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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Amicourt

Nacht. Wir warten auf der Straße. Rechts Häuser, links eine tiefer liegende Wiese.
Das dritte Bataillon soll die französischen Vorposten überfallen. Fabian spricht leise mit Ernst: „Sie haben entladen müssen, dass kein vorzeitiger Schuss losgeht, und sollen in breiter Linie mit aufgepflanztem Seitengewehr ..."
Gewehrknallen!
Klatsch! Klatsch! fallen Geschosse auf die Straße.
„Links auf die Wiese, und hinlegen!" ruft der Leutnant.
Von hinten ein Reiter im Galopp auf der Straße. „Welche Kompanie?"
„Dritte Kompanie!"
„Ausschwärmen und vorgehen!"
„Vor uns ist noch unser ganzes Bataillon!"
„Herrgott! Befehl der Division: Ausschwärmen!" schnauzte die Stimme.
„Ganze Kompanie links heraus schwärmen!" brüllte Fabian.
Ich renne ein Stück vor.
S! S! S! S! sausen die Kugeln. Es ist stockdunkel. Ich sehe nichts als schwarze Wiese vor mir. „Marsch, marsch!" brüllt Fabian.
Wir rennen. Es knattert ununterbrochen. Aber nichts ist zu sehen.
„Hinlegen!" brüllt Fabian.
Ich werfe mich ins Gras. Es knallt und saust.
„Marsch, marsch!" brüllt Ernst.
Was ist denn mit dem Leutnant, dass er nicht kommandiert? Wir laufen weiter in das unsichtbare Feuer hinein. Rechts gegen den Himmel eine mächtige Baumkrone. Links sehe ich drei dicht hintereinander. Es ist Ernst mit seinen Schätzern. Das Feuer hat etwas nachgelassen.
Wir fallen in Schritt.
Vorn taucht etwas auf, ein Wald. Leute laufen da durcheinander. Schreie, Kommandos und Fluchen!
„Wenn die Kompaniechefs nicht da sind, dann übernehme ich die Führung hier vorn!" schimpft ein langer, dünner Leutnant
Fabian kam von links gegangen. „Was ist hier zu tun? Ich komme mit der ganzen Kompanie."
„Gar nichts vorläufig, als Ordnung halten! - So eine Schweinerei hier! Wir kommen hier vorn an den Wald, da sitzen sie auf den Bäumen und knallen von oben herunter! Und wir stehen unten mit entladenen Gewehren! Lade du mal, wenn einer auf dich schießt! Das hat jetzt der Divisionskommandeur von seiner verfluchten Vorliebe für den Nahkampf! Wenn man diese überständig gewordenen Leute doch abschaffen könnte! Und wo sind die ganzen Kompaniechefs?" Er wetterte weiter.
Zu meinen Füßen lag einer röchelnd.
Aus dem Walde schrie es: „Hilfe, Kameraden!"
Dort half einer einem anderen aufstehen. Aber es ging nicht.
Ernst meldete: „Mein Zug hat drei Leichtverwundete. Und der Krankenträger Weiß fehlt. Ich hatte ihm befohlen, hinter dem Zug herzugehen."
„Sammeln Sie die Kompanie hier!" sagte Fabian. „Und schieben Sie eine Gruppe vor in den Wald, in deren Schutz wir die Verwundeten sammeln können. Der Verbandplatz ist dort hinten an dem großen Baum."
„Renn!" sagte Ernst. „Übernehmen Sie die Sicherung hier vorn am Wege! Wie weit Sie dazu vorgehen müssen, kann ich von hier aus nicht beurteilen."
Wir gingen ausgeschwärmt mit bereitgehaltenem Gewehr in den Wald hinein. Dunkle Klumpen lagen am Boden. Dort ächzte einer. Zwischen den Bäumen knackte es, halblaute Worte und Stöhnen. Dort kamen welche mit einem in der Mitte. Vorn winselte einer. Wir gingen vorsichtig weiter. Man konnte nicht wissen, ob die Franzosen noch im Walde saßen.
Dort links musste der Winselnde liegen. Ich ging ein paar Schritte vom Wege ab. Er lag neben einem Fichtenstamm unbeweglich und winselte nur. Ich kniete nieder. Er hatte Blut am rechten Ohr.
„Du!" sagte ich.
Er winselte nur und schien ohne Bewusstsein.
Indem hörte ich vorn wieder etwas, konnte aber nicht recht unterscheiden, was das für ein Geräusch war. Es war wie Holz und auch wieder wie von einem Wesen.
Ich winkte meine Leute heran. „Wir schleichen jetzt links vom Wege weiter. Dort vorn ist etwas."
