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B. Traven - Ein General kommt aus dem Dschungel (1940)
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ZWEITES KAPITEL

1

Der Trupp marschierte nun auf einem breiten Wege. Der Weg war kein gebauter, sondern war darum breit und offen, weil er über Prärie führte. Diese Prärie gehörte zur Finca Santo Domingo, deren weiß gekalkte Kirche jetzt bereits von einem Hügel aus gesehen werden konnte. Soweit das Auge reichte, zur Ferne hin und rechts und links, alles war Eigentum der Finca.
Vierzig Familien der Peones lebten dicht bei dem Herrenhause in ihren Hütten. Fünfzig weitere Familien lebten in vier kleinen Siedelungen, die in den vier Winkeln des großen Geländes der Finca verstreut lagen. Diese Siedlungen anderer Peones so weit von dem Herrenhof hinweg zu legen, hatte den Vorteil, dass die Peones, die Kuhhirten waren, die Herden, die sich weit über das Gelände verstreuten, besser überwachen und zusammenhalten konnten.
General, Profesor und Celso rasteten auf dem Hügel, von wo aus sie die Kirche der Finca sehen konnten.
Auf mehr als halbem Wege von diesem Hügel aus zu dem großen Hof der Finca befand sich eine tiefe Erdsenkung, die, soweit von hier aus geschätzt werden konnte, sicher zwei Kilometer breit sein mochte. Das Präriegelände war wellig und von zahllosen Hügeln unterbrochen. Die Hügel waren selten wohl höher als fünfzehn Meter, meist niedriger. jedoch nach Süden hin erhob sich in graublauer Ferne ein Höhenzug, der sich in Sichtweite den Horizont entlang erstreckte. In dem Gelände fanden sich verstreut einige Bäume, vereinzelt, und einige in Gruppen von zehn oder zwanzig zu einem Wäldchen vereinigt. Dazwischen, gleichfalls über das Gelände verstreut, waren hier und da wilde Sträucher, vereinzelt und in Gruppen.
Von dem Hügel aus, an dessen Fuß jetzt die erste Compania aufmarschiert war, konnte man mit den Augen gut den Weg bis zum Hof der Finca verfolgen. Der Weg bestand aus vier oder fünf ausgetretenen Pfaden, die nebeneinander herliefen, zuweilen sich zu drei oder nur zwei vereinigten, dann wieder sich zu fünf oder gar acht und neun Pfaden verstreuten. Diese Pfade sahen aus, als wären über sie die Räder von Carretas gezogen. Aber es waren hier keine Carretas in Gebrauch. Diese Pfade waren aus dem grünen Präriegelände ausgetreten worden von dem Vieh, wenn es von den Weiden am Abend zurück zum Hof schlenderte und am Morgen wieder auszog. Auch wanderten hier alle Maultierkarawanen, die von Hucutsin zu den Fincas und zu den Monterias marschierten. Endlich trabten hier die Indianer entlang, wenn sie zu Markte gingen.
Das Gras stand nicht sehr hoch, kaum einen Meter. Es war nicht dicht, sondern stand mehr in Büscheln.
Auf weite Strecken hin war es kaum einen halben Meter hoch. jedoch war es jetzt sehr grün und saftig, infolge der Regenzeit.
Bis hierher war der Weg vom Dschungel aus kommend, obgleich schon seit zwei Stunden breit und offen, zu beiden Seiten von Busch begrenzt gewesen. Von hier aus aber zog sich der Busch weiter und weiter zu den Seiten hinweg, wodurch die weite Prärieebene sich viel größer und weiter auszudehnen schien, als sie in Wirklichkeit war. Die grelle Sonne, die über der Prärie lagerte, ließ die Ebene, weiter nach hinten zu, in einen flimmernden dünnen Schleier verschwinden, so dass zuweilen die weiße kleine Kirche der Finca und der Hof unsichtbar wurden oder an einer anderen Stelle, wo man sie bisher geglaubt hatte, wieder aufzutauchen schienen. Über drei Kilometer weit hinaus wurden alle Gegenstände, je höher die Sonne kam und je glühender sie hernieder brannte, unbestimmt in ihren Formen.
Kühe erschienen zuweilen wie Hunde in diesem flimmernden und flatternden Licht und große Steine wie Häuser, verkohlte Baumstämme,   die   aufrecht   standen,   und   kahlgebrannte
Präriepalmen erschienen bald wie stehen gebliebene Säulen verfallener Tempel, bald wieder wie die braunen Gestalten von Indianern, die Ausschau hielten.
Gewöhnlich trafen die reisenden Karawanen hier ganze Herden von Vieh und halbverwilderten Pferden an, die Eigentum der Finca waren. Hin und wieder mochte man, nahe oder in der Ferne, zwei oder drei Peones oder Vaqueros auf Pferden dahintraben sehen, die jene Herden aufsuchten, um nach Kälbern, die nachts geboren waren, oder nach kranken Kühen oder Pferden zu forschen, um sie mit dem Lasso einzufangen und zum Hof zu bringen zu ihrem Schutz und zur Genesung.
Heute aber waren auf der großen weiten Prärie keine Herden zu sehen, sondern nur hier und da einzelne verstreute und verlaufene Kühe. Kein Vaquero, kein Peon war sichtbar. Einige zehn oder zwölf Geier kreisten hoch in den Lüften. Und im ferne n Hof der Finca sah man hin und wieder eine flatternde Säule von Rauch hochzwirbeln, der hier aus der Küche der Finca, dort aus einer der Hütten der Peones kam.

