SECHSTER TEIL
Unter den Rädern
1
Die offenen Abfalleimer klapperten, als sie in den Lastkraftwagen verladen wurden. Schmutz und ein Geruch verfaulter Dinge lag in der Luft, wo die Männer arbeiteten. Eine Wache stand dabei mit gespreizten Beinen, den Gewehrkolben fest auf die Erde gestützt. Der Morgennebel lag tief und verbarg die oberen Fenster des Hospitals. Aus der Tür kam starker Karbolgeruch. Der letzte Abfalleimer wurde auf den Wagen verladen, die vier Gefangenen und die Wache kletterten hinauf und suchten sich, so gut sie konnten, einen Platz zwischen den Eimern, aus denen blutiges Verbandszeug und Asche herauskam, und der Kraftwagen fuhr ratternd ab nach der Stelle, wo der Müll verbrannt wurde, durch die Straßen von Paris, am frühen Morgen.
Die Gefangenen trugen keine Uniformen. Ihre Hemden und Hosen waren stark mit Fett und Schmutz befleckt. Ihre Hände waren mit zerrissenen Kanevashandschuhen bekleidet. Die Wache, ein schläfriger Jüngling, der ununterbrochen freundlich grinste, hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, wenn der Wagen Kurven nahm.
«Wie viele Tage wird man mit so 'was beschäftigt, Happy?» fragte ein Junge mit milden, blauen Augen und heller Gesichtsfarbe und rötlichem, gelocktem Haar.
«Weiß nicht, Junge. So lange wie es ihnen Spaß macht», sagte der stiernackige Mann neben ihm, der ein Gesicht wie ein Boxer mit einem schweren, ausladenden Kinn hatte. Dann, nachdem er den Jungen einen Augenblick angesehen hatte, das Gesicht zu einer Art erstauntem Lachen verzogen, fuhr er fort: «Sag mal, Junge, wie zum Teufel bist du hierher gekommen?»
«Ich habe einen Fordwagen gestohlen», sagte der Junge heiter.
«Was?»
«Und für fünfhundert Franken verkauft.»
Happy lachte und hielt sich an einem Ascheneimer fest, um nicht von dem schleudernden Lastauto heruntergeworfen zu werden.
«Sache, was Kerl?» schrie er. «Mach du das mal nach.» Die Wache grinste.
«Man hat mich nicht nach Leavenworth geschickt, weil ich noch so jung bin», fuhr der Junge heiter fort.
«Wie alt bist du denn, Junge?» fragte Andrews, der gegen den Führersitz gelehnt stand.
«Siebzehn!» antwortete der, wurde rot und senkte die Augen.
«Du musst ja wie der Teufel gelogen haben, um in diese beschissene Armee hereinzukommen», brummte die tiefe Stimme des Wagenführers, der sich gerade hinübergebeugt hatte, um eine Ladung Tabaksaft auszurotzen. Der Führer zog ruckartig die Bremsen an. Die Eimer schlugen gegeneinander, der Junge schrie auf vor Schmerz:
«Führe deine Pferde ordentlich! Hast mir beinahe das Bein gebrochen!»
Der Wagenführer ließ eine ganze Kette Flüche los: «Verdammt noch mal! Diese rammdösigen Wolkenglotzer von französischen Bastarden! Was laufen die uns gerade in den Weg?»
«Wer sich hier sein Bein oder was anderes bricht, der kann nur froh sein. Glaubst du nicht auch, Kamerad?» flüsterte der vierte Gefangene.
«Da muss einem mehr passieren, als ein Beinbruch, um aus dem Arbeitsbataillon hier rauszukommen, Hoggenback. Nicht wahr, Wache?» sagte Happy.
Das Lastauto holperte weiter und ließ einen Schwaden von Staub und Gestank hinter sich. Andrews bemerkte plötzlich, dass sie die Kais am Fluss entlang fuhren. Notre Dame stieg hell im nebeligen Sonnenlicht auf. Er starrte lange hinüber. Wie ein Mann, der vom Boden einer tiefen Grube aus die Sterne ansieht.
«Mein Kamerad, der musste nach Leavenworth auf fünf Jahre», sagte der Junge, nachdem sie lange Zeit geschwiegen und nur auf das Rattern der Eimer im Wagen gehört hatten.
«Der hat dir wohl geholfen, den Fordwagen stehlen?» fragte Happy.
«Ach was, Ford! Der hat einen Lebensmittelzug verkauft. War Eisenbahner. Hat nur fünf Jahre bekommen, weil er von Beruf Steinmetz ist.»
«Fünf Jahre, das ist genug für jeden», murmelte Hoggenback mürrisch. Er war ein breitschultriger, dunkler Mann, der immer den Kopf beim Arbeiten senkte.
«Ich traf ihn in Paris; wir waren in der Olympia zusammen, mit einer verdammt netten Gesellschaft. Dort wurden wir gefasst und auf die Bastille gebracht. War einer von euch schon mal auf der Bastille?»
«Ich!» sagte Hoggenback.
«Das ist kein Spaß, was?»
«Jesus Christus!» rief Hoggenback aus. Sein Gesicht überzog sich mit einem wütenden Rot. Er wandte sich ab und sah auf die Zivilisten, die am frühen Morgen schnell durch die Straßen schritten, auf die Kellner in Hemdsärmeln, die die Cafétische abwuschen, auf die Weiber, die Handwagen voll Gemüse über die Pflastersteine schoben.
«Was wir durchmachen, das hält so leicht keiner aus», meinte Happy. «Besser, 's wäre noch Krieg, meine ich. Dann würden sie uns in die Gräben stopfen. Is' nich' so furchtbar wie hier.»
«Sputet euch!» schrie der Wagenführer, als das Lastauto in einem schmutzigen Hof voller Abfall anhielt. «Habe nicht den ganzen Tag für euch Zeit. Muss noch fünf Ladungen holen.»
Die Wache stand daneben mit ärgerlichem Gesicht und steifen Gliedern, denn sie fürchtete offenbar, dass Offiziere in der Nähe waren, und die Gefangenen begannen, die Eimer auszuladen.
Entsetzlich war der faulige Geruch, der sie umgab.
Die Luft in der dunklen Essstube war dick vor Rauch, der aus der Küche kam. Die Männer defilierten an der Essenausgabestelle vorbei, hielten ihre Essgeschirre herauf, in die man das Essen hineinplatschte. Sie aßen zusammengepackt an langen Tischen, die ganz schmutzig von Fett und vergossenem Kaffee waren und noch nass vom Säubern. Andrews saß am Ende einer Bank in der Nähe der Tür, aus der das glimmernde Zwielicht
kam. Er aß langsam, überrascht von der Freude, mit der er das fette Essen zu sich nahm. Hoggenback saß ihm gegenüber.
«Seltsam», sagte er zu Hoggenback. «Es ist wirklich nicht so schlimm, wie ich glaubte.»
«Was meinst du? Das Arbeitsbataillon? Ja, man kann sich in alles fügen; man lernt's wenigstens in diesem gottverdammten Heer.»
«Ich glaube, die Menschen fügen sich lieber in alles, als dass sie sich anstrengen, die Dinge zu ändern.»
«Du hast recht. Hast du 'ne Zigarette?»
Andrews händigte ihm eine Zigarette aus. Sie standen auf und gingen hinaus in die Dämmerung, hielten ihre Essgeschirre vor sich, und als sie ihre Geschirre in einem Fass fettigen Wassers wuschen, sagte Hoggenback plötzlich leise: «Aber es kommt eines zum anderen. Eines Tages wird schon eine Abrechnung kommen. Hältst du was von der Reiligion?»
«Nein.»
«Ich auch nicht. Meine Leute zu Hause, die haben auch immer alles mit sich selbst ausgemacht... Man kann nicht Tag auf Tag und Tag auf Tag seine eigene Galle fressen.»
«Ich fürchte, man kann das doch», brach Andrews ein.
Sie gingen auf die Baracken zu.
«Gott verdammt, nein!» schrie Hoggenback laut. «Es kommt ein Punkt, wo man's nicht mehr kann, wo es keinen Zweck hat, zu fluchen, dann läuft man Amok!»
Er ließ den Kopf hängen und ging langsam zurück in die Baracken.
Andrews blieb draußen vor dem Gebäude stehen und starrte in den Himmel. Er versuchte verzweifelt zu denken, wenigstens einige Fäden seines Lebens zusammenzuziehen und zusammenzuhalten, trotz alledem. In fünf Minuten wird das Signalhorn in seinen Ohren tönen, und dann: zurück in die Baracken! Eine Melodie trat ihm plötzlich ins Bewusstsein, und dann, als er sich daran erinnerte, versuchte er sie, schaudernd, schnell zu verwischen:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
Wenn du lachst, dann trauerst du.»
Es war fast dunkel. Zwei Männer gingen langsam an ihm vorbei.
«Sergeant, kann ich mit Ihnen sprechen?» flüsterte eine Stimme. Der Sergeant grunzte.
«Zwei wollen heute Nacht hier ausbrechen.»
«Wer? Wenn du mir hier was aufbindest, geht's dir dreckig, denk dran.»
«Surley und Watson. Ich hörte sie hinter der Latrine davon sprechen.» «Dumme Schweine.»
«Sie sagten, sie wären lieber tot, als noch einen Tag länger in diesem Miststall.» «So?»
«Sprich nicht so laut, Sergeant. Wenn das jemand anders hört... Sag mal, Sergeant», seine Stimme winselte, «meinst du nicht auch, dass ich meine Zeit nicht schon abgedient habe?»
«Was weiß ich? Ist nicht meine Sache.»
Andrews ging an ihnen vorbei in die Baracke. Tolle Wut hatte ihn erfasst. Er entkleidete sich und ging schweigend ins Bett. Hoggenback und Happy sprachen neben seinem Lager. «Lass nur schon», sagte Hoggenback. «Irgendeiner wird den schon mal früher oder später fassen.»
Die Töne des Signalhorns draußen stachen Andrews in die Ohren. Als ob sie ihn verspotten wollten! Eine Stimme brüllte: «Ruhe!» Die Lichter gingen aus. Schon konnte Andrews das tiefe Atmen schlafender Männer hören. Er lag wach, starrte in die Dunkelheit, in seinem Körper dröhnte der monotone Rhythmus der Fronarbeit des Tages.
Es schien ihm, als ob er immer noch den winselnden Mann zum Sergeanten sprechen hörte. «Und soll ich auch so werden?» fragte er sich selbst.
Andrews verließ gerade die Latrine, als eine Stimme ihn leise anrief: «Kamerad!» «Ja», sagte er.
«Komm her. Ich will mit dir reden.»
Es war die Stimme des Jungen. In der übel riechenden Bude, die als Latrine diente, war kein Licht. Draußen konnten sie die Wache summen hören, als sie vor den Barackentüren hin und her ging.
«Du und ich wollen Schlafgenossen sein, Kamerad.» «Gut», antwortete Andrews.
«Sag mal, was hältst du davon, hier durchzubrennen?» «Verdammt riskant», sagte Andrews.
«Kann man nicht ein Geräusch wie ein Reifen machen und einfach davonrollen?»
Sie kicherten leise. Andrews legte seine Hand auf den Arm des Jungen.
«Aber Junge, es ist zu riskant. Ich bin hier reingeraten, weil ich zu viel riskiert habe. Möchte nicht, dass mir wieder so was passiert. Und wenn sie einen fassen, dann ist's Desertion. Leavenworth auf zwanzig Jahre, oder Tod durch Erschießen, das ist das Ende.»
«Und was ist das hier?»
«Oh, ich weiß nicht, aber eines Tages müssen sie uns doch freilassen!» «Scht!»
Der Junge legte seine Hand plötzlich über Andrews' Mund. Sie standen steif, so dass sie das Pochen ihrer Herzen hören konnten. Draußen ertönte ein schneller Schritt auf dem Kies. Die Wache hielt an und salutierte. Die Schritte entfernten sich, und die Wache begann wieder zu summen.
«Zwei haben sie neulich auf einen Monat eingesteckt, weil sie so sprachen, wie wir eben», flüsterte der Junge.
«Aber Junge, ich habe nicht die Kraft, so etwas jetzt zu versuchen.»
«Aber bestimmt, Kamerad. Du und ich, wir haben mehr Kraft, als alle anderen zusammen. Gott, wenn die Menschen nur wirklich Kraft hätten, könnte man sie nicht so behandeln... Ich muss hier raus!»
«Aber Junge, nach den Vereinigten Staaten kannst du dann nicht mehr zurück.»
«Ist mir ganz egal.»
«Gehen wir zu Bett.»
«Gut, wir schlafen von jetzt an zusammen, Kamerad.»
Andrews fühlte, wie der Junge seinen Arm fest an sich presste. Auf seinem dunklen Lager lag Andrews eine lange Zeit wach, hörte auf das Schnarchen und das schwere Atmen um ihn her. Gedanken flatterten ruhelos in seinem Kopfe, aber in der blassen Hoffnungslosigkeit, die ihn ganz gepackt hielt, konnte er sich nur die Lippen zerbeißen und den Kopf von einer Seite auf die andere legen und mit verzweifelter Aufmerksamkeit auf das schwere Atmen der Männer hören, die über ihm und um ihn schliefen.
Als er einschlief, träumte er, dass er allein mit Geneviève Rod sei und dass er verzweifelt versuche, irgendeine Melodie für sie zu spielen, eine Melodie, die er immer wieder vergaß, und in der verzweifelten Anstrengung, sie wieder zu finden, strömten ihm die Tränen che Backen hinunter. Dann hatte er die Arme um Genevièves Schultern, und er küsste sie, küsste sie, bis er merkte, dass er ein hölzernes Brett küsse, ein hölzernes Brett, auf dem ein Gesicht mit breiter Stirn und großen, hellgrauen Augen und kleinen, festen Lippen gemalt war, und während der ganzen Zeit rief ihm ein Junge, der zuerst Chrisfield und dann sein Schlafgenosse zu sein schien, zu, er solle laufen, laufen, damit ihn die Militärpolizei nicht fasse. Dann saß er fröstelnd vor eisigem Schrecken mit einer Flasche in der Hand, während eine schreckliche Stimme hinter ihm sehr laut sang:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
Wenn du lachst, dann trauerst du.»
Das Signalhorn weckte ihn, und er setzte sich mit einem solchen Ruck auf, dass er mit dem Kopfe schwer gegen das über ihm liegende Bett schlug. Doch er hatte keine Zeit, sich mit seinem Schmerz zu beschäftigen, denn er musste sich beeilen, um rechtzeitig angekleidet zum Appell zu kommen. Fast erlöst stellte er fest, dass die Soldaten draußen immer noch, mit den Füßen stampfend, vor der Küche warteten und mit ihren Geschirren klapperten, während sie in dem kühlen Dämmerlicht des Frühlingsmorgens zitternd standen. Andrews wartete hinter Hoggenback.
«Oh, wir arbeiten alle in demselben Kahn», sagte Andrews lachend.
«Wünschte, dass wir sinken», murmelte der andere. «Weißt du», fuhr er nach einer Pause fort, «hätte nie gedacht, dass ein gebildeter Mann wie du in so 'ne Geschichte reinkommen könnte. Habe auch 'n bisschen Bildung geschnappt, aber wahrscheinlich nicht genug.»
«Glaube nicht, dass das viel ausmacht. Man leidet genau so, wenn man nur lesen oder schreiben kann, oder wenn man eine Universität besucht hat.»
«Weiß nicht, Kamerad. Wer im Leben hin und her geworfen worden ist, der kann sich mit vielem abfinden... Hätte wahrscheinlich eine ganz anständige Anstellung bekommen, wenn ich nicht so verdammt ungeduldig gewesen wäre... Ein Holzfäller von Beruf un' mein Oller hat vor einiger Zeit 'nen ordentlichen Fischzug mit Kriegslieferungen gemacht. Der hätte mich bei den Technikern unterbringen können, wenn ich mich nicht gemeldet hätte.»
«Warum tatest du es?»
