ZWEITER AKT
Am Abend des nächsten Tages. Vereinszimmer der „Hütte". Vorn ein schmaler Raum in der ganzen Ausdehnung der Bühne. An ihn schließt sich ohne Tür ein langes, in den Hintergrund führendes Zimmer an, das die Wand in der Mitte rechtwinklig durchbricht und etwa die halbe Breite des vorderen Raumes hat. Der Eingang zum zweiten Zimmer wird von Portieren und zwei Kübeln mit Blattpflanzen flankiert. Im vorderen Raum links ein Klavier mit Drehschemel. An der Hinterwand rechts Bank mit Armlehnen, davor ein längerer Tisch mit bunter Wirtshausdecke und Stühlen. Rechts von Holzläden verdecktes Fenster. Links vom Ausgang ein Schränkten mit studentischen Verbindungszeichen. Darüber zwei gekreuzte Rapiere. An den Wänden Bilder des deutschen Kaisers, Hindenburgs und anderer Heerführer. Über der Bank eine Draperie von Fähnchen in deutschen, österreichischen, ungarischen, türkischen und bulgarischen Farben. Ein Fußläufer bedeckt einen Teil des Bodens. Elektrische Birnenarrangements über dem Klavier und zu beiden Seiten des Eingangs. Im hinteren Raum sieht man durch die Pflanzenkübel hindurch einen langen, ungedeckten Tisch mit Stühlen zu beiden Seiten und ganz im Hintergrund eine große Milchglastür, die von rückwärts schwach erleuchtet ist. Im vorderen Raum helle Beleuchtung, die den schwächer beleuchteten zweiten Raum in undeutliches Licht setzt. Wenn sich die Glastür hinten öffnet, ändert sich dabei die Beleuchtung.
Der vordere Raum ist leer, im zweiten ist Stimmengewirr, man sieht undeutlich sich verschiedene Personen bewegen. Aus ihnen
lösen sich Werra Adler, ältliche, aber jugendlich aufgeputzte Person, und Klara Wendt, junges Mädchen, die Arm in Arm den Vordergrund betreten.
WERRA: Und hier, siehst du, bleibt dann meistens nach den Diskussionen der engste Kreis beisammen — im ganz internen Gespräch.
KLARA: Da ist Herr Professor Seebald wohl immer dabei?
WERRA: Unser Meister! — Um den gruppiert sich doch alles. Ach, ich freue mich so, dass du ihn heute kennen lernen wirst.
KLARA: Ich auch, — aber, ehrlich gestanden, ich bin etwas ängstlich. — So ein berühmter Mann. —
WERRA: So ein großer Mann, Klärchen! — Aber du brauchst nichts zu fürchten, — er ist nicht hochmütig.
KLARA: Das erkennt man ja schon daran, dass so viele einfache Arbeiter hier sind.
WERRA: Du kannst mir glauben: Auf die bin ich oft geradezu eifersüchtig. Unsereiner kommt sich manchmal wie geduldet vor, so bevorzugt er das niedere Volk.
KLARA: Aber nach den Vorträgen — hier hinten — da finden sich wohl mehr die gebildeten Teilnehmer zusammen?
WERRA: Das ist verschieden. Manchmal schickt er uns bessere direkt fort. — Du hast doch den lahmen Rothaarigen gesehen
drinnen?
KLARA: Den blassen Menschen, der immer so hüstelt?
WERRA: Das ist sein Liebling; ein gewöhnlicher Buchdruckergeselle.
KLARA: Denk nur!
WERRA: Der bleibt fast immer mit hier; auch wenn bloß noch Klaviervorträge sind, oder ein jüngerer Dichter, z. B. Herr Tiedtken, Verse vorträgt.
KLARA: Ja, können denn diese Leute dies überhaupt verstehen?
WERRA: Der Meister glaubt es, ja. — Er ist so gut! (Hinten werden Stühle gerückt; lauteres Sprechen. Der Wirt Präzold kommt vor, hinter ihm Damen und Herren, darunter Dr. Bossenius und einzelne Arbeiter, unter ihnen Schenk und Klagenfurter.)
PRÄZOLD (sich umschauend): Herr Professor ist also wohl noch nicht da?
Dr. BOSSENIUS: Müssen Sie ihn denn selber sprechen?
PRÄZOLD: Ist vielleicht nicht mal nötig. Ich. möchte den Herrschaften bloß sagen, dass die Versammlung heute nicht sein kann.
DAMEN: Oh! Ach! — Ja, warum denn nicht?
PRÄZOLD: Ja — es ist grad wieder ein neuer Befehl gekommen, dass jede Art Versammlung, auch Vereinszusammenkünfte, verboten sind. Mir tut's ja selbst leid. Aber was soll ich wohl machen?
KLARA: Dann müssen wir wieder gehen?
WERRA: Ach, Herr Wirt, lassen Sie uns doch so lange bleiben, bis wir den Meister begrüßt haben. — Ja? — Bitte!
SCHENK: Herr Präzold, — es ist gut.
PRÄZOLD: Wieso? — Was meinen Sie?
SCHENK: Ich meine, Sie haben Ihre Pflicht erfüllt und uns das Verbot mitgeteilt.
Dr. BOSSENIUS (zu Schenk): Wollen Sie etwa hier bleiben?
KLAGENFURTER:Ich kann doch ein Glas Bier bekommen, Herr Präzold?
PRÄZOLD: Aber ich möchte die Herren doch bitten--an mir geht's doch schließlich aus.
SCHENK: Was kann Ihnen denn passieren, wenn Sie hier Gäste bewirten? — Schicken Sie uns das Fräulein, bitte.
PRÄZOLD: Ja, — natürlich--sofort! (Will ab, dreht steh noch einmal um.) Nur bitte — Vorträge dürfen auf keinen Fall gehalten werden. — Nur ganz zwanglos. (Ab.)
Dr. BOSSENIUS: Ich habe doch Bedenken gegen diese Umgehung. — Ah, da kommt Herr Strauß.
STRAUSS (tritt vor): Guten Abend, allerseits. Was ist denn hier für ein Aufstand?
Dr. BOSSENIUS: Sie wissen, Herr Strauß, von dem Verbot von Vereinszusammenkünften?
STRAUSS: Ach — ich hätt' mir's denken können. Nach den letzten Nachrichten, die bei der Redaktion eingelaufen sind. —
KLAGENFURTER:Ist etwas Wichtiges, Neues?
STRAUSS: Ja, nun — der Streik dehnt sich aus. Besonders von Österreich kommen die beunruhigendsten Meldungen; in Wien, Graz, Prag, Brünn ruht die Arbeit vollständig.
DIETRICH (auftauchend): Bravo, bravissimo!
KLAGENFURTER (leise): Du bist unvernünftig, Mensch!
STRAUSS: Ich fürchte, Genosse Dietrich, Sie verkennen die Situation. Nach meiner Überzeugung kann diese Bewegung in einem solchen Augenblick den Frieden nicht fördern, sondern höchstens schädigen, — wenn die Wirkungen nicht noch bedenklicher werden sollten. Die Front ohne Munition lassen.
SCHENK: Na ja, das wollen wir jetzt nicht verhandeln.
STRAUSS: Ich kann nur sagen, dass das die Meinung aller führenden Männer der Sozialdemokratischen Partei ist.
DIETRICH (lacht dröhnend): Das glaub ich. Diese--
KLAGENFURTER:Still, Dietrich!
Dr. BOSSENIUS: Also, Herr Strauß, der Wirt hat mir eben erklärt, dass eine Sitzung des Bundes keinesfalls stattfinden dürfe. Nun meinen die Herren —
STRAUSS: Wir müssen uns doch selbstverständlich dem Verbot fügen.
