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B. Traven - Ein General kommt aus dem Dschungel (1940)
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SECHZEHNTES KAPITEL

1

Fünf Wochen waren vergangen. Es mochten auch sieben, acht oder zehn sein. Niemand machte sich die Mühe, die Tage und Wochen zu zählen. Dass es auf keinen Fall weniger als fünf Wochen sein konnten, ersahen die Muchachos an dem Stand der Milpas, auf denen die Ernte rasch heranwuchs. Das Lager, mit seinen zahlreichen Chozas, Jacales und Ramadas, die während der letzten Wochen gebaut worden waren, hatte das friedliche, halb geschäftige, halb träumende Aussehen eines üblichen Indianerdorfes angenommen.
Alles war vorhanden, was nötig war, eine Gemeinde zu gründen und zu erhalten. Hier war Wald, Prärie mit gutem Gras, fruchtbares Buschland, ein breiter, nie versiegender Bach mit klarem kühlem Wasser.
Die Leute hatten Mais, Bohnen und Chili genug, und neue Ernten reiften heran. Sie besaßen Pferde, Mules, Esel, Kühe, Ochsen, junge Stiere, Ziegen, Schafe und selbst Schweine. Was fehlen sollte, würden die Fincas der Region zu liefern haben, freiwillig oder mit Unterstützung von Karabinern.
Kleine Trupps der Muchachos waren ständig auf Streifzügen. Sie überfielen Militärposten und Patrouillen der Rurales. Hin und wieder ereigneten sich Scharmützel mit bewaffneten Finqueros und deren Vasallen, die sich zu Verteidigungsgruppen zusammengeschlossen hatten, um die Region von Rebellen und Banditen zu säubern.
Die Finqueros waren überzeugt, dass es sich nur um versprengte kleine Horden meuternder Indianer handelte, die nach den Gefechten mit den Federal-Truppen übrig geblieben waren und die nun plündernd herumzogen. Solche kleine Horden waren ständig in der Republik vorhanden, selbst in den Jahren der eisernsten Herrschaft des Diktators, wo niemand es wagte, auch nur an Rebellion zu denken.
Offenbar hatte sich das militärische Oberkommando des Staates der Überzeugung der Finqueros angeschlossen, dass nur sehr kleine, und nur drei oder vier solcher versprengten Horden in der Region herumschwärmten und dass es nicht nötig sei, dieser zwei Dutzend Banditen wegen größere Massen an Federal-Truppen aufzubieten, wodurch dem Lande nur Kosten erwuchsen. Die Finqueros würden in wenigen Wochen mit diesen Horden schon allein fertig werden, wie sie es vierhundert Jahre hindurch ebenso getan hatten.
So erklärten General, Profesor, Celso und andere Muchachos die Situation, insbesondere die Tatsache, dass sie seit Wochen keine Bataillone, nicht einmal Companias gegen sich hatten aufmarschieren sehen.

 