«Hatte keine Ruhe. Wollte wahrscheinlich die Welt sehen. Um den Krieg habe ich mich nie viel gekümmert; wollte wissen, wie's hier drüben ausschaut.»
«Nun, jetzt hast du ja gesehen», sagte lächelnd Andrews.
«Im Nacken», stieß Hoggenback hervor und holte sich seine Tasse Kaffee.
Auf dem Lastwagen, der sie zur Arbeit führte, saßen Andrews und der Junge Seite an Seite und versuchten, trotz des ratternden Geräusches, sich zu unterhalten.
«Liebst du Paris?» fragte der Junge.
«Nicht vom Lastwagen aus», antwortete Andrews.
«Sag mal, einer sagte, du könntest richtig französisch sprechen. Du solltest es mich lehren.»
«Aber du kannst ja schon was.»
«Schlafzimmerfranzösisch», sagte der Junge lachend. «Genügt doch nicht, immer und wieder; vuleh-vuh cuscheh avec moa, zu sagen.»
«Wir gehen nach Passy-Wharf, um Steine auszuladen», sagte jemand murrend.
«Nein, Zement. Zement für das Stadion, das wir der Großen französischen Nation schenken werden. Hast du es nicht in den <Stars and Stripes> gelesen?»
«Ich möchte dieser Nation und noch einigen Leuten, die uns näher sind, 'nen Tritt in 'n Arsch schenken.»
«So, wir sollen heute also den ganzen Tag schwitzen», murmelte Hoggenback, «um diesen gottverdammten Franzmännern ein Stadion zu schenken.»
«Wenn's das nicht wäre, wär's was anderes.»
«Aber haben wir denn nicht Angehörige zu Hause, für die wir arbeiten können?» schrie Hoggenback. «Warum bringt unsere Arbeit und unser Schweiß nicht auch uns was ein? Ein Stadion bauen! Mein Gott!» «Raus!... Schnell!...» schnarrte eine Stimme vom Führersitz.
Durch den Dunst des stickigen weißen Staubes hindurch erhaschte Andrews dann und wann einen Blick auf den graugrünen Fluss mit seinen Lastkähnen, die von kleinen Barkassen den Fluss hinaufgezogen wurden. Die Zementsäcke waren sehr schwer, und die ungewohnte Arbeit schmerzte ihn entsetzlich. Der beißende Staub stach ihn unter die Fingernägel, in die Augen und in den Mund. Den ganzen Morgen ging ihm eine Art Refrain durch den Kopf: «Menschen haben ihr Leben verbracht... und nur dies getan. Menschen haben ihr Leben verbracht... und nur dies getan.» — Wenn er die enge Planke, die vom Kahn zum Ufer führte, überschritt, sah er in das schwarze Wasser hinab, das unter ihm durchfloss. Er wusste nicht, warum, aber ein Teil seiner selbst dachte immer wieder, wie wunderbar es sein müsse, hier zu ertrinken, im ewigen schwarzen Schweigen den hoffnungslosen Kampf zu vergessen. Einmal sah er den Jungen vor dem Sergeanten stehen in der Haltung vollkommener Erschöpfung, und er sah, wie der Junge den Sergeanten aus seinen blauen Augen flehentlich anschaute wie ein Kind, das bittet, ihm die Prügel zu erlassen. Der Anblick machte ihn wieder froher, und er sprach zu sich selbst: «Hätte ich rosige Wangen und geschwungene Lippen wie ein Cupido, könnte ich mich vielleicht davon ernähren», und er stellte sich den Jungen vor als alten feisten cherubimartigen Mann, aus einer Limousine steigend, wie es die Leute im Film tun, die ihre milden blauen Augen funkeln lassen. Aber bald vergaß er alles wieder in der verzweifelten Anstrengung, die schweren Zementsäcke zu tragen.
Auf dem Wagen, beim Nachhausewege, sagte der Junge, der zwischen den schwitzenden Männern frisch und lächelnd aussah, leise zu Andrews und nahe an ihn herangerückt: «Du, schwimmst du gern, Kamerad?»
«Ja. Ich gäbe was drum, den Zementstaub vom Körper zu kriegen», antwortete Andrews gleichgültig.
«Ich hab mal ein Wettschwimmen gewonnen», sagte der Junge.
Andrews antwortete nicht.
«Warst du im Schwimmklub oder sowas ähnlichem, Kamerad, als du zur Schule gingst?»
«Nein... Es müsste herrlich sein, im Wasser zu sein. Früher schwamm ich nachts immer hinaus in die Chesapeake Bay. Nachts, wenn das Wasser ganz phosphoreszierend war...»
Andrews sah plötzlich in die blauen Augen des Jungen, die hell, wie Flammen, vor Aufregung waren und in die seinen starrten.
«Gott, bin ich ein Esel», murmelte er.
Er fühlte, wie die Faust des Jungen ihn sanft in den Rücken knuffte.
«Der Sergeant hat gesagt, dass wir wie die Affen bis in die Nacht hinein arbeiten müssen», sagte der Junge laut zu den anderen, die herumsaßen.
Nach den ersten zwei oder drei Säcken, die Andrews am Nachmittag getragen hatte, schien es ihm, als ob jeder der letzte sein würde, den er werde heben können. Sein Rücken und seine Schenkel pochten vor Ermattung. Sein Gesicht und die Fingerspitzen fühlten sich wund an vor beißendem Zementstaub.
Als der Fluss purpurn im Abend zu schimmern begann, bemerkte er zwei Zivilisten, die die Arbeit beobachteten.
«Sollen Zeitungsreporter sein, die über die Demobilisation schreiben», sagte einer ärgerlich.
«Dann kommen sie hier richtig!» rief ein anderer.
«Sagt ihnen, dass wir dabei sind, heimzufahren und unser Gepäck einladen.»
Die Zeitungsleute teilten Zigaretten aus. Einige gruppierten sich um sie. Einer rief: «Wir tun hier die leichte Arbeit. Pershings bestes Arbeitsbataillon!»
«Der hat uns so gerne, dass er uns gar nicht entlassen will!»
Der Sergeant, ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und kurz-geschnittenem Schnurrbart, ging an die Gruppe heran:
«Kommt, Kerls, wir haben noch genug zu tun, um den Zement zu verladen, ehe der Regen kommt», sagte er mit gutmütiger Stimme.
«Seht euch doch mal die Drecksäue an», murmelte Hoggenback mit einem Zementsack auf dem Wege zum Schiff zurück. Der Junge schob sich an Andrews vorbei, ohne ihn anzusehen. «Tue genau das, was ich tun werde, Kamerad», sagte er.
Andrews wandte sich nicht um, aber sein Herz fing an zu schlagen, sehr schnell, ein furchtbarer Schrecken erfasste ihn. Er versuchte verzweifelt, all seine Willenskraft zusammenzunehmen. Aber immer wieder musste er sich daran erinnern, wie das Zimmer um ihn herum wirbelte, als der Militärpolizist ihn schlug, und er hörte immer wieder die kalte Stimme des Leutnants: «Einer von euch Kerls soll mal dem Kerl das Grüßen beibringen!»
Die Zeit zog sich endlos hin. Endlich, als sie wieder von einem Gang zurückkamen, sah Andrews, dass im Schiff keine Säcke mehr waren. Er setzte sich auf die Planke nieder, zu erschöpft, um zu denken. Blaugrüne Dämmerung lagerte sich nieder und begann alles zu verbergen. Die Passy-Brücke stand purpurn in einem großen, roten, verglimmenden Sonnenlicht. Der Junge setzte sich neben ihn und legte seinen vor Erregung zitternden Arm um seine Schultern.
«Die Wachen schauen den andern Weg. Sie werden uns nicht vermissen, bis sie zum Lastwagen kommen... Los, Kamerad», sagte er mit ruhiger, leiser Stimme.
Er hielt sich an der Planke fest und ließ sich in das strömende Wasser nieder. Andrews folgte ihm, kaum wissend, was er tat. Das eisige Wasser schloss sich um seinen Körper. Er fühlte plötzlich wieder Leben und Kraft. Als er an dem großen Steuer des Kahns vorbeigetrieben wurde, hielt er sich an dem Jungen fest, der ein Seil ergriffen hatte. Sie arbeiteten sich, ohne zu sprechen, auf die andere Seite des Steuers herum. Die Strömung, die furchtbar an ihm zog, machte es schwer, sich festzuhalten.
«Jetzt können sie uns nicht sehen», sagte der Junge durch die Zähne. «Kannst du Schuhe und Hosen ausziehen?»
Andrews begann einen Stiefel auszuziehen. Der Junge half ihm mit der einen, freien Hand, sich festzuhalten.
«Meine sind ab», sagte er. «Ich bin fertig.»
Er lachte, obschon ihm die Zähne aufeinander schlugen.
«In Ordnung. Meine sind auch raus», sagte Andrews.
«Kannst du unter Wasser schwimmen?»
Andrews nickte.
«Wir wollen auf die Kähne da drüben auf der anderen Seite der Brücke zu halten. Die Schiffer werden uns verbergen.» «Woher weißt du?»
Der Junge war verschwunden.
Andrews zögerte einen Augenblick. Dann ließ er sich los und begann in der Strömung mit aller Kraft zu schwimmen.
Zuerst fühlte er sich stark und kräftig. Doch bald drückte ihn der eisige Griff des Wassers nieder. Seine Arme und Beine schienen steif zu werden. Mehr als gegen das Wasser kämpfte er gegen die Ermattung, die in seinen Gliedern aufstieg. Er glaubte, jeden Augenblick würden seine Glieder ihm den Dienst verweigern. Er kam an die Oberfläche und schnappte nach Luft. In diesem Augenblick sah er Gestalten, klein wie Spielsoldaten, die wild auf dem Kahn herumgestikulierten. Der Knall eines Schusses tönte in der Luft. Er tauchte wieder, ohne zu denken. Als ob sein Körper unabhängig von seinem Verstande arbeite. Als er das nächste Mal wieder heraufkam, waren seine Augen vor Kälte starr. Ein Blutgeschmack füllte seinen Mund. Der Schatten der Brücke war gerade über ihm. Er legte sich für einen Augenblick auf den Rücken. Auf der Brücke waren Lichter.
Eine Stromschnelle fegte ihn an einer Barke nach der anderen vorbei: Gewissheit zu ertrinken. Eine Stimme seufzte ihm grotesk in die Ohren: So ertrank John Andrews in der Seine, ertrank in der Seine, in der Seine.
Dann kämpfte er in wilder Wut gegen das Tauwerk, das ihn herunterziehen wollte. Die schwarze Seite eines Kahnes flitzte an ihn heran mit blitzartiger Schnelle. «Wie schnell diese Kähne vorbeifegen», dachte er. Dann plötzlich bemerkte er, dass er ein Seil gefasst hatte, dass seine Schultern gegen ein kleines Boot schlugen. Eine starke, warme Hand ergriff seine Schultern von hinten, und er wurde hinauf und hinein gezogen, heraus aus dem klammernden Tauwerk im Wasser.
«Verstecken Sie mich, ich bin Deserteur», sagte er immer und immer wieder auf französisch. Ein braunrotes Gesicht mit einem stoppeligen weißen Bart, eine Art Knollengesicht, beugte sich über ihn.
2
«O qu'il est propre, oh, qu'il a la peau blanche...»
Frauenstimmen schrillten im Nebel. Eine Decke, die sich weich und warm anfühlte, wurde über ihn gelegt. Er war sehr warm, aber noch gefühllos. Nach einer langen Zeit gelang es ihm, sich herumzudrehen und umzusehen.
«Mais reste tranquille», schrillte eine Frauenstimme.
«Und der andere? Haben Sie den anderen nicht gesehen?» sagte er in einem erstickten Flüstern.
«Ja, es ist alles gut, ich trockne die Sachen am Ofen», ertönte eine andere Frauenstimme tief und grollig, fast wie die eines Mannes.
«Maman trocknet Ihr Geld am Ofen; es ist alles gerettet. Wie reich sie sind, diese Amerikaner!»
«Und fast hätte ich das Geld zusammen mit den Hosen über Bord geworfen», sagte die andere Frau.
John Andrews begann, um sich zu schauen. Er war in einer dunklen, niedrigen Kabine. Hinter ihm, in der Richtung der Stimmen, flackerte ein gelbes Licht. In dem Geruch der geschlossenen Kabine war die Wärme von kochendem Essen zu spüren. Er konnte das beruhigende Zischen von bratendem Fett hören.
«Aber haben Sie den Jungen nicht gesehen?» fragte er auf englisch und versuchte sich verzweifelt zusammenzureißen, zusammenhängend zu denken; dann fuhr er mit einer mehr natürlichen Stimme auf französisch fort:
«Es war noch ein anderer mit mir.»
«Wir haben niemand gesehen. Rosaline, frag mal den Alten!» sagte die ältere Frau.
«Nein, der hat auch niemand gesehen», ertönte die schrille Stimme des Mädchens.
Sie ging hinüber zum Bett und strich mit einer linkischen Bewegung über Andrews Bettdecke.
«Qu'il parle bien francais», sagte sie mit einem Blick auf ihn.
Schwere Schritte schoben sich durch die Kabine, und die alte Frau kam an sein Bett und schaute ihm ins Gesicht.
«Il va mieux», sagte sie.
Es war eine breite Frau mit einem breiten, flachen Gesicht und einem geschwollenen, in Schals gewickelten Körper. Ihre Augenbrauen waren sehr buschig; sie hatte dicke, graue Schnurrbarthaare, die an beiden Seiten des Mundes herauswuchsen. Ihre Stimme war tief und grollig und schien aus der Höhle eines mächtigen Körpers zu kommen.
Schritte ertönten irgendwo, und der alte Mann sah ihn an durch Brillengläser, die auf seiner Nasenspitze saßen.
Andrews erkannte ein unregelmäßiges Gesicht voll roter Pikkel und Beulen.
«Vielen Dank», sagte er.
Alle drei sahen ihn eine Zeitlang schweigend an. Dann zog der alte Mann eine Zeitung aus seiner Tasche, faltete sie sorgfältig auf und hielt sie vor Andrews' Augen. Im schwachen Licht konnte Andrews den Titel lesen: «Libertaire».
«Darum», sagte der alte Mann und sah Andrews durch seine Brillengläser fest an.
«Ich bin eine Art Sozialist», sagte Andrews.
«Sozialisten, die taugen nichts», pustete der Alte, und die roten Pickel in seinem Gesicht schienen noch röter zu werden.
«Ich habe eine ganz besonders starke Sympathie für die anarchistischen Genossen», fuhr Andrews fort und fühlte ein lebhaftes Amüsement.
«Hast Glück gehabt, dass du mein Seil ergriffen hast. Der vom nächsten Kahn hätte dich bestimmt ausgeliefert. Sont des royalistes, ces salauds là.»
«Wir müssen ihm was zu essen geben. Er wird was bezahlen, nich, kleiner Amerikaner?»
Andrews nickte mit dem Kopfe:
«Alles, was Sie verlangen.»
«Nein, wenn er sagt, er ist ein Genosse, soll er nichts bezahlen, keinen Sou», grollte der alte Mann.
«Darüber werden wir uns noch mal unterhalten!» rief die alte Frau und zog den Atem mit einem ärgerlich pfeifenden Laut ein.
«Heutzutage ist das Leben so teuer», ertönte die Stimme des Mädchens.
«Oh, ich werde bestimmt alles bezahlen», sagte Andrews und schloss die Augen schläfrig. Er lag eine lange Zeit auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen. Eine Hand schob sich zwischen seinen Rücken und das Kissen. Er setzte sich auf. Rosaline hielt ihm eine Schüssel dampfender Fleischbrühe vor.
«Mange ca», sagte sie.
Er sah ihr lächelnd in die Augen. Ihr rötliches Haar war sorgsam gekämmt. Ein hellgrüner Papagei mit einem rötlichen Fleck auf dem Flügel balancierte auf ihrer Schulter und sah Andrews aus wütenden Augen an.
«Il est jaloux, Coco», sagte Rosahne mit einem schrillen kleinen Kichern.