SCHENK: Das mag jeder halten, wie er will. Meine Freunde und ich sind in diesem Augenblicke Gäste in der „Hütte". Wenn die Vereinsräume für Sitzungen gesperrt sind, so benützen wir sie eben als Wirtschaftsräume.
STRAUSS: Zu irgend welcher Umgehung des Verbotes könnte ich mich keinesfalls verstehen.
DIETRICH: Es wird ja niemand gezwungen, dazubleiben.
WERRA: Ich bleibe nur, bis der Meister kommt. Ich will ihm wenigsten die Hand drücken und ihm ins Auge schauen.
KELLNERIN (tritt auf): Die Herren haben gewünscht?
SCHENK: Bringen Sie mir eine Limonade, bitte — Fräulein.
KLAGENFURTER:Und mir ein Glas Bier.
DIETRICH: Mir auch ein Bier!
KELLNERIN: Die übrigen Herrschaften?
Dr. BOSSENIUS: Vorläufig nichts. Wir bestellen vielleicht später.
KELLNERIN (ab).
WERRA: Ach, der Meister kommt! Der Meister! — Komm, Klärchen, — ihm entgegen! (Mit Klara in den Hintergrund.) —
(Die Herren und Damen drängen ins hintere Zimmer. Es bleiben zurück Schenk, Klagenfurter und Dietrich. Zu ihnen dann Trotz.)
KLAGENFURTER:Es wäre das beste, wenn das ganze Geschmeiß davonliefe.
DIETRICH: Diese Bande!
SCHENK: Mir wär's lieber, sie blieben da. Wir brauchen sie als Schildwache.
TROTZ: Man will uns nicht tagen lassen?
SCHENK: Ah — du kommst erst jetzt! — Wir bleiben natürlich.
DIETRICH: Der kleine Doktor hat schon Angst für seine Karriere — und der Strauß, der Verräter, möchte am liebsten gleich die Polizei holen!
SCHENK: Hast du FLORA: nicht gesehen?
TROTZ: Das ist ein Prachtmädel! Sie war heute bei mir, im Vorbeikommen. Hat sich bloß ausgeruht und Bericht erstattet. Den ganzen Tag ist sie auf den Beinen und agitiert. Ich hab sie ein Stück begleitet.
KLAGENFURTER:Agitiert? Wie kann sie das?
TROTZ: Die kann alles. In die könnte ich alter Mann mich noch verlieben. — Sie ist in der Volksküche und unterhält sich ganz arglos mit den Leuten.
DIETRICH: Und heizt ihnen dabei ein — wie?
TROTZ: Tüchtig. In den Geschäften nimmt sie einen Krautkopf in die Hand und jammert: 60 Pfg.! Das ist ja Sünde und Schande. Und dann kommen mit der unschuldigsten Miene Betrachtungen über den Krieg, über die Not — und dann ist sie auch schon beim Streik. — Ich war mit ihr in einem Laden, —
SCHENK: Erzähl' doch, - erzähl'!
TROTZ: Na ja, sie kaufte Zigaretten. — Ach Gott, der Preis! Und dann auch noch so schlecht! Ja — wenn man reden dürfte! Wenn die Leute nachdenken wollten! — Na, es waren noch zwei Leute da, ein Arbeiter und eine Frau. — Ja, reden Sie nur, Fräulein. Was meinen Sie denn? — Na, und dann legte sie los, dass den Leuten der Kopf warm wurde. Und ich tat, als ob ich nicht zu ihr gehörte und hab' mitgeholfen.
KLAGENFURTER:Und wie nahmen es die Leute auf?
TROTZ: Als sie weggingen, haben sie nur noch an den Streik gedacht - und wenn er doch bei uns auch zustande käme.
DIETRICH: Es wird prächtig werden! — Alle sind dafür!
SCHENK: Siehst du auch nicht wieder zu rosig, Dietrich?
DIETRICH: Ich? — Ich kenne doch meine Leute! Mir kann niemand etwas weismachen!
KLAGENFURTER:Soviel ich sehen konnte, glaub ich auch, dass morgen alles klappt.
SCHENK: Habt Ihr gehört, wie die Verbreitung der Flugzettel funktioniert hat?
DIETRICH: Tadellos!
TROTZ: Am besten hat Konrad Fischer gearbeitet. Als bei Wachsmann die Leute kamen, lagen an jedem Platz ein paar Blätter.
SCHENK: Und wurde die Sache gut aufgenommen?
KLAGENFURTER:Ausgezeichnet. — War auch brillantgeschrieben.
DIETRICH: Donnerwetter! Die Severin hat's los! Die paar Sätze, - aber jedes Wort, wie mit der Keule!
TROTZ: Schrei die Namen nicht so, — wenn's der Strauß hört!
DIETRICH: Der Spitzel - der dreckige!
SCHENK: Also morgen früh, meint Ihr, wird alles feiern?
KLAGENFURTER:Wachsinann ist gut. Bei der Motorengesellschaft ist es nicht sicher. Ich traf Schulz. Er meint, die Hälfte würde wohl mittun. Von Bartels & Moser weiß ich noch nichts.
TROTZ: FLORA: wollte Rund abholen, um zu hören, wie es in der Kaserne aussieht.
KLAGENFURTER:Ja, das ist das Wichtigste.
SCHENK: Kennt man überall die Unzuverlässigen?
DIETRICH: Die Spitzel? Die sollen es nur wagen!
TROTZ: Verräter sind immer dabei. Aber wer soll die kennen? Da haben wir schon unter dem Sozialistengesetz Überraschungen genug erlebt. Die wir für die Zuverlässigsten hielten, waren nachher bezahlte Lockspitzel.
SCHENK: Ich hab deinetwegen Angst, Stefan. Auf die Kriegspflichtigen werden sie besonders scharf sein.
KLAGENFURTER:Wenn es nicht schief geht, kann mir doch nichts mehr passieren.
DIETRICH: Was soll jetzt wohl noch schief gehen!? (Bewegung im Hintergrund. Es treten auf Mathias Seebald, Mitte der Fünfziger, lange zurückgekämmte Haare, schwarzen Rock, schwarze Binde, asketisches Äußere. Auf ihn einredend Werra mit Klara am Arm. Hinter ihnen Lecharjow, graue wirre Haare, Brille, spricht mit stark russischem Akzent: Rollendes R, auch in kurzen Endsilben hörbar, sehr weiches S. Damen
und Herren, darunter Dr. Bossenius und Strauß.)
WERRA: Liebster Meister! Jetzt müssen Sie endlich mal unsere jüngste Schülerin anschauen, hier meine kleine Schutzbefohlene Klara Wendt. Es ist eine Nichte meines geschiedenen Gatten. Aber sie hält der ganzen Familie zum Trotz zu mir.
SEEBALD (reicht Klara die Hand): Freut mich, Fräulein. Heute werden Sie freilich hier nicht viel hören.
KLARA: Ach, mir war ja doch hauptsächlich darum zu tun, Herrn Professor persönlich kennen zu lernen.
SEEBALD (lacht): Das ist allerdings nicht der Zweck des „Bundes Neuer Menschen."
WERRA: Nehmen Sie es nicht für ungut, Meister. Sie ist noch so naiv.
SEEBALD (klopft Klara die Backe): Schon gut, liebes Kind. — Aber die Damen entschuldigen mich jetzt. Ah — da sind ja meine Freunde alle beieinander. (Lässt Werra stehen.) Raffael! Gut, dass Sie da sind. (Reicht Schenk, Trotz, Klagenfurter und Dietrich die Hand): Es wird Tag, Freunde, — das Volk wacht auf!