 

2

»Das ist eine verflucht große und schöne Finca, Santo Domingo«, sagte Celso, sich hinhockend und eine Zigarre wickelnd. »Die kenne ich. Sie gehört Don Patricio. Ich kenne sie gut. Bin da mehrere Male über Nacht geblieben bei den Peones. Ist eine große, reiche Finca.«
»Ich kenne sie auch recht gut, und du auch«, wandte sich General an Profesor. »Wir sind hier einen Tag geblieben und zwei Nächte, als wir zu den Monterias marschierten.«
Es kamen nun einige Muchachos mehr auf den Hügel und setzten sich hinzu.
Profesor stand auf und blickte den Weg zurück, auf dem in diesem Augenblick die zweite Compania angerückt kam und sich ebenfalls zur Rast lagerte, als sie die erste Compania in Ruhe fand.
»Ja, da wären wir nun hier«, sagte Profesor plötzlich mit veränderter Stimme. »Was tun wir nun? Angelangt an der ersten großen Finca sind wir. Etwas muss getan werden. Wir können daran vorbeimarschieren und weitergehen, als hätten wir sie nicht gesehen. Ein wichtiger Grundsatz in einer Revolution heißt: >Keinen Feind im Rücken lassen!< Wenn wir hier ruhig vorbeitraben wie eine Herde Schafe, dann haben wir einen starken Feind im Rücken. Was sagt Ihr, Muchachos?« rief er mit lauter Stimme über die Leute hin, die hier lagerten.
»Tierra y Libertad!« riefen sie alle zugleich als Antwort. Und darauf schrieen sie: »Viva, Profesor! Arriba, General! La muerte a los tiranos y todos los patrones y dictadores! Libertad para todos!« Als sich Profesor wieder gesetzt hatte, sagte Celso: »Die Finca ist nicht verlassen. Sonst wäre da kein Rauch zu sehen.«
»Gerade das ist es, was mir etwas Neues zu denken gibt.« Profesor blickte in die Richtung zum Hof hin. »Warum ist da Rauch indem Herrenhaus und in den Hütten? Weil niemand weggelaufen ist, obgleich sie alle wissen, dass wir viele sind und Revolver und Gewehre haben. Und warum ist niemand weggelaufen?« Er sah Celso und General fragend an.
»Weil sie denken, wir werden ihnen nur ein paar Kühe zum Schlachten abnehmen und dann unserer Wege ziehen«, erwiderte General, ironisch mit einem Auge zwinkernd.
»Und du, Celso, was meinst du?«
»Die haben Rurales in der Finca oder Federal-Soldaten«, antwortete Celso.
»Celso, ich mache dich zum Obersten«, sagte Profesor lachend. »Bestätigst du das, General?«
»Bestätigt.«
»Gut, Celso«, sagte darauf Profesor. »Du bist ein verflucht kluger Junge. Das ist richtig, was du sagst.
Die haben die Finca voll von Rurales. Da muss bereits vor einigen Tagen in Balun Canan oder Achlumal eine Botschaft über unsern Anmarsch angelangt sein, sonst könnten die Rurales nicht schon hier sein.«
