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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Stellungskrieg

Der Stellungskrieg vor Chailly

 I.

Bisweilen will es mir scheinen, als hätte ich die zwei Wochen in Chailly nur geträumt.
Als ich am Abend des Tages nach dem Gefecht von Sainte-Marie im Quartier mein Gepäck abgelegt hatte und den Tornister öffnete, lag der Brief darin, den ich vor zwei Tagen erhalten hatte, noch ungelesen.
„Mein Junge! Pastors Alfred ist gefallen, wo, habe ich vergessen. Ich war gestern bei Pastors. Sie lassen Dich grüßen. Der Pastor sagte zu mir: Ich wünsche Ihnen ein Glück, das uns bei unserem einzigen Kinde nicht beschieden gewesen ist. Dabei rollten ihm die Tränen herunter, und er ging bald in seine Stube. Schreibe ihnen mal. Du kannst das so hübsch. Sonst kann ich Dir nichts erzählen, als dass ich jeden Tag für Dich bete. Deine Mutter."
Ich ging ins Freie. Ich traf welche von der Kompanie auf der Straße. Eine alte Frau keifte vor ihrer Tür. Ein kleiner Hund fegte mit eingezogenem Schwanz um eine Ecke. Ich sah das alles und sah es nicht.
Im Quartier saßen die Kameraden und rauchten und schwiegen. Oder sie spielten Karten, und dabei schweigt der Mensch ja auch. Sie waren düster und wurden unwillig, wenn einer sie nach ihren Erlebnissen befragte. Mir war das unverständlich. Wenn mich nur mal einer fragte! dachte ich. Aber eines Nachmittags befragte mich der Leutnant Eger, unser neuer Kompanieführer, nach den näheren Umständen
der Verwundung Boehms. Ich erzählte ihm, wie er sich die Zigarette anbrannte, und freute mich, dass Eger darüber lachte; denn ich hatte auf einmal eine Furcht, von dem übrigen zu sprechen, was da geschehen war.

 

II.

