Sie so schnell als möglich, es könnte ihnen schlecht bekommen." „Geh, Anna, misch dich nicht herein", sagte Toni.
Dann stand sie vor irgendeinem Haus. In diesem Haus war ein Tor und über diesem Tor eine schwarze Tafel und auf dieser Tafel stand mit weißen Buchstaben „Polizeirevier".
Dort war Toni.
Die Straße führte vorbei. Auf dem Gehsteig gingen Menschen an ihr vorüber. Über den Fahrdamm bullerten die Fuhrwerke und hupten die Automobile, aber das alles war wie von Nebel bedeckt. Und das einzige, was verzweifelt hell blieb, war die schwarze Tafel mit den weißen Buchstaben „Polizeirevier".
Aus dem Tor vor ihr kamen einige Leute und wieder einige. Aber Toni war nicht dabei. Dann kam der Kaufmann heraus, dann wieder einige Fremde, der rasierte Herr, der sie gleichgültig anschaute.
Endlich!
Toni stand auf der Schwelle. „Toni!"
Sie rief es aus und fiel ihm um den Hals.
„Toni."
„Sei nicht kindisch, Anna, komm' wir wollen gehen." Er stieß sie sanft von sich. „Werden sie dir etwas tun, Toni?" „Was können sie mir tun, diese Schweine, komm." Sie gingen.
Anna drückte Tonis Hand. „Sie werden dir nichts tun, Toni?"
„Na, sie werden mich ein paar Tage einlochen, das ist keine Sache."
Anna zerdrückte Tonis Finger in den ihren. „Liebling."
Er führte sie zur Haltestelle der Straßenbahn. Und sie ging gehorsam, bereit, ihm zu folgen und nicht zu fragen. Sie hielt seine Hand in der ihren.
„Fahr, Anna, du wirst zu Hause einen mächtigen Krach haben. Ich habe Versammlung und muss noch zu Hause vorbeigehen. Wenn du kannst, komm."
Es dämmerte bereits. Er wartete, bis der Wagen abfuhr, blickte ihr nach und lächelte.
Als Anna Toni aus den Augen verloren hatte, und von der Plattform in das Innere des Wagens gehen wollte, standen Plecity, der Mann mit der Narbe über dem Schnurrbart, und der Student Jandak vor ihr.
„Hallo, Kollegin, was ist dir?" fragte der Student und hielt sie lange an der Hand fest. Seine Hand war freundschaftlich warm und seine Augen mitleidvoll. Anna kämpfte lange mit den Tränen, bevor sie antwortete. „Konnte er nicht flitzen?" fragte Plecity, und seine Stimme war sonderbar gleichgültig.
„Er wollte nicht", antwortete Anna.
Da blickte der rote Soldat Jandak an, er blickte ihn so sonderbar an und sagte ausdruckslos, als ob er etwas ganz Bedeutungsloses zu sagen hätte:
„Eine Eselei, warum agitiert er nicht lieber bei den Arbeitern im Betrieb. Was hat denn das für einen Sinn, mit den Kleinbürgern auf der Straße zu streiten und sich zuletzt noch fassen zu lassen."
Plecity interessierte sich nicht für die Schicksale der Menschen, bloß für die Revolution. Anna schaute ihn verwundert an. Sie verstand das nicht. Er sprach doch nicht etwa von Toni?
„Ach nein", sagte der Student, doch Anna begriff, dass er es ihretwegen tat. „Toni agitiert sicher in den Betrieben, das ist ein braver Kerl."
Anna fuhr mit den beiden Freunden bis zur übernächsten Haltestelle, aber sie blickte während der Fahrt keinen der beiden an. Sie wusste, dass sie Plecity bis zum Tode hassen musste.
Auf dem Wenzelsplatz stieg sie aus. Der Händedruck Jandaks war wieder weich und warm, aber nicht so lange, wie er sein sollte. Anna entzog dem Studenten die Hand und sprang noch vom Wagen ab, ehe er hielt.
„Zu Hause wird's mächtigen Krach geben", hatte ihr Toni zum Abschied gesagt, — und es gab Krach.