»Es kann aber auch sein, dass die Rurales auf einem Inspizierungsritt zu den Fincas waren, um zu sehen, ob überall Ruhe ist und keine Aufstände und Viehräubereien der Bachajon-Indianer.«
»Celso, du hast wieder einmal recht. Das ist viel wahrscheinlicher, dass da in der Finca nur ein Inspizierungskommando ist, zwanzig oder vierundzwanzig Mannschaften, ein Capitan, ein Sergeant, drei oder vier Unteroffiziere. Die haben Karabiner und führen gewöhnlich ein Maschinengewehr mit sich.«
Als die Muchachos, die um den Hügel hockten, das hörten, wurden sie aufgeregt. »Karabiner und Revolver: Viva las armas!« riefen sie, sprangen auf und tanzten herum, als hätten sie die Schlacht schon gewonnen.
»Es kann nicht gut eine Nachricht schon bis nach Balun Canan gekommen sein«, sprach Profesor weiter, »und in Achlum und in Hucutsin sind nur gelegentlich kleine Wachkommandos. Aber freilich ist die Nachricht bereits auf dem Wege nach Jovel, und dann rückt ein halbes Bataillon an. Wo denkst du, General, wo die jetzt in diesem Augenblick stecken?« fragte Profesor.
»Wenn wir auf solchen Kommandos waren, dann warteten wir nicht in einer Finca, nicht im Hof, meine ich. Wir warteten im offenen Gelände oder gingen auf die Rebellen los.«
»Warum wartetet Ihr nicht in dem Hof, der ummauert ist und gute Deckung bildet?«
»Einfach, weil erstens zuviel Schaden für die Finca angerichtet wurde, und zweitens, weil wir innerhalb des Hofes leicht wie in einer Falle saßen, besonders wenn die Aufständischen fünfhundert Mann stark waren und wir nur fünfundzwanzig. Im offenen Gelände sind wir mit dem Maschinengewehr, mit den Karabinern und mit gedrillten Soldaten selbst dann noch in der Übermacht, wenn wir nur zwanzig und die Rebellen fünfhundert sind.«
»Dann denkst du, dass sie auf uns hier im offenen Gelände zukommen werden?«
»Das denke ich nicht nur, sondern ich bin sicher, dass sie das tun werden. Ich bin doch nicht umsonst Sergeant gewesen. Ich weiß, wie es gemacht wird. Ich habe es mitgemacht.«
»Gegen Peones und Arbeiter?«
»Da kannst du nicht viel dagegen machen, wenn du einmal mitten drin bist in der Armee. Das geht wie eine Maschine, ob du willst oder nicht, du musst mit und kannst das nur ändern, wenn du ein paar Offiziere erstichst oder ihnen den Kegel einhämmerst und dich dann auf die Beine machst. Aber wenn du weißt, dass du ein paar Dutzend im Bataillon mit auf deiner Seite hast, und du hast die richtigen Nerven dazu und machst es im richtigen Augenblick, dann kriegst du das ganze Bataillon auf deine Seite. Die sind doch alle gequälte Knechte wie du selbst.«

 