(Seebald, Lecharjow, Schenk, Trotz, Klagenfurter, Dietrich stehen vorm Tisch rechts, die übrigen im Eingang und links.)
KLAGENFURTER:Haben Sie neue Nachrichten, Herr Professor?
SEEBALD: Nicht viel mehr, als die Zeitung bringt. Aber es geht ein neuer Geist durch die Massen, — das spürt man, und das lässt einen Mut fassen. Berlin — Wien — Prag — Leipzig --nun, und wird bei uns alles beim Alten bleiben?
DIETRICH: Morgen --
SCHENK (stößt ihn in die Seite): Du bist verrückt!
STRAUSS (vordrängend): Ich bezweifle, dass die Bewegung hierher übergreifen wird. Es ist allerdings versucht worden, die Arbeiterschaft durch anonyme Flugblätter zum Streik aufzuputschen. Aber es sind alle Gegenmaßnahmen getroffen worden.
SCHENK: Von Ihnen oder vom Generalkommando?
DIETRICH: Von beiden im Bunde!
STRAUSS: Darauf glaube ich nicht antworten zu müssen.
KLAGENFURTER:Wird wohl am besten sein.
SEEBALD: Bitte nicht zu streiten. — Ich glaub nur, Herr Strauß, dass Sie bei allem guten Willen, dem Proletariat zu nützen, seinen Feinden die Karten mischen.
STRAUSS: Und ich glaube, dass ein Streik in diesem kritischen Augenblick die Soldaten, die doch auch Proletarier sind, wehrlos den Feinden ausliefern würde.
LECHARJOW: Erlauben Sie mir bitte — bitte —, Sie sagen: Kritischer Augenblick. Wollen Sie mir sagen — bitte — was heißt kritischer Augenblick?
STRAUSS: Der Krieg steht vor seiner Entscheidung.
SEEBALD: Er wird noch lange vor seiner Entscheidung stehen,
wenn die Arbeiter die Entscheidung nicht herbeiführen.
DIETRICH: Sehr richtig! Bravo!
STRAUSS: Die Arbeiter können den Krieg nur im Sinne einer Niederlage entscheiden. Jetzt stehen wir vor der Entscheidung, die unsere Existenz sichert.
(Im Eingang erscheint FLORA: und Rosa, sie bleiben stehen und hören zu.)
LECHARJOW: Bitte — erlauben Sie nochmal —, wollen Sie mir sagen — ich bitte — wann ist gestanden seit August 1914 der Krieg nicht im kritischsten Augenblick? Und was heißt Existenz sichern — ich bitte? Wessen Existenz, wenn ich fragen darf? Die proletarische Existenz ist nicht gesichert, wenn Krieg ist, und ist nicht gesichert, wenn Frieden ist.
STRAUSS: Geht die deutsche Industrie zugrunde, dann sind die Arbeiter die Leidtragenden.
FLORA: (tritt nach vorn) (zu Strauß): Sie sind Sozialist, nicht wahr? Jedenfalls nennen Sie sich wohl so?
STRAUSS: Ich bin seit siebzehn Jahren organisierter Sozialdemokrat, Fräulein Severin.
FLORA: Wirklich? Aber von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel halten Sie wohl nichts?
STRAUSS: Augenblicklich geht es nicht um sozialistische Ideale, sondern um die Rettung des Vaterlandes.
Dr. BOSSENIUS (aus der Reihe der Umstehenden): Ganz richtig.
SEEBALD: Ich bin doch ein wenig erstaunt, meine Herren, diese Ansichten in unserem Kreis zu hören. Wir haben uns doch hier zu einem „Bund Neuer Menschen" zusammengefunden. Neue Menschen dürfen aber nicht an alten Vorurteilen hängen. Vaterland — gibt es denn das, wenn das Land der Väter den Söhnen einzelner weniger Väter gehört? Ich fürchte, dass der Geist in unserem Bunde mit dem Geist eines Bundes noch wenig Ähnlichkeit hat.
WERRA (vortretend): Aber, bester Meister, eine kleine Meinungsverschiedenheit macht doch nichts aus. Wir wollen doch alle dasselbe: das Gute, das Wahre und das Schöne. — Wir sollten uns doch nicht mit der hässlichen Politik abgeben. Vielleicht trägt lieber jemand etwas vor: Ein Liedchen oder ein schönes Gedicht.--Ist Herr Tiedtken denn nicht da?
SEEBALD: Sie sind im Irrtum, verehrte Frau Adler. Ästhetische Unterhaltungen sind nicht der Gegenstand unserer Gemeinschaft. Wenigstens habe ich mir, als ich den „Bund Neuer Menschen" schuf, etwas anderes dabei gedacht. Die Pflege der Kunst ist nur eines der Mittel, die den Geist bereit machen für das Gute, Wahre und Schöne. Die Bedingung für Güte, Wahrheit und Schönheit wird aber nicht durch künstlerische Vorträge geschaffen. Sie heißt Friede und Gerechtigkeit.
WERRA: Gewiss, lieber Meister. — Natürlich ist das das Höchste.
SCHENK: Für Frieden und Gerechtigkeit kann man auch sagen: Freiheit und Sozialismus.
FLORA: Und der Weg zu alledem heißt Revolution.
KLARA: O Gott, wie schrecklich!
Dr. BOSSENIUS: Wenn Sie eine Revolution des Geistes meinen —
TROTZ: Wir meinen eine Revolution der Klasse, Herr Doktor!
DIETRICH: jawohl, — das klassenbewusste Proletariat —
Dr. BOSSENIUS: Fräulein Severin kann schwerlich ein proletarisches Klassenbewusstsein mit auf den Weg bekommen haben. Ihr Herr Vater ist meines Wissens Bankdirektor.
SCHENK: Und wenn Sie Müllkutscher wären, würden Sie noch nicht begreifen--(Hustet.)
SEEBALD: Ich bitte, Raffael, werden Sie nicht ausfallend; und um das gleiche bitte ich auch Sie, Herr Doktor Bossenius. Was wir in unserem Bunde anstreben, ist ja gerade die innere Wandlung des Menschen, die ihn das Wesen echter Gemeinschaft erkennen lässt.
Dr. BOSSENIUS: Dabei fragt sich nur, ob wir Gebildeten uns zu Proletariern wandeln sollen.
FLORA: Das fragt sich gar nicht. Bourgeoisie ist das Verächtlichste. — Das Proletariat hat die Zukunft. In ihm sind alle Anlagen noch unverbildet. Insofern lasse ich die Unterscheidung, die Sie mit dem Wort „Gebildete" machen, allenfalls gelten. — Wenn hier Proletarier und Bour--Angehörige der andern Klasse zusammenkommen, so sollen dabei die Arbeiter nicht etwa „gehoben" werden, sondern die — Übrigen sollen sich prüfen, ob sie ihre Herkunft so völlig abstreifen können, dass sie berechtigt sind, sich zum Volk zu zählen.
Dr. BOSSENIUS: Denken Sie ebenso, Herr Professor?
SEEBALD: So ähnlich. Das Ziel ist die klassenlose Gesellschaft, in der überhaupt erst vom Volk die Rede sein kann. Wenn wir einen Ausgleich schaffen wollen, so ist das nur möglich in einem freien Bunde abgesonderter und darum neuer Menschen. Das müssen Menschen sein, die die neue Gemeinschaft schon in sich tragen, die den Unwert der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung, ihrer Gewalt, ihrem Krieg, ihrer Sklaverei, ihrer Herrschsucht so unerträglich fühlen, dass sie für sich die Abkehr schon vollzogen haben und mit dem Proletariat ohne Klassengegensatz denken, fühlen, und wenn es sein muss, handeln.