Kaum hatte sie die Diele betreten und die Tür hinter sich geschlossen, schoss die gnädige Frau aus dem Zimmer. „Wo waren Sie", kreischte sie mit voller Stimme.
Anna war vor Angst außerstande, zu antworten. „Wo waren Sie?" fragte die Baumeistersgattin, sie mit den Augen durchbohrend. Sie war schon im schwarzen Abendkleid, mit Spitzen und Juwelen geschmückt, frisiert und gepudert.
„Sie Luder, Sie!"
Die Tür zum Zimmer öffnete sich, und der Herr war zu sehen.
„Reg dich nicht auf, komm, beschmutz dich nicht mit dem Mädchen. Am Ersten geht sie. Hat sie die Sachen mitgebracht?"
„Die hat sie mitgebracht. Selbstverständlich geht sie zum Ersten", schrie die gnädige Frau nochmal auf, entriss Anna die Schachtel und ging ins Zimmer. In der Diele tauchte Fräulein Dadla auf.
„Haben Sie mir alles besorgt?" flüsterte sie liebenswürdig, als sie an ihr vorbeiging. Sie tat, als ob sie zur Toilette wollte.
„Nein, Fräulein."
Dadla blieb stehen. Sie erbleichte, dann blickte sie Anna mit großen Augen erstaunt an. Als sie keine Antwort erhielt, knirschte sie mit den Zähnen und fuhr sich mit einer heftigen Bewegung durch die Haare, als ob sie sich die Haare raufen wollte. Plötzlich besann sie sich, dass sie sich hier nicht aufhalten durfte und die Eltern täuschen musste.
„Verfluchtes Luder", zischte sie, und es schien, als ob sie mit diesem Wort gleichzeitig ein Stück Lunge ausgespuckt hätte. Sie verschwand in der Toilette. Sie konnte sich nicht einmal dadurch erleichtern, dass sie die Tür hinter sich zuwarf. Anna stand in der Diele noch immer wie festgefroren, als Dadla zurückkehrte. Das Fräulein spuckte aus, und in diesem Ausspucken war dieselbe Verachtung wie vorher im Schimpfwort.
Anna ging in die Küche. Sie sank in einen Stuhl am Küchentisch, legte den Kopf auf die Tischplatte und bedeckte die Augen mit den Händen. Was immer auch geschehen mochte, sie war entschlossen, nichts zu sehen, nichts zu hören. Aber sie hörte trotzdem, wie die Herrschaft wegging, und wie das Automobil auf dem Hof ansprang. Dann war Stille. Nach einer Viertelstunde etwa kam Fräulein Dadla in die Küche. Anna hob zwar den Kopf nicht, doch es konnte nur das Fräulein sein. Die Küche erfüllte sich plötzlich mit Geschrei.
„Warum haben Sie den Brief nicht hingebracht?" und das Fräulein brüllte, bis ihr die Stimme versagte.
„Verfluchtes Luder, Bestie, Hure." Das Fräulein häufte Schimpfwort auf Schimpfwort, eine lange Reihe, vielleicht alle, die sie im Leben gehört hatte, wahllos hintereinander.
„Ich könnte Sie umbringen."
Sie warf die Küchentür ins Schloss, dass das Geschirr im Küchenschrank klirrte. Jetzt hielt sich Dadla für die Selbstaufopferung schadlos, mit der sie vorhin die Tür des Klosetts leise geschlossen hatte. Sie jagte durch die sieben Zimmer und warf die Türen ins Schloss, dass Mauerstücke rieselten, die Lampen wackelten und das Haus zitterte.
Anna hatte noch nichts Ähnliches erlebt. Der Vater hatte ihr mit der Faust Kopfnüsse versetzt, und seine Hand war hart wie ein Ziegelstein, aber so rasend hatte sie ihn nie gesehen. Über kurz war das Fräulein wieder in der Küche.
„Was haben Sie mir da angerichtet. Um Himmelswillen, was haben Sie mir da angerichtet." Es war ein verzweifeltes Weinen.
„Sie haben mich doch erschlagen, um Gotteswillen, Sie haben mich erschlagen."
Das Fräulein schlug mit dem Kopf gegen die Kacheln des Ofens.