«Sie ist zu heiß», sagte er und lehnte sich in die Arme des Mädchens zurück. Der Papagei quarlte einen Satz heraus, den Andrews nicht verstehen konnte. Andrews hörte die Stimme des alten Mannes von irgendwo hinter ihm antworten:
«Nom de dieu.»
Rosaline lachte:
«Der alte Mann hat ihn das gelehrt. Armer Coco; er weiß nicht, was er sagt.»
«Was sagt er?» fragte Andrews.
«Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu. Das ist aus einem Lied», sagte Rosaline. «O qu'il est malin, ce Coco.»
Rosaline stand mit gekreuzten Armen vor dem Bett. Der Papagei reckte den Hals und rieb ihn gegen ihre Wange. Das Mädchen formte ihre Lippen zu einem Kusse und murmelte mit schläfriger Stimme: «Tu m'aimes, Coco, n'est ce pas, Coco? Bon Coco.»
«Kann ich noch etwas haben? Bin furchtbar hungrig», sagte Andrews.
«Oh, ich vergaß ganz!» rief Rosaline und lief mit der leeren Schüssel fort.
Nach einem Augenblick kam sie zurück ohne den Papagei, mit einer Schüssel in der Hand voll brauner Bouillonkartoffeln und Fleisch.
Andrews aß mechanisch und gab die Schüssel zurück.
«Danke schön», sagte er. «Ich will jetzt schlafen.»
Er legte sich in seiner Koje wieder zurecht. Rosahne deckte ihn zu und machte die Decke um seine Schultern fest. Ihre Hand schien ein wenig zu zögern, als sie an seiner Wange vorbeifuhr. Doch Andrews war schon wieder in bewusstlosen Schlaf versunken und fühlte nichts, als die Wärme des Essens und eine große Steifheit in Beinen und Armen. Als er erwachte, war das Licht grau anstatt gelb, und ein rauschender Laut verwirrte ihn. Er lauschte lange Zeit und wunderte sich, was es wohl sein könne. Plötzlich kam ihm mit einer plötzlichen warmen Freude der Gedanke, dass der Kahn in Bewegung sei. Er lag sehr ruhig auf dem Rücken, schaute hinauf in das schwache silbrige Licht, dachte an nichts und hatte nur eine vage Furcht, dass jemand kommen könne, mit ihm sprechen, ihn ausforschen.
Nach einer langen Zeit begann er an Geneviève Rod zu denken. Er hatte eine lange Konversation mit ihr über Musik, und in seiner Einbildung sagte sie zu ihm immer wieder, dass er die Königin von Saba fertig stellen müsse und dass sie das Stück Monsieur Gibier geben werde, der Verbindung mit einer Konzertdirektion habe. Wie lange musste es schon her sein, dass sie über so etwas gesprochen hatten.
Großer Gott, werde ich mein ganzes Leben lang an diese Dinge denken müssen? «Bringt dem Kerl das Salutieren bei», hatte der Offizier gesagt, und Handsome war an ihn herangetreten und hatte ihn geschlagen. Werde ich mein ganzes Leben daran denken müssen?
«Wir haben die Uniform an ein paar Steine gebunden und über Bord geworfen», sagte Rosaline und stieß ihn an der Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
«Das war ein guter Gedanke.»
«Wollen Sie aufstehen? Es ist fast Essenszeit. Wie haben Sie geschlafen?»
«Ja, aber ich habe nichts anzuziehen», sagte Andrews lachend und fuhr mit einem nackten Arm durch die Luft.
«Warten Sie, ich werde irgend etwas von den Sachen des alten Mannes holen. Sagen Sie, haben alle Amerikaner so weiße Haut wie Sie? Schauen Sie!»
Sie legte ihre braune Hand auf Andrews Arm, der ganz weiß dagegen stand.
«Das ist nur, weil ich blond bin», sagte Andrews. «Es gibt doch auch blonde Franzosen, nicht?»
Rosaline rannte kichernd weg und kam nach einem Augenblick mit ein paar Hosen und einem zerrissenen Flanellhemd, das nach Tabakspfeife roch, zurück.
«Das ist für jetzt gut genug», sagte sie. «Es ist heute für April recht warm. Heute Nacht werden wir Kleider und Schuhe kaufen.»
«Wo fahren Sie hin?»
«Gott, ich weiß nicht. Wir fahren nach Havre.»
Sie legte beide Hände an den Kopf und begann ihr wirres rotes Haar in Ordnung zu bringen.
«Oh, mein Haar», sagte sie. «Das ist das Wasser, wissen Sie. Man kann in diesen Kähnen nicht anständig ausschauen. Sagen Sie mal, Amerikaner, warum bleiben Sie nicht eine Weile mit uns? Sie können dem alten Mann helfen das Boot führen.»
Er fand plötzlich, dass ihre Augen mit zitterndem Eifer in die seinen gerichtet waren.
«Ich weiß nicht, was ich tun soll», sagte er sorglos. «Ob es sicher ist, an Deck zu gehen?»
Sie wandte sich keck fort und ging die Leiter vor ihm hinauf.
«O, v'là le camarad!» rief der alte Mann, der sich mit aller Kraft gegen die Ruderpinne stemmte.
«Komm, hilf mir!»
Der Kahn war der letzte von vier, die in dem silbrigen Fluss eine große, weite Kurve beschrieben. Andrews atmete den feuchten Geruch des Flusses ein und stemmte sich in die Pinne hinein und beantwortete des alten Mannes kurze Fragen. Er blieb bei der Pinne, als die übrigen hinunter in die Kabine zum Essen gingen. Die blassen Farben und das zischende Geräusch des Wassers und die blaugrünen Ufer, die vorbeiglitten, beruhigten ihn fast wie ein tiefer Schlaf. Doch sie schienen nur ein Schleier zu sein, der andere Wirklichkeiten bedeckte, wo Männer endlos in Reihen aufmarschiert standen, mit Beinen, die man alle gleich lang gemacht hatte auf den Drillplätzen, die alle dieselbe Kleidung trugen und sich von derselben Hierarchie polierter Offizierskoppel, polierter Gamaschen und Mützen mit steifen Schirmen misshandeln lassen mussten, die in dem ungeheuren Büro voller Indexkarten und Kartothekkästen ein genau kontrolliertes Leben führten, ein Schleier vor einer Welt voll vom Trampeln marschierender Füße, in der kalte Stimmen immerzu sagten: «Bringt den Kerls das Grüßen bei.» Wie ein Vogel in einem Netz, so suchte Andrews sich von diesem Gedanken zu befreien.
Dann dachte er an den Tisch in seinem Zimmer in Paris, wo sein Notenpapier aufgehäuft lag, und er fühlte: es gibt nichts auf der Welt, was dem gleichgestellt werden kann: arbeiten.
Da stand er in die große Pinne hineingestemmt, sah auf die blau-grünen Pappeln, die vorbeiglitten, fühlte den feuchten Geruch vom Fluss und dachte an nichts. Nach einer Weile kam der alte Mann aus der Kabine herauf mit rotem Gesicht und puffte Wolken von Rauch aus seiner Pfeife.
«Gut, junger Kerl, geh runter und iss», sagte er. Andrews lag flach auf dem Bauche auf Deck, das Kinn fest in beide Hände gestützt. Der Kahn war zwischen anderen Kähnen am Ufer festgemacht. Neben ihm bellte ein kleiner, haariger
Hund wütend. Es war fast dunkel, und durch den perligen Nebel, der aus dem Fluss aufstieg, schien rotes Licht aus den Gaststuben am Ufer. Ein Streifen Neumond zitterte in der Luft hinter den Pappeln. In all den verzweifelten Gedanken trat plötzlich die Erinnerung an den jungen Kameraden ihn an. Der hatte einen Fordwagen für fünfhundert Franken gestohlen, war mit einem Mann, der einen Lebensmittelzug verkauft hatte, davongegangen und wollte italienische Filme schreiben. Kein Krieg konnte Leute wie diese unterkriegen. Andrews lächelte und schaute in das schwarze Wasser. Seltsam, der Junge war wahrscheinlich tot, und er, John Andrews, lebte und war frei. Und hier lag er nun verdrießlich und wimmerte noch über altes Unrecht. «Um Gottes willen, sei ein Mann», sagte er zu sich selbst. Er stand auf.
In der Kabinentür spielte Rosaline mit dem Papagei.
«Gib mir einen Kuss, Coco», sagte sie mit schläfriger Stimme. «Nur einen kleinen Kuss. Nur einen kleinen Kuss für Rosaline. Arme, kleine Rosaline.»
Der Papagei, den Andrews in der Dämmerung kaum sehen konnte, lehnte sich an sie und flatterte mit den Flügeln. Rosaline erblickte Andrews.
«Oh, ich dachte, Sie wären gegangen mit dem Alten einen trinken!» rief sie.
«Nein, ich bin hier geblieben.»
«Lieben Sie dies Leben?»
Rosaline setzte den Papagei wieder in seinen Käfig, wo er von einer Seite auf die andere schwankte und protestierend schrie: «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!»
«Oh, es muss ein wundervolles Leben sein. Dieser Kahn erscheint mir wie ein Himmel nach dem Armeeleben.»
«Aber man bezahlt euch doch gut, euch Amerikaner.»
«Sieben Franken den Tag.»
«Das ist ja richtiger Luxus.»
«Ja, um den ganzen Tag herumkommandiert zu werden!»
«Aber ihr habt gar keine Ausgaben. Es ist reiner Verdienst. Ihr Männer seid seltsam. Der Alte ist auch so. Es ist schön, hier so ganz allein, nicht wahr, Jean?»
Andrews antwortete nicht. Er dachte daran, was Geneviève Rod sagen wird, wenn sie erfährt, dass er desertiert sei.
«Ich hasse das... Es ist schmutzig und kalt und elend im
Winter», fuhr Rosaline fort. «Wenn doch all diese Kähne unten auf dem Grund des Flusses lägen... Und mit den Pariser Frauen haben Sie wohl eine schöne Zeit verlebt, was?»
«Ich kannte nur eine. Ich gehe sehr wenig mit Frauen.»
«Trotzdem. Die Liebe ist schön, nicht?»
Sie saßen auf der Reling. Rosaline hatte sich so gesetzt, dass ihr Bein Andrews' Bein in seiner ganzen Länge berührte.
Die Erinnerung an Geneviève Rod wurde lebhafter und lebhafter in seinen Gedanken. Er dachte daran, was sie gesagt hatte, an den Ton ihrer Stimme, daran, wie sie Tee einzugießen pflegte, an ihre hellbraunen Augen...
«Mutter spricht mit der alten Frau da im Caf6. Sie sind sehr befreundet. Sie wird vor zwei Stunden nicht zu Hause sein», sagte Rosaline.
«Sie bringt mir Kleider mit, nicht?»
«Aber Sie sehen doch auch so gut genug aus!»
«Ja, aber es sind die Kleider Ihres Vaters.»
«Was macht das!»
«Ich muss bald nach Paris zurück. Ich muss jemand dort sprechen.» «Eine Frau?» Andrews nickte.
«Aber das Leben auf dem Kahn ist gar nicht so schlimm. Ich bin nur einsam und habe die alten Leute satt, darum spreche ich so schlecht von ihnen... Wir könnten schöne Zeiten zusammen verleben, wenn Sie noch ein wenig hier bleiben wollten.»
Sie lehnte ihren Kopf auf seine Schulter und strich mit der Hand über seinen nackten Unterarm.
«Wie kalt diese Amerikaner sind», murmelte sie und kicherte matt. Andrews fühlte ihr Haar auf seiner Backe.
«Nein, es ist wirklich kein schlechtes Leben hier auf dem Kahn. Das einzige sind diese alten Leute. Es ist nicht schön, immer mit alten Leuten zusammen sein zu müssen. Ich will auch einmal eine gute Zeit haben.»
Sie drückte ihre Backe gegen die seine. Er konnte ihren Atem schwer in seinem Gesicht fühlen.
«Es ist schön, so im Sommer auf dem Deck zu liegen, das warm vor Sonne ist, und die Bäume zu schauen und die Felder und die kleinen Häuser, die auf beiden Seiten vorbeigleiten... Wenn nur nicht so alte Leute da wären... Alle jungen gehen fort in die Stadt. Ich hasse alte Leute. Die sind so schmutzig und langsam. Man darf seine Jugend nicht vergeuden, nicht?»
Andrews stand auf.
«Arme Rosaline.»
«Was ist denn los?» fragte sie heftig.
«Rosaline», sagte Andrews mit leiser, sanfter Stimme, «ich kann nur daran denken, nach Paris zu gehen.»
«Oh, diese Pariser Frau», sagte Rosaline zornig. «Aber was tut das? Sie ist ja jetzt nicht hier.»
«Ich weiß nicht... Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen», sagte Andrews.
«Sie sind ein Narr. Man muss sich amüsieren im Leben, wenn man kann, und außerdem sind Sie ja Deserteur... Wenn man Sie erwischt, werden Sie erschossen.»
«Oh, ich weiß, Sie haben recht. Aber ich bin nun eben nicht so.»
«Sie muss sehr gut zu Ihnen sein, Ihr kleines Pariser Mädchen.»
«Ich habe sie noch nie angerührt.»
Rosaline warf den Kopf zurück und lachte schallend.
«Aber Sie sind doch nicht etwa krank?» rief sie.
«Vielleicht ist meine Erinnerung nur zu lebendig... Wie dem auch sei, ich bin ein Narr, Rosaline, und Sie sind ein nettes Mädchen.»
Schritte waren auf der Planke, die zum Ufer führte, zu hören. Mit einem Schal über dem Kopfe und einem großen Bündel unter dem Arm kam die alte Frau schwer atmend an sie heran. Sie sah von einem zum anderen und versuchte, ihnen in der Dunkelheit ins Gesicht zu sehen.
«'s ist 'ne Gefahr... so... Jugend...» murmelte sie zwischen kurzen, schweren Atemstößen.
«Haben Sie Kleider gefunden?» fragte Andrews.
«Ja. Ihnen bleiben dann noch fünfundvierzig Franken von Ihrem Geld. Ist es recht?»
«Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bemühungen.»
«Sie haben doch dafür bezahlt», sagte die alte Frau.
Sie gab ihm das Bündel.
«Hier sind Ihre Kleider und die fünfundvierzig Franken. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch genau sagen, was jedes einzelne Stück kostet.»
Er kletterte die Leiter hinunter in die Kabine. Die neuen, ungewohnt geschnittenen Kleider erweckten in ihm ein starkes und fröhliches Gefühl. Die alte Frau hatte ihm Manchesterhosen gekauft, billige Tuchschuhe und ein blaues Kattunhemd und wollene Socken. Als er wieder an Deck kam, hielt sie eine Laterne hoch, um ihn anzuschauen.
«Schaut er nicht gut aus? Ganz französisch?» fragte sie.
Rosaline wandte sich weg, ohne zu antworten. Ein wenig später kam sie mit dem Papagei die Leiter hinunter.
«Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!» erscholl die Stimme des alten Mannes vom Ufer.
«Der ist ja betrunken wie ein Schwein», murmelte die alte Frau. «Wenn er nur nicht von der Planke herunterfällt.»
Ein schwankender Schatten erschien am Ende der Planke. Andrews streckte die Hand aus, um ihn im Kahn aufzufangen. Der alte Mann wankte gegen die Kabine.
«Schimpf nicht mit mir, Liebling», sagte er und schlang einen Arm um Andrews' Hals. Mit der anderen Hand winkte er zu seiner Frau hinüber: «Ich habe einen Kameraden für den kleinen Amerikaner gefunden.»
«Was?» fragte Andrews scharf.
Sein Mund war plötzlich trocken vor Schreck. Er fühlte, wie sich seine Nägel in seine kalten Handflächen eingruben.
«Ich habe einen anderen Amerikaner für dich gefunden», sagte der alte Mann mit wichtiger Stimme. «Hier kommt er.»
Ein anderer Schatten erschien am Ende der Planke.
«Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!» rief der alte Mann.