2

»Seht einmal hier, was ich mir für ein Vögelchen geschnappt habe«, sagte Eladio, einen intelligent aussehenden Ladino, der mäßig gut gekleidet, aber seit Tagen nicht rasiert war, ins Lager bringend.
Der Mann führte sein Pferd am Zügel hinter sich her. Ihm folgte ein halbwüchsiger indianischer Bursche, gleichfalls ein Pferd hinter sich herzerrend, während er mit der andern Hand die Leine hielt, an der er ein Mule nachzog, das mit Packen und zwei sehr abgenutzten ledernen Handkoffern beladen war.
Der hereingebrachte Mann sah sich nach allen Seiten um, zeigte aber keine Ängstlichkeit. Auf seinem Gesicht und in seinem Gebaren war zu lesen, dass er sich sagte: >Es wird schon alles gut ausgehen, und wenn nicht, dann kann ich eben auch nichts daran ändern.< Die Ankommenden wurden von einem Rudel heulender und kläffender Hunde des Lagers umringt, so dass es für sie unbequem genug war, Eladio so rasch zu folgen, wie er voranschritt. Sie kamen zu einer offenen großen Halle, die ein Dach hatte, teils aus Palmen, teils aus Präriegras, und die in der Mitte des Lagers errichtet war. Diese geräumige Halle diente als Stadthaus, Beratungssaal, Kaserne und vorläufig auch noch als Schule für Kinder und Erwachsene.
»Profesor, das scheinen mir die richtigen Vögelchen zu sein, die ich dir hier anbringe«, sagte Eladio wieder. »Sie kamen nicht gerade auf den Weg zu, den wir als Posten besetzt halten. Sie ritten da vorbei. Aber ich dachte, es sei gut, du siehst dir die beiden einmal an. Ich denke, sie wollen hier herumspionieren.«
»Rede keinen Unsinn, Muchacho«, sagte der Ladino lachend. »Ich herumspionieren? Ich habe andere Sorgen. Das könnt ihr mir glauben. Und wenn ihr das nicht glaubt, so ist mir das auch recht. Ein solches elendes Jammerleben, da kann man ja wirklich nur von Herzen froh sein, wenn es einem jemand abnimmt. Spion? Ich? Macht euch doch nicht so lächerlich.«
Er lachte erneut. Dann sagte er: »Es wäre mir schon lieber, ihr gebt mir etwas zu kauen und zu trinken. Seit gestern Mittag habe ich nicht einmal einen Fladen frischen Kuhdreck gesehen, viel weniger eine schimmelige Tortilla. Das ist ein Leben, amigos. Ein Leben, verflucht noch mal. Gebt mir erst etwas Ordentliches zu essen, dann könnt ihr mich meinetwegen ruhig aufhängen, wenn es euch Vergnügen macht. Nur hängt mich nicht auf mit einem leeren Magen. Das wäre grausam von euch, und ihr seht doch alle so friedlich aus.«
Profesor saß in der Halle mit Andres, beide beschäftigt mit einem Buche, das kürzlich eine Finca, die besucht worden war, geliefert hatte. Sie fielen in das Lachen des eingebrachten Ladinos ein, sich an dem salzigen Humor des Mannes labend. Es waren noch andere Muchachos in der Halle; denn die Halle war nie leer, weder bei Tage noch viel weniger in der Nacht, wenn sie als Schlafhalle für einige zwanzig, zuweilen dreißig Burschen diente.
Profesor rief den Muchacho, der ihm am nächsten saß, und schickte ihn zur Madre de campo, der Lagermutter, ein gutes Essen für den Ladino zu holen.
»Das nenne ich Freundschaft, amigos«, sagte der Ladino, »einen Hungrigen in der Wüste zu speisen, ist eine so fromme Tat, dass die Engel im Himmel dazu ihre Posaunen blasen, und es soll euch bei San Pedro gut angeschrieben werden. Dafür werde ich sorgen, wenn ich ihn treffe und mir einmal seinen Schlüssel ansehe. Dieser Schlüssel hat mir immer Sorgen gemacht, ob er nun groß ist oder klein, aus Eisen oder Silber, ob er an einem Bindfaden hängt oder an einer goldenen Kette um den Hals des San Pedro. Und was euch anbetrifft, Muchachos, ob ihr nun Banditen seid oder Mordbrenner oder friedliche Bauern, das kümmert mich nicht, solange ihr mir was zu essen gebt.«