„Fräulein, was machen Sie da, besinnen Sie sich doch." Das Fräulein wandte sich vom Ofen weg und fasste sich an den Kopf.
„Anna, um Himmelswillen, ich habe doch auf diese Soiree vierzehn Tage gewartet, wie auf die Auferstehung Gottes. Sie wissen ja nicht, was Sie mir angetan haben, Sie haben mich umgebracht."
Das Fräulein raste durch die Küche. Es war helle Verzweiflung.
„Um Gotteswillen, um Gotteswillen!"
„Fräulein", flüsterte Anna ängstlich, „vielleicht könnte ich noch hingehen."
Das Fräulein sprang zu ihr und bohrte ihr die Nägel in die Schultern.
„Gehen Sie, Annchen, laufen Sie. Ich schenke Ihnen ein schönes Batisthemd mit Spitzen. Gehen Sie, Rudi wird wohl nicht mehr zu Hause sein, aber fahren Sie ins Metropol, und wenn er da nicht ist, ins Cafe König, oder zum Zoo oder ins Café Wien. Es ist möglich, dass er auch in den Weinstuben im Rokoko sitzt, und wenn er nicht da ist, dann vielleicht bei Rumpelmayer. Wissen Sie, wo das Metropol ist?"
„Nein, Fräulein."
„Sie wissen auch gar nichts", seufzte Dadla.
Das Fräulein suchte Papier und Bleistift, schrieb Anna die Namen der Cafehäuser, die Straßen und die Nummern der Straßenbahnen auf. Sie stampfte mit dem Fuß auf, wenn Anna nicht sofort begriff.
„Laufen Sie, Anna, laufen Sie, meine Liebe. Sie müssen ihn um jeden Preis finden. Ich werde mich revanchieren. Ich schenke Ihnen auch Spitzenhöschen, wenn Sie ihn finden. Mit der „Eins" fahren Sie zu Rumpelmayer. Man wird Ihnen schon Bescheid sagen. Sie brauchen nichts mehr einkaufen und brauchen nicht zurückkommen. Papa und Mama kommen nicht vor Mitternacht. Nehmen Sie sich von dem Geld, das ich Ihnen gegeben habe, eine Mark, setzen Sie sich ins Cafe und sehen Sie sich die illustrierten Zeitungen an. Laufen Sie und nehmen Sie sich den Schlüssel."
„Sofort, ich muss nur das Bett machen."
„Das Bett mach' ich selber."
Anna gehorchte und ging. Das war ein furchtbarer Tag heute. Es musste ihn wohl jemand verflucht oder verzaubert haben. Oder sollte sie heute alle ihre Sünden abbüßen.
Die Herrschaft gibt Befehle und kümmert sich gar nicht darum, ob sie durchführbar sind, das Fräulein ordnet an, laufen Sie und finden Sie ihn, so wie man sagt, holen Sie Brötchen. Die Herren wollen immer nur mit ihrem Willen durchdringen.
Anna vertauschte die Fußsteige mit den Plattformen der Straßenbahn und das Zwielicht der Straßen mit der Helligkeit der Cafés und Weinstuben. Die Leute stießen sie an, berührten sie in den Drehtüren, und als sie auf Holz und Glas stoßend zweimal herumlief, spie sie die Tür in die beängstigende Helligkeit der Lüster, Spiegel und weißen Tischtücher. Sie stand betäubt in der Türe und wusste nicht, was sie tun sollte. Wer beachtet ein Dienstmädchen im Barchentkleidchen, das sich an der Portiere herumdrückt, ein Mädchen, zu gesund und sauber gekleidet, um für eine Bettlerin gehalten zu werden und zu bedeutungslos, als dass man sich mit ihr beschäftigen müsste. Die Kellner mit ihren Tabletts voll Kaffeegeschirr, mit ihren Silberkübeln, in denen Weingläser stehen, mit dem Abendessen, das auf Porzellangeschirr serviert wird, haben keine Zeit, und die Pagen sind zu stolz auf ihre Uniform, um sich zu einem Gespräch herabzulassen.
Nur die Herren an den nahen Tischen bemerkten, dass Anna schön war und dass sie prachtvolles rotes Haar hatte.