DIETRICH: Wir brauchen die Diktatur des Proletariats!
STRAUSS: Wir Demokraten lehnen jede Diktatur ab.
SCHENK: Die Diktatur des Kapitalismus lassen Sie sich aber gefallen. Das Kapital verfügt über sämtliche Machtmittel des Staates und der Menschen überhaupt. Es zwingt alle Arbeitskräfte in seinen Dienst, zwingt sogar den Ausgebeuteten zu töten und getötet zu werden, um noch größeren Gewinn aus sich herauspressen zu lassen, und dadurch, dass es alle Organe der Beeinflussung in seiner Macht hat, bringt das Kapital obendrein seine Opfer zu dem Glauben, dass alles so sein müsse, wie es ist.
STRAUSS: Mit Ihren Ideen kämen wir in Deutschland geradewegs zum Bolschewismus.
FLORA: Wäre das so arg?
Dr. BOSSENIUS: Na, ich danke.
LECHARJOW: Sie sprechen aus: Bolschewismus. Wissen Sie, was ist Bolschewismus? Werd ich Ihnen sagen: Bolschewismus ist — — Bolschewismus ist die Seele des russischen Volkes. Die Seele des russischen Volkes — das ist Bolschewismus.
Dr. BOSSENIUS: Damit ist gar nichts gesagt.
LECHARJOW: Nicht? — Nichts gesagt? Ich will Ihnen sagen — ich bitte, hören Sie mir zu —: Damit ist nichts gesagt für Sie. Damit ist gesagt viel — alles für den, der die Seele kennt des russischen Volkes und jedes andern Volkes. Sehen Sie auf mich, wie ich bin: 1905 hab' ich gestanden auf der Barrikade in Petersburg und war schon damals nicht weit von 50 Jahren, - und hab' gekämpft bewusst für den Bolschewismus. Musst ich fliehen nachher vor dem Zarismus und hab mich naturalisieren lassen in Deutschland. — Leider! — Wär ich ausgewiesen worden 1914 nach meiner Heimat, könnt ich kämpfen jetzt mit Lenin und Trotzki um die große Sache der Menschheit, um den Kommunismus.
TROTZ: Wir werden Sie auch bei uns brauchen können, Genosse Lecharjow!
LECHARJOW: Vielleicht kann ich nützen auch hier etwas.
STRAUSS: Deutschland ist nicht Russland.
SCHENK: Wir sind internationale Sozialisten, Herr Strauß!
Dr. BOSSENIUS: Mir stehen die großen Menschheitsideen nicht ferner als einem von Ihnen. Aber ich kenne dabei noch ein nationales Pflichtbewusstsein.
SEEBALD (tritt auf ihn zu. Streng): Herr Doktor Bossenius! In diesem Bunde gibt es ein Menschenbewusstsein, dem sich jede Pflicht unterordnet. Wenn Ihr nationales Pflichtbewusstsein eine besondere Sorte ist, die den Mord, die Gewalt, das Verbrechen zulässt, dann wüsste ich nicht, was Sie veranlassen kann, unseren Kreis zu betreten. — In allen Weltgegenden werden in diesem Augenblick, in dem wir hier sprechen, Menschen getötet von anderen Menschen, die sich nicht kennen und die sich gar nichts angehen, — in dieser Minute werden Hunderte zu Krüppeln geschossen, werden in der ganzen Welt aus Frauen und Kindern Witwen und Waisen gemacht. Da habe auch ich mein Pflichtbewusstsein — und das heißt nicht national sein und für die Mordenden der einen Seite Partei nehmen, sondern jedes, durchaus jedes Mittel anwenden, um dem unsäglichen Frevel Einhalt zu tun. — Wir haben uns hier nicht darüber zu unterhalten, ob dies oder jenes geschehen darf, sondern was sofort geschehen muss.
DIETRICH: Es lebe der Generalstreik!
STRAUSS: Zu einer politischen Versammlung hätte ich mich hier in der Tat nicht eingefunden.
SEEBALD: Die halten wir auch nicht. Wir werden uns dem Verbot der Militärbehörde fügen. Ich für meinen Teil möchte mich nur mit meinen nächsten Freunden unterhalten. Wollen wir uns hier in die Ecke setzen, Flora?
WERRA: Darf ich mit der Kleinen teilnehmen? — Es wäre uns so interessant
FLORA: Wir haben mit dem Professor über etwas zu sprechen, was Sie kaum interessieren kann.
WERRA (pikiert): Oh, dann wollen wir natürlich nicht lästig fallen. — Liebster Meister, das nächste Mal wird hoffentlich alles wieder wie immer sein.
SEEBALD: Wir werden sehen. Leben Sie wohl, Frau Adler. — Gute Nacht, Fräulein.
(Seebald nimmt auf der Bank Platz, neben ihm zur Rechten Flora. An der Seite links Schenk. Links von Seebald auf der Bank Trotz. Daneben auf einem Stuhl rechts Lecharjow. Klagenfurter, Dietrich und Rosa bleiben noch stehen.)
KLAGENFURTER:Ach, da ist ja das Fräulein. (Kellnerin tritt auf und bringt Getränke.) Will noch jemand bestellen?
(Kellnerin nimmt Bestellungen auf und notiert. Inzwischen Aufbruch der Herren und Damen.)
Dr. BOSSENIUS (zu Strauß): Ich glaube, wir haben hier heute nicht viel zu suchen. (Beide ab.)
WERRA (zu Klara): Wie schade, dass du den Meister heute nur so wenig kennen lernen konntest, Kindchen. Aber heute in acht Tagen, denk ich —
KLARA: Aber man merkt doch schon, was für ein Idealist er ist. — So interessant! — (Beide ab.) (Im zweiten Zimmer sieht man noch kleinere Gruppen stehen,die allmählich alle abgehen.)
DIETRICH: Diese Bande!
TROTZ: Wir sind jetzt unter uns. — Aber, Rosa, warum hast du denn Rund nicht mitgebracht?
ROSA: Ich konnte doch nicht reden vor den Leuten da. Ich hätte kein Wort herausgebracht.
FLORA: Wartet noch. (Sie macht Schenk ein Zeichen.)
SCHENK (nach ein paar Schritten in dem andern Raum): Die Luft ist rein.
KLAGENFURTER:Soll mich wundern, ob uns der Bossenius nicht noch die Polizei herhetzt.
SCHENK: Ach wo, die Ästheten tun uns nichts. Sie sind zu feige zum Handeln und zu vornehm zum Denunzieren. Aber Strauß unternimmt bestimmt etwas.
SEEBALD: Freunde, wir haben niemanden zu fürchten. Unreine Seelen flecken nur nach innen. Was sollte er auch wohl unternehmen können?
DIETRICH: Streikbrecher sammeln!
SEEBALD: Das soll er. Arbeiter, bei denen er Erfolg hat, sind für uns vorläufig wertlos. Wir müssen sie erst heranziehen zu neuen Menschen.
FLORA: Darf ich offen sein, Professor?
SEEBALD: Natürlich.
FLORA: Ihr Bund ist nicht der Boden, auf dem Revolutionäre wachsen.
SEEBALD: Revolutionäre! - Die kann ich leicht haben, wenn —
FLORA: Wenn die Revolution da ist. — Aber hier gedeiht keine Revolution.
SEEBALD: Ich weiß gut, wie Sie es meinen. - Und Sie haben auch recht. Ich muss diese Anhänger und Anhängsel von mir abschütteln.
SCHENK: Nur aus Proletariern kann man neue Menschen machen. Die andern müssen erst Proletarier werden, ehe man sie erziehen kann.
LECHARJOW: Aber ich kann nicht lehren, einen Bourgeois Proletarier sein, wenn nicht die Verhältnisse ihn lehren.
