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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Die Schlacht an der Maas

Unsere Kompanie kam über die Höhe, voraus zu Pferd der Hauptmann.
„Guten Morgen!" rief er. „Heute gibt's das Eiserne Kreuz oder den Heldentod!"
Wir setzten uns an den Anfang unseres Zuges. Die Perle sah mich an, blass und schmutzig.
„Wie kommt ihr denn schon jetzt hierher?" fragte ich.
„Wir sind in der Nacht alarmiert worden", sagte er nüchtern.
Wir marschierten über ein Rübenfeld. Die Strünke waren regennass und gingen bis an die Knie. Auf den Rüben glitt man aus.
Wir kamen zu dem Dorf und hielten an dem Schuppen, in dem wir in der Nacht gelegen hatten. Die Sonne begann durchzudringen. Über uns war schon blauer Himmel.
Der Hauptmann kam geritten, sprang vom Pferde und gab dem Pferdehalter, der angerannt kam, die Zügel.
„Wir greifen an!" rief er. „Der erste und der zweite Zug gehen vor, der dritte bleibt hier zu meiner Verfügung!"
Wie sollen wir nur über den Fluss kommen? dachte ich.
„Erster Zug schwärmen!" kommandierte Fabian.
Wir gingen vorwärts und auseinander. Ich musste links um den unheimlichen Hof herum. Vorn über dem Nebel kam schon ein Bergrücken des jenseitigen Ufers im Sonnenschein heraus. Rechts knallten ein paar Schüsse. Wir kamen auf eine mäßig fallende Weide mit Drahtzäunen. Rechts hatte Fabian schon den stärker fallenden Hang erreicht. Einzelne Felsblöcke und flaches Geröll ragten aus der Wiese. Wir stiegen über einen Stachelzaun. Vor uns standen einige breite Bäume auf einem Vorsprung. Das war der Rand eines Steinbruchs, in dessen Tiefe ein Haus stand, und rechts und links noch mehrere. Links stand eine Fabrik mit rotem Schornstein an der Straße, vor der ein Streifen Wiese lief. Dann kam der Wasserstreifen der Maas. Drüben im Nebel, von der Morgensonne gefärbt, hob sich das andere Ufer mit Häusern, Gärten, Höhenrücken und einer aufwärts gebogenen Straße mit Bäumen.
Ein paar Gewehrkugeln kamen von drüben gezirpt.
„Der Nebel wird schon dünner", sagte Ziesche.
„Wir teilen uns hier", sagte ich. „Ich gehe mit denen hier rechts, geht ihr links um den Steinbruch."
Ein Blick des Unteroffiziers Zache traf mich. Er ging, wie ich gesagt hatte. Ich wunderte mich darüber. Ich lief mit dem Einjährigen Lamm, Ziesche und der Perle an einem
Gebüschstreifen auf einem schmalen Pfad abwärts. Eine Kugel zirpte hoch über uns weg. Drüben die Franzosen mussten von der Sonne geblendet werden, die gerade hinter uns stand. Der Pfad wurde immer abschüssiger und hörte auf einer steilen Wiese auf. Zwischen dem Steinbruch und dem nächsten Hause rechts kamen wir auf die Straße.
Das andere Ufer lag friedlich im Sonnenschein.
Da! Wir fahren herum. Aus dem Steinbruch platzt und knallt Gewehrfeuer, so rasend - es pfeift dicht um uns. Ich reiße das Gewehr hoch und knalle in den Steinbruch.
„Dort aus dem Haus!" schreit Ziesche.
Das Haus hat zwei Fenster im oberen Stock nach uns heraus. Unsere Schüsse gehen alle in die Hauswand statt in die Fenster. Aber die Fensterscheiben müssten Löcher haben, wenn es von dort heraus schösse!
„Hinter das Haus hier!" schreie ich und renne in den schmalen Gang zwischen Haus und Felsen, an den ein Kaninchenstall angebaut ist. Die andern sind auch da. Das Gewehrgeknalle hört auf. Ich deute hinaus.
„Wir Ochsen! Die haben doch vom andern Ufer geschossen, und wir sind so blöde, denen den Rücken zuzukehren und gegen eine Wand zu schießen, weil dort die Einschläge knallen!"