Ich kam gerade von einem Gang durchs Dorf nach Hause. Es war Abenddämmerung. Im Quartier packten sie die Tornister.
„Was packt ihr denn?"
»Weißt du denn noch nicht, es geht wieder vor?" sagte einer mürrisch. Die andern sahen gar nicht auf.
Ich machte mich an meinen Tornister. Meine Hände waren mir lahm. Warum noch einmal vor? Wozu hatte man uns hier ordentlich zu essen gegeben, wenn es wieder hineingehen sollte?
Neben mir murmelte einer etwas von grässlicher Totenwiese. Aber ich wusste nicht, ob ich ihn richtig verstanden hatte. - Wenn man wenigstens wüsste, wohin es ginge! Irgendwo vor uns sollten sie sich auf hundertfünfzig Meter und weniger sogar gegenüberliegen. Wie kann man - und, Herrgott, wie kann ich da leben?
Wir traten vorm Hause an. Wir waren etwa sechzig Mann, die Reste von vier Kompanien. Der Mond schien auf den Platz. Der Kompanieführer wird uns schon sagen, worum es sich handelt.
Die Zugführer meldeten dem Leutnant.
»Ohne Tritt - marsch!"
Es ging die Straße nach Sainte-Marie vor. Wir kamen in den Wald und hielten wie damals dicht vorm Ort. Sollten wir noch einmal dort angreifen?
Nach einer halben Stunde kam Eger aus dem Dorf zurück.
»Ohne Tritt - marsch!"
Wie sich das alles wiederholte, war mir unheimlich. Und dazu der schweigende Leutnant.
Es ging durch das Dorf und auf die Wiese, auf der jetzt ein Pfad getreten war. Vor uns der Bahndamm lag im Mondschatten. Als wir dicht herankamen, sah ich, dass eine tiefe Rinne hinaufführte. Die erkletterten wir, der Leutnant vorauf, einer hinter dem andern. Oben war der Graben so tief, dass ich mich nur etwas zu bücken brauchte, um unter den Schienen durchzukommen. Auch an der andern Böschung war der Graben tief. Unter uns sah ich im Mondschein einen unregelmäßigen Graben mit kreideweißen Aufwürfen.
„Der Zug dritte Kompanie", wendete sich der Leutnant an unsern Zugführer, „kommt am weitesten rechts. Sie müssen selbst fragen, wo die Zugsgrenzen sind."
Wir gingen den geschlängelten, knietiefen Graben entlang. Ich sah mich nach der Stelle um, wo wir damals den Tag über mit den Verwundeten gelegen hatten, konnte sie aber nicht finden.
Jetzt kam ein anderer Graben von links her schräg auf unsern zu. Der sah merkwürdig unordentlich aus, als läge er voll Gerümpel. Ich bog um die letzte Ecke. Der Graben war breit und auch tief, und darüber war rechts eine Gartentür oder so etwas gelegt und Zeltbahnen darübergehängt. Nach vorn ragten aus dem Dach zwei Gewehre und Helme. Das waren Posten, die zum Dach heraussahen. Wir konnten nicht alle durch die enge Zelthütte kriechen, stiegen nach hinten aus dem Graben und gingen da weiter.
Die Gruppe, die ich ablösen sollte, lag in einem Grabenschlauch, der mit Astwerk und Rasenbatzen eingedeckt war.
„Die müssen erst mal raus, ehe wir hineinkönnen", sagte ich meinen Leuten. Ich steckte kniend meinen Kopf in die Höhle. „Wir kommen, euch abzulösen."
Ein Unteroffizier kam herausgekrochen und hielt mir eine lange Rede, was wir alles tun sollten und nicht tun dürften: Nicht laut sprechen! Nicht den Graben verunreinigen; wir müssten's eben halten bis zur Nacht! Vor allem größte Aufmerksamkeit auf den Feind, und der Graben müsste unbedingt bei feindlichem Angriff gehalten werden.
Wozu sind wir denn sonst da? dachte ich ärgerlich. Er erzählte noch immer weiter. Ich hörte gar nicht mehr darauf, konnte mir auch das alles gar nicht auf einmal merken.
„Das ist, glaub ich, alles. - Ach ja, bei Nacht sollen alle wachen, bei Tage nur die Hälfte. Links vor uns liegt auf etwa fünfzig Schritt ein Horchposten."
„Hat die Kompanie Patrouillen vor gemacht?" fragte ich.
„Ich meine, ob man den Toten vorn die Erkennungsmarken und Wertsachen abgenommen hat?"
„Ja, aber ich war nicht vorn. - Haben Sie denn damals den Sturm hier mitgemacht?"
„Ja", sagte ich, äußerlich kalt.
„Unsere Horchposten wollen noch in der letzten Nacht das Schreien der Verwundeten vorn gehört haben. Bei Tage kann man vorn nichts sehen."
Ich fühlte mich aufgewühlt. Der Angriff war zwei Wochen her. Da konnte doch niemand mehr leben. Aber wenn doch?
Die bisherige Gruppe rückte ab. Wir richteten uns in der Erdhütte ein. Es war sehr eng. Dann ging ich wieder ins Freie. Ich wollte vor, um selbst nachzusehen. Aber solange der Mond schien, war daran nicht zu denken.
Unser Zugführer kam und ordnete auch noch alles mögliche an. Ich sagte ihm, dass ich vor wollte.
„Dazu müssen wir aber erst einmal den Kompanieführer fragen."
Ich ärgerte mich wieder.
„Sie wollen eine Patrouille machen?" fragte der Leutnant Eger. Er warnte mich, ja nicht unvorsichtig zu sein und auf den Boden zu achten, dass ich nicht unversehens stolpere und uns verriete. Ich sollte zwei Mann mitnehmen, aber wir sollten nicht zu dicht zusammen gehen. Er fand kein Ende und gab mir wohl eine halbe Stunde gute Ratschläge. Ich hatte meinen Plan, vorzugehen, schon gründlich satt. Sind wir Kinder? Ich mache ja nie wieder eine Patrouille - oder heimlich!
Ich kroch aus der Höhle des Leutnants. Draußen war die Luft frisch, und der Mond stand schon dicht über dem Walde hinter uns. Ich besprach die Patrouille mit Seidel und noch einem, sagte ihnen aber kein Wort von dem, was der Leutnant gesagt hatte. Unterdessen ging der Mond unter.
Einer unserer Posten machte: „Pst!"
„Was gibt's denn?" flüsterte ich.
„Da vorn hat sich was bewegt."
Ich sah scharf in die Richtung und glaubte auch etwas Dunkles wahrzunehmen. Konnten französische Patrouillen vorn sein?
„Schieß drauf, wenn sich's wieder bewegt!" sagte ich.
Das machte mich etwas unruhig. Wir krochen, das Gewehr bereit, sehr vorsichtig aus dem Graben. Das Schwarze wurde deutlicher, aber auffallend dünn. Es war ein Holzpfahl. Daneben waren noch mehrere eingeschlagen und mit einigen Drähten verspannt.
Wir mussten uns halblinks halten, weil wir damals von weiter links her angegriffen hatten. Ich entsann mich der Form einer Baumgruppe, die ich gegen den Himmel gesehen hatte. Die wollte ich zuerst suchen.
Wir traten leise auf. Das Gras war feucht und raschelte nur wenig. Ich hatte den andern gesagt, keine schlenkernden Bewegungen zu machen, weil man die im Dunkeln am leichtesten sieht.
Am Boden etwas. Ich war unsicher: nach der Entfernung konnten es die Horchposten sein. „Halt! Wer da?' flüsterte es.
„Patrouille dritte Kompanie." Ich ging zu ihnen hin. „Sagt denen, die euch ablösen, dass wir vorn sind und sie vorsichtig sind mit Schießen."
Wir gingen weiter. Den oberen Rand des Waldes sah ich schon deutlicher gegen den Himmel. Deshalb duckte ich mich langsam und kroch dann auf allen vieren. Dort schien etwas zu sein. Ich bewegte mich ganz langsam. Das Ding vor mir war zu niedrig für einen Menschen. Ich war auf zwei Schritt heran. Es war auffallend dunkel. Ich griff danach. Es war eine Schlafdecke mit einem Tornister darunter.
Auf einmal roch ich etwas. Der Wind stand von links her. Wir krochen dahin. Umrisse kamen heraus. Es waren zwei oder drei Leichen. Während die beiden sich mit ihnen befassten, suchte ich mit den Augen nach meiner Baumgruppe. Sie musste noch weiter links sein. Daher zogen wir uns in dieser Richtung und blieben in der Linie der Gefallenen. Hartmann musste etwas weiter vorn liegen.
Ich kroch etwas nach vorn und sah einen allein liegen. Das konnte er sein. Aber die Baumumrisse vorn waren nicht die der Nacht.
Sollte meine Erinnerung nicht richtig sein?
Ich raunte Seidel zu: „Ich krieche da vor. Zieht ihr euch hier weiter."
Als ich vorkam, war es ein Franzose. Er roch sehr. Sein
Rock war aufgerissen. Wahrscheinlich war er schon durchsucht worden. Ich sah mich wieder um. Da lag noch einer. Das war Hartmann. Ich durchsuchte ihm die Taschen. Sie waren leer. Aber sein Brotbeutel und sein Tornister lagen noch da. Ich wälzte ihn auf den Bauch, um beides abmachen zu können. Vielleicht war noch etwas Persönliches von ihm darin.
Dann rutschte ich zurück und zog Tornister und Brotbeutel nach.
Wir kehrten zurück. Ich kroch zu Leutnant Eger in seine Höhle. Er hatte geschlafen. Ich gab ihm die abgenommenen Papiere in die Hand.
„Pfui, das stinkt aber!"
Auf einmal einige Granaten nicht weit rechts von uns. Der Wald dort hinderte uns, etwas zu sehen. Das Feuer wummerte und krachte ununterbrochen. Wir standen und horchten. Es war leicht neblig. Auf einmal - ich fühlte einen Schauer mir über die Kopfhaut rieseln - wie ein tierisches Brüllen. Oder hatte ich mich getäuscht? Rasselndes Gewehrfeuer! Einige Kugeln zirpten über uns hinweg.
„Ich bin verwundet", sagte einer.
„Wo denn?"
Er griff sich an die Brust und zog aus dem Brustbein ein Geschoß heraus, das jedenfalls schon lahm gewesen und daher nicht tiefer eingedrungen war.
Das Gewehrfeuer ließ nach, auch das Artillerieschießen, und es wurde ganz still.
„Was war das?" hörte ich einen murmeln.
Wir krochen in unsere Höhle. Ich lehnte mich an die eine Wand. Die Beine konnte ich nicht ganz ausstrecken, weil einer unten quer vor lag.
„Tritt mir nicht ins Zifferblatt!" sagte einer.
„Wenn du auch dein Zifferblatt an meine Stiefel hältst."
„Meine Nase war bisher noch ganz gut für die Woche."
Gegen Mittag wachte ich voll auf. Vom Ausgang her, vor dem ein Sack hing, drang etwas Tageslicht herein.
In die Lehmwände waren Pflöcke gesteckt, auf denen Brot, Wurst, Zigaretten lagen.
„Ihr stinkt aber", schimpfte Seidel.
„Und bei der Kälte!"
Ich kroch hinaus. Draußen schien die Sonne auf die Wiese. Wir machten unsern Stall auf, um etwas frische Luft hineinkommen zu lassen, wogegen ich Einspruch erhob: „Jetzt beginnt's gerade drin gemütlich zu werden, und da lasst ihr's wieder 'naus!"
Wir frühstückten gemächlich in der Sonne. Dann schrieb ich an Hartmanns Braut.
Am Nachmittag kamen zwei Granaten über uns weggesaust und fuhren in den Bahndamm. Sonst war nichts zu sehen und zu hören.
Nach einiger Zeit kam der Zugführer und erzählte, heute früh hätten die Schwarzen beim Nachbarregiment angegriffen; jetzt lägen sie wie eine Schützenlinie tot vor unserer Stellung.
Wir waren drei Tage in Stellung. Dann rückten wir hinter nach Chailly und nach drei Tagen wieder vor in Stellung. Unser Unterstand wurde immer vollkommener mit Bordbrettern für die Feldkessel und Nägeln an der Decke, um die Wurst und das Brot so aufzuhängen, dass die Ratten nicht daran kämen.
Da unser Unterstand den Graben völlig versperrte, bauten wir einen Umgehungsgraben, in dem nun der Verkehr ging. Auch mit dem Bau einer Latrine wurde begonnen, damit man auch bei Tage austreten könnte.

 

III.

Unterdessen war Ersatz eingetroffen. Das waren recht stattliche Landwehrleute, zum großen Teil Unteroffiziere und Gefreite. Da konnte ich natürlich nicht Gruppenführer bleiben.
Der Leutnant Eger ließ uns alle der Größe nach antreten. Dadurch kam Seidel ganz auf den linken Flügel, und ich als Größter kam unter lauter Landwehrleute.
Der Leutnant ließ wegtreten, ohne uns zu sagen, wie es nun mit den Quartieren werden sollte. Die Leute schimpften, weil die auseinander gerissen worden waren, die sich kannten.
Der Feldwebel unserer Kompanie kam die Straße entlang.
Ich gab ihm das Verzeichnis unserer Gruppe, das er verlangt hatte, und sagte ihm, dass Herr Leutnant uns durcheinander geschmissen hätte.
„Das geht doch gar nicht!" rief er. „Die Leute der vier ehemaligen Kompanien werden doch in Verpflegung und Löhnung und allem getrennt geführt! Ich kann mir doch nicht aus allen Zügen die Leute jedes Mal rauspflücken wie die Himbeeren! Ich gehe sofort zu Herrn Leutnant"
Ich freute mich, dass der Feldwebel dem Leutnant mal die Wahrheit sagte. Aber es nützte nichts. Eine neue Quartiereinteilung wurde befohlen. Ich musste umziehen zu den bärtigen Landwehrleuten. Die fanden sich schnell in die Verhältnisse im Schützengraben und gaben aufeinander gegenseitig acht dass die Arbeiten und der Wachdienst genau ausgeführt wurden. Das gefiel mir anfangs ganz gut. Aber dann wurden mir die Leute schrecklich langweilig. Sie sprachen immer mit ernsten Mienen von ihren Frauen. Sie waren schon alle etwas im Leben.