Ich ging mit vorsichtigen Schritten weiter. An den Bäumen sah ich einen Schein. Auf einmal blendete es mich ins Gesicht. Ich zog mich noch weiter nach links, um nicht gerade auf das Feuer zuzugehen. Ich sah fast nichts, obwohl das Feuer nicht hell brannte. Vor mir hörten die Bäume auf. Drüben war ein neuer Waldsaum. Dazwischen war ein Streifen Wiese, auf dem rechts das Feuer brannte. Einer bewegte sich dort. Ich kniete hinter einem Baum. Zum Feuer waren es fünfzig Schritt oder weniger. Dort saß ein Franzose, der Scheite nachlegte, die prasselten. Das war das Geräusch von vorhin gewesen. Mir kam die Sache so sonderbar und unheimlich vor, mit dem einen Mann. Nein, da lag noch etwas am Boden.
Ich schlich zu Ziesche zurück. „Bleibt mal hier! Ich schleiche das Feuer von dorther an. Wenn was geschieht, schießt von hier aus ins Feuer, dass ich währenddessen ausreißen kann."
Ich zog mich nach dem Wege zu. Im Wald lag etwas quer. Ich trat von Baum zu Baum. Der da lag, hatte ein Franzosenkäppi auf.
„Oo-ää!" Ich war erschrocken. Der am Feuer hatte nur gegähnt.
Wieder hinter den nächsten Baum. Da! Rechts Menschen am Boden und Tornister. Ich stand starr. Vielleicht war das eine Feldwache, und ich hatte mich zwischen die Posten und das Feuer geschlichen?
Aber dann hätten uns die Posten längst bemerken müssen, und der am Feuer säße nicht so ruhig.
Ich trat hinter den nächsten Baum. Dabei stieß ich an etwas Blechernes. Ich hatte keine Zeit, danach zu sehen, denn der Franzose sah plötzlich auf.
„Bon jour, monsieur!" sagte er und hob ein Kochgeschirr in die Höhe. Ich war mir nicht klar, ob er mich wirklich sähe; denn augenscheinlich blendete ihn das Feuer. Vielleicht wollte er nur auf alle Fälle freundschaftliche Beziehungen anknüpfen. Er ließ sein Kochgeschirr sinken und sagte etwas.
„Wo Francais?" fragte ich.
Er deutete hinter sich und winkte, als wären sie weit weg.
Ich ging auf ihn zu bis an den Waldrand und winkte nach meinen Leuten.
Die tauchten so plötzlich aus dem Dunkel auf, dass es mir dem Franzosen gegenüber Spaß machte, der mit ganz runden Augen das sah.
Jetzt sah ich genauer: ein Stück weiter rechts lief der Weg. An dem lagen tote Franzosen, Tornister, Gewehre. Sie waren, wie es schien, beim Essen überrascht worden. Vor den halb ausgegessenen Essnäpfen grauste mich.
„Du, Hartmann", sagte ich, „du kannst doch ein bisschen Französisch; frag mal den aus!"
Hartmann war ein schlanker, schwarzer Kerl mit blitzenden Augen. Er setzte sich zu ihm ans Feuer.
Ich stellte die übrigen am Waldrand auf.
„Die haben Brot hier", sagte Hartmann. Er war mir in diesem Augenblick unheimlich, ich weiß nicht, warum.
„Was hast du sonst noch erfahren?"
„Hier im Walde haben zwei Kompanien gelegen. Der eine Hauptmann ist verwundet, sie haben ihn aber mitgenommen."
„Gut. Sieh dich mal nach Brot um."
Er legte Tornister und Gewehr beiseite und machte sich an das herumliegende Gepäck. Sonst war es still, nur in der Ferne hinter uns schrie ein Vogel.
„Das ist der Totenvogel", sagte Ziesche.
Mich schreckte diese Bemerkung.
Hartmann kam mit zwei halben Broten und mehreren Konservenbüchsen gegangen.
Von hinten Schritte auf dem Weg. „Ihr sollt zurückkommen."
Als wir aus dem Walde traten, war es etwas heller geworden. Unter dem mächtigen Baum brannte eine kleine Laterne. Da verband ein Arzt. Rings lagen welche, einer mit aufgerissener Brust, wächsern und tot. Andere stöhnten.
Ich meldete dem Leutnant: „Wir haben auch zwei Brote."
„Die behaltet nur für euch. Für die Kompanie reichen sie doch nicht."
Der Arzt erhob sich von seiner Arbeit. Er hatte die Ärmel hochgestreift und blutige Arme. „Ich bin fertig", sagte er ruhig. „Ich habe kein Verbandzeug mehr und ganz unzureichende Instrumente." Er trat ganz dicht an den Leutnant. „Morgen früh sind zwei Drittel der Verwundeten hier tot."