Sie sahen zu Boden. Ich wusste, dass ich jetzt auf sie rechnen konnte. Aber was nun? Über den Fluss konnten wir nicht. Wo waren die andern vom Zuge?
Das Haus im Steinbruch lag etwas zurück und hatte eine Mauer nach uns zu. Dahinter, etwas rechts, lag ein Haus an der Straße, dahinter die Fabrik mit der roten Esse. Zwischen den beiden Häusern erschien einer auf der Straße und sah sich um. Drei kamen hinterher und standen da. Rasselnd setzte das Feuer ein. Sie warfen sich auf die Straße. Die machen's noch dümmer als wir! Soll ich brüllen? Sie würden's ja nicht hören! Mir zittert es in der Brust. Sie bleiben liegen. Es klatscht und platzt von Schüssen.
„Ich muss da hinüber!" sagte ich.
Die Perle sah mich blass an.
„Wie willst du denn da 'nüber?" fragte Ziesche.
„In den Straßengraben, und darin entlang."
„Der ist zu flach", sagte Ziesche trocken.
„Es muss aber sein!" sagte ich und konnte mich doch nicht entschließen.
Da sprang einer drüben auf und kam die Straße entlanggelaufen. „Hierher!" schrie der Einjährige.
Der andere lief auf der Straße, den linken Unterarm vorm Gesicht, um sich gegen die Schüsse zu decken. Plötzlich lief der Ziesche hinaus.
„Hierher!" schrie er aus vollem Halse und blieb stehen.
Ziesche! wollte ich rufen, aber er zuckte zusammen und kam eilig zurück. Der andere humpelte hinterher. Es war Lehmann.
„Ich hab eins ins Bein", sagte er.
„Setz dich mal auf den Holzklotz", sagte Ziesche und kniete vor ihm hin. „Was ist denn mit den andern?"
„Die liegen dort auf der Straße. Zache ist tot, und der Handow-Emil wollte, dass ich ihn mitnehme, aber er konnte nicht laufen, und die schossen immer aus der Fabrik."
Aus der Fabrik? Ich sah hinüber. Sollte das wieder so eine Täuschung sein? Nein, kaum. Sollten dort Truppen sitzen? Ausgeschlossen! Die hätten ja sonst den Fluss hinter sich und keine Fähre. Also diese verfluchten Belgier! Wenn noch mehr Leute von uns da herunterkommen?! Aber die müssen ja die Toten auf der Straße liegen sehen.
„Renn!"
Ich war bei der plötzlichen Anrede zusammengefahren. „Was wollen wir denn hier tun?" fragte der Einjährige Lamm.
Habe ich mich etwa feige benommen? dachte ich plötzlich. Ich sah dabei die Oberschenkelwunde des Lehmann. Hätten wir dort vorn liegen bleiben müssen und hinüberschießen? Wir waren doch hinter das Haus ausgerissen! Und Lamm musste mich daran erinnern, dass wir uns im Gefecht befanden und ich Pflichten hätte. Aber was hier tun?
„Wir müssen hier ins Haus", sagte ich. „Wir wissen ja gar nicht, was die übrige Kompanie macht. Vielleicht können wir aus einem Fenster nach rechts hinübersehen. - Dein Ohr blutet ja, Ziesche! Soll ich dir's verbinden?"
Er schüttelte grinsend den Kopf. „Das bisschen!" Er wickelte dem Lehmann ein Verbandpäckchen um den entblößten Oberschenkel. Das Hosenbein hing aufgeschlitzt herunter.
Die Perle stand am Kaninchenstall und hatte einen Finger durchs Gitter gesteckt, an dem ein weißes Kaninchen schnupperte.
Ich fuhr auf. Draußen Schritte. Ein Offizier läuft von oben kommend vorbei, hinter ihm etwa dreißig Mann. Wenn sie uns sehen, hier hinter dem Hause versteckt?!
„Wir müssen mit vor!" sagte ich hastig. Ziesche war mit Verbinden fertig.
„Lasst mich nicht hier allein!" sagte Lehmann.
„Jetzt kommt's auf anderes an!"
Der fremde Zug ist schon vor dem Hause im Steinbruch. Wir rennen hinaus. Lehmann humpelt auch mit. Knallen rings! Sie werfen sich auf die Straße. Ein paar wollen umkehren.
„Dorthin!" schreie ich und deute um die Ecke des Steinbruchhauses. Ein Heuwagen steht quer vorm Eingang.