»Ich möchte doch nur wissen, was der Mann ist, dass er einen solchen Hunger hat und nur vom Essen und nichts anderem redet«, sagte Andres leise zu Profesor. In Profesors Augen blitzte ein Verstehen auf. Er lachte und sagte: »Du, ich weiß jetzt, was du bist. Du bist kein Ladino. Du bist kein Händler.«
»Sicher nicht«, sagte der Mann, »ich habe das auch nicht behauptet.«
»Du bist Schullehrer. Was schlimmer ist, Dorfschullehrer.«
»Mann auf Erden, das konnte nur ein Kollege richtig raten. Stimmt. Profesor rural ambulante. Wandernder Dorfschullehrer. Alle zwei Monate werde ich nach einem andern Dorf geschickt, weil das Gehalt, das dem Dorfe für die Schule bewilligt wird, immer gerade nur für zwei Monate reicht. Und die letzten vier Wochen dieser zwei Monate, da sieht es schon recht trübe aus, und ich muss froh sein, dass ich im zweiten Monat wenigstens die Hälfte kriege von dem, was mir versprochen war. Und dann kriege ich einen Brief vom Departamento, wo sie mir schreiben, wie das nächste Dorf heißt, wo ich nun hinkommandiert werde. Das ist manchmal drei oder vier Tagesreisen weit, das nächste Dorf, wo ich hinbestellt werde. Und als Zehrgeld gibt mir der Departamento sechs Reales, fünfundsiebzig Centavos, ganz gleich, ob meine nächste Stelle nur gerade einen Tag weit ist, oder sieben Tage oder acht auf diesen elenden gottverdammten Wegen. Immer nur sechs Reales. Davon soll ich mich beköstigen, davon soll ich das Pferd bezahlen, das ich mir miete, davon den Jungen bezahlen, der mich begleitet und die Pferde wieder zurückbringt, davon die Miete für das Mule, das meine armseligen Lumpen trägt und meine paar Bücher und Hefte, und davon auch noch den Mais für die Pferde. Das soll mir erst einmal der Jefe vom Departamento vormachen, wie man das alles von fünfundsiebzig Centavos bezahlen kann.“
»Das kenne ich«, unterbrach ihn Profesor.
»Dann bist du ebenfalls Profesor?«
»War, Freund und Kollege. War. Zuerst in der Hauptstadt in einer Secundaria mit auskömmlichem Gehalt. Dann runter in eine Primaria. Dann nach einer kleineren Stadt. Dann immer wieder nach einer noch kleineren Stadt, bis ich endlich auch in Dörfern landete.«
»Warum denn das? Wenn man erst einmal gut sitzt in einer Secundaria, kann man gut sitzen bleiben oder weiter raufrücken in die Preparatorias und wer weiß was sonst noch, sogar bis zu einem Direktor-Posten.«
»Das kann man, amigo. Das kann man recht gut. Wenn man das Maul hält. Und das Maul konnte ich nicht halten und werde es auch nie lernen. Darum bin ich jetzt hier Profesor. Hier bekomme ich überhaupt kein Gehalt und fühle mich doch recht wohl. Was ist denn das ganze gute Gehalt wert, wenn du dich nicht wohl fühlst? Und wenn ich das Maul nicht aufmachen darf und sagen, was ich denke, dann können das hundert Pesos Gehalt im Tage nicht wettmachen, was ich an meinem Herzen und an meiner Seele stückweise verliere. Man ist doch kein Tier und keine Marionette. Ich bin doch Mensch, verflucht noch mal! Und hier kann ich Mensch sein. Wir alle hier können Menschen sein. Und das wollen wir bleiben. Und das verteidigen wir bis zum letzten Saftspritzer gegen El Caudillo, gegen die gottverdammte und gottverfluchte Diktatur.«