3

Während General plauderte, hatte Celso faul und lässig dagehockt, seine Zigarre rauchend und blinzelnd hinüberlugend zu dem Hof der Finca. Jetzt ließ er einen halbverschluckten, erregten Laut hören. Die Zigarre glitt ihm aus der Hand. Er wechselte von seiner hockenden Stellung über in eine kniende, stützte beide Fäuste vor sich auf den Boden, duckte sich und streckte seinen Kopf weit voran.
»Teufel noch mal, was hast du denn?« fragte Profesor. Mehrere Muchachos, die auf dem Hügel versammelt waren, nahmen eine gleiche Haltung ein wie Celso.
Es war ihre natürliche Stellung, wenn sie etwas in der Ferne beobachteten, das sie richtig zu erkennen und zu beurteilen versuchten, ehe es nahe kam.
»General hat recht«, sagte Celso halblaut zu den Muchachos, die ihm am nächsten waren.
General und Profesor krochen näher zu ihm heran. »Was sagst du, Celso?« fragte General.
»Sitzen in der Erdsenke«, erwiderte Celso so leise, als ob er fürchtete, dass die Rurales ihn hören könnten.
Es waren mehr als drei Kilometer bis zu jener Erdsenke.
»Ich habe es an verschiedenen Stellen da in der Erdsenkung aufblitzen sehen. Es können ihre Kappen sein oder die Läufe ihrer Gewehre oder Knöpfe. Das sind Rurales oder Federales.«
»Verflucht, Celso, jetzt habe ich das Blitzen auch gesehen, und gleich an drei verschiedenen Stellen im selben Augenblick«, sagte General. Olegario, einer der Muchachos, der mit auf den Hügel gekrochen war, fragte: »Was glaubst du, General, wie viele das sein mögen, die auf uns warten?«
»Ein Wachkommando wird es sein. Vielleicht fünfundzwanzig Mann.«
Ein anderer Muchacho, Herminio, der das gehört hatte, rief laut aus: »Wollte doch ein guter Gott im Himmel, dass sie zwei Regimenter wären. Wie viele schöne Revolver, Karabiner, Maschinengewehre und Patronen wir dann haben könnten, wenn sie zwei Regimenter wären.“
General lachte. »Sei nur ganz ruhig, Muchacho, wir werden genug mit dem Maschinengewehr zu tun haben, das diese Handvoll von Soldsklaven bei sich haben. Aber wir holen es uns schon. Nur keine Sorge. Und wenn wir dieses Kommando, das da in der Senkung rotzt und glotzt, erst einmal verschluckt haben, dann können wir es schon ruhig mit einem Bataillon aufnehmen. Nur nicht alles gleich auf einmal haben wollen, Muchachos. Stück für Stück. Macht hier nur keinen Fehler. Ich kann euch im voraus sagen, wenn wir die da aufgefressen haben, dann wird von unserer ersten Compania die Hälfte nicht mehr am Leben sein.«
Da sagte Olegario: »Ob wir am Leben sind oder nicht, ist einen Dreck wert, einen Hundeschitt ist es wert. Aber die, die am Leben bleiben, wissen dann wenigstens, warum sie leben und wozu. Ich will einen Karabiner haben, verflucht noch mal, und die Patronen dazu. Ich gehe allein los, wenn ihr nicht wollt.«
»Hier bleibst du, gottverdammter Bengel«, sagte General wütend. »Du gehst, wenn ich es sage und wenn wir alle gehen. Vielleicht kriegst du den Karabiner, aber in deinen Bauch gerannt, wenn du den Krieg auf eigene Faust machen willst.«
»General hat recht, Olegario«, sagte Celso zu dem Muchacho beruhigend. »Es kann hier nicht jeder kommandieren und nicht jeder machen, was er will. Dann wird einer nach dem andern abgeschlachtet, und keiner bleibt übrig. Alle gehen wir drauflos, und nicht nur einer; und wir gehen, wenn General sagt, dass es nun Zeit ist.«