„Dort aus dem Hause schießen sie!" schreit einer. Schon wieder die Belgier! Ich reiße das Gewehr hoch und schieße. Neben mir schießen sie auch. Welche laufen hinter mir nach dem Steinbruchhaus, auch Lehmann. Ich drücke wieder ab. Es knipst. Verflucht! Ich habe keine Patrone mehr im Lauf! Es prasselt.
„Nimm mich mit, Kamerad!" schreit einer. „Fass mich unter die Schulter!"
Ich werfe das Gewehr in die linke Hand und packe ihn um den Leib. Ob es ihm weh tut, ist jetzt gleich! Er ist schwer. Es knallt gegen die Hauswand. Er tritt mit dem linken Fuß auf und sinkt wieder ein. Zwischen Haus und Wagen ist nur ein schmaler Gang. Etwas reißt an meiner Mütze. Der Kopf summt mir. Ich zerre ihn vorwärts. Er stöhnt. Wir sind schon am ersten Fenster vorbei. Er beginnt mir aus dem Arm zu rutschen. Seine Hüfte ist weich. Ich kralle mich in seinen Rock. Der sitzt straff. Ich kann nur eine kleine Falte machen. Jemand stürzt an uns vorbei und um die Ecke, ohne Gewehr.
Jetzt herum! Wir sind hinter dem Haus.
Ich lehnte das Gewehr an die Wand, fasste den Verwundeten mit beiden Armen und setzte ihn gegen die Rückwand des Hauses neben einen, dem das Blut dick aus der Nase lief.
„Dorthin!" hörte ich einen aufgeregt sagen.
Ich wandte mich um. „Seid ihr verrückt? Hier bleiben!"
Es war ein fremder Unteroffizier. Ich erschrak. Aber er sah mich flehend an.
„Wir stellen hier Posten aus!" sagte ich und dachte es untergeben stramm zu tun, aber es kam barsch heraus. „He, Ziesche! Du beobachtest dahinüber! Wenn sich was an einem Fenster zeigt, drauf schießen!"
Der Unteroffizier fasste Mut. „Wir werden auch einen Posten ausstellen."
Ich sah mich um. Die Sonne schien auf den Hof. Etwa zehn Mann standen herum. Ebensoviel lagen am Boden und auf den umherstehenden Wagen und Geräten verwundet. Das war eine Schmiede hier.
Am Boden gerade vor mir lag Sander, der vorhin mit Zache herunterkam, und sah ohne Regung in den Himmel.
Ich kniete bei ihm nieder. „Wo hast du's denn?"
Er richtete seinen Blick auf mich, ganz schwarz. „Im Bauch", und sah wieder starr in die Höhe.
„Kann ich dir helfen?"
Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Ich stand auf. Mein Blick haftete über dem Steinbruch an den Baumkronen, die herübersahen, und da war alles da, was geschehen war. Als ich dort oben war, war ich noch nicht feige! Vorhin. - Feigheit ist es doch nicht! Ach, ist denn das keine Feigheit, wenn man den Kopf verliert vor ein paar Schüssen! Vorhin habe ich in den Steinbruch geknallt, und jetzt wieder gegen das Haus! Obwohl ich wissen musste, dass das wieder nur Einschläge waren! Nicht einmal habe ich in meiner Angst gemerkt, dass ich keine Patrone mehr im Lauf hatte! - Jetzt liegt der fremde Leutnant dort vorn tot. Der ist nicht feige gewesen, der ist ehrlich gefallen. Und liegt dort tot! - Das war mir plötzlich so schrecklich.
Und ich habe meine Leute von dort drüben vorgelockt, und weshalb? Weil ich nicht feige aussehen wollte! Aussehen, aussehen! Als ob ich nicht die Feigheit, die Angst in mir gehabt hätte! - Die Gedanken peitschten in mir. Und ich war doch ausgerissen; denn wir hatten gelernt, dass man nicht zurückgehen darf, auch nicht hinter ein Haus. - Auf einmal gähnte in mir ein Gedanke: Wären wir vorn geblieben, wären wir jetzt tot, und wofür? Ganz nutzlos. Dann hätte ich die Perle und die andern geopfert - Ich musste also schuldig werden, was ich auch tat!