TROTZ: Wir müssen über die Sache reden, Genossen. Ich bin ein alter Mann, ich habe keine Zeit mehr zum Philosophieren.
SEEBALD: Es ist wahr. Neue Menschen müssen Menschen der Tat sein. Was ist bis jetzt geschehen?
FLORA: Die Arbeiter in allen Betrieben sind aufgefordert, morgen zu feiern. Flugblätter sind heute überall verteilt worden. Die große Mehrheit des Proletariats scheint gewonnen zu sein. Der Streikpostendienst ist organisiert. Nachmittags soll ein Demonstrationszug stattfinden.
SEEBALD: Eine Demonstration?
LECHARJOW: Wie habt Ihr Euch gedacht die Demonstration?
SCHENK: Um drei Uhr sammeln sich die Arbeiter auf dem Platz vor der Wachsmannschen Fabrik. Rote Fahnen und Plakate haben Trotz und Dietrich vorbereitet.
DIETRICH: Sie werden ihre Wunder erleben — diese Banditen.
SEEBALD: Und wohin soll der Zug gehen?
FLORA: Zum Schloss natürlich!
LECHARJOW: Was habt Ihr gemacht, aufzuklären das Militär?
FLORA: Für die Soldaten ist ein besonderes Flugblatt herausgegangen: Rund hat die Verteilung geleitet.
KLAGENFURTER:Wo ist denn Rund?
ROSA: Er war heute Mittag bloß auf einen Sprung bei mir. Das ganze Militär muss in den Kasernen bleiben. Es ist schärfste Bereitschaft befohlen.
SEEBALD: Und wie werden sich die Soldaten verhalten?
TROTZ: Das ist wohl ganz unsicher.
SEEBALD: Wenn sie in die Massen hineinschössen, — das wäre schrecklich.
FLORA: (ist aufgestanden, hat sich hinter Schenks Stuhl gestellt): Raffael, sprich!
SCHENK: Wir müssen Sie dabei haben, Mathias Seebald!
SEEBALD: Mich? - Wozu?
SCHENK: Sie müssen um drei Uhr bei der Wachsmannschen Fabrik sein, müssen zur Masse sprechen und sich an die Spitze des Zuges stellen.
SEEBALD: Was soll denn ich nützen können?
FLORA: Alles. Keiner von uns könnte den Arbeitern das ausdrücken, worum es sich handelt und was auf dem Spiel steht. Wenigstens genießt keiner von uns soviel Vertrauen wie Sie. - Und dann der Eindruck auf das Bürgertum. Die Presse und die Partei- und Gewerkschaftsführer würden es nicht mehr wagen, von Verrat und Bestechung zu reden, — und das Militär müsste sich mindestens zurückhalten.
SEEBALD (geht auf und ab): Ich liebe demonstrative Herausforderungen gar nicht. Aber wenn ich bestimmt wüsste, dass ich nötig wäre. — Was denkst du, Fedor?
LECHARJOW: Was soll ich denken? — Wenn die Demonstration wäre bewaffnet, hätt' ich gesagt: Es ist unnütz zu reden und voranzugehen. Dann soll vorangehen ein Mann, der kann kommandieren und weiß Bescheid mit dem Krieg.
SCHENK: Waffen haben wir nicht.
SEEBALD: Andernfalls käme ich auch nur mit, um abzuraten.
LECHARJOW: Wenn die Demonstration ist unbewaffnet, — kann ich wissen, was geschieht? Ich kann nur wissen, wer unterliegt, wenn man schießt; ob du an der Spitze marschierst oder zu Hause bleibst. Und ob man schießt, hängt nicht ab von Stimmungen der Bourgeoisie, sondern davon, ob man sich kräftig genug fühlt, um die Folgen zu tragen. Kann sein — kann nicht sein. — Vor 13 Jahren am blutigen Sonntag in Petersburg ist vorausgegangen Capon, der Pope; haben sie mitgetragen keine roten Fahnen, sondern Zarenbilder, Heiligenbilder, Kreuze. Kapitalismus hat gewusst, dass der fromme Gesang übersetzt bedeutet: Brot, Gleichheit, Sozialismus — und hat geschickt Kosaken und angerichtet ein schreckliches Blutbad.
FLORA: Damals. Aber jetzt, wo alles kriegsmüde ist, nicht zuletzt die Soldaten selbst, werden sie sich's überlegen.
LECHARJOW: Möglich — sie werden sich's überlegen. Möglich, sie werden sich sagen: Der Mathias Seebald vornan — gut, sie sollen sich Luft machen mit ihrem Zorn, sie werden wieder heimgehen — der Seebald ist ein guter Mensch; er wird sie von Unbesonnenheiten zurückhalten, und dann schaden sie uns nicht. — Möglich auch, der Kapitalismus wird sagen: Der Mathias Seebald an der Spitze? Das ist gefährlich. Er wird die Leute bringen zum Ausharren im Streik, er wird die Soldaten bringen zur Gehorsamverweigerung, er wird den Leuten aufdecken den Betrug von Brest-Litowsk. Ihn selber möchte man vielleicht nicht gerne einsperren, wegen seinem Ruf im Ausland. Wird man zusammenschießen, die ihm folgen, als warnendes Exempel, — ich kann nicht wissen, was sie werden tun.
SEEBALD: Du meinst also, ich könnte vielleicht gerade den Anlass geben, gewaltsam vorzugehen?
LECHARJOW: Ich meine gar nichts. Kann ich wissen? — Wenn sie sind klug genug, zu erkennen die Gefahr, die du bist für ihren Krieg, — werden sie schießen. Wenn sie Esel sind und dich nehmen für einen harmlosen Schwärmer, werden sie es lassen gehen.
DIETRICH: Sie sind Ochsen alle miteinander!
SEEBALD (aufgeregt hin und her gehend): Ich kann unmöglich die Ursache von Blutvergießen abgeben.
SCHENK: Ich bin überzeugt, Blut wird nur vergossen werden, wenn Sie nicht da sind.
FLORA: Das glaube ich auch.
SEEBALD: Aber ihr bringt mich in eine furchtbare Lage. Muss
denn die Demonstration überhaupt sein?
TROTZ (sehr bestimmt): Der Umzug muss sein. — Unter allen Umständen.
KLAGENFURTER:Es ist ja auch schon in den Flugblättern dazu aufgerufen.
SEEBALD (am Eingang): Ich bin ganz ratlos.--Aber da kommt ja noch — Grüß Gott, lieber Freund!
(Es tritt auf Laßmann am Arm seiner Frau.)
LASSMANN: Ich habe die Zeit verschlafen. Wenn immer Nacht ist, muss man viel schlafen.
SEEBALD: Dass Sie jetzt noch kommen — am späten Abend!
FRAU LASSMANN: Er hat nicht Ruhe gegeben und geschimpft, dass ich ihn nicht geweckt habe zur Zeit (Man bemüht sich um den Blinden. Währenddessen und der Begrüßung zieht FLORA: Schenk ans Klavier.)
FLORA: Raffael, der Zug darf nicht zum Schloss gehen.
SCHENK: Sondern?
FLORA: Zum Zeughaus!
SCHENK: Wie meinst du das?
FLORA: Von da aus zum Schloss, wenn wir Waffen haben. Verstehst du?
SCHENK: Ja, o du! (nimmt ihre beiden Hände). Du hast recht!
FLORA: Aber jetzt kein Wort davon, sonst kommt er bestimmt nicht.
SCHENK: Glaubst du denn, dass er überhaupt kommen wird?
FLORA: Das ist deine Aufgabe, — Du musst es durchsetzen. — Komm' jetzt zurück. (Er zieht sie hinter den Pflanzenkübel.)