Krieh! Krieh! schrie es über uns im Baum.
Ich ging zum Zuge. Der Leutnant folgte mir. „Mein Pferd ist natürlich nicht hier vorgekommen mit Schlafsack und Decke. Überdies habe ich heute wieder einen Burschen verloren, schon den zweiten. Da müssen wir schon unter einer Decke schlafen." Seine Worte klangen unbestimmt Er musste sich recht elend fühlen.
Auf der Wiese standen Kornpuppen. Ich schleppte Stroh heran. Dann schnitt ich dem Leutnant eine Scheibe Brot ab.
„Sie haben's auch nötig", sagte er.
„Herrn Leutnant geht's nicht gut."
„Es geht mir etwas im Kopf herum. Es gibt Dinge, die sind schlimmer als die Leute, die hier liegen und morgen tot sind."
Ich wagte nicht, danach zu fragen. Er schwieg auch und sah in die Sterne neben der dunklen Baumkrone.
Wir streckten uns nebeneinander aus. Die Decke reichte nur über meinen halben Leib.
Die Verwundeten stöhnten. Einer gähnte, als könnte er nicht wieder aufhören.
Krieh! Krieh! schrie der Vogel.
Der Leutnant atmete unruhig. Was hatte er nur?
Krieh! Krieh! schrie der Vogel.
Ich hatte vorhin einen gesehen, der lag ganz ruhig auf einer Trage und blickte in die Sterne, wie damals der Sander in der Schmiede. Was war aus Sander geworden?
Der Leutnant atmete im Schlaf. Vielleicht war er wie ein Kind, das zuviel gesehen hat.
Krieh! Krieh! schrie es im Baum.
Ich sah wieder die Augen ruhig in die Sterne sehen. Wie lange geht das noch so weiter?
Es war noch recht kühl und feucht. Die Sonne blinkte mit ihrem oberen Rand über eine ferne Wolkenbank. Es war ganz still. Der Leutnant neben mir schlief noch. So blieb ich auch liegen und sah in den Baum, zwischen dessen dunklem Laub der Himmel dünn blau war.
Ich fühlte mich kalt, fror aber nicht.
Rings begannen sie aufzustehen, sich zu recken und dann ihre Decken und Zeltbahnen zusammenzulegen.
Ich kroch aus unserer gemeinsamen Decke heraus. Meine Hände waren noch braun vom Blut des französischen Offiziers. Das war, glaube ich, vor einer Woche. Seitdem hatte ich mich nicht mehr gewaschen.
Der Verbandplatz lag ruhig. Aufgeschnittene Röcke, ein nacktes Bein. Der Mann auf der Trage starrte mit toten Augen in den Himmel.
An der Feldküche standen die Köche schon wieder in Hemdärmeln. Sie hatten wahrscheinlich schon lange gearbeitet. Der eine hatte keinen Hemdärmel mehr am rechten Arm, mit dem er Kaffee mit der Schöpfkelle in die vorgehaltenen Feldkessel gab. Aus dem offenen Kessel wallte weißer Rauch.
Neben uns auf der Straße marschierten Truppen vor und verschwanden im Walde. Ob der Franzose noch am Feuer saß?
Der Leutnant kam im Mantel zur Küche. Er sah blass aus und hatte Schmutzstreifen auf dem Gesicht. Ich wollte ihm wieder Brot geben, aber er wies es mit einer eckigen Handbewegung zurück. Da nahm mir der Küchenunteroffizier das Brot aus der Hand, strich es mit Schweinefett und reichte es Fabian.
„Woher haben Sie denn Fett?" fragte der.
„Wozu bin ich denn Küchenunteroffizier, Herr Leutnant?"
„Wir haben ein Loch für die Toten gegraben", sagte Ernst. „Herr Leutnant werden doch ein paar Worte am Grabe sprechen?"
Fabian wandte sich ab. „Ich kann nicht."
Ich fühlte mich auf einmal müde und elend. Die Sonne fing eben an, warm zu scheinen. Ein paar Schritte abseits stand eine Strohfeime. Dort machte ich mir ein Loch und legte mich hinein, dass nur die Beine draußen lagen.
Ich wachte von einem Gespräch dicht neben mir auf.
„Krankenträger Weiß!" sagte Fabian. „Mir hat Ihr Zugführer gestern Abend gemeldet, dass Sie beim Angriff nicht da waren."
Ich stand schnell auf, um fortzugehen.
„Bleiben Sie hier, Renn! Es ist mir lieb, wenn ein Zeuge bei der Verhandlung ist. - Haben Sie den Befehl von Herrn Feldwebel Ernst erhalten, dem Zug zu folgen?"