Ich sah, wie die Perle etwas an Lamms Feldflasche untersuchte. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass die Artillerie wohl schon seit einiger Zeit schoss. Es rauschte über das Tal, dröhnte und stampfte breit und hallte ununterbrochen aus dem Steinbruch, ohne Unterscheidung, was von deutscher Seite kam oder den Franzosen.
Ich trat zu den beiden.
„Du", lachte die Perle, „ich habe eine durch den Hosenboden, und dem Lamm hat's die Feldflasche zerlöchert."
Mir fiel ein, dass es vorhin an meiner Mütze gezerrt hatte. Ich nahm sie ab. An der rechten Seite war ein Stück an der Paspel aufgeschlitzt.
Die Perle lachte meine Mütze an und betastete die zerrissene Stelle. „Sieh mal meinen Hosenboden!" sagte er.
Ach, dachte ich, du weißt ja nicht, was hier vor sich geht, du Glücklicher!
„Wo ist der Lehmann?" fragte ich.
„Dort hinter der Karre."
Ich wandte mich von ihnen ab. Man musste doch hier irgend etwas tun! Aber wenn vorn noch Verwundete lagen, vorschicken - dass vielleicht noch wieder welche verwundet würden?
Die Artilleriegeschosse rauschten über uns, barsten und stampften.
Dazwischen peitschten Gewehrschüsse, oder ein Maschinengewehr ratterte. Auf einmal puffte es über uns im Steinbruch und prasselte daraus. Ich duckte mich unwillkürlich. Einer von den fremden Leuten griff sich an den Arm. Sein Ärmel war zerfetzt. Einer machte sich um ihn zu schaffen.
„Das war ein Schrapnell", sagte der fremde Unteroffizier.
„Herr Unteroffizier!" sagte ich. „Sollten wir nicht das Haus hier besetzen? Wir stehen doch ganz nutzlos dahinter."
„Aber wenn welche drinstecken, wie drüben?"
„Aus dem Nachbarhaus hat es nicht geschossen, das waren nur Einschläge."
Er schüttelte den Kopf. »Der Mann dort hat einen Schuss quer durch die Nase, und er hat mir erzählt, dass er den erst bekommen hätte, als er schon zurückrannte."
»Jawohl, Herr Unteroffizier, das kann sein. Vorhin sagte schon einer, dass sie aus der Fabrik beschossen worden wären, gegen die wir hier durch das Nachbarhaus gedeckt sind. - Wenn wir hier das Haus besetzen, können wir wahrscheinlich alles übersehen und auch unsere Verwundeten besser unterbringen."
»Gut", sagte der Unteroffizier.
Ich holte Ziesche, Lamm und die Perle. Ziesche nahm ein Eisen, das am Boden lag, und ging gegen die Tür. Er versuchte sie aufzustemmen.
„Wir müssen erst die Schmiede aufbrechen", sagte er.
Das Schmiedetor wich ein paar kräftigen Tritten. Er holte ein Beil und schlug damit auf das Türschloss los. Mir war beklommen zumut. Ich hielt das Gewehr bereit. Die Leute des Unteroffiziers sahen nur von ferne zu.
Ein neuer Schlag. Die Tür ging auf. Lamm trat rasch ein. Ich schämte mich und ging nach. Wir waren auf einem Gang, der durchs Haus nach der vorderen Tür führte, mit einer schmalen Treppe links. Die erste Tür rechts war verschlossen. Wir gingen zur nächsten und kamen in eine leere Küche. Ziesche machte sich an den Herd.
»Das Haus ist bewohnt. Es ist noch Glut drin."
Im ganzen Erdgeschoß war kein Mensch. Wir stiegen die Treppe hinauf. Ich öffnete die erste Tür.
Eine Frau lag in einem breiten Bett und sah mich mit alten, leeren Augen an. Eine andere saß daneben und starrte mich an.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Mutter", sagte ich. Die neben dem Bett - sie war wohl erst zwanzig Jahre -begann schrecklich schnell mit Ausrufen zu plappern. „Können Sie nicht Französisch?" fragte ich Lamm. Er brachte stockend irgend etwas heraus. Sie antwortete und hob flehend ihre Hände. „Was sagt sie denn?"
„Die alte Frau läge im Sterben, und wir sollten sie in ihrer letzten Stunde in Frieden lassen."