 

3

Inzwischen war das Essen in die Halle gebracht worden. An der Art, wie der Angekommene über das Essen herging und wie er jedes Krümchen aufschleckte und jede Fingerspitze abschleckte, vermochten die Muchachos besser als aus seinen Worten zu entnehmen, dass der Mann die Wahrheit gesprochen hatte.
Auch sein Muchacho füllte sich den Magen, der ebenso leer zu sein schien wie der des Profesor rural ambulante.
Als der Lehrer nun gegessen hatte und aufatmete in einem tiefen Wohlgefühl, sagte er: »Ich heiße Villalva, Gabino Villalva, su servidor. Vielen Dank für das Essen.«
»Und was ist denn nun mit ihm, Profesor?« fragte Eladio, der den halb verhungerten Lehrer eingebracht hatte. »Ist er ein Spion oder nicht? Wenn nicht, dann gehe ich wieder auf meinen Posten.«
»Ich werde mich mit ihm beschäftigen, Eladio, und du kannst auf deinen Posten ziehen. Auf jeden Fall war es gut, ihn herzubringen. Man weiß nie, wer und was ein jeder ist, der da nahe an unsern Grenzen sich vorbeischleicht.«
»Also das ist es, amigos«, sagte nun der Lehrer, »auch ihr habt eure Sorge mit den Banditenhorden, die hier herumschwärmen und die alle Finqueros zur Verzweiflung bringen. Ihr habt recht, seht euch vor, das ist ein böses Gesindel, das da Tag und Nacht herumstreift und niemand zur Ruhe kommen lässt. Ich sehe, ihr habt ja da auch einige Dutzend Karabiner herumhängen. Das ist notwendig in Zeiten wie diesen.«
General war hereingekommen und hatte die letzten Worte gehört. »Die Zeiten sind böse, da hast du recht, Hombre. Um so böser, weil man nicht einmal weiß, wer die wirklichen Banditen sind im Lande.«
»Das hast du gut gesagt, amigo«, erwiderte der Lehrer, sich umwendend zu General, der nun näher kam und sich zu der Gruppe setzte. »Gut gesagt. In diesen Zeiten weiß man nicht, wer regiert und was regiert wird.«
»Darum sagen wir >Que muere El Caudillo! Abajo la dictadura!<« mischte sich Andres ein.
Der Lehrer sah ihn an. Dann blickte er alle übrigen an, die herumsaßen und ihm zusahen, mit welcher Behaglichkeit er seinen Kaffee trank, schluckweise und andächtig, als hätte er nie zuvor einen so guten Kaffee getrunken.
Sein Blick blieb endlich fragend auf Andres halten. »Warum sagst du? >Tod dem Führer! Nieder mit der Diktatur?< Das möchte ich wissen.«
»Weil wir nicht frei sein und nicht frei leben können, solange der Diktator das Volk knebelt und tyrannisiert«, sagte einer der Muchachos.
»Welchen Führer, welchen Diktator meint ihr denn?« fragte der Lehrer erstaunt.
»Das weiß ein jedes Kind im Lande, wer gemeint ist«, sagte Andres. »Du solltest dich nicht so dumm stellen und so unschuldig. Hier kannst du frei reden, frei heraus. Hier sind keine Angeber und keine Polizeispione.«
Profesor, mit einem misstrauischen Blick in den Augen, sah den Lehrer an. »Nun möchte ich doch wissen, was ich von dir halten soll. Du redest so und redest wieder so. Was ist nun das richtige an dir?«
»Bin ich denn hier auf dem Monde oder in Afrika oder mitten in China oder wo?« fragte der Lehrer, mit verständnislosen Augen einen jeden der Reihe nach betrachtend.
»Wir meinen natürlich El Caudillo, den Führer und Lenker, Don Prudencio Dominguez, wen denn sonst?« rief einer der Muchachos.
»Das hätte ich freilich nicht raten können, amigos«, sagte darauf der Lehrer. »Wenn ihr Don Prudencio Dominguez meint, den, der hier dreißig oder ich weiß nicht wie viel Jahre gewirtschaftet hat, ja, dann seid ihr reichlich verspätet, denn der hat vor acht, neun, zehn, dreizehn, ja, vor sechzehn Monaten, da hat er abgedankt, weil er sich nicht mehr halten konnte. Er ist jetzt in London, das ist eine Stadt in Frankreich.«
»England«, warf Profesor ein.
»Meinetwegen auch England, Spanien oder Holland. jedenfalls ist er abgereist.«
Andres wandte sich Profesor zu und sagte leise: »Sechzehn Monate? Da muss er ja schon nicht mehr regiert haben, als wir von den Monterias auszogen.«
»Das scheint so, Junge. Was für ein Scherz!« sagte er wie zu sich selbst.
»Was für ein göttlicher Scherz!« platzte er nun laut heraus und brüllte vor Lachen.