 

4

Die Muchachos krochen von dem Hügel herunter. Die beiden Companias, die um den Hügel herum lagerten, konnten von den Rurales nicht gesehen werden, und ob die wenigen Muchachos, die auf dem Hügel gewesen waren, gesehen worden sein konnten, war nicht gewiss. General aber sagte, dass er glaube, die Rurales hätten sie gesehen, weil der Capitan sicher ein Feldglas mit sich führe.
Inzwischen langte eine weitere Compania an, der General befahl, sich zu lagern, und wenn die Burschen herumlaufen wollten, das nur gebückt zu tun. Er wollte vermeiden, dass die Rurales erfahren sollten, wie groß der Trupp sei, der hier gegenwärtig lagerte.
Er bewies in dem, was er nun beriet und anordnete, dass er, obgleich nur der Sohn eines armen indianischen Kleinbauern, mit gutem Recht ein General sein konnte. Kein erfahrener Offizier der Federales hätte es besser machen können. Mit Sicherheit darf man sagen, dass wahrscheinlich unter hundert geschulten Offizieren der Federal-Armee keine zwei gewesen wären, die es ebenso oder gar besser gemacht hätten, als was er sich erdachte, und wie er das, was er sich erdacht hatte, dann durchführte.
Er rief Profesor, Celso, Santiago und die Hauptleute der Companias zu sich, um zu beraten und ihnen seine Pläne mitzuteilen. »Wenn wir jetzt drauflosmarschieren wie die Schafe, dann lassen die ihr Maschinengewehr losrattern, und es bleibt auch nicht einer von uns übrig, und die Rebellion in diesem Staate, auf alle Fälle aber die in diesem Distrikt, ist für dieses Jahr einmal zu Ende. Wir müssen sie aus dieser Senke herauslocken.«
»Ein Dutzend Muchachos könnten drauflosgehen. Dann kommen sie raus. Und wir brechen alle hervor«, riet der Capitan der dritten Compania.
»Nein, so kommen sie nicht raus aus ihren Löchern. Die lassen das Dutzend herankommen, ohne einen Schuss zu feuern, und erst wenn die Muchachos in die Senke marschieren, dann fallen die Soldsklaven über sie her und erstechen sie, damit die nachkommenden Muchachos nichts hören und nicht wissen sollen, was hier geschah.«
»Gut, dann gehen wir alle zusammen drauflos im Sturmlauf«, riet einer der Muchachos, der dabeisaß und nicht zum Kriegsrat gehörte.
»Das wäre noch viel dümmer«, sagte Celso, »das könntest doch wohl selbst du begreifen, obgleich du in der Monteria nur Ochsen gefüttert hast.«
»Richtig, das wäre das allerdümmste, was wir tun könnten.« General hatte das Wort. »Wir könnten hier ein großes Lager aufschlagen und viel Rauch hochgehen lassen. Wenn wir das tun, werden die Sklaven in einer von mehreren Arten darauf antworten. Eine Art ist, dass sie auf die Finca zurückgehen, denn sie werden nicht den ganzen Tag und die ganze Nacht hier draußen im Nassen liegen bleiben, dazu sind sie zu faul, zu bequem und zu verfressen. Dort in der Finca warten sie auf ein halbes Bataillon Federales zur Verstärkung.«