 

IV.

Wir wurden abgelöst und marschierten hinter nach Chailly.
Eines Tages verbreitete sich das Gerücht, hinten wäre neuer Ersatz, viele Offiziere und Kriegsfreiwillige, eingetroffen.
Diese Nacht war es recht kühl in unserer Stube. Zwei Fensterscheiben waren zerbrochen und an ihrer Stelle Pappdeckel notdürftig befestigt.
Am Morgen ging ich Wasser holen, in der angebrochenen Waschschüssel, die uns allen zum Waschen und Rasieren diente. Es war etwas neblig, aber die Sonne schien schon warm.
Ich wusch mich.
Ich trocknete mich eilig ab und lief hinaus. Vorm Quartier des Regimentskommandeurs standen sie, weithin die Straße entlang, angetreten, vor der Front die Offiziere, und der dritte war der Leutnant Fabian. Ich war erregt, ob er mich sehen würde. Er sah blass aus, sehr ernst und abgemagert
Der Oberst kam aus dem Hause, schritt die Front ab und ließ den Ersatz einteilen. Dann rückten die Abteilungen auseinander. Fabian kam mit seinen Leuten gerade auf mich zu marschiert.
„Renn!" rief er. „Da trifft man doch noch einen von der alten Bande wieder!" Er streckte mir die Hand hin.
„Bekommen Herr Leutnant unsere Kompanie wieder?"
„Freuen Sie sich denn da?"
„Da freuen sich alle, Herr Leutnant!" rief ich.
Ich lief zu Seidel und erzählte es ihm.
„Kann ich nicht bei eurer Kompanie bleiben?" sagte er traurig.
„Wie meinst du denn das?"
„Nu, jetzt werden doch unsere vier Kompanien wieder getrennt werden, und ich kenne doch von meiner eigentlichen Kompanie gar niemand."
„Du! Bitte doch unsern Feldwebel, dass du zu uns kommst, aber schnell; bei der Unordnung der Neueinteilung geht das am ehesten!"
Er rannte fort
Wir traten vor unserem Quartier an. Unsere Gruppe kam bis auf zwei Mann zu Fabians Kompanie. Dafür bekamen wir einen Kriegsfreiwilligen und Seidel. Der Kriegsfreiwillige war ein feiner Junge, mit dunklem Haar und schwarzen, ängstlichen Augen.
Wir mussten wieder in ein anderes Quartier ziehen. Der Kriegsfreiwillige schien nicht daran zu denken, dass man sich einen Platz zum Schlafen suchen müsste, und war sehr erstaunt, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Er hieß Kaiser. Was er von Beruf wäre, war ich zu scheu zu fragen. Aber sicher kam er eben erst von der Schule.
Auf einmal kam der Ziesche herein.
„Wo kommst du denn auf einmal her?" fragte ich.
„Nu, ich war doch die ganze Zeit da. Aber du hattest deine Augen wer weiß wo. Ich kann doch nicht im Glied das Gewehr abschießen, dass du mich bemerkst!"
Ich sah mir seinen Daumen an. Er hatte nur eine kleine Einkerbung auf der Kuppe.
„Wie weit vor uns wird denn gekämpft?" fragte Kaiser.
„Was?"
Ich konnte gar nicht fassen, was er sich vorstellte. Er wurde verlegen.
„Bist du denn blöde geworden?" sagte Ziesche. „Du musst doch wissen, wo ihr in Stellung liegt!"
„Ach so! Etwa drei Kilometer vor uns."
„Da muss man's doch ein Stück vor uns schon schießen hören."
„Ach, Sie denken, da schießt's immerfort? Nein, da gibt's gar nichts zu schießen!" lachte ich. Er sah mich ungläubig an.
„Wirklich! Sie sehen nichts als eine Wiese vor sich, und die ist hell, wenn die Sonne scheint, und grün, wenn's regnet. Man steht da Posten und fegt den Graben und baut den Unterstand aus. Und am Tage kommen vier Granaten, immer um elf Uhr, und immer auf dieselbe Stelle."
Kaiser schien irgendwie erschreckt. Ich hatte eine böse Lust, es weiter zu treiben.
„Quatsch!" sagte Ziesche und zog mich hinaus.
„Was ist denn in dich gefahren?" sagte er. „Du warst doch sonst ein ganz guter Kerl."

 

V.

Leutnant Fabian war allerdings ein anderer Führer als Eger. Er lief überall umher, sah sich die kleinsten Dinge an und war bald wieder gesund und dick wie früher. Er trank gern Wein und Schnaps, aber sonst lebte er mit uns sehr einfach.
In einer Nacht brach eine Wand seines Unterstandes auf ihn herunter. Er kroch aus dem Schutt, zog seine Decke heraus und legte sich, ohne jemand etwas zu sagen, in eine Grabennische, die mit einem Wellblech gegen Regen geschützt, nach dem Graben zu aber weit offen war. Als sein Bursche am Morgen den Kaffee brachte, fand er den Unterstand verschüttet und grub mit den Ordonnanzen nach dem Leutnant
Schließlich fanden sie ihn gemächlich gähnend in seiner Nische.
„Wo sollen wir den neuen Unterstand hinbauen, Herr Leutnant?" fragte die eine Ordonnanz.
„Ich habe doch schon einen", antwortete er faul. Die Geschichte wurde tagelang immer wieder in der Kompanie erzählt. Den Leuten gefiel sie sehr. Aber sie nahmen doch Fabian zu einfach. Er war ein merkwürdiges Gemisch von Trägheit und Betriebsamkeit. Für ihn musste immer etwas los sein. Hinten in Chailly war aber nichts los. Da war er dann schwermütig und betrank sich jeden Abend.
Auch ich liebte die Tage in Ruhe nicht. Die Quartiere waren eng und zugig. Überall lagen Tornister und Stiefel herum. An unserem kleinen Tisch wuschen sie sich und aßen und spielten Karten. Hätte ich etwas lesen wollen, ich hätte mich auf mein Lager am Boden setzen müssen. Ich hatte aber auch nichts zu lesen. Ziesche und Seidel waren stumpfsinnig. Mit Kaiser hatte ich längst nichts mehr zu sprechen. Er wollte Theologe werden. Aber wenn ich ihn darüber etwas fragte, sagte er immer: „Das weiß ich noch nicht."
An Gott dachte ich nicht. Höchstens sagte ich mir: Vielleicht gibt es ihn. Aber was wissen wir davon?
Öfters war Gottesdienst in der Kirche von Chailly. Der Pfarrer predigte immer schwach. Er hatte drei oder vier Fragen, die er immer wieder aufstellte. Ich konnte sie alle nicht recht leiden. Aber bei einer geriet ich immer in Wut. Warum hat Gott den Krieg zugelassen? Einmal hörte ich genau darauf, wie er die Frage lösen würde. Aber auf einmal war es zu Ende, und ich hatte keine Antwort gehört, nur Worte.
Wenn ich aus der Kirche kam, brauchte ich ein paar Stunden, um meine Erbitterung wieder loszuwerden. Seidel gegenüber schimpfte ich rücksichtslos. Er versuchte mich dann zu beruhigen.
„Du glaubst doch selbst an nichts!" schrie ich.
„Das weiß ich nicht."
„Weshalb wird man gezwungen, zuzuhören? Wenn sie weiter nichts zu sagen haben, als dumme Fragen zu stellen!"
Kaiser suchte ich diese Stimmungen zu verbergen, weil der daran hing, und, wie ich fühlte, ehrlich.
Unterdessen ging das Leben sehr alltäglich weiter, mit Stiefelputzen, Schanzen und Postenstehen. Wenn man wenigstens einen Menschen hätte, mit dem man sprechen könnte!