Andrews drückte sich vorsichtig auf die Seite des Kahnes. Alle Muskeln seines Körpers zitterten. Eine schrille Stimme in seinem Kopfe sagte: «Ertränke dich, ertränke dich, dann werden sie dich nicht fassen.»
Der Mann stand am Ende der Planke. Andrews konnte die Kontur der Uniform im Licht, das hinter den Pappelbäumen hervorkam, erkennen. «Gott, wenn ich nur eine Pistole bei mir hätte», dachte er.
«Sag Kamerad, wo bist du?» fragte eine amerikanische Stimme.
Der Mann kam über das Deck näher. Andrews stand starr, jeder Muskel gespannt.
«Donnerwetter, du hast ja deine Uniform ausgezogen... Beruhige dich, ich bin kein Militärpolizist, bin auch ohne Urlaub fort. Gib her die Pfote.»
Er streckte seine Hand aus. Andrews nahm die Hand, zögernd, ohne sich vom Ende des Kahnes fortzubewegen.
«Sag Kamerad, 's ist 'ne dumme Geschichte, die Uniform ausziehen. Hast keine mehr? Wenn sie dich erwischen, kostet's dich das Leben.»
«Ist mir gleich. Es ist jetzt geschehen.»
«Du denkst wohl immer noch, ich bin ein Militärpolizist? Ich schwöre, ich bin's nicht. Vielleicht aber bist du es. Dieses Leben ist wirklich die Hölle. Man kann keinem Menschen mehr vertrauen.»
«Von welcher Division kommst du?»
«Ich komme, dich zu warnen. Dieser Franzose da, der war so'n bisschen angesäuselt und hat in der Kneipe geplappert, er sei Anarchist und all' so'n Zeugs, und er hätte 'nen amerikanischen Deserteur, der auch 'n Anarchist sei, und so weiter, und da sagte ich zu mir, den Jungen werden sie fassen, wenn er nicht acht gibt. So habe ich mich denn dem alten Franzmann da angeknöpft und gesagt, ich möchte den Kameraden da sehen, und ich denke, wir machen uns beide besser bald aus dem Staube.»
«Verdammt anständig. Tut mir leid, dass ich so misstrauisch war. War vor Schrecken ganz starr, als ich dich zuerst sah.»
«Hattest auch verdammt recht. Aber warum hast du die Uniform ausgezogen?»
«Machen wir, dass wir hier fortkommen. Ich erzähle dir noch davon.»
Andrews schüttelte dem alten Mann und der alten Frau die Hände. Rosaline war verschwunden.
«Gute Nacht, danke schön», sagte er und folgte dem anderen Manne über die Planke. Wie sie die Straße hinunter fortgingen, hörten sie die Stimme des alten Mannes brüllen: «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!»
«Mein Name ist Eddy Chambers», sagte der Amerikaner.
«Ich heiße John Andrews.»
«Wann bist du ausgerissen?»
«Vor zwei Tagen.»
Eddy pfiff vor Staunen.
«Ich bin von einem Arbeitsbataillon in Paris ausgerückt. In Chartres hatten sie mich ohne Pass erwischt.»
«Ich bin schon seit über einem Monat weg. Warst du auch bei der Infanterie?»
«Ja, ich war bei der Schulabteilung in Paris, als sie mich einsteckten. Sie schickten mich einfach ohne jede Untersuchung fort. Bist du schon mal in einem Arbeitsbataillon gewesen?»
«Gott sei Dank, nein. Meine Nummer haben sie noch nicht in den Fingern.»
Sie gingen schnell eine breite Straße hinunter. Über ihnen stand der Himmel voll klarer, kristallener Sterne.
«Ich bin gestern acht Wochen fort. Was hältst du davon?» fragte Eddy.
«Musst ordentlich Geld gehabt haben.»
«Seit fünfzehn Tagen keinen Penny.»
«Wie hast du das geschafft?»
«Weiß nicht. Hab's geschafft. Siehst du, die Abteilung, bei der ich war, ging nach Hause, als ich im Hospital war. Und als ich raus kam, wollte man mich zum Okkupationsheer schicken. Gott, ich wäre krank geworden bei einer neuen Truppe, wo ich niemand kenne, und alle meine Kameraden zu Hause, und überall mit Musik und Mädchen empfangen. Wo gehst du hin?»
«Paris.»
«Verdammt riskante Sache.»
«Aber ich habe Freunde dort, kann dort Geld in die Finger kriegen.»
«Ich schaue aus, als ob ich auf der ganzen Welt keinen Freund hätte.» «Was bist du zu Hause gewesen?» «Zimmermann.»
«Aber Mann, mit einem solchen Beruf kann man sich ja überall durchschlagen.»
«Da hast du verdammt recht. Aber in diesem Spiel, das wir spielen, muss man ja wie ein Maulwurf unter der Erde leben. Wenn ich wenigstens in ein Land kommen könnte, wo ich wie 'n Mensch rumlaufen kann. Da wäre es mir ganz gleich, was passiert. Wenn diese Armee hier je rausgeht und diese verdammten Militärpolizisten, werde ich in einer dieser kleinen Städte ein Geschäft aufmachen. Kann ganz gut parier. Würde auch ganz gern ein französisches Mädchen heiraten und so'n regelrechter Franzmann werden. Nach dem, was mir mit diesem verdammten Heer passiert ist, will ich nichts mehr mit dem
Scheißland da drüben zu tun haben. Demokratie!» Er räusperte sich und spuckte ärgerlich auf den Weg. Sie gingen schweigend weiter. Andrews sah hinauf in den Himmel.
«Warum hast du nicht versucht, nach Spanien oder Italien zu kommen?» fragte er nach einer Weile.
«Kann die Sprache nicht. Nein, ich gehe nach Schottland.»
«Aber wie kannst du dahin kommen?»
«Auf einem der Fährboote von Havre nach England. Habe schon mit einigen gesprochen, die es geschafft haben.»
«Aber was wirst du machen, wenn du dahin kommst?»
«Woher soll ich das wissen? Leben, so gut ich kann. Was kann ein Mensch tun, wenn er noch nicht einmal wagen darf, sein Gesicht auf der Straße zu zeigen?»
«Trotzdem. Man fühlt sich direkt kräftig und mächtig, so auf sich selbst angewiesen und ausgerückt zu sein», sagte Andrews prahlend.
«Warte mal, bis du zwei Monate raus bist, mein Junge. Und dann denke an das, was ich dir jetzt sage: Die Armee ist die Hölle, wenn du drin bist. Aber es ist noch ein gut Teil schlimmer, wenn du raus bist am falschen Ende.»
«Es ist eine herrliche Nacht heute», sagte Andrews.
«Werden hoffentlich eine Scheune finden, wo wir schlafen können.»
«Bei mir ist das ja ganz anders», brach Andrews plötzlich aus. «Ich habe Freunde hier.»
«Oh, du hast wohl ein Mädchen getroffen, was?» fragte Eddy ironisch.
«Ja. Wir kommen sehr gut miteinander aus.» Eddy lachte auf.
«Ich wette, du hast sie noch nicht mal geküsst», sagte er. «Ich kenne auch solche. Kenne einen, der heiratete so eine und hatte nach zwei Wochen raus, dass er statt Ehemann Puffmutter geworden war.»
«Das ist ja dumm, darüber zu reden. Kann's nicht erklären. Man hat Vertrauen zu allem, wenn man weiß, dass jemand da ist, der alles versteht, was man tut.»
«Du wirst wahrscheinlich heiraten, was?»
«Ich sehe keinen Grund dazu. Das würde alles verderben.»
Eddy pfiff leise.
Sie gingen weiter, schnellen Schrittes, ohne zu sprechen, eine lange Zeit. Ihre Schritte klangen auf der harten Straße. Der Himmelsdom über ihnen leuchtete geheimnisvoll. Und aus den Gräben kam das schrillende Quaken der Frösche. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte Andrews fröhliche Abenteuerlust wie Seifenblasen in sich aufsteigen. Der Rhythmus der drei Reiter, der die Präludie zur «Königin von Saba» werden sollte, sprudelte ihm durch den Kopf. «Ja, Eddy, das ist wundervoll. Wir, ganz allein, gegen das Universum», sagte er prahlend. «Warte nur», erwiderte Eddy.
Als Andrews an dem Militärpolizisten im Bahnhof Saint Lazare vorbeiging, waren seine Hände kalt vor Angst. Der Militärpolizist schaute ihn nicht an. Er hielt einige Schritte vom Bahnhof entfernt auf dem überfüllten Bahnsteig an und blickte in den Spiegel eines Ladenfensters. Unrasiert, mit einer scheckigen Mütze schief auf dem Kopfe und Manchesterhosen, sah er aus wie ein junger Arbeiter, der seit einem Monat arbeitslos war. «Kleider machen Leute», sagte er zu sich selbst. Er lächelte, als er daran dachte, wie schockiert Walters sein würde, wenn er so anrücken werde, und er begann schnellen Schrittes weiter zu gehen durch Paris, wo alles geschäftig an die Morgenarbeit ging, wo aus jedem Cafe der heiße Dunst von Kaffee kam und frisches Brot in den Schaufenstern der Bäckereien dampfte. Er hatte noch drei Franken in der Tasche. In einer Seitenstraße zog ihn der Geruch von röstendem Kaffee in eine kleine Bar. Einige Männer prahlten da herum. Einer von ihnen wandte ein rotes Gesicht mit einem Schnurrbart, der wie ein schwarzer Strick aussah, Andrews zu und sagte: «Et toi, tu vas chômer le premier mai?»
«Ich stehe schon im Streik», antwortete Andrews lachend.
Der Mann bemerkte seinen Akzent, schaute ihn einen Augenblick scharf und beobachtend an und wandte sich zu den anderen zurück, senkte aber seine Stimme.
Andrews trank seinen Kaffee hinunter und verließ die Bar mit pochendem Herzen. Er musste des Öfteren zurückschauen, um festzustellen, ob man ihm nicht folge. An einer Ecke blieb er mit geballter Faust stehen und lehnte sich einen Augenblick gegen eine Hauswand.
«Wo sind deine Nerven?» sagte er immer wieder zu sich selbst. Er ging plötzlich weiter, voll des festen Entschlusses, sich nicht wieder umzuwenden. Er versuchte, sich mit Projekten zu beschäftigen.
«Wollen schauen. Was soll ich tun? Zuerst in mein Zimmer gehen und sehen, was Henslowe und Walters machen. Dann zu Geneviève. Dann arbeiten, arbeiten, alles in der Arbeit vergessen, bis die Armee nach Amerika zurücktransportiert ist und keine Uniform mehr auf den Straßen zu sehen ist. Und was die Zukunft angeht...» Was ging ihn die Zukunft an?
Als er um die Ecke in die bekannte Straße einbog, wo sein Zimmer war, kam ihm ein Gedanke: wenn er nun dort Militärpolizei vorfände?
Er schob den Gedanken ärgerlich beiseite und ging schnell weiter, holte einen Soldaten ein, der in derselben Pachtung schlenderte, mit den Händen in den Taschen und den Augen am Boden. Andrews blieb plötzlich stehen, als er an dem Soldaten vorbeiging und wandte sich um. Der Mann schaute auf. Es war Chrisfield. Andrews streckte ihm die Hand entgegen. Chrisfield ergriff sie eifrig und schüttelte sie heftig.
«Jesus Christus, ich dachte, du seist ein Franzose, Andy... Sie haben dich wohl entlassen, was? Bin froh, dich zu sehen.»
«Schön, dass ich wie ein Franzose aussehe... Hast du schon lange Urlaub, Chris?»
Zwei Knöpfe waren vom an Chrisfields Uniform abgerissen. Schmutz war auf seinem Gesicht, und seine Gamaschen waren schlammbedeckt. Er sah Andrews ernst in die Augen und schüttelte den Kopf.
«Nein. Habe mich gedrückt, Andy», sagte er leise.
«Wann?»
«Vor einigen Wochen. Erzähle dir noch davon, Andy. Wollte dich jetzt besuchen. Habe keinen Penny Geld mehr.»
«Morgen werde ich wahrscheinlich Geld in die Finger kriegen. Ich bin auch ausgerückt.»
«Was soll das heißen?»
«Ich bin auch nicht entlassen worden. Ich bin mit der Geschichte fertig. Ich bin desertiert.»
«Was? Das ist aber komisch, dass wir beide das getan haben, Andy. Aber warum hast du das getan?»
«Dauert zu lange, das jetzt hier zu erzählen. Komm mit hinauf auf mein Zimmer.»
«Sind vielleicht Leute da. Warst du schon mal bei dem Chink?»
«Nein.»
«Ich wohne da. Auch noch andere, die ausgerückt sind. Der Chink hat 'ne Kneipe.»
«Wo?»
«Am Petit Jardin.»
«Wo ist das?»
«Hinter dem Garten, wo die Tiere sind.»
«Ich werde dich dort morgen früh aufsuchen, und ich werde 'was Geld mitbringen.»
«Ich erwarte dich, Andy, um neun. Es ist eine Bar. Ohne mich kommst du nicht rein. Die Jungens haben vor Leuten in Zivil Angst.»
«Ich denke, es ist vollkommen sicher, jetzt zu mir raufzukommen.»
«Nein, ich mache, dass ich hier fortkomme.» «Aber, Chris, warum bist du desertiert?» «Oh, ich weiß nicht... Einer hat mir deine Adresse gegeben.»
«Hat der nichts über mich gesagt?» «Nein, nichts.»
«Seltsam. Nun, Chris, ich werde morgen früh da sein, wenn ich das Lokal finden kann.» «Mensch, du musst kommen.»
«Ich komme bestimmt», sagte Andrews mit einem Lächeln. Sie schüttelten sich erregt die Hände.
«Sag, Andy», sprach Chrisfield stockend und hielt immer noch Andrews' Hand, «... bin desertiert, weil 'n Sergeant... Das reitet furchtbar auf mir die letzten Tage herum... Ein Sergeantweiß davon... Habe dir doch von Anderson erzählt... Ich weiß, du hast mit niemand darüber gesprochen, Andy...»
Chrisfield ließ Andrews' Hand fallen und sah ihm unerwartet von der Seite ins Gesicht. Dann fuhr er durch die Zähne fort:
«Und ich schwöre bei Gott, habe keiner anderen lebenden Seele davon erzählt... und 'n Sergeant in der Kompanie weiß es...»
«Um Gottes willen, Chris, rege dich nicht so auf.» «Bin ganz ruhig. Sage dir nur: einer weiß davon.» Chrisfields Stimme schwoll plötzlich schrill an. «Schau, Chris, wir können nicht auf der Straße weiter so sprechen. Das ist nicht sicher.»
«Aber vielleicht kannst du mir morgen raten, was zu tun. Denk nach, Andy. Vielleicht fällt dir bis morgen ein, was wir tun können. Auf Wiedersehen.»
Chrisfield lief schnell weg. Andrews sah ihm einen Augenblick nach und ging dann durch den Hof des Hauses, wo sein Zimmer lag. An der Treppe erschreckte ihn plötzlich die Stimme einer alten Frau:
«Mais, Monsieur Andre, que vous avez l'air étrange! Wie seltsam sehen Sie so angezogen aus!»
Die Hausmeisterin lächelte ihn aus ihrer Loge neben der Treppe an. Sie saß strickend, mit einem schwarzen Schal um den Hals, eine winzige, alte Frau mit einer Hakennase wie ein Vogel und tief eingesunkenen Augen.
«Ja, in der Stadt, wo ich demobilisiert wurde, konnte ich nichts anderes kriegen», stammelte Andrews.
«Oh, Sie sind demobilisiert? Darum waren Sie so lange fort! Monsieur Walters sagte, er wisse nicht, wo Sie seien. So ist's besser, nicht?»
«Ja», sagte Andrews und begann die Treppen hinauf zu steigen.
«Monsieur Walters ist jetzt da», fuhr die alte Frau fort. «Und Sie sind gerade rechtzeitig vor dem 1. Mai noch reingekommen.»
«O ja, der Streik», sagte Andrews und blieb auf der Hälfte der ersten Treppe stehen.