SCHENK: Flora! (Leidenschaftlich). Flora! Meine — (will sie küssen; sie entzieht sich ihm.)
FLORA: Lieber Mensch! (Sie küsst ihm die Hand.) Wir müssen stark sein, du und ich. (Gehen unauffällig an den Tisch zurück.)
DIETRICH: Morgen um diese Zeit werden wir schon mehr wissen!
TROTZ: Mancher vielleicht nichts mehr.
ROSA: Ich habe schrecklich Angst um Fritz. Wenn er mitkommandiert wird —
KLAGENFURTER:Dann könnte er am ehesten das Schießen verhindern.
ROSA: Ja — das ist auch wahr!
LASSMANN: War heute keine Diskussion?
LECHARJOW: Wir haben herausdiskutiert den ganzen Bund Neuer Menschen.
SEEBALD: Ja, dann wollen wir mit wirklich neuen Menschen von vorn anfangen.
LASSMANN: Mit Arbeitern!
FLORA: Ja — und solchen, die dazu gehören.
DIETRICH: Ohne Bossenius und Strauß!
SCHENK: Und die hysterischen Weibsbilder.
LASSMANN: Dann war heute auch kein Vortrag?
KLAGENFURTER:Den hat die hohe Behörde verboten.
LASSMANN: Siehst du, Tilde, — so hab' ich doch nichts versäumt.
FRAU LASSMANN: Und hättest gar nicht mehr herzugehen brauchen.
LASSMANN: O nein, ich bin froh, dass ich hier bin. — Wird morgen alles gut werden?
DIETRICH: Das darfst du glauben. Es wird großartig!
TROTZ: Wir wollen es hoffen, Laßmann.
LASSMANN: Ja — und ich werde vorangehen — und eine rote Fahne tragen.
SEEBALD: Sie, lieber Freund? — Und wenn Militär aufmarschiert?
LASSMANN: Das kann mich blinden Krüppel getrost zusammenschießen.
FRAU LASSMANN: Ach, er träumt ja seit gestern Abend bloß davon. Ich hab' ihm schon heut einen Besen in die Hand geben müssen und ihn im Zimmer herumführen — und die Kinder mussten hinterherlaufen.
LASSMANN: Komm', Tilde, ich zeig's (Er geht am Arm der Frau, seinen Stock hochhaltend, durch den Saal.) Mir nach, Genossen
LECHARJOW: Lasst uns gehen hinter ihm. Er ist begeistert.
DIETRICH: Ja — kommt! — Es lebe die Revolution! (Alle gehen hinter dem tastenden, schwankenden Laßmann her, nur Seebald und FLORA: bleiben am Tisch stehen.)
LASSMANN (singt): Nicht zählen wir den Feind, — Nicht die Gefahren all' — Der Bahn, der kühnen, folgen wir, Die uns geführt Lasalle! (Rosa und Dietrich singen den Refrain mit.)
SEEBALD (leise): Das ist erschütternd.
FLORA: Sie sehen, wie der Geist ist — Sie müssen kommen!
SEEBALD: Ich habe die schwersten Gewissensbedenken. — Ich könnte nicht weiterleben, wenn durch mich Blut flösse.
FRAU LASSMANN: Sieh dich vor, Ernst. — Du stößt ja an den Wandschrank an!
SCHENK: Es ist genug. Kommt wieder an den Tisch!
FLORA: Werden Sie kommen, Professor?
SEEBALD: Ich weiß noch nicht.
FLORA: Es geht um den Frieden, es geht um alles. (Die Übrigen sind an den Tisch zurückgekommen. Einige setzen sich.)
KLAGENFURTER:Setz dich auf die Bank, Ernst, — du hast dich angestrengt
LASSMANN: Angestrengt! Das bei Verdun war eine andere Anstrengung, sage ich euch. Wir mussten vor, ob wir mochten oder nicht. Mitten durchs Sperrfeuer — immer zehn Schritt laufen und dann auf den Bauch. Da gings wie verrückt — ssss — bum! — ssss — bum!! — Die Kameraden fielen wie die Fliegen, links und rechts — und immer auf! Hingeschmissen! — Auf! — Hingeschmissen — in den dicken Dreck. — Ja, und dann kams. Ich dachte, es riss mir den Kopf weg — und das wär auch wohl besser gewesen.
SCHENK: Das wär nicht besser gewesen, Ernst. Dann könntest du morgen nicht mehr dabei sein.
LASSMANN: Ja, das ist wahr — morgen! Ja, aber doch — wie ich wieder zu mir kam im Lazarett, und nichts sah — gar nichts. Und bis ich dann wusste, dass ich gar nie wieder werde sehen können, — ich habe es nicht glauben wollen, viele Tage nicht. Und die Schwester meinte auch, es käme wieder, dass ich sehen würde. Ich glaube auch, der Stabsarzt hat die Schuld.
SEEBALD: Nein, der Stabsarzt nicht, — der Krieg hat schuld, Freund Laßmann.
TROTZ: Und morgen wollen wir gegen den Krieg aufstehen.
SCHENK: Ernst, sag du uns deine Meinung. Soll nicht Mathias Seebald dabei sein vor der Wachsmantischen Fabrik? Soll er nicht neben dir dem Zuge vorangehen?
LASSMANN: Ja, das soll er! — Oh, Professor Seebald! Wenn Sie die Arbeiter anführen, dann müssen wir ja siegen!
SEEBALD: Nein. Die Arbeiter können und dürfen nur durch sich selbst siegen. Ihr Sieg hängt nicht von meiner Person und von keiner andern Person ab. Auch die Demonstration kann den Sieg nicht bringen. Nur die Verweigerung der Arbeit, die Verweigerung des Dienstes an jeder Gewalt kann helfen. Am Streik kann ich mich freuen, — am Umzug nicht.
FLORA: Das Proletariat kann seine Macht nur fühlen lassen, wenn es sie auch zeigt.
DIETRICH: Das Bürgerpack wird zittern, wenn ihm der dröhnende Tritt der Arbeiterbataillone in die Ohren gellt!
SEEBALD: Ihr berauscht Euch an der Geste. Das Wesentliche liegt nicht im äußeren Schein. Die Verödung der Fabriken wird mehr Klärung schaffen als die glänzendste Parade. Der Staat bricht zusammen, gewaltlos, wenn die arbeitenden Hände erlahmen, und das Beispiel des gewaltlosen Widerstandes, das Ihr den Soldaten gebt, wird größer sein und tiefer wirken, als wenn Ihr auf die Straße geht.
SCHENK: Wir können nicht warten, bis der Staat langsam zusammenbricht. Solange hält kein Arbeiter das Streiken aus. Und wir dürfen erst recht nicht warten, bis die Front streikt. Das wird sie nur tun, wenn in der Heimat das Proletariat seine ganze Macht entfaltet. Der Umzug muss den Streik erklären und ihn erweitern.
TROTZ: Ich habe manchen Streik mitgemacht in meinem Leben. So einfach geht das nicht, dass die Arbeiter die Maschinen stehen lassen und zu Hause bleiben bei Frau und Kindern. Sie müssen sich sehen und jeden Tag gegenseitig neu Mut machen. — Ja, wenn's um ein paar Groschen höheren Lohn wäre! Dann könnte man fragen: Wer hält's länger aus? Aber
wir wollen streiken für unsere rote Fahne. Da müssen wir die rote Fahne auch wehen lassen.
FLORA: Das war ein gutes Wort, Genosse Trotz. — So denkt ein alter Proletarier, Professor. Können Sie sich da noch sträuben?
(Schritte im Nebenraum.)