»Vielleicht wissen sie nicht, wie viele wir sind, und glauben, dass wir nur gerade einige sechzig Muchachos sind, gerade nur von einer Monteria«, sagte Profesor.
»Das erscheint mir richtig, Profesor. Denn selbst wenn wir verraten sein sollten, keiner der Verräter wusste, wie viele wir seien, weil wir ja nicht in einem Haufen marschierten. Nur in dem kleinen Rancho, wo die Peones mit ihrem Don Chucho aufräumten, konnten die Peones, die dort wohnten, wissen, wie viele wir sind. Aber von denen ist keiner voraus gelaufen. Ich habe mich darum gekümmert, zu wissen, wie viele da waren, als wir  anrückten,   und  wie viele  noch  da  waren,   als  wir abmarschierten. Waren vollzählig.
Aber von einem der andern der kleinen Höfe muss einer zur Finca geritten sein, entweder der Patron oder ein Mayordomo. Aber ganz gleich, wer die Nachricht zur Finca oder gar bis nach Hucutsin oder Achlum gebracht hat, er wusste nur die ungefähre Zahl der Muchachos der ersten Compania. Und die Rurales glauben, dass es sich nur um diesen Trupp handelt.«
»Wie kannst du das wissen?« fragte Celso.
»Das ist sehr einfach. Wüssten die Rurales, dass wir so ungefähr sechshundert Mann stark anrücken und so etwa zwanzig Revolver und zehn oder zwölf Jagdknaller haben und außerdem sechshundert Machetes, so wie ich diese Esciavos kenne, sie würden hier nicht mit einem Wachkommando und nur einem Maschinengewehr auf uns warten. Nicht diese uniformierten Soldknechte. Diese Folterburschen und Prügler sind nur tapfer, wenn sie zu einem Dutzend beieinander sind, jeder eine Keule hat und einen Revolver, und dann einen wehrlosen Verhafteten vor sich haben. Da sollst du einmal sehen, wie tapfer sie sind. Aber hier im offenen Gelände, fünfundzwanzig, jeder mit einem Karabiner und noch einem Maschinengewehr, und wir ein paar Hundert mit ein paar Revolvern und mit Machetes, da warten sie auch nicht einmal zehn Minuten und rennen wie die Hasen und nehmen sich nicht einmal Zeit, das Maschinengewehr auseinanderzuhaken und aufzuladen, weil sie sonst ihr Fell verlieren könnten. Und gerade darum, weil sie da hinten in der Senkung hocken, darum weiß ich, ohne dass ich sie fragen brauche, dass sie uns nicht für mehr als etwa sechzig oder siebzig halbverhungerte Muchachos halten.
Sie denken sich, dass sie uns so nebenbei für ihr Mittagessen auffressen können. Sie haben sicher schon in der Finca das Bankett bestellt, um mit dem Finquero und dessen Nachbarn den Sieg zu feiern.«