«Es wird schrecklich sein», sagte die alte Frau. «Ich hoffe, Sie werden nicht ausgehen. Die Jugend kommt so leicht in Zusammenstöße... Oh, alle Ihre Freunde waren sehr besorgt um Sie.»
«So?» meinte Andrews und ging weiter die Treppe hinauf.
«Au revoir, Monsieur.»
«Au revoir, Madame.»
3
«Nein, nichts kann mich jetzt veranlassen, zurückzukehren. Es hat keinen Sinn, darüber zu sprechen.»
«Aber du bist ja verrückt, Mensch, du bist verrückt. Ein Mann allein kann doch nicht sich so gegen das ganze System auflehnen, nicht, Henslowe?»
Walters sprach ernst und beugte sich über den Tisch neben der Lampe. Henslowe, der sehr steif auf einer Ecke des Stuhles saß, nickte mit zusammengepressten Zähnen. Andrews lag in voller Länge auf dem Bett, außerhalb des Kreises der Lampe.
«Aufrichtig, Andy», sagte Henslowe mit Tränen in der Stimme, «ich denke, du tätest besser, was Walters sagt. Es hat keinen Zweck, sich heroisch zu benehmen.»
«Ich bin nicht heroisch, Henny!» schrie Andrews und setzte sich im Bett auf.
Er zog die Füße an sich wie ein Schneider und fuhr sehr ruhig fort:
«Schau, es ist eine rein persönliche Frage. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo es mir ganz gleich ist, was mir geschieht. Es ist mir gleich, ob man mich erschießt, oder ob ich achtzig Jahre alt werde... Ich habe es satt, herumkommandiert zu werden. Achtzig Jahre Leben sind es nicht wert, noch ein einziges Mal angeschnauzt zu werden... wenigstens für mich. Das ist alles. Sprechen wir über etwas anderes.»
«Aber wie oft hat man dich denn überhaupt angeschrieen, seitdem du in der Schulabteilung bist? Nicht ein einziges Mal. Du kannst wahrscheinlich noch deine Entlassung durchsetzen.»
Walters stand auf und kratzte mit dem Stuhl auf dem Boden herum.
«Schau her, das ist mein Vorschlag», fuhr er fort. «Glaube nicht, dass man dich im Büro schon als desertiert gemeldet hat. Es ist ja alles schlecht organisiert da. Du gehst und sagst, du seist krank gewesen und bittest um dein rückständiges Geld. Und keiner wird was sagen. Oder ich werde mit dem ersten Sergeanten sprechen. Ist 'n guter Freund von mir. Wir können das schon irgendwie zurecht machen. Aber um Gottes willen verdirb doch nicht dein ganzes Leben mit dieser Hartnäckigkeit und um einiger anarchistischer Ideen willen, die ein Kerl mit Verstand, wie du, längst hätte abschütteln sollen...»
«Er hat recht, Andy», sagte Henslowe leise.
«Bitte, sprich nicht darüber. Ihr habt mir das alles schon erzählt», sagte Andrews scharf. Er warf sich auf das Bett zurück und rollte sich hinüber zur Wand. Sie schwiegen eine Zeitlang. Stimmengewirr und Schritte kamen aus dem Hof herauf.
«Aber schau her», Andy», sagte Henslowe, nervös seinen Schnurrbart zupfend. «In Wirklichkeit ist dir deine Arbeit doch mehr wert, als irgendeine abstrakte Idee, dein Recht auf individuelle Freiheit durchzusetzen. Sogar wenn man dich nicht fasst... ich glaube nicht, dass die Möglichkeit, gefasst zu werden, groß ist, wenn man ordentlich aufpasst... Aber sogar wenn man dich nicht fasst... du hast doch nicht genug Geld, um lange hier zu leben.»
«Glaubt ihr etwa, dass ich an all das nicht gedacht habe? Bin doch nicht verrückt! Ich habe mir alles genau ausgerechnet. Das einzige ist nur, dass ihr Kerls nichts verstehen könnt. Wart ihr vielleicht schon in einem Arbeitsbataillon? Hat euch schon mal einer, mit dem ihr noch vor fünf Minuten gesprochen habt, plötzlich niedergeschlagen? Großer Gott, ihr wisst ja gar nicht, worüber ihr sprecht, ihr beiden. Ich muss frei sein, das ist das einzige, worauf es jetzt ankommt.»
Andrews lag auf dem Rücken und sprach zur Decke hinauf, Henslowe stand auf und ging nervös durch das Zimmer.
«Als ob irgendeiner frei ist», murmelte er.
«Gut, gut, und so weiter, und so weiter, und so weiter. Du kannst alles, wenn du willst, fortargumentieren. Natürlich, Feigheit ist die beste Politik, notwendig, um zu den Überlebenden zu gehören. Der Mann, der den stärksten Willen zum Leben hat, ist bestimmt der feigste. Fahre fort!»
Andrews' Stimme war schrill und aufgeregt und brach fast von Wort zu Wort wie die Stimme eines halberwachsenen Jungen.
«Andy, was um Gottes willen hat dich denn erfasst?... Ich hasse es, so wegzugehen», fügte Henslowe nach einer Pause hinzu.
«Werde schon gut durchkommen, Henny. Werde dich wahrscheinlich in Syrien als arabischer Scheich verkleidet besuchen.» Andrews lachte aufgeregt.
«Wenn ich dir helfen könnte, würde ich bleiben. Aber was soll ich tun? Jeder muss sein Leben auf seine eigene närrische Art zurechtbringen. Auf Wiedersehen, Walters.»
Walters und Henslowe schüttelten sich abwesend die Hände. Henslowe kam hinüber zum Bett und streckte Andrews die Hand entgegen.
«Schau her, alter Kerl, sei so vorsichtig, wie möglich, und schreibe mir: Adresse Amerikanisches Rotes Kreuz, Jerusalem. Werde sehr auf deine Nachrichten warten.»
«Sorge dich nicht. Wir werden schon noch 'ne Reise zusammen machen», sagte Andrews, setzte sich auf und nahm Henslowes Hand.
Sie hörten Henslowes Schritt auf der Treppe und dann einen Augenblick auf dem Pflaster des Hofes. Walters setzte seinen Stuhl an Andrews' Bett. «Wir wollen mal wie Männer zusammen sprechen, Andrews. Sogar, wenn du selbst dein Leben ruinieren willst, du hast nicht das Recht dazu! Du hast deine Familie, und der Patriotismus... Erinnere dich, es gibt so etwas wie Pflicht in der Welt!»
Andrews setzte sich auf und sagte mit leiser, aber wütender Stimme — er machte nach jedem Wort eine Pause: «Ich kann es nicht erklären... Aber ich werde nie wieder eine Uniform anziehen... also um Gottes willen, halt's Maul.»
«Mach, was du willst. Will nichts mehr mit dir zu tun haben.»
Walters schrie plötzlich vor Wut. Dann begann er sich schweigend auszuziehen. Andrews lag eine lange Zeit flach auf dem Rücken in seinem Bett, starrte auf die Decke, dann zog er sich aus, drehte das Licht ab und ging ins Bett.
Die Rue Petit Jardin war eine kurze Straße in einem Bezirk, der hauptsächlich von Speicherhäusern eingenommen wurde. Eine graue, fensterlose Wand sperrte das Licht auf der einen Seite ganz ab. Gegenüber lagen drei alte Häuser, die aneinandergelehnt standen, als ob eines das andere stützen müsse. Hinter ihnen erhob sich ein ungeheures Gebäude mit Reihen und Reihen schwarzer Fenster. Als Andrews anhielt, um sich umzuschauen, fand er die Straße vollkommen verlassen. Die erschreckende Ruhe, die über der Stadt lag, während seines ganzen Ganges von seinem Zimmer am Pantheon an, schien hier in völliger Einöde und Verlassenheit ihren Höhepunkt zu erreichen. In dem Schweigen konnte er hören, wie ein Hund, der am anderen Ende der Straße herumtrottete, die Füße auf das Pflaster, einen nach dem anderen, aufsetzte.
Andrews schob die Tür auf, die sich leicht öffnete. Irgendwo drinnen klingelte eine Glocke, erschreckend laut nach dem Schweigen der Straße. An der Mauer gegenüber der Tür war ein fleckiger Spiegel mit einem Sprung darin und darunter eine Bank mit drei Marmortischen. Andrews ging hinein zur Bar. Er wartete. Seltsame Unruhe bemächtigte sich langsam seiner.
«Wie dem auch sei», dachte er, «man vergeudet hier seine Zeit. Ich muss eigentlich draußen sein und mich um meine Zukunft kümmern.» Er ging zurück zu der Straßentür. Die Glocke klingelte wieder, als er sie öffnete. Im selben Augenblick kam ein Mann aus der Tür, die mit Zeitungen bekleistert war. Es war ein dicker Mann in einem schmutzigen weißen Hemd. Er hatte ein welkes, grünlich gefärbtes Gesicht. Schwarze Augen schauten Andrews durch nur wenig geöffnete Lider scharf an. «Das ist der Chink», dachte er.
«Nun?» sagte der Mann und nahm seinen Platz hinter der Bar ein.
«Ein Bier bitte», sagte Andrews. «Es gibt hier keines.» «Dann bitte ein Glas Wein.»
Der Mann nickte mit dem Kopfe und ging zur Tür hinaus, behielt aber bis zum Verlassen des Raumes Andrews fest im Auge. Einen Augenblick später kam Chrisfield heraus mit wirrem Haar, gähnend und rieb sich die Augen mit den Knöcheln der einen Hand.
«'n Tag, Andy. Bin gerade aufgewacht. Komm mit.»
Andrews folgte ihm durch ein kleines Zimmer mit Tischen und Bänken, einen Korridor hinunter, wo starker Ammoniakdunst ihm in die Augen stach und eine Treppe hinauf, auf der Schmutz und Abfall lag. Chrisfield öffnete eine Tür direkt von der Treppe aus, und sie stolperten in ein großes Zimmer mit einem Fenster, das auf den Hof hinausführte. Chrisfield schloss die Tür sorgfältig und wandte sich mit einem Lächeln an Andrews:
«Hatte richtig Angst, würdest nicht finden, Andy.»
«So, hier lebst du also?»
«Hm, hm. 'ne Masse von uns leben hier.»
Ein großes Bett ohne Bettzeug, in dem ein Mann in olivfarbener Kleidung in eine Decke schlecht eingerollt schlief, war das einzige Möbelstück im Zimmer.
«Wir schlafen zu dritt in dem Bett», sagte Chrisfield.
«Wer ist das?» schrie der Mann im Bett und setzte sich plötzlich auf.
«Beruhige dich, Al, is'n Kamerad von mir», sagte Chrisfield. «Hat die Uniform abgelegt.»
«Jesus, du hast sehr viel Mut», sagte der Mann im Bett. Andrews sah ihn scharf an. Ein Stück Handtuch, das hier und da Flecken getrockneten Blutes zeigte, war um seinen Kopf gewickelt, und seine Hand, auch dick bandagiert, lag in einer Schlinge an seinem Körper. Der Mund des Mannes zeigte einen verbissenen Ausdruck von Schmerz, als er seinen Kopf wieder langsam auf das Bett zurücklegte.
«Mann, was hast du dir denn getan?» rief Andrews.
«Ich habe versucht, mit einem Güterzug nach Marseille durchzubrennen.»
«Man braucht Übung, um so was zu machen», sagte Chrisfield, der auf dem Bett saß und seine Schuhe auszog. «Will mich wieder hinlegen, Andy. Bin todmüde. Ich habe die ganze Nacht auf dem Markt Kohl gerupft. Man kriegt da Arbeit, ohne erst viel gefragt zu werden.»
«Willst 'ne Zigarette?»
Andrews setzte sich nieder am Fuß des Bettes und warf Chrisfield eine Zigarette hinüber. «Du auch?» fragte er Al.
«Nein, könnte doch nicht rauchen. Werde fast verrückt mit dieser Hand. Ein Rad lief darüber... Was vom kleinen Finger übrig blieb, habe ich mit dem Rasiermesser abgeschnitten.»
Andrews sah, wie ihm Schweißperlen die Backen hinunterliefen, als er sprach.
«Mann, dieser arme Kerl da, der hat was erlebt! Wir haben zu viel Angst, zum Doktor zu gehen und wussten alle nicht, was tun.»
«Ich habe mir reinen Alkohol verschafft und die Wunde darin gewaschen. Kein Schmutz darin. Ich denke, wird schon wieder in Ordnung kommen.»
«Wo kommst du her, Al?» fragte Andrews.
«Frisco. Oh, ich möchte schlafen. Ich habe seit vier Nächten kein Auge zugetan.»
«Schau her, Chris», sagte Andrews, «ich werde mit dir teilen. Ich habe fünfhundert Franken.»
«Jesus, Mensch, scherze nicht mit so was.»
«Hier sind zweihundertfünfzig. Ist nicht so viel, wie es klingt.»
Andrews gab ihm fünf Fünfzig-Frankennoten. «Sag mal, warum bist du denn ausgerissen?» fragte Al und wandte seinen Kopf nach Andrews.
«Ich war in einem Arbeitsbataillon. Das ist alles.»
«Erzähl mir doch davon, Kamerad. Ich fühle meine Hand nicht so, wenn ich mit jemandem spreche... Meine Abteilung war in Koblenz. Da habe ich Chris getroffen. Dann war ich in Straßburg, wo wir 'ne feine Zeit verlebt haben. Donnerwetter, alles in dieser Stadt richtig pittoresk, gerade so, wie mir einer zu Hause immer erzählte, dessen Eltern aus Italien gekommen waren. Da unten traf ich ein Mädchen, das mir erzählte, sie wolle mal runter kommen, um nach ihrem Bruder zu sehen, der in der Fremdenlegion sei.»
Andrews und Chrisfield lachten.
«Warum lacht ihr?» fragte Al mit eifriger und gespannter Stimme.
«Wirklich und wahrhaftig, ich werde sie heiraten, wenn ich je hier rauskomme. Sie ist das beste kleine Mädchen, das mir je begegnet ist. Sie war Kellnerin in einem Restaurant... Ich blieb und blieb, immer länger. Jeden Tag dachte ich, werde den nächsten Tag fahren. Na, der Krieg war vorbei... Hat denn der Mensch überhaupt keine Rechte mehr? Dann begann die Militärpolizei Straßburg zu bearbeiten. Und da habe ich gemacht, dass ich fortkam. Und jetzt sieht es aus, als ob ich nie wieder zurück könnte.»
«Sag, Andy», fiel Chrisfield plötzlich ein, «wollen mal runtergehen und einen trinken.»
«Gut. Al, sollen wir dir was mit raufbringen?»
«Nein. Ich will still liegen und die Hand in Alkohol baden dann und wann... Wie dem auch sei, es ist heute der erste Mai. Verrückt, auszugehen. Man kann euch fassen. Aufstände sollen bevorstehen.»
«Das habe ich ja ganz vergessen. Es ist der erste Mai heute!» rief Andrews. «Generalstreik zum Protest gegen den Krieg mit Russland und...»
«Einer sagte mir», unterbrach Al mit schriller Stimme, «eine Revolution werde kommen.»
«Komm mit, Andy», sagte Chrisfield von der Tür aus.
Auf der Treppe drückte Chrisfield Andrews' Arm hart. «Sag, Andy», Chrisfield legte seine Lippen nahe an Andrews' Ohr und sprach heiser flüsternd: «Du bist der einzige, der weiß — und weißt was. Du und der Sergeant. Sag hier keinem was, damit sie mich nicht fassen können, hörst du?»
«Gut, Chris, werde kein Wort sagen. Aber Mann, nimm dich doch ein wenig zusammen. Du bist nicht der einzige, der mal einen erschossen...»
«Halt dochs Maul, hörst du?» murmelte Chrisfield wild.
Sie gingen die Treppe schweigend hinunter. In dem Raum neben der Bar saß der Chink in seine Zeitung vertieft.
«Ist der Franzose?» flüsterte Andrews. «Weiß nicht, was er ist. Ist kein Weißer», sagte Chrisfield. «Aber er verrät bestimmt nichts.»