 

VI.

Nach ein paar Frösten war es wieder warm geworden. Die Sonne beschien die eine Kreidewand des Grabens. Ich hatte mich in die Sonne gesetzt und rasierte mich mit Kaffee - denn Wasser hatten wir nicht im Graben.
Ein Stück weiter, an einer Schulterwehr, röstete Seidel über einem kleinen Feuer Brotscheiben, die er auf ein Seitengewehr gespießt hatte. Er tat das immer vor Sonnenuntergang, weil da nie Vorgesetzte kamen, höchstens unser Zugführer, und bei dem war immer das größte Feuer, und daher sagte er nichts.
„Was war denn in deinem Paket?" fragte Seidel.
„Zigarren und eine Wurst."
„Kriege ich auch was?"
Eine Zugordonnanz kam gelaufen. „Alles soll sich fertigmachen! Die Gruppenführer zu Herrn Feldwebel!" „Was gibt's denn?" „Weiß nicht!"
„Vielleicht ist der Krieg alle?" lachte Seidel.
Ich antwortete nicht und trocknete mir das Gesicht ab.
Unser Gruppenführer kam vom Zugführer zurück. Er sah uns nicht an. „Wir sollen diese Nacht die Dreieckschanze nehmen. Mit Einbruch der Dunkelheit werden wir hier durch eine vorgezogene Kompanie abgelöst werden. - Renn, Sie gehen zum Kompanieführerunterstand, Verbandpäckchen zu empfangen!"
Vor den Unterständen rollten sie das Sturmgepäck.
Wo mochte die Dreieckschanze liegen?
Leutnant Fabian stand vor seinem Unterstand und besprach etwas mit seinen Telefonisten.
„Ist drüben auch ein Sanitätsunterstand, Herr Leutnant?" fragte der Sanitätsunteroffizier.
„Das müssen wir dort sehen. - Haben Sie dem Bataillon die Sache mit den Küchen gemeldet, Esche?"
„Jawohl, Herr Leutnant. Das Bataillon will die Küchen in Chailly zurückhalten und ihnen telefonieren, wohin sie vorkommen sollen."
„Sind die Verbandpäckchenempfänger da?" rief der Sanitätsunteroffizier.
„Hier erste Gruppe erster Zug!" rief ich.
„Wie viel Mann seid ihr?"
„Neun Mann, Herr Unteroffizier!"
„Hier nimm die eisernen Rationen für euren Zug mit!" fuhr Esche dazwischen.
„Ich habe doch nichts zum Tragen mit."
„Es war euch aber gesagt worden, ihr solltet Zeltbahnen mitbringen!'
Sie drängten und schrieen durcheinander und um mich herum.
Ich ging zurück. Die Dämmerung schlich in die Grabenwinkel. Eine Ratte huschte oben die Schuttaufwürfe entlang.
Nach einer Stunde kam die Kompanie von hinten und besetzte unsere Stellung. Wir rückten nach rechts ab. Wir schoben uns, einer hinter dem andern, im Graben entlang. An einer Stelle blinkte aus einem Unterstand links ein rötliches Licht. Dann war es schwarz, kaum mehr die Grabenränder gegen den Himmel zu sehen.
Dann stiegen wir nach vorn aus dem Graben. Es ging über einen Acker mit Rüben, auf denen man mit den Zwecken an den Stiefeln rutschte. Es stank auf einmal. Links lagen zwei tote Ochsen, die übergroß aussahen. Vielleicht waren sie sehr aufgetrieben.
Ein Gewehrschuss aus unserer rechten Flanke, gar nicht weit, der seltsam lang hinhallte.
Wir schwenkten nach links und zogen uns dann in großem Bogen nach rechts. Auf einmal hörte ich Stimmen, aber wie aus der Erde herauf. Ich sah scharf hin und gewahrte rechts etwas Weißes, Breites. Das war ein Kreidesteinbruch, in den wir hinabbogen.
Man lief hin und her. Elektrische Lampen blitzten auf.
„Wo soll das Schanzzeug hingelegt werden?"
„Wo ist der Sanitätsunterstand?"
„Seid doch still! Wir sind nur zweihundert Meter von den Franzosen! Macht eure Taschenlampen aus!" flüsterte einer.
Unser Zugführer kam dicht zu mir heran. Was will der? „Sie sollen zu Herrn Leutnant kommen. Er ist dort oben." Er deutete nach dem Steinbruchsrand.
Ich drängte mich durch die Leute. Hier war eine Bude an die Felswand gebaut. Daneben führten Stufen zu einem schmalen Absatz, auf dem mehrere Offiziere standen.
„Gefreiter Renn zur Stelle!" meldete ich leise.
„Sie sind heute meine dritte Ordonnanz. Gehen Sie zu den Zügen! Sie sollen sich dicht hier an diese Wand legen!"
Im Steinbruch war es stiller geworden.
Als ich wieder zu Fabian kam, stand der Major, unser Bataillonskommandeur, neben ihm und gab leise Anweisungen:
„... Und wenn die Sturmzüge der drei andern Kompanien die Schanze genommen haben, ziehe ich Ihre Kompanie vor. Es muss dann sofort eine neue Feuerlinie gegen die Franzosen eingerichtet werden. Dazu liegen hier im Steinbruch Stahlblenden. Dann muss auch die Schanze mit unserem Grabensystem verbunden werden."
Er flüsterte das alles im harten Ton kühler Überlegung. Ich hatte so noch nicht befehlen hören. Aber so ist es richtig.
Vor uns war nichts zu sehen als eine leicht ansteigende Wiese.
„Jetzt ist es Zeit", flüsterte der Major. Mich überrieselte es.
Links hörte ich leises Klirren von Schanzzeug. Da gingen sie vor.
Weit hinten: Wamm! Ein Abschuss. Das Geschoß kam langsam am Himmel herauf.
Pamm Pamm Pamm Pamm! rasend schnell dicht über uns weg und schlug Ramm worr Ramm Ramm! vorn ein.
Die schwere Granate wölbte slslsl herunter, immer schärfer. Pra-ramm! schlug sie ein.
Hinten dumpfe Abschüsse. Es bumste, heulte und zischte ganz wild von den verschiedensten Stellen und schütterte vorn unregelmäßig in den Boden.
Keine Abschüsse mehr. Was kam jetzt?
Die letzten Granaten schlugen ein.
„Schlecht gemacht von der Artillerie!" knurrte der Major. „Sie sollte ohne Pause weiter hinter schießen."
Vorn ein Gewehrschuss, zwei, drei. Dann prasselte es und pfiff. Ich duckte mich. Aber der Major stand unbeweglich. Ich richtete mich auf.
Die Kugeln zischten um uns. Sehr vereinzelte Granaten kamen. Ich starrte in die Dunkelheit.
Wenn der erste Sturm misslang, kamen wir dann dran?
Von vorn kamen welche gerannt. „Hilfe, Sanitäter!"
„Wie steht's vorn?" fragte der Major kalt.
„Ach, die lagen da! Das Schanzzeug klapperte. Da gingen drüben ein paar Schüsse los, und sie schmissen sich hin und schossen wieder!"
Der Major bewegte wie kauend den Mund. Es pfiff und knallte. „Ich muss ein paar Leute haben, die vorgehen!"
Von vorn kamen wieder welche. „Sanitäter!"
Fabian rief in den Steinbruch: „Wer will freiwillig eine Patrouille machen?"
„Hier!" schrie es aufgeregt. Das war Kaiser. Er kam die Stufen heraufgerannt mit einem andern Kriegsfreiwilligen.
Eine frische Stimme rief von links: „Sanitäter!"
„Hierher!" riefen einige aus dem Steinbruch.
„Kommt vor mit Tragen!" rief es.
„Von welcher Kompanie sind Sie?" fragte der Major.
Der Mann kam dicht heran und stand auf einmal stramm. Er war klein und schon älter. „Vierte, Herr Major!"
„Wie steht's bei Ihnen?"
„Starke Verluste! Wir sind nicht herangekommen!" Es knatterte von Schüssen.
„Gut, gehen Sie! - Die Kriegsfreiwilligen! Sie gehen vor, in dieser Richtung! Ich möchte wissen, was die zweite Kompanie erreicht hat!"
Sie kletterten hinaus und rannten in die Dunkelheit. Mir war sehr bange um sie.
„Herr Major!" rief es aus dem Steinbruch. „Herr Oberst möchte Meldung haben, ob der Sturm gelungen ist."
„Wozu immer das Fragen! Ich werde melden, wenn es Zeit ist!"
Es war etwas heller geworden. Aber man sah noch nichts Genaueres. Das Gewehrknattern der Schüsse hielt an. Ich wunderte mich: es störte mich nicht mehr.
Von vorn kamen zwei gerannt und stellten sich vor den Major oben hin. „Wir haben die zweite Kompanie nicht getroffen, Herr Major!" meldete Kaiser ganz außer Atem.
„Kommen Sie hier herunter! Es ist unvernünftig, sich nutzlos dem Feuer auszusetzen!"
Sie kletterten unbeholfen auf den Absatz. Da baute sich Kaiser wieder auf. „Die erste Kompanie hat zuerst Feuer bekommen. Herr Leutnant Albert soll tot sein."
Von rechts kam einer. „Meldung der zweiten Kompanie: Die Kompanie lief ins Feuer der vierten hinein und hat sich auf ihren Ausgangspunkt zurückgezogen."
„Die Kompanie soll dort weitere Befehle abwarten! - Der Sturm ist misslungen!" wandte er sich bitter an Fabian. „Wenn der Brigadekommandeur noch einen Angriff wünscht, mag er ein anderes Bataillon nehmen! - Wenn wir lauter solche Leute hätten wie diese Kriegsfreiwilligen, dann wären wir jetzt in der Schanze!"
Am Boden lagen Spaten, blutige Röcke, Fetzen von Hemden, Brotbeutel, Gewehre.
Das Schießen hatte aufgehört. Wir rückten nach unserer Stellung zurück. Kaiser hielt sich dicht zu mir, sagte aber kein Wort.
Langsam kam die Dämmerung. Kaiser sah blass und schmutzig aus. Aber seine Augen waren sonderbar hell.