ROSA: Es kommt jemand.
PRÄZOLD (tritt auf): Guten Abend, meine Herrschaften! Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe. Nur — ja — es wird doch nicht länger gehen hier.
KLAGENFURTER:Ist die Polizei schon da gewesen?
PRÄZOLD: Ja — nein — die Polizei nicht gerade selbst. Herr Strauß war noch einmal da — mit noch einem Herrn.
SCHENK: Mit Herrn Dr. Bossenius?
PRÄZOLD: Nein — es war keiner von den Herren, die hierher gehören. Es mag wohl einer von der Behörde gewesen sein.
DIETRICH: Da haben wir ja den Spion!
PRÄZOLD: Die Herren fragten nur, wer noch da wäre und machten mich auf die Folgen aufmerksam, wenn ich die Zusammenkunft hier hinten dulde. — Wenn die Herrschaften natürlich vorn im Lokal sitzen wollen —
SEEBALD: Nein, danke. Wir werden sofort aufbrechen.
PRÄZOLD: Ich möchte nur bitten: Wenn Sie vielleicht nicht alle zusammen gehen wollen, — dass es weniger auffällt.
TROTZ: Sie können ganz unbesorgt sein.
PRÄZOLD: Es ist ja nicht meinetwegen. Aber, wissen Sie: Man weiß jetzt nie, wer noch dem andern trauen darf. Und ich, Herr Professor, ich stehe ganz auf Ihrer Seite. Seit ich meinen Sohn verloren habe im Felde, da sind mir auch die Augen aufgegangen. — Also ich meine — wenn ich raten darf —, wenn vielleicht der Herr Professor bis zuletzt bleiben wollen.
SCHENK: Warum denn das?
PRÄZOLD: Herr Schenk, solange der Herr Professor da ist, traut sich die Polizei nicht hereinzukommen. Aber wenn er wegginge, wären die übrigen Herrschaften nachher gleich aufgeschrieben.
LASSMANN: Mich sollen sie nur aufschreiben!
FLORA: Wir danken Ihnen, Herr Präzold. Wir werden getrennt fortgeh'n.
PRÄZOLD: Also dann empfehle ich mich bestens.
KLAGENFURTER:Wollen Sie uns das Fräulein zum Zahlen schicken?
PRÄZOLD: Es ist besser, ich schicke sie in die Garderobe. Es fällt weniger auf. (Ab.)
DIETRICH: Da haben wir den Verräter — den Strauß!
SEEBALD: Das hätte ich in der Tat nicht für möglich gehalten:
LECHARJOW: Es ist viel möglich. — So sind die Menschewiki. Sie sind überall gleich.
SCHENK: Stefan, du musst zuerst gehen. Du bist am meisten gefährdet.
KLAGENFURTER:Ich habe keine Angst.
SCHENK: Wenn man dich beobachtet, hast du morgen die Einberufung. Am besten, du gehst allein.
ROSA: Nein, mit mir. Man hält uns dann für ein Paar.
KLAGENFURTER (lacht, fasst sie unter): Ja, Röschen — wie wär's mit uns beiden?
DIETRICH: Oho! Oho! Was wird Rund sagen?
ROSA: Und deine Frau, Stefan! — Also Adieu, — wir gehen. (Mit Klagenfurter ab.)
FRAU LASSMANN: Komm', Ernst! (Laßmann wird aus der Bank geführt, verabschiedet sich.)
SCHENK (währenddessen abseits zu Flora): Du gehst doch mit mir?
FLORA: Nein, ich schließe mich jetzt gleich Laßmanns an.
SCHENK: Aber — warum?
FLORA: Du musst bis zuletzt bleiben und Seebald noch bearbeiten.
SCHENK: Ich hoffte, du würdest heut mit mir kommen.
FLORA: Sei nicht unverständig, Raffael. Ich komme morgen früh bestimmt zu dir, ganz früh. Denk an das Werk und tue das Deine!
SCHENK (reicht ihr die Hand): Gut also. Auf Wiedersehen bis morgen.
FLORA: Bis morgen. — Macht's gut, Trotz und Dietrich!
TROTZ: Sie auch, Flora! Ihr Jungen müsst es machen!
DIETRICH: Oh, zu den Jungen gehören wir auch noch, wenn's drauf ankommt.
FLORA: Jetzt kommen Sie, Laßmann! — Gute Nacht, Genossen. — In den Kampf! (Mit Laßmann ab.)
SEEBALD: Aber die Liebe nicht vergessen.
TROTZ: Das ist ein Weibsbild. Mit tausend Arbeitern, so wie dies eine Mädel, wollte ich die Welt umkrempeln.
LECHARJOW: Bei uns in Russland — die Frauen haben gestellt die besten Kämpfer für unsere Revolution. Sie waren die Glut der Bewegung — und sind gegangen in den Tod, unsere Studentinnen zu Hunderten, wie wenn sie's gewöhnt wären, zu sterben.
SCHENK: FLORA: ist leider bei uns eine große Ausnahme.
SEEBALD: Aber sie wird es nicht bleiben. Das Vorbild zeugt Nacheiferung. Der Wille zum Guten tut sich nicht genug mit einem Herzen. Durch den Mund des einen geht er in andere über. Das Ideal vermehrt sich dauernd aus sich selbst.
SCHENK: Aber erst, wenn es zur Tat wird.
TROTZ: Wenn nur die gebildete Jugend endlich die Zeit verstände!
DIETRICH: Die Studenten? — Die Lausbuben! — Die kann man mit der Laterne suchen, die was taugen.
SEEBALD: Das ist leider wahr. Die akademische Jugend hat in Deutschland das Ideal verloren. Der Kultus der Gewalt hat sie verdorben.
SCHENK: Sie sind Bourgeois, — das ist alles.
LECHARJOW: Ich werd Euch sagen, was ich hab' für eine Meinung. Bei uns in Russland waren die Studenten und Studentinnen die Träger der großen Ideen. Das kommt, weil man hat verfolgt die Intelligenz, weil die Intelligenz immer ist eine Gefahr für die Brutalität, und weil der zaristische Staat war aufgebaut auf der Brutalität. In Deutschland ist die Studentenschaft nicht mehr Verfechter der Intelligenz, sondern des Interesses.
TROTZ: Des kapitalistischen Interesses.
LECHARJOW: Ja, ich will sagen. Was ich gesehen hab' hier von Studenten, waren keine Studenten wie bei uns, mit dem Feuer der Jugend und mit Leidenschaft. Nein — waren nichts weiter als zukünftige Ärzte, zukünftige Oberlehrer, zukünftige Richter, zukünftige Diplomaten. Darum werden in Deutschland die Studenten nicht Revolutionäre.
SEEBALD: Ich habe selbst schon solche Beobachtungen gemacht. Der Krieg hat unsere Jugend seelisch zerrüttet.
TROTZ: Nur die bürgerliche Jugend. Die proletarische Jugend löst sie ab.
DIETRICH: Wir werden ja sehen, wie viele Studenten morgen bei der Demonstration mitgehen werden!
SCHENK: Und wie viele von den ästhetischen Jünglingen und Jungfrauen vom „Bund Neuer Menschen".
TROTZ: Jetzt wird es wohl auch für uns Zeit zum Aufbrechen. — Komm mit, Dietrich!
DIETRICH: Durch das Spitzelspalier von Strauß und Konsorten. — Diese Bande!
TROTZ: Gehst du auch gleich mit, Raffael?
SCHENK: Ich warte noch. Ich geh' dann allein.
DIETRICH (sich verabschiedend): Wir sehen uns ja alle doch morgen Nachmittag!
SEEBALD: Rechnen Sie nicht auf mich, Freunde!