«Wissen Sie, was vorgeht?» fragte Andrews auf französisch und ging an den Chink heran.
«Wo?» Der Chink stand auf, warf aus seinen Schlitzaugen einen misstrauischen Blick zu Andrews hinüber. «Draußen, auf den Straßen, in Paris, überall wo die Leute draußen sind und was unternehmen können. Was halten Sie von der Revolution?»
Der Chink zog die Schultern zusammen. «Es ist vieles möglich auf der Welt», murmelte er.
«Meinen Sie wirklich, dass man an einem Tage wie diesem die ganze Armee und die Regierung über den Haufen werfen kann?» «Wer?» warf Chrisfield ein.
«Nun, das Volk, Chris, das gewöhnliche Volk, wie du und ich, das müde ist, herumkommandiert zu werden, das müde ist, niedergetreten zu werden von anderen Leuten, nicht besser und nicht mehr als man selbst, die nur das Glück hatten, an die richtige Stelle in diesem System zu kommen.» «Wissen Sie, was ich tun werde, wenn die Revolution kommt?» brach der Chink ein mit plötzlicher Intensität und schlug sich mit der einen Hand auf die Brust. «Ich werde geradeaus in einen dieser Juwelierläden in der Rue Royale gehen und meine Taschen anfüllen und nach Hause kommen mit den Händen voller Diamanten.»
«Welchen Sinn soll das haben?» fragte Andrews. «Welchen Sinn? Ich werde sie im Hof vergraben und warten. Ich werde sie am Ende doch brauchen. Wissen Sie, was das heißt, Ihre Revolution? Ein anderes System! So lange es noch ein System gibt, wird es immer Menschen geben, die man mit Diamanten kaufen kann. Das ist so auf der Welt.» «Aber die Diamanten werden ja nichts wert sein. Nur die Arbeit, die wird Wert haben.»
«Wollen abwarten», sagte der Chink.
«Meinst du wirklich, Andy, dass eine Revolution kommen kann un' keine Sklaven mehr sein werden un' wir herumlaufen können wie Zivilisten? Ich glaub's nicht. Kerle wie wir haben nicht Mumm genug, gegen das System anzugehen, Andy.»
«Viele Systeme sind früher schon untergegangen. Auch dieses System wird seinem Schicksal nicht entgehen.»
«Sie kämpfen gegen die Garde Républicaine dort unten vorm Gare de l'Este», sagte der Chink mit tonloser Stimme. «Was wollt ihr hier unten? Bleibt lieber oben. Man kann nie wissen, was die Polizei unternimmt hier bei uns.»
«Zwei Flaschen Weißwein, Chink», sagte Chrisfield.
«Wann wirst du blechen?»
«Gleich. Der da hat mir fünfzig Franken gegeben.»
«Reich also?» sagte der Chink mit Hass in der Stimme und wandte sich zu Andrews.
Er ging hinüber zur Bar und schloss die Tür sorgsam hinter sich. Ein plötzliches Klingeln der Glocke ertönte. Laute Stimmen und stampfende Füße. Andrews und Chrisfield gingen auf Zehenspitzen in den dunklen Korridor, wo sie eine lange Zeit standen, wartend und die faulige Luft widerwillig einatmend. Schließlich kam der Chink mit drei Flaschen Weißwein wieder.
«Sie haben recht», sagte er zu Andrews. «Auf der Avenue Maguenta werden Barrikaden errichtet.»
Als er Chrisfield wieder in das Zimmer folgte, sah Andrews einen Mann auf dem Fensterbrett rauchend sitzen. Er war gekleidet wie ein Secondleutnant, seine Gamaschen waren glänzend geputzt, und er rauchte eine lange, weiße Zigarettenspitze. Seine Nägel waren sorgfältig manikürt.
«Das ist Slippery, Andy», stellte Chrisfield vor. «Das ist 'n alter Kamerad von mir.»
«So?»
«Du hast deine Uniform ausgezogen. Sehr dumm», sagte Slippery. «Wenn sie dich nun fassen?»
«Habe nicht die Absicht, mich fassen zu lassen», antwortete Andrews.
«Wir haben Wein», meinte Chrisfield.
Andrews ging hinüber zum Bett. Al lag dort und wand sich vor Schmerzen.
«Hallo», sagte er, «was gibt's Neues?»
«Barrikaden sollen beim Gare de l'Este gebaut werden. Kann vielleicht was werden.»
«Ich hoffe es. Gott, ich wünschte, sie machten hier genau dasselbe wie in Russland. Dann werden wir frei sein. Nach den Vereinigten Staaten können wir ja doch nicht zurück. Aber dann gäb's hier wenigstens keine Militärpolizei mehr, die hinter uns her ist wie hinter Verbrechern. Will mich 'ne Weile aufsetzen und sprechen.»
Al kicherte hysterisch einen Augenblick.
«Willst du 'nen Schluck Wein?» fragte Andrews.
«Sicher. Wird mir vielleicht gut tun. Danke.»
Er trank gierig aus der Flasche.
«Sag mal, ist dein Gesicht schlimm zerschnitten, Al?»
«Nein. Nur die Haut ab. Wird wie ein Beefsteak aussehen, denk ich... Bist du schon mal in Straßburg gewesen?»
«Nein.»
«Mann, das ist 'ne Stadt, und die Mädchen in dem Kostüm...»
«Sag, du kommst aus Frisco, nicht?»
«Sicher.»
«Kennst du vielleicht einen Mann — ich lernte ihn im Übungslager kennen, auch aus Frisco — der Fuselli heißt?»
«Jesus, Mann, das ist ja mein bester Freund... Weißt du, wo er jetzt ist?...»
«Ich sah ihn vor zwei Monaten, in Paris.»
«Verflucht noch mal.»
Als Stimme sprang in einem aufgeregten Stakkato auf und ab.
«So, du hast Dan im Übungslager kennengelernt. Sein letzter Brief — 's fast ein Jahr her — gerade Korporal geworden. War 'n verdammt kluger Junge, und auch ehrgeizig... Hast du ihn wirklich gut gekannt?»
«Ja. Ich erinnere mich sogar, dass er mir von einem erzählte, der Al hieß. Er erzählte mir immer, wie ihr zusammen nach dem Hafen rausgegangen seid und die großen Schiffe mit ihren Lichtern nachts durch das <Goldene Ton hereinkommen sahet. Und er erzählte mir auch, dass er immer davon gesprochen habe, mit einem solchen Schiff einmal nach Europa zu fahren.»
«Darum musste ich in Straßburg an ihn denken!» rief Al vor Aufregung zitternd. «Weil es da so pittoresk war... Dan, der ist sicher schon Offizier heute.»
«Nein», antwortete Andrews. «Aber bleib doch ruhig. Pass auf deine Hand auf.»
«Verdammte Hand. Wird schon heilen, wenn ich nur nicht daran denke.»
«Der Chink erzählt, dass man auf der Avenue Maguenta Barrikaden errichtet.» «Es geht los, Junge.»
«Ach was!» rief Slippery von seinem Fensterplatz aus, wo er und Chrisfield über die Würfel gebeugt standen. «Ein Tank und einige Schwarze, dann laufen deine gottverfluchten Sozialisten so schnell, dass sie vor Dijon überhaupt nicht zum Halten kommen... Ihr Kerls solltet doch mehr Verstand haben.»
Slippery kam zum Bett hinüber und schüttelte die Würfel in der Hand.
«Da braucht man mehr als eine Handvoll von den Boches bezahlter Sozialisten, um die Armee nieder zu kriegen. Meint ihr nicht, dass wenn man sie niederkriegen könnte, die Leute das schon längst getan haben würden?»
«Sei mal n Augenblick still. Ich dachte, ich hätte was gehört», sagte Chrisfield plötzlich und ging an das Fenster. Sie hielten den Atem an. Das Bett kreischte, als Al sich unruhig hin und her bewegte. «Nein, es war nichts. Ich dachte, ich hätte Leute singen gehört.»
«Die Internationale!» rief Chrisfield leise und mürrisch.
Durch die Stille des Zimmers hörten sie Schritte auf der Treppe.
«'s ist schon gut, es ist nur Smiddy», sagte Slippery und warf die Würfel wieder aus.
Die Tür öffnete sich langsam, und herein trat ein großer Mann mit abschüssigen Schultern, langem Gesicht und langen Zähnen.
«Wer ist der Franzmann?» fragte er erschreckt, mit einer Hand am Türknauf.
«Ist schon gut, Smiddy. Ist kein Franzose. Is'n alter Kamerad von Chris. Hat die Uniform ausgezogen.»
«So», sagte Smiddy und schüttelte Andrews die Hand. «Siehst ja wie ein leibhaftiger Franzmann aus.»
«'s ist gut so», erwiderte Andrews.
«Der Teufel ist los», brach Smiddy plötzlich atemlos aus. «Ihr kennt doch Gus Evans und den kleinen Schwarzhaarigen, der immer mit ihm ist? Die haben sie gefasst. Habe es selbst gesehen, am Place de la Bastille, und einer erzählte mir da unter der Brücke, wo ich die letzte Nacht geschlafen habe, dass ihm einer gesagt habe, man werde ganz Paris nach Deserteuren durchsuchen, auch wenn man jedes einzelne Haus Zimmer für Zimmer durchgehen müsse.»
«Wenn die hierher kommen, wird ihnen was passieren, worauf sie nicht gefasst sind», murmelte Chrisfield.
«Ich gehe nach Nizza, 's wird mir hier zu heiß», sagte Slippery. «Ich habe Reisepapiere in der Tasche.» «Wie bist du daran gekommen?»
«Leicht wie Kuchen», sagte Slippery und steckte sich eine Zigarette an. «Habe in einer Bar einen Leutnant getroffen. Wir haben zusammen gesoffen und waren dann bei zwei Weibern, ich kenne. Morgens bin ich in aller Frühe aufgestanden, und jetzt habe ich fünftausend Franken und 'nen Urlaubsschein und eine silberne Zigarettenschachtel, und Leutnant I. B. Franklin läuft herum und erzählt, er sei von einer Pariser Hure ausgeraubt worden; oder vielleicht zieht er vor, nichts von der Geschichte zu erzählen. Das ist mein System.»
«Aber Gott verdammt noch mal, ich verstehe nicht, wie du dich mit einem herumtreiben kannst und mit ihm trinken und ihn dann ausrauben!» rief Al vom Bett aus. «Meinst du vielleicht, wenn der gewusst hätte, dass ich nur 'n Gemeiner bin, der hätte mich nicht sofort der Militärpolizei ausgeliefert, was?»
«Nein, nein», sagte Al, «die sind genau wie wir, erschreckt dorthinaus, dass sie Dummheiten machen, aber die geben niemanden an, wenn sie nicht müssen.»
«Das ist 'ne gottverdammte Lüge!» schrie Chrisfield. «Die reiten auf dir herum, weil sie's gern tun. 'n Gemeiner, der ist für sie weniger als 'n Hund. Ich würde jeden von ihnen über'n Haufen schießen, wie 'n Nigger.»
Andrews beobachtete Chrisfields Gesicht. Es wurde plötzlich ganz rot. Chrisfields Augen sahen angstvoll zu Andrews hinüber. «Es gibt alle möglichen Sorten von Offizieren, wie es alle möglichen Sorten von uns gibt», beharrte Al.
«Aber hört doch mal endlich auf, ihr verdammten Dummköpfe, ihr!» schrie Smiddy. «Was zum Teufel sollen wir denn tun? Es ist hier nicht mehr sicher.»
Sie schwiegen. Endlich sagte Chrisfield: «Was wirst du tun, Andy?»
«Ich weiß nicht recht. Werde nicht in Paris bleiben. Außerdem muss ich hier noch ein Mädchen aufsuchen. Ich will sie sehen.»
Andrews brach plötzlich ab und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
«Du musst verdammt vorsichtig sein. Wenn sie dich schnappen, erschießen sie dich», sagte Slippery. Andrews zuckte die Achseln.
«Ich würde lieber erschossen werden, als auf zwanzig Jahre nach Leavenworth gehen!» rief Al.
«Habt ihr hier was zu essen?» fragte Slippery.
«Werde mal sehen, ob ich hier was kaufen kann», sagte Andrews.
«Gut, hier sind zwanzig Franken», sagte Slippery und gab Andrews einen Schein. Chrisfield folgte Andrews die Treppe hinunter. Als sie den Durchgang am Treppenende erreicht hatten, legte er seine Hand auf Andrews' Schulter und flüsterte: «Sag, Andy, glaubst du, dass was mit 'ner Revolution los ist? Habe noch nie daran gedacht, dass man gegen das System angehen kann.»
«In Russland haben sie es ja getan.»
«Dann wären wir ja frei, Andy, wie vor dem Kriege! Aber das ist nicht möglich, Andy, das ist nicht möglich, Andy.»
«Wollen sehen», sagte Andrews, als er die Tür zur Bar öffnete. Er ging aufgeregt zu dem Chink hinüber, der hinter einer Reihe von Flaschen in der Bar saß.
«Was ist los?»
«Wo?» sagte der.
«Am Gare de l'Este, wo sie Barrikaden errichtet haben.»
«Barrikaden?» rief ein junger Mann in einem roten Kittel, der an einem Tische saß und trank. «Die haben ja nur einige eiserne Gitter heruntergerissen; wenn Sie das Barrikaden nennen! Aber es sind ja Feiglinge. Wenn die Stops kommen, laufen sie. Dreckige Feiglinge.»
«Glauben Sie, dass was geschehen wird?»
«Was kann denn geschehen mit diesem Rudel dreckiger Feiglinge?»
«Was halten Sie davon?» sagte Andrews und wandte sich an den Chink. Der Chink schüttelte den Kopf ohne zu antworten
Andrews ging hinaus. Als er zurückkam, fand er Al und Chrisfield allein im Zimmer. Chrisfield ging auf und ab und biss sich die Fingernägel. Auf der Wand gegenüber dem Fenster lag ein rechteckiger Sonnenfleck, der von der gegenüberliegenden Wand des Hofes reflektiert war.
«Um Gottes willen, Chris, mach, dass du fortkommst. Ich werd's schon allein schaffen», sagte Al gerade mit schwacher Stimme. Sein Gesicht war vor Schmerz verzogen.
«Was ist los?» rief Andrews und legte ein großes Paket nieder.
«Slippery hat die Militärpolizei hier in der Nähe herumlungern sehen.»
«Großer Gott!»
«Die anderen sind weg... »
«Al ist zu krank... Al, ich bleibe bei dir.»
«Nein, wenn du 'ne Stelle weißt, wo du hinkannst, Chris, mach, dass du fortkommst. Ich bleibe hier bei Al und spreche französisch mit der Militärpolizei, wenn sie kommt. Wir werden die schon an der Nase herumführen.»
Andrews fühlte sich plötzlich sehr froh und glücklich.
«Wirklich, bei Gott, Andy, ich würde bleiben, wenn dieser Sergeant nicht darum wüsste», sagte Chrisfield krampfhaft.
«Mach, dass du davonkommst, Chris. Es ist vielleicht keine Zeit mehr zu verlieren.»
«Auf Wiedersehen, Andy!»
Chrisfield schlüpfte aus der Tür.
«Komisch, Al», sagte Andrews und setzte sich auf das Bettende und packte das Essen aus. «Ich habe überhaupt keine Angst mehr. Ich denke, ich habe mich von der Armee befreit. Al, wie geht's deiner Hand?»
«Weiß nicht. Oh, jetzt wünschte ich in Koblenz zu sein. Ich bringe es nicht zustande, gegen die ganze Welt anzugehen. Wenn doch Dan mit uns wäre... Komisch, dass du Dan kennst... Der würde Tausende von Ideen haben, um aus dieser Klemme rauszukommen. Aber ich bin froh, dass er nicht hier ist. Er würde mich ausschimpfen, weil ich mich so benommen habe, 'n mächtig ehrgeiziger Kerl, Dan.»