„Sagen Sie ihr doch, dass wir nur ein Fenster nebenan besetzen müssen."
Aus dem Eckzimmer war nach links nur eine Ecke der Fabrik zu sehen.
Die Perle sah nach vorn hinaus. „Dort brennt's!"
Drüben schienen mehrere Häuser in Brand geschossen worden zu sein. Rechts verdeckte der Steinbruch die Aussicht nach der übrigen Kompanie. Ich ließ meine Leute oben und ging wieder hinunter. Im Herde machte einer Feuer, um Kaffee zu kochen. Andere trugen die Verwundeten herein. Auf dem Hofe lehnte noch Lehmann sehr blass an der Wand. Sander lag noch so da, den Blick nach oben. Neben ihm hatte sich eine Lache Blut gebildet. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Die musste ihn blenden.
Ich ging, die andern herunterzuholen, um unsere Verwundeten besser zu legen. Als ich wieder auf den Hof kam, sah ich jemand die Straße entlangrennen.
„Hierher!" schrie ich.
„Renn!" rief er vergnügt und kam auf den Hof gelaufen. Es war Eckold, die Ordonnanz des Leutnants. »Herr Leutnant fragt, wie's hier steht. Dort liegen doch welche auf der Straße. Wer ist denn das?"
Ich erzählte es ihm.
„Du", sagte er, „bei uns ist's auch nicht zum besten gegangen. Unser Hauptmann ist aus einem Hause hinterrücks erschossen worden. Ich kann dir sagen, die Wut, die wir hatten! Und dabei kamen wir erst an das Haus nicht ran, weil sie so schossen, und wir lagen unten. Aber dann haben sie's von oben her erstürmt und die Leute an die Wand gestellt und erschossen."
»Sage mal, hat's denn gar nicht geschossen, während du hier herüberliefst?"
„Doch, ein paar vereinzelte Schüsse. Aber viel schießen die von drüben nicht mehr, so wie unsere Artillerie 'neingefunkt hat!"
Er lief wieder davon. Wir fassten den Sander ganz vorsichtig an und trugen ihn in die Schmiede. Er gab keinen Ton von sich. Den Lehmann setzten wir zu ihm.
Unterdessen war das Artilleriefeuer noch stärker geworden und dröhnte im Tal ununterbrochen.
Als wir wieder die Treppe hinaufstiegen, plötzlich ein Krach und Prasseln irgendwo oben. Die jüngere Frau kam aus der Tür gestürzt und schrie irgend etwas. Wir liefen in unser Eckzimmer. Die Decke hing zerrissen mit Binsen und Kalk herunter. Eine Fensterscheibe war zerbrochen, und auf dem Tisch lagen Kalkstückchen und weißer Staub.
Lamm kam. „Drüben bei den Frauen ist nichts geschehen. Aber die Sterbende sitzt im Bett und will sich durchaus anziehen. Sie sah grässlich aus."
Wir schwiegen. Vor dem Dröhnen des Artilleriefeuers war nichts nebenan zu hören. Ich beobachtete das jenseitige Ufer. Da war Rauch und Qualm, nicht zu erkennen, ob von Artillerieeinschlägen oder den brennenden Häusern.
Was sollten wir hier? Ich setzte mich auf einen Stuhl. Mir war elend zumute.
Nach einer Zeit raffte ich mich auf. Nur irgend etwas tun! Ich ging hinunter, nach den Verwundeten zu sehen. Dem Lehmann war der Kopf vornübergesunken. Er schnarchte unruhig und blass mit offenem Munde. Sander sah immer noch unbeweglich in die Luft. Der stirbt, dachte ich, und wollte beten. Aber ich konnte nicht.
Ich ging auf den Hof und sah um die Hausecke. Da lagen die Toten auf der Straße. Wenn Verwundete darunter wären? Jetzt könnte man helfen. Aber ich hatte keinen Mut mehr. Der Sonnenschein tat mir weh und das Kanonengedröhn.
Ich schlich wieder hinauf und setzte mich auf den Stuhl. Lamm stand am Fenster und beobachtete. Wie entsetzlich lang dieser Tag war!
„Da draußen kommen welche!" sagte Lamm plötzlich. „Der Vizefeldwebel Ernst mit Leuten."
Ich erhob mich. Wirklich! Dass die nur nicht zu weit marschieren! Merkwürdig genug, dass sie noch nichts auf den Pelz gekriegt hatten!