TROTZ: Doch! Ich rechne bestimmt auf Sie! — Gute Nacht.
(Mit Dietrich ab.)
SCHENK (läuft auf und nieder, bleibt endlich vor Seebald stehen): Sie haben sich noch immer nicht entschieden?
SEEBALD: Wenn Sie mich zwängen, jetzt eine Entscheidung zu treffen, dann müsst ich sagen: Ich komme nicht!
SCHENK: Aber das ist noch kein endgültiger Entschluss?
SEEBALD: Ich will es mir noch überschlafen. Wollen Sie morgen Mittag zu mir kommen, dann will ich Ihnen sagen,
was ich tun werde.
SCHENK: Um welche Zeit?
SEEBALD: Kommen Sie gegen 1 Uhr, — geht das?
SCHENK: Es muss wohl?
SEEBALD: Mein lieber Raffael, jetzt sind Sie böse auf mich. — Das tut mir leid. — So habe ich Sie ja nie gesehen. — So kurz angebunden, so übellaunig. Sind Sie enttäuscht von mir?
SCHENK: Ja. Ich habe an einen einzigen Menschen geglaubt. Das waren Sie. — Und jetzt sehe ich, dass Sie noch nicht einmal imstande sind, sich in dem Augenblick, wo eine Frage an Sie herantritt, zu einem klaren Ja oder Nein zu entschließen.
SEEBALD: Sie verkennen mich. Meine Stellung zu den Fragen, um die es sich handelt, ist vollständig geklärt. Hier soll ich aber eine bestimmte Handlung ausführen, die ich nicht veranlasst habe, — und da muss ich erst alles abwägen, um zu erkennen, ob sie dem Werk, dem mein Leben gehört, nützt oder schadet.
SCHENK: Ach ja, — die Idee, die Gesinnung, das Erkennen — das ist alles da. Das Schwanken fängt erst an, wo es ans Handeln geht.
LECHARJOW: Laßt's genügend sein. Ihr redet mit verschiedenen Zungen ein jeder. Wie könnt Ihr Euch verstehen? Morgen werden Sie Bescheid holen und wissen: Ja oder nein. — Gehen Sie jetzt nach Hause, Genosse Schenk, und schlafen Sie aus bis morgen und richten Sie ein Ihre Gedanken darauf, dass Sie sich fragen: Was hab' ich für meine Person zu tun? — Ob Mathias Seebald kommt oder wegbleibt — gleichviel!
SCHENK: Sie werden wohl Ihr Kommen davon abhängig machen, ob der Herr Professor geht?
LECHARJOW: Ich? — Junger Mann, was geht mich an Ihr Wille, was geht mich an sein Wille? Ich hab' meinen Willen, Ich werde sein, wo das Proletariat ist — und wenn das Proletariat auf die Straße geht, werde ich auch gehen auf die Straße.
SCHENK: Wollen Sie nicht versuchen, ihm zu zeigen, wo sein Platz ist?
LECHARJOW: Bin ich sein Vormund? — Mathias Seebald hat seinen Kopf, wie ich hab' meinen Kopf und Sie haben Ihren Kopf. Jeder denkt nur mit seinem Kopf. Geh'n Sie schlafen Genosse, und setzen Sie sich auseinander mit Ihrem Gewissen, wie er sich wird auseinandersetzen mit seinem Gewissen. Und morgen werden wir sehen.
SCHENK: Aber Seebald ist notwendig für das Gelingen der Sache!
LECHARJOW: Matthias Seebald ist so notwendig für das Gelingen, wie Sie, Raffael Schenk, notwendig sind, oder wie ich, Fedor Wladimirowitsch Lecharjow, notwendig bin. Jeder muss wissen, wo er notwendig ist und wie er notwendig ist Am notwendigsten ist das Volk, das revolutionäre Proletariat. Und wenn das Volk nicht selbst weiß, was notwendig ist, dann ist seine ganze Sache nicht notwendig.
SCHENK: Ich sehe, dass das ganze Gerede hier zu nichts führt Gute Nacht. (Will gehen.)
SEEBALD: Raffael!
SCHENK: Was soll's noch?
SEEBALD: Wollen Sie uns die Hand nicht geben, zum Abschied?
SCHENK: Ach ja — gewiss. (Reicht ihm die Hand.) Ich hoffe, dass ich es auch morgen noch kann. — Gute Nacht, Genosse Lecharjow. (Gibt Lecharjow die Hand.)
LECHARJOW: Schlafen Sie wohl! (Schenk ab.)
SEEBALD: Welche Leidenschaftlichkeit in dem Menschen! — Aber ein Fanatiker.
LECHARJOW: Was wäre eine Idee wert, wenn sie nicht entzündete Fanatiker? Auf Menschen wie Raffael Schenk und FLORA: Severin ruht die Zukunft Deutschlands.
SEEBALD: Jetzt bitte ich dich um deine Meinung. Kann ich nützen, wenn ich zur Menge rede und sie anführe?
LECHARJOW: Du kannst nützen, wenn du das Gefühl hast, dass du nützt.
SEEBALD: Ich fürchte, es wird ein großes Unglück geben.
LECHARJOW: Blutvergießen ist immer ein Unglück; es kann aber dabei sein der größte Segen.
SEEBALD: Nein. Gewalt ist vom Übel. Wenn ich ginge, könnte ich nur versuchen, Gewalt zu verhindern. Aber ich sehe die Gefahr, dass ein solcher Versuch gerade das Signal zur Gewalt sein könnte.
LECHARJOW: Das ist wohl möglich.
SEEBALD: Schenk — das sehe ich deutlich — will die Gewalt. Er ist zum Letzten entschlossen, — und ich glaube, FLORA: Severin bestärkt ihn noch darin.
LECHARJOW: Er ist ein sanfter Mensch, aber er kann sein ein reißendes Tier. Jetzt ist alles in Wallung in seinem Blut. Seine Krankheit lässt ihn missachten sein eigenes Leben. — Wie mir scheint, ist er besinnungslos verliebt in Flora--
SEEBALD: Hast du es auch beobachtet?
LECHARJOW: Und sie erwidert die Liebe und leitet sie über aufs Geistige. Das reißt ihn aus allen Bahnen. Für ihn ist der Kampf des Proletariats gegen den Krieg und für den Sozialismus zugleich sein eigener Kampf, um sich würdig zu machen der Frau, und seine Arbeit für die Gesundung der Menschheit ist fanatisiert von dem Leiden an seiner eigenen Krankheit.
SEEBALD: Ich sträube mich aber, das Werkzeug seiner Leidenschaften zu werden.
LECHARJOW: Wenn du es nicht bist, wird er ein anderes finden.
SEEBALD: In seinem Zustand wäre er fähig, alle ans Messer zu liefern.
LECHARJOW: Das muss ein Mensch können, dem die Idee mehr ist als das Leben.
SEEBALD: Seltsam! Er war bis heute mein treuester Jünger.
LECHARJOW: Glaubst du, er liebt dich jetzt weniger? Im Gegenteil. Ich habe gesehen, wie er bangt um dich, — um deine Seele —
SEEBALD: Ja, ja. — Um sie zu retten, wäre er bereit, mich kaltblütig zu verraten.
LECHARJOW (nachdenklich): Er könnte um dich verbluten. Er könnte auch dich verbluten sehen um deiner Seele willen. Aber — dich verraten? —
SEEBALD: Komm', es ist Zeit, dass wir gehen. (Sie stehen auf und gehen zum Ausgang.)
LECHARJOW (stehen bleibend): Nein — ein Judas ist Raffael Schenk nicht.
SEEBALD (im Fortgehen): Judas war vielleicht nicht der Schlechteste unter den Jüngern.
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