«In der Armee, Al, da hat ein anständiger Mensch nichts zu suchen», sagte Andrews langsam. Dann schwiegen sie. Im Hofe war kein Laut zu hören. Nur ganz weit in der Ferne das Geklapper von Hufen über Pflastersteinen. Der Himmel hatte sich bedeckt, und das Zimmer war dunkel. Das Licht aus dem Hofe hatte grünlichen Schein, der ihre Gesichter blass und tot aussehen ließ, wie die Gesichter von Männern, die lange zwischen nassen Gefängnismauern eingeschlossen waren.
«Und Fuselli hatte ein Mädchen, das Mabe hieß», sagte Andrews.
«Oh, die hat einen von der Marine geheiratet. Sie haben 'ne große Hochzeit gemacht», erzählte Al.
4
«Endlich erreiche ich Sie!»
John Andrews hatte Geneviève auf einer Bank im Garten unter einer Laube von Wein entdeckt. Ihr Haar schien hell in der Sonne, als sie aufstand. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.
«Wie gut Sie so ausschauen!» rief sie.
Jetzt fühlte er nur noch ihre Hände in den seinen und ihre hellbraunen Augen und die hellen Sonnenflecken und die grünen Schatten, die um sie herum tanzten.
«So, Sie sind aus dem Gefängnis heraus und demobilisiert! Wie schön! Warum haben Sie nicht geschrieben? Ich war wegen Ihres Schicksals so beunruhigt. Wie haben Sie mich hier ausfindig gemacht?»
«Ihre Mutter erzählte mir, dass Sie hier seien.»
«Und wie gefällt es Ihnen hier?»
Sie machte eine weite, ausladende Bewegung mit der Hand. Einen Augenblick standen sie schweigend Seite an Seite und blickten sich um. Vor ihnen waren große Rosenbüsche, von denen die Blüten unordentlich in Bündeln herunterhingen und dahinter ein großer, grünglänzender Rasen voller Butterblumen, der zu einem alten, grauen Hause hinunter führte, das an dem einen Ende einen runden, breiten Turm hatte. Hinter dem Hause waren große, grüne Pappeln, durch die hindurch Flecken silbergrauen Wassers und gelber Flussufer schimmerten. Aus der Ferne kam der einschläfernde Geruch gemähten Grases.
«Wie braun Sie sind», sagte sie wieder. «Ich dachte, ich hätte Sie verloren... Sie könnten mir schon einen Kuss geben, Jean.»
Die Muskeln seines Armes schlossen sich fest um ihre Schultern. Ihr Haar glänzte in seinen Augen. Der Wind, der durch das Weinlaub rauschte, ließ das Licht und den Schatten um sie herumtanzen.
«Wie heiß Sie von der Sonne sind!» sagte sie. «Ich liebe den Geruch Ihres heißen Körpers. Sie müssen sehr gelaufen sein, um hierher zu kommen.»
«Erinnern Sie sich an die Nacht im Frühling, als wir nach Hause gingen von <Pelleas und Mélisande>? Wie gern hätte ich Sie damals geküsst, so wie jetzt.»
Andrews' Stimme klang seltsam heiser, als ob er nur schwer sprechen könne.
«Da ist das Château très froid et très profond», sagte sie mit einem kleinen Lachen.
«Und Ihr Haar... je les tiens dans les doigts, je les tiens dans la bouche. Toute ta chevelure, toute ta chevulure, Mélisande, est tombée de la tour... erinnern Sie sich?»
Sie saßen Seite an Seite auf der Steinbank, ohne einander zu berühren.
«Es ist verrückt», brach Andrews erregt aus. «Wir sollten Vertrauen zueinander haben. Sobald wir auch nur den kleinsten Fetzen einer Romanze zu erleben beginnen, ertrinken wir sofort in einem Literatur-Wasserfall. Wir sind mit Literatur vergiftet, wir kommen überhaupt nicht dazu, zu leben, wenigstens nicht unser eigenes Leben.»
«Jean, wie sind Sie hierher gekommen? Sind Sie schon lange demobilisiert?»
«Ich bin fast den ganzen Weg von Paris hierher zu Fuß gegangen. Sie sehen, ich bin sehr schmutzig.»
«Wie wunderschön. Aber ich werde ruhig sein. Aber Sie müssen mir alles erzählen von dem Augenblick an, da Sie mich in Chartres verließen.»
«Ich werde Ihnen über Chartres später erzählen», sagte Andrews rau. «Es war prächtig, eine der schönsten Wochen in meinem Leben, so den ganzen Tag in der Sonne gehen, den Weg wie ein weißes Band in der Sonne vor mir, über Berge und an Flüssen entlang, wo gelbe Schwertlilien blühten und durch Wälder voller Singvögel, und den Staub wie eine kleine weiße Wolke um meine Füße, und die ganze Zeit auf dem Wege sein, hierher zu Ihnen, hierher zu Ihnen.»
«Und die Königin von Saba? Was macht die?»
«Ich weiß nicht. Es ist schon lange her, dass ich daran dachte... Sind Sie schon lange hier?»
«Fast eine Woche. Aber was wollen Sie tun?»
«Ich habe ein Zimmer am Flusse in einem Hause, das einer; fetten Frau mit einem sehr roten Gesicht und einem Bart auf dem Kinn gehört.»
«Madame Boncour.»
«Natürlich, Sie kennen ja jeden hier.»
«Und Sie wollen lange hier bleiben?»
«Ja, lange. Arbeiten und mit Ihnen sprechen. Darf ich dann und wann Ihr Klavier benutzen?» «Wie wunderschön!»
Geneviève Rod sprang auf, dann stand sie, schaute ihn an, lehnte sieh in den Wein hinein, so dass die breiten Blätter um ihr Gesicht herum flatterten. Eine weiße Wolke, hell wie Silber, bedeckte die Sonne, zwei weiße Schmetterlinge flatterten einen Augenblick durch den Wein.
«Sie müssen sich immer so anziehen», sagte sie nach einer Weile.
Andrews lachte.
«Ein wenig sauberer, hoffe ich», sagte er. «Aber ich kann leider nicht viel wechseln. Ich habe keine anderen Kleider und lächerlich wenig Geld.»
«Wer kümmert sich um Geld!» rief Geneviève.
Andrews glaubte eine gewisse Affektiertheit in ihrer Stimme zu entdecken, aber er vertrieb diesen Gedanken sofort.
«Ob hier wohl in der Nähe ein Gut ist, wo ich Arbeit bekommen kann?»
«Aber Sie könnten doch gar nicht die Arbeit eines Landarbeiters tun!» rief Geneviève lachend. «Passen Sie nur mal auf, Sie werden sich die Hände zum Klavierspielen ganz verderben.»
«Das ist mir ganz gleich. Aber das kommt alles erst später, viel später. Erst muss ich noch etwas zu Ende bringen, an dem ich jetzt gerade arbeite. Ein Thema, das in mir aufstieg, als ich zuerst ins Heer kam, als ich in unserem Übungslager die Fenster abwusch.»
«Wie komisch Sie sind, Jean. Es ist prächtig, Sie wieder da zu haben. Aber Sie sind ja heute so furchtbar feierlich. Vielleicht, weil ich Sie veranlasste, mich zu küssen?»
«Aber Geneviève, man kann nicht an einem Tage den gebeugten Rücken des Sklaven geradebiegen. Jetzt bin ich bei Ihnen auf diesem wundervollen Fleck Erde. Noch nie habe ich einen solchen saftigen Reichtum der Vegetation gesehen... Und denken Sie, eine Woche Marsch durch das Land..., wundervolle, kalte Bäder in der Loire... Nein, nach einiger Zeit erst wird der Rhythmus der Übungsfelder, auf denen die Beine von Millionen Menschen alle gleich lang gemacht werden, diese verzweifelte, eingekäfigte Stumpfheit, all das Peinigende und Quälende der Disziplin und des Soldatseins versinken in der Pracht und dem Glanz dieser Ihrer Welt.»
Er stand auf und zerdrückte ein Blatt unachtsam zwischen den Fingern.
«Sehen Sie, die kleinen Trauben bilden sich bereits, schauen Sie da hinauf», sagte sie und strich die Blätter beiseite, gerade über seinem Kopfe. «Diese Trauben hier kommen am frühesten. Aber ich muss in unsere Domäne, Ihnen meine Cousinen, und die Hühner, und alles zeigen.»
Sie nahm seine Hand und zog ihn aus der Laube. Sie liefen wie Kinder Hand in Hand durch den Garten. «Wenn ich nur», stammelte er und folgte ihr über den Rasen, «aus diesem ganzen Elend Musik machen könnte, Musik, die die Massen in Empörung treibt, dann würde ich mich von der Pein dieser Erinnerungen befreien und mein eigenes Leben in der Schönheit dieses Sommers leben können.» Am Hause wandte sie sich ihm zu: «So, jetzt müssen Sie sich einmal das Haus anschauen. Sehen Sie, das ist der Turm. Das ist alles, was von dem alten Gebäude übrig blieb. Ich wohne dort, und gerade da unter dem Dach ist ein verhextes Zimmer, vor dem ich immer furchtbare Angst habe. Ich habe immer noch Angst. Sehen Sie, dieser Henry IV.-Teil des Hauses ist gerade ein Viertel des projektierten Gebäudes. Dieser Rasen hier hätte der Hof sein sollen. Es gibt alle möglichen Arten von Überlieferungen, warum das Haus nie fertig gebaut wurde.»
«Sie müssen mir davon erzählen.»
«Später. Aber jetzt müssen Sie mitkommen und meine Tante und meine Cousinen treffen.»
«Bitte, nicht jetzt, Geneviève... Ich möchte mit niemand außer mit Ihnen sprechen. Ich habe so viel mit Ihnen zu reden.»
«Aber es ist schon fast Lunchzeit, Jean; wir können ja nach dem Lunch zusammen reden.»
«Nein, ich kann jetzt mit niemand anders sprechen. Ich muss gehen und mich auch ein wenig reinigen.»
«Wie Sie wollen... Aber Sie müssen heute Nachmittag kommen und etwas vorspielen... zwei oder drei Menschen werden zum Tee kommen... Es würde sehr lieb von Ihnen sein, wenn Sie uns etwas vorspielen würden.»
«Aber können Sie nicht verstehen, ich kann Sie jetzt nicht mit anderen Menschen zusammen sehen.»
«Wie Sie wollen», sagte Geneviève, die Hand auf der eisernen Klinke der Tür. Sie wurde ganz rot.
«Kann ich Sie morgen früh sehen? Dann werde ich mehr Mut haben, mit anderen Menschen zusammenzukommen, nachdem ich eine lange Zeit mit Ihnen gesprochen habe. Sehen Sie, ich...» Er schwieg einen Augenblick still und senkte die Augen, dann brach er leise und leidenschaftlich aus: «Oh, wenn ich doch all das aus meinem Bewusstsein auskehren könnte..., das Trampeln der Füße, die Befehle schreienden Stimmen... »
Seine Hand zitterte, als er sie Geneviève reichte. Sie schaute ihm ruhig und kühl in die Augen mit ihren großen, braunen Augen.
«Wie seltsam Sie heute sind, Jean! Trotzdem kommen Sie nur morgen früh.»
Sie ging durch die Tür. Er lief um das Haus herum, durch die Toreinfahrt und ging mit langen Schritten die Straße, die unter Lindenbäumen zum Dorfe führte, hinunter, am Fluss entlang.
Gedanken schwirrten, peinigend, durch seinen Kopf, wie Wespen um eine verfaulende Frucht. So, endlich hatte er Geneviève gesehen und hatte sie in den Armen gehalten und sie geküsst. Das war alles. Seine Pläne für die Zukunft waren nie darüber hinausgegangen. Er hatte kaum gewusst, was er erwartete, aber während all der sonnigen Tage, die er von Paris aus durch das Land geschritten war, hatte er nichts anderes gedacht: Geneviève sehen und alles erzählen, sein Leben entrollen, vor ihren Augen, wie eine Zeichnung. Und dann zusammen die Zukunft fügen. Ein plötzlicher Schreck fasste ihn. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Er hatte zu viel erwartet. Er hatte erwartet, dass sie ihn instinktiv, ohne Erklärungen, verstehen werde. Er hatte ihr nichts erzählt, noch nicht einmal, dass er Deserteur sei.
Was hatte ihn eigentlich davon abgehalten, ihr davon zu erzählen? Er riet herum, aber er konnte es nicht formulieren. Nur irgendwo tief in ihm lag die Gewissheit eisig und schwer: sie hatte ihn im Stich gelassen. Er war allein. Was für ein Narr er doch gewesen war, sein ganzes Leben auf eine Zuneigung aufbauen zu wollen! Nein, noch schlimmer war dieses krankhafte Spiel mit Phrasen. Er war wie eine empfindliche alte Jungfer, die sich imaginäre Kränkungen ausdenkt. «Man muss das Leben nehmen, wie es ist, und mehr ist es auch nicht wert», sagte er immer wieder zu sich selbst. Sie liebten sich doch irgendwie... Es war ja gleich, und er war frei, er konnte arbeiten. Genügte das nicht? Aber wie konnte er bis morgen warten, sie zu sehen, ihr alles zu erzählen, all die verrückten kleinen Scheidewände zwischen ihnen niederzubrechen, so dass sie einander direkt und frei in ihre so verschiedenen Leben schauen konnten?
Der Weg wandte sich ins Land, vom Fluss weg, zwischen Gartenmauern, zum Eingang des Dorfes. Durch halboffene Türen erhaschte Andrews den Anblick von freundlich gepflegten Küchengärten und Obstgärten, und silbrige Äste schwangen sich in den Himmel. Vor der Kirche wandte sich Andrews, an einem kleinen Rasenplatz, zum Fluss hinunter, um dann nach einem Augenblick an einem Platz, der von großen Akazienbäumen überschattet war, anzulangen. An dem Eckhaus befand sich ein Schild: «Rendezvous de la Marine». Das Zimmer, in das er eintrat, war so niedrig, dass Andrews den Kopf senken musste. Die Treppen führten von einer Tür hinter einem abgenutzten Billardtisch in der Ecke hinauf. Madame Boncour stand zwischen Andrews und der Treppe. Sie war eine welke, ältliche Frau mit großen tellerartigen Augen, einem runden, sehr roten Gesicht und einem seltsamen, gezierten Lächeln um den Lippen.
«Monsieur paiera un petit peu d'avance. N'est-ce-pas, monsieur?»
«Gut», sagte Andrews und holte sein Portemonnaie heraus. «Soll ich für eine Woche im voraus bezahlen?»
Die Frau lächelte breit: «Si monsieur désire... Sie wissen, das Leben ist so teuer jetzt. Arme Leute wie wir können kaum durchkommen.»
«Ich weiß das nur zu gut», antwortete Andrews.
«Monsieur est étranger...» begann die Frau wieder in
schmeichelndem Tone, nachdem sie das Geld in Empfang genommen hatte.
«Ja, ich bin erst vor kurzer Zeit demobilisiert worden.»
«Aha. Monsieur est démobilisé. Monsieur remplira la petite feuille pour la police. N'est-ce-pas?»
Die Frau zog hinter ihrem Rücken eine Hand hervor, die ein eng bedrucktes Stück Papier hielt.
«Gut. Ich werde das gleich ausfüllen», sagte Andrews mit klopfendem Herzen. Ohne zu denken, was er tat, nahm er das Papier, legte es an der Ecke des Billardtisches auf und schrieb: «John Brown, dreiundzwanzig Jahre alt, Chicago, Ill., Vereinigte Staaten von Amerika, Musiker. Pass Nr. 228619.»
«Merci, monsieur, a bientôt, monsieur, au revoir, monsieur.»
Die singende Stimme der Frau verfolgte ihn die Treppe hinauf. Erst als er oben hinter sich die Türe geschlossen hatte, erinnerte er sich, dass er als Nummer seines Passes seine Armeenummer niedergeschrieben hatte. Warum schrieb ich eigentlich John Brown als Namen? fragte er sich selbst.
John Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt;
Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts.
Gloria, Gloria, Halleluja,
Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts.