Ich lief hinunter. Er kam gerade mit zwei Gruppen auf den Hof.
„Wo ist das von Franktireurs besetzte Haus?" Er protzte gern etwas mit seiner Bildung.
Ich zeigte es ihm.
„Die Fabrik nehmen wir! Führen Sie uns!"
Ich holte mein Gewehr und das Beil. „Herr Feldwebel, es wäre gut, einer hinter dem andern erst mal hinters nächste Haus."
Ich lief hinter dem Wagen und einem kleinen Gemüsegarten in den engen Gang zwischen Felswand und Haus. Ich sah den hinteren Flügel der Fabrik auf nur etwa hundert Schritte vor mir. Ich klinkte an der Tür. Sie war zu. Ich stellte das Gewehr an die Wand und schlug mit der Rückseite des Beils gegen das eiserne Schloss. Unterdessen kam schon Ernst mit den ersten gerannt.
„Vorsicht!" rief ich; denn ich holte zum zweiten Schlage aus, und es war wenig Raum auf dem Felsgang. Ich schlug mit beiden Händen. Es dröhnte. Die Türklinke fiel auf die Steine.
Ich holte zu einem neuen Schlage aus. Ein Schuss knallte scharf. Er musste dicht hinter mir durchgefahren sein.
„Ihr verdammten Hunde!" schrie Ernst.
Noch ein Schuss. Irgendein Geräusch hinter mir. Ich schlug, aber diesmal schwach.
„Zersplittere doch die Tür!" rief einer.
Ich drehte das Beil um. Es krachte von mehreren Schüssen. Einer schoss mir dicht am Kopf ab, dass es in den Ohren gellte. Ich schlug. Das Beil fasste gut, aber die Tür war sehr stark. Ich wuchtete das Beil aus dem Holze. Schüsse!
„Dorthin!" schrie Ernst und rannte mit mehreren nach der Fabrik zu aus dem Gang. Ich drehte mich nicht um, sondern schlug weiter. Das Gewehrgeknalle wurde noch häufiger. Mir schien es auch, als ob Schrapnelle herüberkämen.
„Gib mal her!" sagte einer hinter mir. Ich gab ihm das Beil. Es schoss gerade nicht hierher. Von Ernst konnte ich nichts sehen.
„Stemmen!" rief der andere. Wir lehnten uns gegen die Tür, die schon einen Riss hatte. Sie knackte und ging auf. Ich griff nach meinem Gewehr und rannte hinein. Auf dem Flur standen ein Mann und eine Frau mit hochgehobenen Händen und versperrten so den Weg.
„Fort!" schrie ich, drückte den Mann mit dem Ellbogen beiseite und lief die Treppe hinauf. Ich riss eine
Tür auf. Zwei Kinder standen darin und zitterten. Ich hatte keine Zeit für sie. Mehrere kamen mir nachgerannt. Ich lief ans Fenster. Da lag die Fabrik. Aber Obstbäume verdeckten sie zum Teil. Links hinter einem grasbewachsenen Wall lagen einige und schossen hinüber. Das musste Ernst sein.
„Alle Fenster besetzen!" schrie ich. „Die verfluchten Bäume!"
Ich rannte hinaus. Die Kinder liefen mir in ihrer Angst gerade vor die Beine. Ich riss die nächste Tür auf.
„Hierher!" schrie ich zweien zu, die heraufkamen. „Auf alles schießen, was sich in der Fabrik zeigt!" Diese Leute waren alle so langsam!
Ich lief hinunter. Der Mann und die Frau standen noch mit erhobenen Händen und sahen mich ausdruckslos an. Ich lief unten zu den Fenstern, die nach der Fabrik gingen. Hier störten die Bäume nicht so sehr. Oben aus den Fenstern schoss es.
Drüben am Wall sah ich Ernst aufstehen und zu uns zurücklaufen. Zwei folgten ihm. Aber es lagen dort noch welche; wie viel, konnte ich nicht erkennen. Ich lief nach der Tür.
„Verdammtes Pack!" schrie Ernst. „Wenn wir die kriegen, dann wird ja kein Pardon gegeben!" Er war außer Atem und keuchte vor Wut.