 

VII.

Die Kompanie war auf der Straße in Chailly angetreten.
„Stillgestanden!" kommandierte der Feldwebel.
Fabian kam und stellte sich vor die Front. Er hatte ein Papier in der Hand.
„Im Namen Seiner Majestät des Kaisers hat der Kommandierende General das Eiserne Kreuz zweiter Klasse folgenden verliehen: Vizefeldwebel Heller, Gefreiten Renn, Ziesche, Marx, Seidel. - Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück dazu! - Rührt euch!"
Er kam zu mir, machte ein kleines blaues Paket auf und zog mir das schwarzweiße Band mit dem Kreuz daran ins zweite Knopfloch. „Sie müssen's noch mit einer Nadel feststecken. - Freuen Sie sich?" Er gab mir die Hand.
Ich wurde verlegen, weil alle nach mir sahen.
Das Kreuz trug ich den ganzen Tag lang. Die Sonne schien auf die verschlammte Straße. Jeder, der mir begegnete, schien mich anzusehen. Ich kam nicht aus dem Gefühl heraus, rot zu werden.
Offen wagte ich nicht, mir das Kreuz genauer anzusehen. Deshalb ging ich am Nachmittag aus dem Ort hinaus. Der blitzende silberne Rand gefiel mir sehr. Gern hätte ich einen Spiegel dagehabt.
Am Abend verpackte ich das Kreuz, dass es nicht blind würde, und lieft nur das Band in meinem Knopfloch.

 

VIII.

Ich schlenderte als Gefreiter vom Grabendienst zwischen den hartgefrorenen Kreidewänden. Auf seinem Auftritt stampfte ein Alarmposten mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Ein Stück weiter schwenkte einer vor einem Unterstand ein Kochgeschirr, durch dessen hineingestoßene Löcher glühende Holzkohle sah. Dann ging er hinein und hängte den Wärmebehälter an die Decke. Drin frühstückten sie.
Ich bog in den Latrinengang. Ziesche saß vornübergebeugt auf der Stange und las die Zeitung.
„Du", sagte er, „wir bauen 'nen Turm." Er deutete in die Grube. „Du musst auch helfen. Aber gut zielen, dass es richtig drauf fällt und oben anfriert. Die zweite Gruppe hat schon einen höheren Turm als wir. Wir werden uns doch nicht lumpen lassen!"
Ich ging wieder in den Hauptgang und dann den nächsten Graben vor nach der vorderen Stellung, die neu angelegt war und daher ordentlicher aussah. Dort standen nur wenige Posten.
Ein Papier lag am Boden. Ich hob es auf und warf es aus dem Graben.
Seidel stand auf einem Auftritt, das Gewehr neben sich, und sah aufmerksam auf das Armauflagebrett vor sich. In der rechten Hand hatte er einen Strohhalm und berührte damit ab und zu etwas, das auf dem Brett sein musste. Ich näherte mich ihm langsam.
„Was machst du eigentlich da?"
Er fuhr zusammen. Dann lachte er. „Komm mal rauf!" Neben ihm lag seine Uhr.
„Ich habe da 'ne dicke Laus gefangen und will sehen, wie weit die in zehn Minuten kommt. Aber das Luder will nicht geradeaus laufen. Da muss ich sie immer wieder in die alte Richtung bringen."
An der nächsten Grabengabel war einer beschäftigt, ein Holzschild anzubringen mit der Aufschrift:
RECHTE GRENZE R2b S-rams! eine Granate.
Ich stieg auf einen Auftritt. Links verflog eine braune Wolke. Es musste bei unserem zweiten Zug gewesen sein.
Ich ging hinter nach der Hauptstellung. Dort kam der Sanitätsunteroffizier gerannt, hinter ihm zwei Krankenträger.
„Was gibt's?"
„Einer beim zweiten Zug ist verwundet."
Ich sah ihnen nach. Wie schnell die zur Hand waren!
Unser Oberst kam den Graben entlang, hinter ihm der Bataillonskommandeur, Leutnant Fabian und der Bataillonsadjutant.
Ich meldete mich: „Als Gefreiter vom Grabendienst, erster Zug, dritte Kompanie!" „Haben Sie keine Signalpfeife?" Ich zog sie aus der Manteltasche.
„Die Diensthabenden sollen die Pfeife offen herunterhängend tragen!" sagte der Oberst zu Fabian.
Der legte die Hand an die Mütze. „Zu Befehl, Herr Oberst!"
„Ich vermisse die Grabenbezeichnung in Ihrem Abschnitt!" sagte der Oberst. „Wo geht zum Beispiel dieser Gang hin?"
„Zur Latrine des ersten Zugs, Herr Oberst!" „Haben Sie dort Chlorkalk zum Desinfizieren?" Fabian sah mich fragend an. Ich nickte mit den Augenlidern.
„Jawohl, Herr Oberst", sagte Fabian und lächelte heimlich etwas.

 

IX.