Ich wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Aber ich sah seine Beine zittern.
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Weshalb?"
Er antwortete nicht, zitterte nur.
„Aus Angst?"
„Jawohl, Herr Leutnant."
Fabian schwieg. „Sie sind ehrlich", sagte er endlich. - „Ich kann das jetzt nicht entscheiden. Warten Sie bei dem Baum!"
Weiß ging langsam fort. Seine Arme hingen so unlebendig herab.
Der Leutnant legte sich ins Stroh zurück.
Ich ging etwas abseits und sah dem Marschieren der Truppen zu. Ich hatte eine furchtbare Angst um Weiß und auch um den Leutnant. Wenn den plötzlich die Wut packte ... Nein, er war doch ganz ruhig gewesen, aber - das war ja das Unheimliche daran - man wusste nie, was er dachte.
Sollte ich eigentlich noch weiter dableiben? Aber wenn ich fortlief und der Leutnant ärgerte sich darüber und entlüde es auf den erbärmlichen Weiß...? Meine Gedanken irrten und kamen immer wieder qualvoll an dieselben Stellen. Und da stimmte es nicht. Konnte ich nicht etwas tun?
„Renn?" Ich lief zurück und stand in großer Angst vor ihm.
„Gehen Sie zu Weiß", er sah mich geistesabwesend an, „und holen Sie ihn her!" Er legte sich wieder zurück. Dabei sah ich seine ganze Erregung, und das gab mir etwas Hoffnung.
Weiß trat am Baum im umhergestreuten Stroh herum und sah mich leer an.
Ich machte nur eine Bewegung mit dem Kopfe. Er kam mit.
Ach! Das war wieder falsch! Jetzt denkt er, ich verachte ihn, weil ich nicht mit ihm gesprochen habe. Ich will ihm sagen - nein, ich habe ihm nichts zu sagen.
Wir kamen zur Feime. Ich wusste nicht, wohin ich mich stellen sollte, und blieb neben ihm stehen.
Der Leutnant blieb sitzen und sah ihn scharf an. „Krankenträger Weiß! Sie wissen, dass ich Tatbericht wegen Feigheit vorm Feinde gegen Sie einreichen müsste. Sie würden vor ein Kriegsgericht gestellt und wären für Ihr Leben geschändet. - Ich mache mich selbst strafbar, wenn ich nicht Tatbericht einreiche. Trotzdem tue ich es vorläufig nicht. Es widersteht mir, Sie vor Gericht zu stellen, wo wir vielleicht schon heute wieder ins Gefecht kommen. Ich kann nur mit ganz freien Menschen ins Gefecht gehen, nicht mit halben Gefangenen. Wider meine dienstliche Pflicht schätze ich Sie als Mensch und habe ein solches Vertrauen zu Ihnen, dass ich Ihnen sage: Der Vorfall ist für mich nie geschehen. Ihre Sache ist es, dafür zu sorgen, dass auch Ihre Kameraden ihn vergessen. - Gehen Sie jetzt!"
Weiß machte kehrt und ging gesenkten Hauptes fort. Er zitterte noch im Gehen.
„Renn! Setzen Sie sich mal hierher!"
Ich setzte mich neben ihn. Aber er sagte nichts weiter, sondern legte sich auf die Seite, den Rücken zu mir, als wollte er schlafen.
Er hatte sich wohl erst während seiner Worte endgültig entschlossen; denn erst sagte er: Ich werde vorläufig keinen Tatbericht einreichen, und dann hatte er alles ausgestrichen, was geschehen war.
So lag er lange. Ich wurde immer aufmerksamer auf seinen Zustand, und mir wurde sehr bange. Was brütete er nur?
Er richtete sich auf. „Ich habe Sie als Zeugen genommen. Ich möchte nicht, dass über den Weiß in der Kompanie geredet wird. Es ist lähmend für einen Menschen, wenn man ihn verachtet. - Es ist fürchterlicher, einen guten Menschen für sein Leben als Feigling zu stempeln, als ihn totzuschießen!"
Wir marschierten ab, in den Wald hinein. Das Feuer auf dem Wiesenstreifen glimmte noch. Aber der Franzose war nicht mehr da.
Weiterhin lagen am Wege viele Tote dicht beisammen, darunter ein französischer Offizier.
Gegen sechs Uhr abends trafen wir unsere große Bagage, die rechts auf einer Höhe hielt.
„Habt ihr Brot?"
„Mehr als ihr braucht, um zu platzen!" „Dort ist der Marketender! - Habt ihr Zigaretten?" Wir kamen in einer großen Scheune unter, aßen und waren sehr vergnügt.



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