 

5

Eine weitere Compania rückte an.
Celso hatte sich umgeblickt und die Wolken beobachtet, die sich im Westen dunkel zusammenballten und von allen übrigen Himmelsrichtungen kleine Wolken, die unsicher hin und her wehten, offenbar nicht wissend, was sie tun sollten, zu sich heranlockten und den dunklen Ballen rasch vergrößerten. je dicker er wurde, desto rascher kam er herangewettert. Die Sonne, die sich jetzt dem höchsten Punkt näherte, war noch hell und glühend. »Da kommt uns der Indianer-Gott zu Hilfe und zu rechter Zeit«, sagte Celso. »Wenn sie nicht nass werden wollen, dann müssen sie jetzt aus ihren Löchern kriechen; und vor dem Nasswerden fürchten sie sich mehr als alte Katzen. Denkst du das nicht auch, General?«
»Das habe ich euch ja schon gesagt, dass sie nicht gern nass werden möchten. Das ändert nichts an meinem Plan. Es beschleunigt ihn nur. Du, Olegario, klettere da wieder rauf auf den Hügel. Aber verstecke deinen Kopf. Du passt auf, gut passt du auf. Die werden bald anfangen, mit ihren Köpfen aufzutauchen. Und gerade des heraufkommenden Regens wegen werden sie versuchen, das Treffen zu einem raschen Abschluss zu bringen, um zur Finca zurückgehen zu können und dann im Trocknen zu hocken.«
»Es ist aber möglich«, wandte Profesor ein, »dass sie sich überhaupt nicht mit uns einlassen und gerade so tun, als hätten sie uns nicht gesehen. Sie rücken einfach ab und lassen uns auf die Finca losgehen.«
»Das gehört zu meinem Plan.« General folgte mit seinen Blicken Olegario und wartete darauf, von ihm ein Zeichen zu bekommen, was die Rurales unternehmen würden. »Das möchten die Halunken, Profesor, das möchten sie gern, sich einfach zur Finca zurückziehen, um dort zu saufen, zu fressen und herumzufucken mit den Weibern. Aber die können das nicht so einfach. In der Finca, und sicher in allen Fincas in der Umgebung, weiß ein jeder, dass wir auf dem Marsch sind. Sie müssen uns erwarten, schon um das Gesicht des tapferen Soldaten aufrechtzuerhalten. Sie können sich nicht lächerlich machen, und das tun sie auch nicht, schon der Weiber wegen, und noch weniger der Finqueros wegen.«
»Hugh!« rief in diesem Augenblick Olegario von dem kleinen Hügel herunter. »Es wird lebendig. Drei sind aufgestanden, sehen hier herüber und blicken sich nach allen Seiten um. Einer hat was vor den Augen, womit er sieht.«
»Das ist ein Feldglas.« General wurde nun geschäftig. Aber er zeigte keine Erregung. Er handelte so ruhig und so gelassen, als treffe er Vorbereitungen für eine Hasenjagd, wie er es mit den Jungen in seinem Dorf zu tun pflegte.
»Bleibe da oben und beobachte gut weiter, was sie tun.« Zu den um ihn herumhockenden Muchachos seines Stabes gewandt, sagte er: »Wir müssen sie zum Angreifen bringen. Wir können sie nicht angreifen, wenn sie in der Senke bleiben. Keinen Mann würden wir durchkriegen, und es wäre nur ein nutzloses Abschlachten. Und nun los, locken wir sie aus dem Loch heraus.«

 