Viele Male wiederholte sie bei ihrer Jagd ihr: „Ach bitte, bitte", bevor man ihr erlaubte, zu Ende zu reden und viele Male musste sie die ganze Frage wiederholen, bevor man ihr antwortete: „Nein" oder, was schlimmer war: „Wir wissen nicht, oder wir kennen ihn nicht."
Das ging über ihre Kraft, und als sie in einem Cafehaus vier Kellner ansprach, und nicht einer ihr antwortete, und als ein Herr am Ecktisch ihr zublinzelte und winkte, hatte sie nur den Wunsch, wegzulaufen und sich ins Wasser zu werfen.
Doch es geschah etwas Unerwartetes. Und es kam so einfach, als ob es nicht die Erlösung, sondern irgendeine alltägliche Sache wäre.
Anna fand den Ingenieur Fabian tatsächlich gegen 10 Uhr in den unteren Räumen der Weinstuben Rokoko. Sie stand an den Garderoben auf dem Teppich, der so rot war, wie rohes Rindfleisch. Ein netter Kellner gab ihr auf ihre Frage liebenswürdig Auskunft und rief den Ingenieur hinaus.
Das war ein junger, eleganter Herr. Vielleicht ein bisschen zu elegant, schien es Anna, und ihr fiel auf, dass er stark parfümiert und gepudert war, dass er weiße Gamaschen, eine herrliche Krawatte, ein goldenes Armband und auf dem Mittelfinger einen Ring mit einem riesigen grünen Stein trug. „Was wünschen Sie", fragte er obenhin.
Es sollte herablassend klingen, aber es war nicht herablassend. Es war nicht diese Selbstverständlichkeit wie in der Sprache des Fräuleins und der Herrschaft, und Anna fühlte irgendeinen unsicheren Unterton. „Ich soll diesen Brief überbringen." „Geben Sie her", sagte der Ingenieur, griff hastig nach dem Briefumschlag, zerriss ihn und überflog das Schreiben.
In seinen Mundwinkeln spielte ein Lächeln. „Es ist gut", sagte er zufrieden, fasste in die Tasche seiner Weste und gab Anna 30 Pfennige. Anna errötete, aber sie nahm das Geld. Der Ingenieur zog in der Garderobe einen hellen Mantel an und richtete vor dem Spiegel lange den bunten Schal. Anna, mit den 30 Pfennigen in der Hand, trippelte auf dem roten Teppich die Stufen herauf zur Straße. Sie war frei, der Kreuzweg war beendet.
Sie eilte durch die nächtlichen Straßen zum Volkshaus und hoffte, Toni noch anzutreffen. Er war nicht mehr da.
Die Versammlung war zu Ende, und die Genossen hatten sich zerstreut. Sie schaute vom Garten aus durch die Glaswand in den Saal. Es brannte nur eine Birne, bloß zwei Tische waren besetzt. An einem Tisch spielten sie Skat, an einem zweiten debattierten drei Genossen und ein vierter las den „Holzarbeiter".
„Was nun", dachte sie, als sie wieder auf die Straße kam. Der Einfall des Fräulein Dadla, dass sie in einem Cafehaus illustrierte Zeitungen lesen sollte, war aufgelegter Wahnsinn. Sie hatte genug von diesen Cafes und Weinstuben, diesen gleichgültigen und zudringlichen Gesichtern der Männer, zur Verzweiflung genug, und sie war entschlossen, lieber zwei Stunden durch die Straßen zu wandern, ehe sie noch einmal in diese Schande zurückkehrte.
Da erinnerte sie sich ihrer Freundin Marie.
Sie lief dem Wenzelsplatz zu bis zum Hause 33. Sie öffnete das Haus und ging durch den dunklen Treppenaufgang bis zum dritten Stock. Das vergitterte Fenster von Maries Kammer ging auf den Flur hinaus. Anna klopfte. Sie klopfte zuerst leise und dann stärker, immer stärker. Aber Marie rührte sich nicht. Da klopfte Anna ganz hart mit der Faust.
„Wer ist da?" erklang eine schläfrige Stimme in der Kammer, „wer ist da?" „Ich, die Anna von unten."