Die beiden andern kamen hereingerannt, der eine mit zerschossenem Helm. Er nahm ihn ab. Blut lief heraus, über die Stirn und rechts der Nase nach dem Munde. Er streckte die Zunge heraus und leckte es auf. „Seht mal nach, was es ist!" Er beugte den Kopf vor. Die Haare waren in einer kurzen Linie mit Blut verklebt.
„Es ist nur ein Streifschuss", sagte Ernst.
„'s kam mir auch nicht so schlimm vor", lachte er.
„Herr Feldwebel!" sagte einer. „Hier scheint ein Kellereingang zu sein." Er zeigte auf ein viereckiges Brett im Boden. Der Mann und die Frau sahen hin und hielten noch immer die Hände hoch.
Ich zog an dem kleinen eisernen Ring die Klappe hoch. Es war eine enge Treppe darunter.
Ernst rief dem Mann ein Wort zu. Der lief fort und kam mit einer Kerze wieder. Ernst stieg mit noch einem hinunter. Mir waren die Verwundeten am Erdwall wieder eingefallen. Es knirschte in mir vor Wut der Hilflosigkeit.
Da stieg aus dem Loch ein Zivilist böse lächelnd heraus. Ich hatte ein schlimmes Gefühl gegen ihn.
Er drehte sich um und sah höhnisch den Mann und die Frau mit den hochgehobenen Händen an. - Ach, ist das alles grässlich! Weshalb hat ihnen noch niemand gesagt, dass sie die Hände herunternehmen sollen?
Ernst kam herauf und hielt dem lächelnden Mann ein Pack Patronen hin. Der zuckte die Achseln und sagte etwas. Ernst verhandelte mit beiden Männern. Der Mann aus dem Keller antwortete nur mit einem höhnischen Grinsen. Der andere bewegte seine Hände nach Stirn und Herzen, und dazwischen hob er immer wieder die Arme. Meine Angst stieg.
„Hier gibt's nichts!" sagte Ernst auf einmal deutsch. „Sie werden nach Kriegsrecht erschossen!"
Davor hatte ich mich gefürchtet, aber jetzt war ich auf einmal ganz kühl.
»Verzeihen, Herr Feldwebel!" sagte ich und wunderte mich über meine Ruhe. „Das ist vielleicht Kriegsrecht, aber wäre es nicht besser, ihnen zu sagen: Wenn ihr die Verwundeten dort drüben holt, ist die Sache erledigt. - Auf der Straße liegen vielleicht auch noch Verwundete. Und die Belgier werden doch nicht auf ihre eigenen Landsleute schießen."
Ernst sah mich überlegend an. „Verdient haben sie es ja nicht!" Er wendete sich an die Männer, die unserer Unterhaltung gespannt gefolgt waren, ohne doch augenscheinlich etwas davon zu verstehen.
Ernst schickte sie fort und stellte einen an die Tür mit der Weisung, sofort zu schießen, wenn sie einen Fluchtversuch machten.
Ich ging zu der Frau und bedeutete ihr, die Arme herunterzulassen. Sie tat es. Aber es kam einer aus einer Tür, und zitternd hob sie die Arme wieder.
»Die Hunde!" knirschte der Posten an der Tür. „Nehmt euch in acht!" brüllte er hinüber und hob sein Gewehr. Ich sah hinter ihm hinaus. »Die Bande", schimpfte er, „lässt dem
Verwundeten die Beine auf dem Boden schleifen! Aber jetzt nehmen sie sich schon mehr in acht."
Das Haus war klein für die vielen Menschen. Draußen heulten und donnerten die Artillerien.
Die Belgier trugen die Verwundeten in die Stube rechts und gingen von neuem los.
Ich stieg die Treppe hinauf, um nach dem anderen Maasufer zu sehen. Der Fluss lag still im Sonnenschein. Es musste schon Nachmittag sein. Ich zog die Uhr. Sie stand. Ja, ich hatte die letzte Nacht nicht geschlafen und daher das Aufziehen vergessen.
Nach einer Weile stieg ich wieder hinunter. Der Mann aus dem Keller hatte einen Verband um den Arm und schimpfte leise. Jetzt lachte er nicht mehr und sah kräftig und ernst aus. Durch eine offene Tür sah ich die Toten liegen. Da lag Zache mit wächsernem Gesicht und Händen wie aus Holz.
„Herr Feldwebel", sagte ich, „kann ich wieder hinübergehen?"