Der Winter verging. Ich machte ein paar Patrouillen und brachte Stücke des französischen Drahtverhaus als Beute zurück. Ein paar Mal gab es Schießereien. Ich verwaltete jetzt die kleine Kompaniebücherei. Im übrigen fühlte ich mich leer und betrank mich oft.
Ziesche und Seidel spielten Karten. Ich konnte es auch, hatte aber gar kein Verständnis dafür, wie man das Spiel ernst nehmen könnte. Deshalb wollte auch niemand mit mir spielen, was mich übrigens nicht kränkte.
Kaiser zog sich auch immer mehr von den anderen zurück. Er litt unter den Nichtigkeiten des Schützengrabenkrieges. Ich verstand sehr wohl, dass er mit Begeisterung ins Feld gegangen und dass es für ihn eine qualvolle Anstrengung war, sich die Begeisterung zu erhalten, wenn er mit seinen schwachen Armen Eisenbahnschienen zum Unterstandbau tragen und nun schon Monate hindurch an einer Stelle Posten stehen musste, wo er nicht einmal die französischen Gräben sah. Aber ich konnte ihm nicht helfen. Wenn ich einmal kriegsbegeistert gewesen war, wie nach dem Übergang über die Maas, war meine Begeisterung schnell abgestanden, und ich hatte mich nach anderen Gefühlen gesehnt.
Eines Tages wurden wir gegen Typhus geimpft Wir bekamen eine Flüssigkeit unter die Haut gespritzt. Die Krankenträger hatten uns gesagt, dass wir gegen Abend Fieber bekommen würden. Mir wurde sehr unwohl. In der Nacht wurde ich von allerhand unheimlichen Vorstellungen gejagt, die ich nicht recht sehen konnte.
Ich wachte auf. Es war Tag. Das Stroh knisterte. Einer stöhnte.
„Du", sagte Seidel, „ich habe solchen Durst."
Ich stand auf. Die Stelle, wo ich gestern die Spritze bekommen hatte, schmerzte etwas. Sonst fühlte ich mich ziemlich frei.
Seidel lag da und sah um die Augen verquollen und alt aus. Ich fühlte seine Stirn. Sie war heiß. Er hatte große Angst. Das sah ich seinen Augen an, die mich immer suchten.
An diesem Tag war es in unserer Kompanie wie in einem Lazarett. Aber am nächsten Morgen waren wir auf einmal alle vergnügt. Die Sonne schien draußen. Blumen blühten. Seidel erzählte mir lachend, er hätte gedacht, er stürbe.
Eines Nachmittags saß ich bei offenem Fenster in meiner Bücherstube. Draußen hörte ich ein paar Worte, die ich nicht verstand, aber von einem Klang, dass ich aufmerksam wurde.
Ich sah Kahle, einen älteren verheirateten Mann unserer Kompanie, in Bettlerhaltung vor dem Pfarrer, der mit der Gartenschaufel in der Hand vor ihm ausriss. Was war denn da geschehen?
Kahle kam langsam nach der Haustür geschlichen.
Es klopfte.
„Herein!"
Er kam gebückt durch die Tür - er war sehr lang und hager - und kam mit einem alten Lächeln zu mir herüber und fasste mich um den Hals.
Ich schob seinen Arm zurück. „Willst du ein Buch haben?"
„Nein", er lächelte mich verliebt an, „dich!" Dazu drückte er seinen Bauch vor.
„Entweder such dir ein Buch aus oder geh 'naus!"
Seine krummen Knie zitterten.
„Geh hinaus und überleg dir draußen, was du willst!" Er blieb unschlüssig stehen.
Ich nahm meine Bücherliste, als hätte ich da etwas aufzuschreiben. Er ging gebeugt zur Tür. Dort blieb er stehen und sah mich sehnsüchtig an.
Ich blätterte.
Er kam wieder heran.
„Was willst du noch?"
„Du ...", lächelte er mutlos.
„Geh!" sagte ich hart.
Er schlich hinaus. Ich hörte, dass er vor der Tür stehen blieb. Dann ging er langsam fort.
Die Tür wurde aufgerissen, und Seidel kam herein. „Du, hast du schon gehört, der Kahle hat den Feldwebel Lau überfallen?"
„Wann? Und wie denn überfallen?"
„Heute früh. Der Feldwebel saß und schrieb. Auf einmal packt ihn einer von hinten und will ihn küssen."
„Und was hat der Feldwebel gemacht?"
„Nu, wie der ist: er ist aufgesprungen und hat gelacht. -Er hat's Fabian gemeldet, dass sie Kahle fortbringen, ich glaube, in ein Nervenkrankenlazarett."
Ich sah durchs Fenster den Pfarrer aus dem Garten kommen, zaghaft, ob der Feind noch da wäre.

 

X.