Das Fenster erleuchtete sich, wurde dann geöffnet, und Maries Kopf erschien. Als sie Annas verquältes Gesicht sah, fragte sie mit teilnahmsvollem Erstaunen: „Was ist denn, mein Kind?"
„Marie, ich bitte dich, lass mich zu dir."
„Aber gern."
Marie öffnete leise die Tür der Wohnung und führte Anna an der Hand in ihr Kämmerchen.
Sie saßen nebeneinander auf dem Rand des Bettes. Als Anna die neugierigen Fragen, die aus Maries Augen leuchteten, beantworten wollte, brachte sie nicht mehr hervor als:
„Mariechen, ich bin so unglücklich", denn die Kehle zog sich ihr zusammen, und an Stelle der Worte kamen ihr Tränen. Marie begriff und drängte nicht. Sie saßen lange nebeneinander Hand in Hand, die eine rot, die andere schwarz, die eine angekleidet und die zweite im Hemd. Die Rothaarige weinte, und die Schwarze blickte sie mitleidvoll an, streichelte ihr Haar und sagte:
„Na, na —" und streichelte ihre Knie und sagte:
„Na, na, Annchen", und schmiegte die Wange an ihre. Dann kamen doch Worte.
„Na, sag doch."
Anna schilderte den Verlauf dieses ganzen schrecklichen Tages, den vollen Verlauf von Beginn, von dem Augenblick an, wo sie von der gnädigen Frau mit dem Paket zum Bahnhof geschickt wurde. Von den Beleidigungen, die Toni für seine Tapferkeit vom Rotarmisten widerfahren waren, erwähnte sie nicht ein Wort. Als sie in ihrer Erzählung bei den Wachleuten und bei Tonis Verhaftung angelangt war, zog sich ihr wieder die Kehle zusammen, und sie bedeckte die Augen mit den Händen.
Aber da rollte sie Marie, die sich vom ersten Schrecken um die Freundin erholt hatte, und deren erste Neugierde befriedigt war, in das Bett, zog ihr die Hände von den Augen und zupfte sie, um sie zu erheitern, an den Haaren und streichelte ihr Brüste und Bauch.
„Aber kleines Mädchen, das ist doch nichts. Du bist ja so dumm, das ist doch überhaupt gar nichts, rein gar nichts. An solche Sachen muss man sich in der Stadt gewöhnen. Hier ist das nicht so wie bei euch daheim."
Sie zog Anna Kleid, Schuhe und Strümpfe aus, legte sie ins Bett, deckte sie bis zum Kinn zu und küsste sie auf die Wange: „Nacht, mein Dummchen."
Dann machte sie das Licht aus und legte sich zu Anna ins Bett. In dieser Nacht erzählten sie sich im Flüsterton noch viele Dinge. Marie interessierte sich besonders für den Auftritt mit Herrn und Frau Rubesch, und als Anna den Tobsuchtsanfall des Fräulein Dadla geschildert hatte, kam Marie die Erleuchtung. Sie setzte sich im Bett auf und hob den Zeigefinger. „Pfffd", pfiff sie lange. Sie saß eine Zeitlang so, dann sagte sie: „Und jetzt erzähl mir das noch einmal." Denn sie wollte das jetzt genauer und im Sitzen auskosten. Anna erzählte den Zwischenfall mit Fräulein Dadla noch einmal, und als sie geendet hatte, sprach Marie das Urteil:
„Die schöne Dadla sitzt in der Tinte, das ist so sicher wie die Steuer, und jetzt hat sie Angst. Warte nur, wir werden noch viele schöne Dinge erleben, das ist bloß der Anfang. Das muss ich morgen früh der Portiersfrau erzählen."
Und zum Schluss pfiff Marie noch einmal. Diesmal ganz kurz, als ob sie einen Punkt machen wollte. Pfffd!
In dieser Nacht schliefen zwei Mädchen, eine Rothaarige und eine Schwarze nebeneinander. Sie kehrten einander die Hinterteile zu und hatten die Beine angezogen.
„Wir sehen aus wie der alte österreichische Doppeladler", sagte Marie, als sie einschliefen, und das waren ihre letzten Worte. |
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