»Scherz?« meinte der Lehrer. »Da ist nicht viel zum Scherzen heute, im ganzen Lande nicht.« »Wer regiert denn jetzt?« fragte Profesor.
»Das möchte ich auch gern wissen«, erwiderte der Lehrer. »Das möchte jeder im Lande wissen, Arme und Reiche, Kapitalisten und Arbeiter.«
»Es muss doch wohl eine Regierung da sein«, wandte General ein. »Eine? Eine Regierung?« Der Lehrer zog seinen Mund schief. »Das sind jetzt fünftausend Regierungen. Fünftausend Politiker reden und schreien, und jeder hat seine eigene Regierung. Da ist nicht ein Parlament, da sind zehn, zwanzig, vierzig, alle zu gleicher Zeit. jeder Staat hat nicht einen Gouverneur, sondern sieben oder acht, und alle zu gleicher Zeit.«
»Ist keine Partei da, um die sich die Leute sammeln, um eine
Regierung, vom Volk gewählt, zu erhalten?«
»Da sind auch Parteien da. Eine Unmenge. Constitucionalistas, Institucionalistas, Revisionistas, Reformistas, Reeleccionistas, Anti-Reeleccionistas, Laboristas, Comunistas, Comunalistas, Imperialistas, Anti-Imperialistas, Indo-Americanistas, Agraristas, Dominguezistas, Separatistas, Regionalistas, Continentalistas, Unionistas und so etwa zweihundert >istas< mehr. Die Namen kann man nicht behalten. jeden Tag kommen neue auf, und jeden Tag verschwinden solche, die gestern den meisten Anhang hatten.«
»Und die Armee? Was tut denn die Armee?« fragte General.
»In der Armee weiß kein General, wer befiehlt, wessen Befehle auszuführen sind und wessen nicht. Jeder General, Major oder Oberst bekommt jeden Tag zwanzig verschiedene Telegramme mit Befehlen, und er weiß nicht, welchem Befehl er nun eigentlich folgen soll. So bleibt er einfach mit seinen Leuten sitzen, wo er sitzt, und kassiert die Löhnungen ein, ganz gleich, wer sie ihm anweist. Außerdem gibt es jetzt so etwa zehntausend Generale, die sich vom Abend bis zum Morgen mit dem Titel General belegten und dann mit ihren Leuten loszogen. Die Mehrzahl dieser Generale haben nicht mehr als zwanzig Mann, die ihnen folgen. Und alle die zehntausend Generale gehen jeder auf den andern los, jeder behauptet, eine andere Partei zu unterstützen, und morgen bekämpft er die Partei, auf deren Seite er gestern war.«
»Das ist dann alles wirklich das, was El Caudillo in beinahe vierzig Jahren einer mitleidlosen Diktatur geschaffen hat«, rief Profesor aus, aufspringend und seine Arme hochwerfend, wie er es gewöhnlich tat, wenn er aus seiner gewöhnlichen Rede heraus in eine Ansprache fiel, die er an alle richtete. »Das ist, was die Diktatur erreicht hat. Das ist, was alle die Leute, die Verständnis vom Menschen haben, hundertmal vorausgesagt, geschrieen, geschrieben, gedruckt und gebrüllt haben und dafür gemartert und erschlagen wurden wie kranke Hunde. Chaos. Das hat er erreicht, der Idiot von einem Diktator, der Wahnsinnige von einem Staatslenker. Er hat das Chaos geschaffen. Wer ist es denn, der jetzt aufgestanden ist und das Volk hin- und herzerrt? Es sind dieselben Leute, die unter seiner Diktatur geboren wurden, unter seiner Diktatur erzogen wurden, unter seiner Diktatur aufwuchsen, unter seiner Diktatur zum Schweigen verdonnert wurden, unter seiner Diktatur kein Recht hatten und keine Gelegenheit, politisch selbst zu denken, sich heranzubilden im politischen Denken. Darum schreit nun jeder.
Und jeder, der schreit, schreit seine eigene Melodie, weil er keine andere weiß und keine andere hörte und keine andere lernen konnte. Das ist so natürlich, wie es natürlich ist, dass ein Bach den Berg hinunterläuft und nicht hinauf.« Die Halle hatte sich mit Männern und Frauen gefüllt, die sich dicht zusammendrängten, um allen Gelegenheit zu geben, zu hören, was Profesor sagte. Die Mehrzahl freilich verstanden nicht ganz, worüber Profesor sprach, weil sie den Anfang nicht gehört hatten.
»Und das ist das grauenvolle Ende der Diktatur, einer Schmach, an der unser Land für hundert Jahre leiden wird. Ich habe gesprochen, Muchachos.«
»Bravo, Profesor!« rief es von allen Seiten. »Abajo la dictadura! Tierra y Libertad!«