Anfang Juni wurde unser Bataillon aus der Front gezogen, und wir marschierten etwa dreißig Kilometer hinter in die Etappe, um wieder gerade zu werden. Wir hatten uns alle das Krummgehen angewöhnt, durch das dauernde Bücken in den niedrigen Unterständen und im Graben, wo hier ein Balken darüberlag, dort Telefondrähte hingen.
Das ungewohnte Marschieren in der Hitze mit vollem Gepäck strengte uns sehr an. Man war durch das Nachtleben und Wohnen in dunklen und feuchten Unterständen wie ausgenommen.
Wir kamen in ein Dorf, das sich mit einer steilen, breiten Straße aus einem grünen Tal hinaufzog. Oben quer vor lag ein größeres, graues Haus, das Schloss.
Unsere Gruppe kam rechts in ein breites, niedriges Haus, zu dessen Tür ein paar Stufen hinaufführten. Drin kam uns ein alter Herr mit sorgsam gescheiteltem weißem Haar entgegen und lud uns mit einer Handbewegung ein, hinter in den Hof zu kommen, der mit breiten Steinen bepflastert war. Links an der Mauer stand eine lange Bank mit einem Tisch und Stühlen. Er deutete darauf und führte uns weiter in einen geräumigen Pferdestall mit eisernen Raufen und Krippen und Schlagbäumen zwischen den Ständen. Rechts war eine Box. Da sollten wir schlafen.
„Wenn Kahle hier wäre", sagte Seidel, „dann müsste er dahinein, damit er uns nicht nachts überfallen könnte."
Wir saßen an dem Tisch zu Abend. Im hinteren Teil des Hofs war ein Garten mit Trauerweiden, Sträuchern und Blumen und einer großen Laube.
Wir erfuhren, dass der alte Herr der Vater des Schlossbesitzers war und dass er in seinen jungen Jahren Rennen geritten hatte. Von der Straße sah das Haus aus wie die Bauernhäuser auch.
In den nächsten Tagen exerzierten wir und machten Gefechtsübungen. Ich fühlte mich gesund. Der Leutnant lachte schon am frühen Morgen, wenn er zum Dienst kam. Auch die Zug- und Gruppenführer waren vergnügt, und die Heiterkeit teilte sich der ganzen Kompanie mit. Dabei wurde stramm exerziert, und bei den Gefechtsübungen waren alle bei der Sache, vielleicht weil Fabian selbst dabei Gefechtsformen ausprobierte und dann die Vorzüge und Nachteile eines Angriffsverfahrens vor allen besprach.
An einem klaren, warmen Abend ging ich mit Seidel spazieren. Im Unterdorf trafen wir den Vizefeldwebel Lauenstein und zwei Unteroffiziere. Wir gingen mit ihnen im Grund an kleinen, eingezäunten Gärten entlang. Die Sonne ging unter. Dann wurden die Weiden und Pappeln und alle Dinge durchsichtig.
Lauenstein redete ununterbrochen. Ich hörte nur halb zu.
„Dort", unterbrach ihn der eine Unteroffizier, „liegt ein Haus, da sind zwei hübsche Mädchen drin. Der Ortskommandant hat die Fenster vergittern lassen, damit niemand zu ihnen geht."
„Die muss ich sehen!" rief Lauenstein.
Das Haus war niedrig und sah düster aus. Wir gingen durch den Garten, in dem wenige ungepflegte Blumen standen, und klopften.
Niemand regte sich. Unterdessen ging Seidel um das Haus. Lauenstein klopfte wieder.
„Hierher!" rief Seidel leise um die Ecke.
An der Rückwand des Hauses war ein Fenster hinter dem Maschendraht offen. Der eine Unteroffizier riss den Draht an einer Ecke ab, und wir krochen einer hinter dem andern hinein.
Eine Tür öffnete sich links. Mit einem Licht kam ein alter Mann heraus, murmelte etwas und verschwand wieder. Einer machte rechts eine Tür auf. Drinnen brannte auf einer Kommode ein Licht. Rechts standen einander gegenüber zwei Betten, und darin lagen zwei.
„Bonjour", sagte einer. Die beiden sahen uns stumm an. Die Unteroffiziere gingen zu ihnen, gaben ihnen die Hand und setzten sich auf den Bettrand. Wir setzten uns an der
Kommode auf Stühle. Die links begann gelangweilt ein Gespräch. So viel verstand ich, dass sie eigentlich in Nancy wohnten und vom Krieg hier bei Verwandten überrascht worden waren.
Der links hatte sie umfasst und drückte ihr den Busen. Der rechts flüsterte.
„Hier gefällt mir's!" wendete sich Lauenstein an mich. „Da sieht man auch was!"
Da fing ein Kind im Bett rechts an zu schreien. Das musste unter der Bettdecke stecken.
Seidel stand auf und ging nach der Tür. Lauenstein und ich folgten. Wir krochen wieder durch den Draht hinaus.
„Da lernt man doch mal Französisch!" rief Lauenstein. „Hier gehen wir jeden Abend her, den einen Tag ich mit Renn, den nächsten die andern!"
„Und Seidel darf zusehen!" lachte ich.
„Nu, es hat doch nicht jeder immer Lust. Da geht er eben dann."
Seidel ging stumm vor uns her. An den ersten Häusern des Orts verabschiedete sich Lauenstein.
Kaum war er in seinem Haus verschwunden, da platzte Seidel los: „So ein Schwein! Ich werde mir doch nicht befehlen lassen, wenn ich zu 'nem Mädel gehen soll! So weit geht die Dienstgewalt nicht!" Er schimpfte immer weiter.
Ich lachte und konnte mich nicht halten. Das machte Seidel noch wütender, und seine Wut machte mich immer mehr lachen. Schließlich waren wir beide erschöpft.
In unserem Hause spielte jemand Klavier. Die Landwehrleute saßen am Tisch auf dem gepflasterten Hof.
Wir setzten uns. Der Mond kam über ein Dach und versilberte die Blätter der Trauerweiden. Die Landwehrleute sahen träumerisch hinüber. Ich betrachtete sie der Reihe nach. Der eine hatte einen Hängebart unter Falten, die von der Nase herabhingen. Der andere hatte ein rotes, rundes Gesicht mit kleinen, wässrigen Augen. Die konnten wehmütig sein, und sonst sprachen sie nur vom Essen!
Akkorde kamen aus dem Zimmer und vertönten in den fernen Himmel, der doch viel grenzenloser war als diese Musik.
Ich sah den Mond und die Blätter der Weiden und die Blumen, deren Farben bleich ausgelöscht waren. Die Natur ist nicht gefühlvoll, auch nicht, wenn man gefühlvoll ist. Sie ist ganz kalt und hart, und das ist so schön an ihr. Das ist auch schön an den Leuten da, dass sie bei ihrer Wehmut so hässlich sind.
Die Zeit der Etappe ging ihrem Ende entgegen.
Wir standen auf einer Wiesenhöhe bereit zur Besichtigung. Auf der Straße kamen Offiziere geritten. Das Auto des Kommandierenden kam angesurrt. Er stieg aus und aufs Pferd.
Zuerst sollte die Kompanie des Leutnants Eger besichtigt werden. Er saß auf einem dicken Apfelschimmel und versuchte, ihn vor die Mitte seiner Kompanie zu bringen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wir wussten, er konnte nicht reiten.
Unser Bataillonskommandeur gab ihm seinen Gefechtsauftrag. Er sollte in der Richtung halblinks vorgehen und den Gegner, der im Anmarsch gemeldet wäre, aufhalten.
Er setzte seine Kompanie nach halblinks an einem Waldrand entlang in Marsch und ritt selbst rechts davon vor. Auf einmal fiel sein Pferd in Galopp und lief immer schneller quer über die Fläche. Dort war ein kleiner Esel an einen Pfahl gebunden. Der Esel erschrak und lief um den Pfahl herum, der dicke Apfelschimmel mit Leutnant Eger darauf immer hinterdrein.
Die Offiziere auf ihren Pferden lachten, nur unser Major nicht. Der sah völlig starr hinüber. Die Pferdehalter - es waren lauter kleine Husaren - sprangen wie die Teufelchen umher vor Freude. Ein Offizier setzte sich über die Wiese in Galopp, Eger und den Esel von dem Apfelschimmel zu befreien.
Das Gefecht wurde abgebrochen. Bei den übrigen Besichtigungen schien der Kommandierende General zwischen Lachen und Ärger zu stehen. Von unserer Kompanie verlangte er eine Vorinstruktion durch Leutnant Fabian über Schießlehre, worauf wir gar nicht vorbereitet waren. Aber Fabian fragte so geschickt und bekam so flinke Antworten, dass wir alle Mut gewannen.
„Ich habe mich gefreut", sagte der Kommandierende, „so gute Haltung und ein so frisches, gerades Wesen bei der dritten Kompanie gesehen zu haben. Ich spreche vor allem dem Führer meine Anerkennung aus, dass er sich so schnell in eine unerwartete Aufgabe hineinfand."
Wir waren stolz über das Lob und auf unsern Leutnant und verachteten die vierte Kompanie wegen ihres Führers Leutnant Eger.
Am übernächsten Tage marschierten wir wieder vor und gleich in unsere alte Stellung.

 

XI.

Während wir hinten exerziert hatten, waren wieder neue Bücher angekommen. Darunter war eine Geschichte der Philosophie. Ich ärgerte mich, dass sie uns solche Sachen ins Feld schickten, freute mich aber zugleich, weil ich mir immer so etwas gewünscht hatte, und ich las.
Da war von der Zahl die Rede. Aber wie soll man sich nur das vorstellen? Wie kann denn die Zahl der Urstoff sein, aus dem man schließlich Häuser und Gedanken baut?
Ich wühlte in mir und mühte mich. Ich ergriff auch einen Sinn an manchen philosophischen Sätzen. Aber es war nicht der richtige, den ich suchte.
Ich las rauchend und brütend.
Daneben schrieb ich. Schon zum dritten Mal beschrieb ich das Gefecht von Lugny. Wenn ich vom Schreiben aufstand, fror ich und war steif, aber dann war auch eine Heiterkeit in mir, die alles hell machte, was ich sah. Dagegen sah ich, wenn ich von der Philosophie aufstand, alles grau und grämlich.
An den Schriftstellern fiel mir auf, wie willkürlich sie die Worte setzten, obwohl es doch eine ganz klare Notwendigkeit gab, wie man die Worte setzen muss, dass nämlich die Worte immer in der Reihenfolge stehen, wie sie der Leser erleben soll, zum Beispiel nicht: eine grüne, über mehrere Kuppen ansteigende Wiese; denn zuerst muss man doch wissen, dass es eine Wiese ist, und daher muss das Wort vorn im Satze stehen. Um mir über das Wichtige klar zu werden, stellte ich mir stets das ganze Bild mit allen Einzelheiten vor, mit Beleuchtung, jedem Geräusch und jeder seelischen Regung. Dann schrieb ich erst und ließ alles weg, was nicht unbedingt notwendig war. Aber dieses Schema nützte für die Darstellung der wichtigsten Dinge gar nichts. Dafür fehlten mir stets die Worte. Ich versuchte, ungewöhnliche Worte zu gebrauchen. Es nützte nichts. Das beschäftigte mich dann den ganzen Tag. Am Abend, wenn ich auf dem Stroh lag, kam mir dann wohl ein Gedanke. Aber wenn ich ihn am Morgen nüchtern prüfte, warf ich ihn wieder weg. Was fehlte, war immer im Grunde dasselbe, und doch wusste ich nicht, was es war. Gewiss, dachte ich, fehlt es mir nur an irgendeiner Erkenntnis. Und ich suchte weiter in der Philosophiegeschichte. Nach zwei Monaten hatte ich das Buch durchgequetscht und stand eines Nachmittags von der letzten Seite auf, mit nichts. Jeder Philosoph sagt etwas anderes, und darunter die neuesten recht gleichgültige Dinge. Eine Weltanschauung gibt es eben nicht, weil es viele gibt und alle weder falsch noch wahr sind. Ich gab die Hoffnung auf, weiterzukommen.