6

Es begann langsam, in dünnen sanften Strichen, zu regnen.
General rief Santiago zu sich heran. Dann winkte er Fidel. »Ihr beide seid von nun an Sergeanten. Du, Santiago, nimmst dir zwanzig Muchachos, alle mit ihren Packen auf dem Rücken, und marschierst los. Aber nicht geradeaus, nicht auf die Senke los, wo die uniformierten Sklaven hocken und warten, dass wir ihnen auf ihr Maschinengewehr losrennen, damit sie uns vergnügt niedermähen können. Du marschierst weiter nach rechts, immer nach rechts, schräg, weißt du. Zuerst bleibst du im Marschieren mit deinen Leuten nahe dem Busch. Da in der Ferne, siehst du den spitzen Berggipfel?«
»Freilich sehe ich ihn.«
»Gut, darauf gehst du los. Es muss, von der Senke aus beobachtet, so aussehen, als ob du mit deinen Leuten den Rurales aus dem Wege gehen wolltest. Sie sollen wissen, dass dir bekannt ist, dass sie da in der Erdfalte hocken. Sie sollen glauben, dass du sie umgehen willst. Sollten sie anfangen, auf euch loszuknallen, dann schmeißt ihr euch lang hin, nehmt Eure Hüte ab und bindet die Hüte auf eure Packen.
Die Packen sind höher als eure Rücken. Da glauben die Hunde, dass ihr eure Köpfe unter den Hüten habt. So genau können sie das nicht sehen. Die sind zu weit ab. Dann kriecht ihr immer am Boden entlang, damit sich die Hüte fortbewegen mit euren Packen. Immer auf den Berg zu in der Ferne. Wenn ihr so ungefähr drei Kilometer weit in jener Richtung marschiert seid, dann schwenkt ihr und geht nun schräg nach links auf die Finca los. Wenn sie bis jetzt nicht rausgekrochen sind aus ihrer Senke, dann kommen sie nun raus, weil sie die Finca beschützen wollen. Sobald sie rauskommen und auf euch losgehen wollen, dann macht ihr kehrt und rennt gebückt zurück zum Busch. Es muss so aussehen, als ob euch vor Angst die Hosen anfangen am
Ursch festzukleben. Sobald sie einmal raus sind aus ihrer Senke und sich auf ihre Ziegen setzen und angestürmt kommen, auf euch los, dann kommen wir raus und locken sie auf uns. Dann lassen sie euch in Frieden. Ihr geht nun zurück bis in den Busch hinein. Sobald ihr drin seid im Busch, kommt ihr geradenwegs auf den Platz zu, wo wir hier jetzt sind. Wir locken sie weiter rein in den Busch, und so packt ihr sie im Rücken und wir vorn, dass keiner von ihnen entwischen kann. Du, Fidel, du nimmst dir hier gleichfalls zwanzig Mann. Wer dir nicht folgen will, dem haust du ein paar in die Fresse.«
»Ich brauche keinem in die Fresse hauen, General.« Fidel lachte zuversichtlich. »Die reißen sich darum, loszugehen, auf die Rurales drauf. Wir brauchen die Karabiner und die Patronen, und gute Hemden und Hosen haben sie auch.«
»Das wisst ihr, jeder Karabiner, der gewonnen wird, gehört dem, der sich den Mann vornahm. Auch die Patronen und was der stinkige Hund sonst noch hat. Uhr oder Ringe. Aber Geld wird abgeliefert. Wir brauchen das Geld im Hauptquartier. Wenn wir keins kriegen, schadet es nicht viel. Ich werde schon alles heranholen, was wir brauchen, wenn nicht mit Geld, dann ohne Geld. Du, Fidel, freilich gehst nicht aus dem Busch heraus. Du gehst hier nur zur Seite hinein, tief genug, dass du mit deinen Muchachos nicht gesehen wirst, und fällst über sie her, wenn wir sie weiter hier auf dem Wege drin haben, so dass auch du sie im Rücken hast wie Santiago. Habt ihr beide verstanden, was ihr zu machen habt? Wenn nicht, ich finde auch andere Sergeanten, die es verstehen.“
»Nur keine Sorge, General«, erwiderte Santiago. »Verstanden oder nicht verstanden. Wir kriegen sie schon.«
»Los dann, ihr beide, auf eure Posten.«
In weniger als einer halben Minute hatten die beiden neuen Sergeanten ihre Trupps zusammengestellt.
Es war nur nötig gewesen zu sagen, dass sie den Befehl hätten, auf die Rurales loszugehen, und hundert Muchachos sprangen auf, um dabeizusein. Dass diese beiden Trupps die Rurales im Rücken packen sollten und dadurch eine besonders günstige Gelegenheit bekamen, ihnen die Waffen abzunehmen, machte die Teilnahme an diesen Trupps reichlich begehrenswert. An die Gefahr, totgeschossen oder gefangen zu werden, daran dachte auch nicht einer der Muchachos. Rebellen haben zu siegen.
Wenn Rebellen nicht siegen, dann ist es an und für sich auf alle Fälle besser, nicht zu überleben. Was eine verfehlte Rebellion bedeutete, brauchte keinem der Muchachos erzählt oder erklärt zu werden.
Die volle Brutalität, Bestialität, Grausamkeit und zurückgedrängte Perversität heuchlerischer und vermickerter Waschfassbürger, die sich vorübergehend als Herren und als Polizisten fühlen durften, kam zum widerwärtigsten Ausbruch, wann immer indianische Proleten, die es gewagt hatten, sich gegen die Tyrannei und Diktatur zu erheben, niedergeschlagen waren. Für jeden Rotzjungen in Uniform, der gefallen war, wurden hundert, manchmal gleich dreihundert indianische Proleten gemartert, gepeitscht und dann wie Hunde erschlagen, oder gleich Räubern zwanzig an einen und denselben Baum gehenkt.
Die Schreckensgeschichten, die zuweilen in amerikanischen Zeitungen erschienen, erzählten nicht den zehnten Teil dessen, was wirklich geschah.

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