„Ja", sagte er. „Hier haben Sie einen Schnaps."
Ich trank ihn hinter. Mich verwunderte, dass er so leutselig war; in der Garnison war er stets unnahbar gewesen.
Drüben war alles unverändert. Ich ging hinauf. Ziesche und die andern begrüßten mich freundlich. Ich setzte mich auf den Stuhl in der Ecke. Es war ja gut, dass sie von alldem nichts merkten.
Um mich waren die andern geschäftig, aber ich wusste nicht, was sie taten. Der Kopf war mir zum Platzen. In meinen Ohren sauste es.
Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen habe. Jemand nahm mich an der Hand. Die Perle führte mich zum Tisch. Sie hatten Mehlklöße in Fett gebraten und gaben Brot und Kaffee dazu. Ich aß stumm und vornübergebeugt, um mir nicht ins Gesicht sehen zu lassen.
Ich merkte, dass Lamm mich öfters ansah, als wollte er etwas Ermunterndes sagen. Ich sah auf und wollte abwehren. Aber als ich seine Augen sah und dass sie freundlich waren, da drehte sich der Boden unter mir. Ich legte mich auf den Tisch und weinte. Die Perle streichelte mir die Schulter. Wenn sie sich nur nicht um mich kümmern wollten!
Nur halb bewusst merkte ich, dass die Perle hereinkam. Er musste fortgewesen sein. Er brachte seinen Tornister. Ich war nicht imstande aufzupassen, was sie taten.
Nach einer Zeit fasste er mich am Arm und legte mich auf den Boden, den Tornister unter dem Rücken, und deckte mich mit seinem Mantel zu. Ich dachte irgendwo weit weg: Darf ich denn das in der Schlacht? Aber es war zu weit weg.
Ich wachte davon auf, dass die Perle neben mir kniete und mir Kaffee einflößen wollte.
„Was siehst du schmutzig aus!" rief ich.
Er lachte und sagte: „Ich habe Feuer gelöscht, oben." Er deutete mit dem Daumen nach der Decke.
Ich stand auf und setzte mich an den Tisch. Mir war sonderbar zumut. Ich hatte sofort, als ich aufwachte, alles gewusst, was geschehen war, und doch, es war anders. Die Geschehnisse waren weit weggerückt. Ich fühlte mich wunderbar rein und leicht, wie ein Kind.
Draußen war es still geworden. Nur im Hause hörte ich sprechen und umhergehen.
Bald darauf kam der Befehl, nach rechts zu sammeln. Es dämmerte schon. Die Straße war voll von marschierenden Menschen und Wagen. Hier und da brannten Häuser, vor allem am anderen Ufer. Dort zogen sich vor den glutroten Fensterhöhlen Kolonnen nach rechts und erschienen unnatürlich groß. Die jenseitigen Höhen hinauf gingen breite Schützenlinien.
Wir hatten gesiegt.
Die Kompanie sammelte in einem Baumgarten und sollte dort warten, bis sie übergebootet würde. Auf der Straße daneben saß, die Stuhllehne zwischen den Beinen und das Kinn darauf gestützt, der General Hahne, unser Brigadekommandeur, und starrte in die Flammen eines brennenden Hauses.
Ich setzte mich nah dem Wasser auf einen schmalen Wiesenpfad neben den Lamm. Es wurde immer dunkler. Drüben fiel eine geschmolzene Dachrinne auf die Straße. Ein feuchter Wind trieb Funken über die still fließende Maas, die sonderbar grau aussah, wie eine Schlange. Weiterhin, wo sie nach links bog, machten die Brände einen Feuerstrom aus ihr.
„Ich hatte gedacht", sagte Lamm, „man würde im Kriege hart. Bist du auch so widerlich weich?" Er stand auf, etwas schwankend, und legte sich schlafen. Hatte er mich mit Absicht du genannt?
„Kommst du nicht auch schlafen?" fragte die Perle. „Ich hab deinen Tornister von der Küche geholt. Sie hat euch Patrouillenleuten das Gepäck mit vorgebracht."
Wir tasteten uns nach unserm Platz. Der Leutnant schlief schon neben unserm neuen Gruppenführer, Unteroffizier Pferl. Ich legte mich zwischen Ziesche und die Perle und schlief ziemlich feucht und kühl.



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