 

XII.

Ich war zehn Tage nach der Heimat beurlaubt. Der Feldwebel händigte mir den Urlaubsschein aus. Ich packte meine Schilderung des Vormarsches in einen großen Bogen Papier, um sie meiner Mutter zur Aufbewahrung zu geben. Bis zur Marneschlacht hatte ich geschrieben. Das Weitere schien mir zur Darstellung nicht geeignet zu sein.
Am nächsten Morgen, unausgeschlafen, marschierte ich die baumlose Straße im Dunkeln nach dem kleinen Bahnhof.
Der Zug fuhr ab.
Langsam kam das Tageslicht.
Merkwürdig, dass ich so genau jetzt mit allem fertig geworden bin, mit dem Vormarsch und mit der Geschichte der Philosophie. Ich stand nun frei für alles, aber wofür? Was gibt es denn noch?
Meine Mutter kam mir aus dem Haus entgegengelaufen, umarmte und küsste mich. Wenn sie wüsste, wie es in mir aussieht, dass ich an nichts mehr glaube, sie würde mich nicht küssen!
Ich sagte nichts, küsste sie auch nicht wieder, sondern ging verlegen mit ihr ins Haus.
Meine Schwägerin stand in der Stube und gab mir die Hand. Sie sah sofort das Band des Eisernen Kreuzes in meinem Knopfloch. „Junge, wir haben Kaffee da. Du willst doch welchen?"
„Ich möchte mich erst mal waschen."
Sie führte mich in eine der beiden Stuben oben, die sonst immer verschlossen waren. Da war für mich ein Bett gemacht Es roch etwas unbewohnt. Die Möbel waren gut gehalten, aber leblos vom wenigen Gebrauch.
„Mach dir's hier bequem! Wenn du runterkommst, ist alles fertig."
Sie ging hinaus. Ich zog mir den Rock aus. Jetzt wohnte ich im Ehrenzimmer. Ich galt etwas in der Familie.
Auf dem Tisch mit der Plüschdecke lag ein Photographiealbum. Ich schlug es auf. Da war mein Großvater, dick und mit einem stolzen Gesicht voller Falten. Und dort mein Vater als ganz junger Mann. Er saß nachlässig auf einem Stuhl, und mit so treuherzigen Augen! Es musste damals etwas an ihm gewesen sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hat er auch hochfahrende Gedanken gehabt wie ich und hat es eines Tages gefunden, dass wir nicht weiterkommen können!
Als ich hinunterkam, waren die Kinder da, drei Mädchen und ein Junge. Meine älteste Nichte war schon fünfzehn Jahre alt und tat zugleich nah verwandt und unnahbar. Die kleineren waren einfacher und sahen mich immerfort an.
„Nu, erzähl mal!" sagte meine Mutter.
Was erzählen? Ich hatte ein Grauen davor. Aber dann kam ich doch ins Reden, und so, dass ich gar nicht wieder aufhörte.
In den nächsten Tagen ging ich überall umher, zu den Bienenkörben und auf den Berg.
Von den Kindern fasste nur der kleine Junge wirkliches Vertrauen zu mir. Er wollte immer mit mir gehen, und ich nahm ihn gern mit. Er ging dann schweigend und ernsthaft neben mir her. Sonst war ich unruhig und half im Haus und auf dem Felde.

 

XIII.

Wir kamen in eine Reservestellung und dann wieder vor. Die Franzosen schienen Munition zu sparen und schossen kaum mehr die täglichen Störungsgranaten.
Die Gräben wurden aufgeräumt und neue Unterstände gebaut. Wir trieben neben unserm Unterstand einen Schacht in die Kreide und steiften ihn mit Minierrahmen ab. Es wurden große unterirdische Tunnelanlagen begonnen, damit uns eine Beschießung nichts mehr anhaben könnte. Da arbeitete man tagsüber bei Grubenlampen unten und schüttete nachts die Miniersäcke voll Kreide hinter den Gräben aus.
Wir kamen nicht wieder nach Chailly in Ruhe, sondern in ein Waldlager, wo zeltförmige Baracken von den Pionieren gebaut wurden. Dort gefiel es mir anfangs ganz gut. Aber dann nahmen die Läuse in den Baracken so überhand, dass man sich vor ihnen nicht mehr zu retten wusste. Wir bekamen damals kein Stroh mehr für die Lagerstätten, weil ja in Deutschland alles auszugehen begann, sondern Papierstöße. Darauf lag man sehr hart, und die Läuse saßen in dem mürben Papier.
Vor allem hatten wir kein Wasser im Lager und mussten es eine halbe Stunde weit von einem einsamen Gehöft herübertragen. Der Brunnen, den die Pioniere bauten, war schon zwanzig Meter tief und gab noch kein Wasser.
Eines Morgens ließ mich Fabian rufen.
„Es tut mir leid", sagte er, als ich mich meldete, „dass ich Sie abkommandieren muss, aber ich habe keinen andern geeigneten Gefreiten. Sie müssen hinter nach Fromentin in die Regimentswerkstätten als Tischler."
Ich stand starr. Ich sollte von meiner Gruppe fort?
„Es wird Ihnen schwer?" sagte Fabian. „Würden Sie es denn vorziehen, hier vorn in der Gefahr zu bleiben, anstatt hinten in Sicherheit zu sein?"
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Ihnen geht es nur wie mir", sagte er traurig. „Man reißt mich von meiner Kompanie weg, die ich seit zwei Jahren hier im Felde führe. Ich kenne jeden und jeder kennt mich. Und nur weil ein Älterer da ist, der mal eine Kompanie führen möchte. Ich bin hinter in die Etappe zum Rekrutendepot verschickt."
„Wenn Herr Leutnant nicht da sind, will ich auch nicht dableiben!" platzte ich heraus.
Er lächelte mich düster an und gab mir die Hand. „Leben Sie wohl!" Er wandte sich ab und ging hinaus.
Ich packte meinen Tornister. Den Seidel konnte ich kaum ansehen, so bitter war ich.
Draußen war es neblig und frostig. Krähen saßen auf den Wiesen und flogen vor mir auf.
Ich meldete mich in Fromentin bei einem Feldwebelleutnant, der mir einen Platz in einer freundlichen Stube bei fünf meist älteren Handwerkern anwies.
Die Werkstatt lag gegenüber. Ich hatte Munitionskästen, Armauflagebretter und Grabenschilder anzufertigen.
Wenn ich zurückdenke, ist mir diese Zeit wie eine Wiese im Winter. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht. Ziesche kam bald nach mir in die Schmiede. Er sah jetzt verrußt aus. Seine Zähne und Augen standen weiß im Gesicht und die Lippen tiefrot. Aber weiter weiß ich von ihm aus dieser Zeit nichts.
Ein neuer Frühling kam. Kaiser war bei irgendeinem Patrouillenunternehmen gefallen. Begann ich denn innerlich zu sterben und fest zu werden in Gewohnheiten und Meinungen und ablehnend gegen alles, was ich nicht verstand?



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