 

4

Der Lehrer, offenbar durch Zeitungen, Broschüren, Flugblätter, Aufrufe, Manifeste, Programme, die jetzt das Land überfluteten, an solche Reden gewöhnt, so sehr, dass sie begonnen hatten, ihn zu ermüden, trank ruhig seinen Kaffee weiter und drehte sich eine Zigarette aus dem Tabak, den ihm einer der Muchachos gereicht hatte.
Profesor setzte sich und sagte zu dem Lehrer: »Das ist wirklich eine große Neuigkeit, die du uns gebracht hast. Wir sind so weit abseits, dass wir nicht gut wissen können, was da draußen vor sich geht.«
»Mag sein. Nur ist mir nicht klar, warum ihr hier alle Tierra y Libertad! Schreit wie wild. Ihr habt alle die Tierra, die ihr benötigt, und was Freiheit anbetrifft, ich denke, ihr habt hier mehr Freiheit als irgendeiner sonst, vielmehr Freiheit als selbst ich. In Wahrheit, ich habe überhaupt keine Freiheit. Ich bin ein Sklave. Ein Schulsklave, wenn du so willst, aber doch ein Sklave. Der Jefe des Departamento ordnet an, wohin ich zu gehen habe, und da muss ich eben gehen, und wenn ich nicht gehe, dann habe ich noch weniger zu essen als jetzt. Und was ich jetzt zu essen habe, das hat mich noch niemals satt gemacht.
Freilich, mit der seltenen Ausnahme heute«, setzte er grinsend hinzu. »Ich bin überhaupt niemals in meinem Leben so richtig erfrischend und wohltuend satt gewesen. Heute und hier zum ersten Mal. Dafür muss ich wohl >Gracias!< sagen, und ich sage es vom Herzen, nein, richtiger, vom Magen kommend.«
Er rückte auf seinem niedrigen Sitz unschlüssig herum. »Bueno, es scheint mir, dass ich gerade noch Zeit genug habe, den nächsten Ranchito zu erreichen, ehe es Nacht wird. Da werde ich mich wohl nun auf die Beine machen müssen, mit eurer Erlaubnis. So leid es mir in der Seele tut, ich kann wohl eure Gastfreundschaft nicht länger mit meinem dürren Kadaver belasten.«
Sich umsehend, winkte er dem indianischen Jungen, der ihn begleitete, die Pferde zu bringen und dem Mule die Packen wieder aufzuladen. Profesor sah ihn nachdenklich an, als ob er seinen Charakter und seine Zukunftspläne aus seinem Gesicht zu erforschen gedachte. Offenbar zufrieden gestellt mit seinem Studium, blinzelte er General, Celso, Andres und Coronel zu, mit einer fragenden Geste. Die Geste wurde, so schien es, beantwortet in dem Sinne, den er erwartet hatte. Im selben Augenblick, als der Lehrer sich aufrichten wollte, um zu gehen, stieß ihn Profesor leicht an der Schulter. Der Lehrer setzte sich wieder.
»Sage, Gabino Villalva, Profesor rural ambulante, warum bleibst du denn eigentlich nicht hier bei uns? Für dauernd, meine ich. Wir können gut einen zweiten Lehrer gebrauchen. Einen für die Großen und einen für die Kleinen, und Andres hilft auch noch mit. Mit dem Gehalt freilich, da wird es zuweilen fehlen. Das kommt darauf an, was die Finqueros an barem Gelde im Hause haben. Aber Gehalt oder nicht Gehalt, ich verspreche dir, dass du, so lange du mit uns bist, immer einen vollen Magen haben sollst.«
»Wenn das so ist, Freund und Berufskamerad, wozu brauche ich denn da Gehalt? Gehalt hat mir noch nie zum Sattessen gereicht. Natürlich bleibe ich hier. Wie heißt denn überhaupt dieses Dorf hier?«
»Solipaz«, erwiderte Profesor.
»Sonne und Frieden. Ein wunderschöner Name für ein Dorf. Aber, zum Teufel noch mal, wer seid ihr denn eigentlich?«
Profesor neigte sich nahe zu dem Ohr des Lehrers und flüsterte ihm ein Wort zu. laut sagte er, und mit einem offenen Lachen: »Sage es nicht weiter, auch wenn du gefragt werden solltest. Wir sagen es nur weiter bei bestimmten, sehr bestimmten und sehr begrenzten Gelegenheiten. Seitdem wir nun auch noch wissen, amtlich wissen, dass der Diktator gefallen ist, hat sich, was wir waren, geändert zu dem, was wir jetzt sind, amtlich sind, ganz gleich, was für eine Regierung endlich den Palast besetzt.«
»Das also. Beinahe hätte ich es mir ja wohl denken können. Aber in diesen Zeiten, wie sie gegenwärtig sind, ist es schwer, das Richtige zu raten. Freilich, nun bleibe ich erst recht hier. Das habe ich gewollt, seit ich acht Jahre alt war. Und ich musste siebenunddreißig werden, um euch zu finden.«
Er stand auf. Richtete sich gerade. Hielt die geballte Faust hoch und rief als Gruß: »Muchachos, Tierra y Libertad!«
Und die Muchachos antworteten wie mit einer Stimme: »Tierra y Libertad!«

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