Er hörte den Sang so lebendig, dass er einen Augenblick glaubte, irgendeiner müsse neben ihm stehen und singen. Er ging ans Fenster und strich mit der Hand durch sein Haar, Draußen rollte die Loire in großen Windungen vorbei in die blaue Weite. Silbrige Stromschnelle auf silbrige Stromschnelle, aus der hier und dort der breite Glanz einer Sandbank sich erhob. Gegenüber waren Pappeln und Felder, grünend in den verschiedensten Farben, zu Hügeln sich erhebend, von dichten, schattigen Hainen geschmückt. Auf der kahlen Höhe des größten Hügels schlug eine Windmühle mit ihren fahlen Armen in den marmornen Himmel.
Er zog ein Stück Brot aus seiner Manteltasche, nahm einen großen Schluck Wasser aus der Kanne auf seinem Waschtisch und setzte sich an den Tisch am Fenster vor einen Haufen gerollten Notenpapiers. Er benagte das Brot und die Wurst nachdenklich, lange, dann schrieb er: «Arbeit und Rhythmus», mit großen, sorgsamen Zügen auf das Papier. Dann schaute er aus dem Fenster hinaus, ohne sich zu bewegen, beobachtete die federigen Wolken, die wie große, ungeheure, langsame Schiffe auf dem schieferblauen Himmel segelten. Plötzlich wischte er das, was er geschrieben hatte, aus und schrieb darüber: «Der Leib und die Seele von John Brown». Er stand auf und ging im Zimmer mit geballten Händen herum. «Wie seltsam, dass ich diesen Namen geschrieben habe, wie seltsam, dass ich diesen Namen geschrieben habe.»
Er setzte sich an den Tisch und vergaß alles in der Musik, die ihn überströmte.
Am nächsten Morgen ging er früh hinaus, am Fluss entlang, versuchte sich zu beschäftigen, bis die Zeit gekommen sein würde, Geneviève zu sehen. Die Erinnerung an die ersten Tage in der Armee, an das Fensterwaschen im Übungslager, wurde sehr lebendig in ihm. Er sah sich wieder nackt in der Mitte eines weiten, kahlen Zimmers stehen, während der Rekrutierungssergeant sein Maß nahm und ihn beklopfte. Und jetzt war er Deserteur. Gab es in alledem einen Sinn? Hatte sein Leben eine eigene Richtung gehabt, seit er wie aufs Geratewohl von der Tretmühle erfasst worden war, oder war alles nur Zufall? Ein Frosch, der über den Weg hüpft vor eine große Dampfwalze?
Er stand still und sah um sich. Hinter einem kleinen Feld war der Fluss mit seinen Sandbänken und seinen breiten, silbrigen Stromschnellen. Ein Junge watete weit draußen im Flusse und fing Fische. Andrews beobachtete seine schnellen Bewegungen, wie er das Netz durch das Wasser zog. Und auch dieser Junge würde einmal Soldat sein! Man wird seinen geschmeidigen Körper in eine Uniform zwängen, um ihm genau dieselbe Gestalt wie die von tausend anderen Körpern zu geben, seine schnellen Bewegungen werden automatisiert, zum Waffendienst geeignet gemacht werden, sein forschender, beweglicher Geist wird in Sklaverei niedergedrückt werden. Die Einpfählung ist gebaut. Keines der Schafe wird entkommen. Und diejenigen, die keine Schafe waren? Die waren Deserteure! Jedes Gewehr barg Tod für sie. Die würden nicht lange leben. Und doch! Die Menschheit hatte noch andere Gespenster abgeschüttelt. Jeder, der aufsteht, mutig zu sterben, lockert den Griff des Gespenstes.
Andrews ging langsam den Weg hinunter und fegte den Staub mit den Füßen hoch wie ein Schuljunge. An einer Wegbiegung warf er sich nieder ins Gras unter einen Akazienbaum. Der schwere Duft der Blüten und das Summen der Bienen, die trunken an den weißen Blüten hingen, machte ihn matt und schläfrig. Ein Wagen kam vorbei, von schweren, weißen Pferden gezogen. Ein alter Mann mit gebeugtem Rücken humpelte hinterher. Er gebrauchte seine Peitsche als Stock zum Gehen. Andrews sah, wie der Alte ihn misstrauisch anschaute. Ein schwerer Schrecken durchfuhr ihn. Wusste der vielleicht, dass er Deserteur war? Der Wagen und der alte Mann waren schon an der Wegbiegung verschwunden. Andrews lag eine lange Weile, horchte auf das Rattern des Geschirrs, das in der Ferne langsam erstarb und ihn dann wieder ganz dem Summen der trunkenen Bienen in den Akazienblüten überließ.
Als er sich aufsetzte, bemerkte er, dass man durch ein Loch in der Hecke das Turmdach von Geneviève Rods Haus sehen konnte. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Geneviève zuerst gesehen hatte, an die jungenhaft verlegene Geste, mit der sie Tee eingegossen hatte. Würde er und Geneviève je einen Augenblick eine wirklich anständige Beziehung zueinander haben?
Plötzlich durchkroch ihn ein bitterer Gedanke: oder will sie nur einen zahmen Pianisten als Ornament für den Salon einer klugen jungen Dame haben?
Er sprang auf und begann wieder schnell zum Dorf hinüber zu gehen. Ich werde sie gleich aufsuchen und all das endgültig regeln. Die Dorfuhr hatte begonnen zu schlagen. Die klaren Töne vibrierten deutlich über den Feldern. Zehn.
Bei seiner Rückkehr ins Dorf begann er über sein Geld nachzudenken. Sein Zimmer kostete zwanzig Franken die Woche. In der Tasche hatte er noch 124 Franken. Nachdem er all seine Taschen nach Silbergeld durchsucht hatte, fand er noch drei Franken 50. Wenn er mit 40 Franken die Woche auskommen könnte, würden noch drei Wochen bleiben, um den «Leib und die Seele von John Brown» auszuarbeiten. Nur drei Wochen. Und dann musste man Arbeit finden... Jedenfalls muss man Henslowe schreiben, Geld zu schicken. Es war nicht die richtige Zeit, um Feingefühl zu bekunden. Alles hing davon ab, Geld zu haben. Er schwor es sich selbst zu, dass er drei Wochen arbeiten werde, dass er den Gedanken, der in ihm war, formen und niederschreiben werde, was auch geschehen möge. Er durchsuchte sein Gedächtnis nach irgend jemand in Amerika, dem er wegen Geld schreiben könne. Gespenstisch ergriff ihn das Gefühl der Einsamkeit. Und Geneviève — wird auch sie ihn im Stich lassen?
Geneviève kam gerade aus der Tür des Hauses, als er den Toreingang am Wege erreichte. Sie lief ihm entgegen: «Guten Morgen. Ich komme gerade, Sie zu holen.» Er ergriff ihre Hand und drückte sie stark. «Wie lieb von Ihnen.»
«Aber, Jean, Sie kommen ja gar nicht aus dem Dorf?» «Ich habe einen Spaziergang gemacht.» «Wie früh Sie aufgestanden sind.»
«Sehen Sie, die Sonne geht gerade vor meinem Fenster auf und scheint auf mein Bett. Deswegen stehe ich früh auf.»
Sie schob ihn durch die Tür hinein. Sie gingen durch die Halle in ein langes, hohes Zimmer, in dem ein Flügel stand und viele alte Stühle mit hohen Lehnen und vor den französischen Fenster, die nach dem Garten hinausgingen, ein runder Tisch aus schwarzem Mahagoni, auf dem verstreut Bücher lagen. Zwei große Mädchen in Musseline standen neben dem Piano.
«Das sind meine Cousinen. Hier ist er endlich.»
«Monsieur Andrews — ma cousine Berthe — ma cousine Jeanne. Jetzt müssen Sie uns was vorspielen. Alles, was wir kennen, ist uns schon zu Tode langweilig.»
«Gut... Aber ich muss noch sehr viel mit Ihnen nachher sprechen», sagte Andrews leise.
Geneviève nickte verstehend.
«Wollen Sie uns nicht die Königin von Saba spielen, Jean?»
«Oh, ja, spielen Sie das!» zwitscherten die Cousinen.
«Wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, werde ich lieber etwas von Bach spielen.»
«Dort drüben in der Ecke sind sehr viele Sachen von Bach», sagte Geneviève. «Es ist fast lächerlich. Alles hier im Hause ist mit Musik voll gestopft.»
Sie beugten sich zusammen über die Truhe, so dass ihr Haar über Andrews Wangen strich. Die Cousinen blieben am Piano stehen.
«Ich muss bald mit Ihnen allein sprechen», flüsterte Andrews. «Gut», sagte sie, und ihr Gesicht wurde rot, und sie beugte sich tiefer über die Truhe.
Auf den Noten lag ein Revolver.
«Sehen Sie sich vor; er ist geladen», sagte sie, als er ihn aufhob. Er sah sie forschend an.
«Ich habe noch einen in meinem Zimmer. Meine Mutter und ich sind hier oft allein, und außerdem habe ich Schusswaffen gern. Sie nicht?»
«Ich hasse sie», murmelte Andrews.
«Hier sind Sachen von Bach.»
«Gut... Hören Sie, Geneviève», sagte er plötzlich. «Borgen Sie mir den Revolver auf einige Tage. Ich werde Ihnen später sagen, was ich damit will.»
«Gewiss, aber seien Sie vorsichtig; er ist geladen», erwiderte sie und ging hinüber zu dem Klavier mit zwei Bänden unter dem Arm.
Andrews schloss den Schrank und folgte ihr, plötzlich sehr heiter.
Er öffnete einen Band: «An einen Freund, um ihn davon abzubringen, eine Reise zu unternehmen.»
Er begann zu spielen und legte all seine Kraft in die Töne. Bei einem Pianissimo hörte er, wie eine Cousine zur anderen flüsterte: «Qu'il à l'air interessant!»
«Farouche, n'est-ce-pas? Genre révolutionair», erwiderte die andre. Dann bemerkte er, dass Madame Rod ihn anlächelte.
«Mais ne vous dérangez pas.»
Ein Mann mit weißen Flanellhosen und Tennisschuhen und ein anderer in Schwarz mit einem spitzen grauen Bart und lustigen grauen Augen waren ins Zimmer getreten. Hinter ihnen kam eine dicke Frau in Hut und Schleier, mit langen weißen Zwirnhandschuhen. Es wurde vorgestellt. Andrews' gute Stimmung ebbte ab. All diese Leute verstärkten die Mauer zwischen ihm und Geneviève. Wenn auch immer er sie anschaute, immer trat irgendein gutgekleideter Mensch vor sie mit einer höflichen Geste. Er fühlte sich in einen Ring gutangezogener Konventionen gefangen, die ihn umtanzten mit grotesken Gesten der Höflichkeit. Während des Lunches fühlte er den verrückten Wunsch, aufzuspringen und zu schreien: «Schaut mich an, ich bin Deserteur! Ich bin unter den Rädern eures Systems! Wenn es eurem System nicht gelingt, mich zu töten, dann wird es eben geschwächt sein. Dann wird es weniger Kraft haben, andere zu töten.»
Man sprach über seine Demobilisation und seine Musik. Er fühlte sich zur Schau gestellt. «Aber die wissen ja nicht, was sie zur Schau stellen», sagte er zu sich selbst mit einer bitteren Freude.
Nach dem Lunch gingen sie hinaus in die Weinlaube, wo der Kaffee gereicht wurde. Andrews saß schweigend, hörte nicht auf das Gespräch, das um Empiremöbel und die neuen Steuern ging, starrte hinauf in die breiten, sonnig gefleckten Blätter des Weinlaubes, erinnerte sich daran, wie die Sonne und der Schatten um Genevièves Haar getanzt hatten, als er in der Laube am Tage vorher mit ihr allein gewesen war. Heute saß sie im Schatten, und ihr Haar war rötlich und stumpf. Die Zeit zog sich wie eine Ewigkeit hin. Endlich stand Geneviève auf.
«Sie haben mein Boot noch nicht gesehen», sagte sie zu Andrews. «Wir wollen ein wenig rudern gehen. Ich werde rudern.»
Andrews sprang auf.
«Seien Sie vorsichtig, Monsieur Andrews; sie ist furchtbar unvorsichtig!» rief Madame Rod.
«Sie waren zu Tode gelangweilt», meinte Geneviève, als sie draußen über die Straße gingen.
«Nein, aber all die Menschen schienen neue Wälle zwischen Ihnen und mir aufzurichten. Es sind schon genügend da.» Sie sah ihm einen Augenblick scharf in die Augen, sagte aber nichts.
Sie gingen langsam weiter, bis sie an ein altes, flaches Boot, das grün angemalt war, herankamen.
«Wahrscheinlich wird es untergehen. Können Sie schwimmen?» fragte sie lachend.
Andrews lächelte und sagte mit steifer Stimme: «Ich kann schwimmen. Durch Schwimmen erreichte ich meine Entlassung aus der Armee.»
«Was bedeutet das?»
«Als ich desertierte.»
«Als Sie desertierten?»
Geneviève beugte sich hinüber, um das Boot ins Wasser zu ziehen.
Ihre Köpfe berührten sich fast. Sie zogen das Boot ins Wasser und schoben es halb in den Fluss hinaus. «Und wenn man Sie erwischt?»
«Dann wird man mich erschießen. Vielleicht aber, da der
Krieg jetzt vorbei ist, bekomme ich nur lebenslängliches Gefängnis, oder vielleicht auch nur zwanzig Jahre.»
«Wie können Sie so kühl darüber reden?»
«Es ist mir nichts Neues.»
«Warum taten Sie so etwas?»
«Ich konnte nicht länger in dieser Tretmühle bleiben.»
«Kommen Sie, rudern wir hinaus.»
Geneviève sprang ins Boot und ergriff die Ruder.
«Jetzt schieben Sie das Boot ganz hinaus und springen Sie hinein!» rief sie.
Das Boot glitt hinaus ins Wasser. Geneviève begann langsam und regelmäßig zu rudern. Andrews sah sie an, ohne zu sprechen.
«Wenn Sie müde sind, werde ich rudern», sagte er nach einer Weile.
Hinter ihnen erhob sich das Dorf, weiß-fleckig und rötlich mit seinen Stuckwällen und seinen steilen Ziegeldächern in einer unregelmäßigen Pyramide, deren Spitze die Kirche bildete.
Durch die großen Spitzbogen des Kirchturmes konnten sie die Glocken sehen. Unten im Flusse spiegelte sich das Dorf vollständig wieder, nur an den Stellen, wo der Wind das Wasser kräuselte, war das Bild unterbrochen. Die Ruder knarrten rhythmisch.
«Denken Sie daran, ich werde rudern, wenn Sie müde sind», sagte Andrews nach einer langen Pause.
Geneviève sprach durch zusammengebissene Zähne: «Natürlich. Sie haben keinen Patriotismus.»
«So wie Sie es meinen, nicht.»
Sie kamen an die Ecke einer Sandbank, wo der Strom reißend lief.
Andrews legte seine Hände neben die ihren auf die Ruder und zog mit ihr an.
«Bleiben wir hier», sagte sie und zog die Ruder ein, die in der Sonne glitzerten.
Sie legte ihre Hände um die Knie und beugte sich zu ihm hinüber.
«So, darum wollen Sie also meinen Revolver... Erzählen Sie mir alles, von Chartres an», sagte sie mit erstickter Stimme.
«Sehen Sie, ich wurde in Chartres verhaftet und in ein Arbeitsbataillon gesteckt. Das ist dasselbe, wie ein Militärgefängnis bei Ihnen. Man ließ mich nicht mit meinem kommandierenden Offizier von der Universitätsabteilung sprechen...»
Er hielt an. Ein Vogel sang in dem Weidenbaum. Die Sonne verbarg sich hinter einer Wolke. Hinter den langen, blassgrünen Blättern, die leise und fast unmerklich im Winde flatterten, war der Himmel voller silbriger und gelblicher Wolken. Andrews begann still zu lachen.
«Aber Geneviève, wie verrückt doch diese Worte sind, diese pompösen, bedeutungsvollen Worte: Abteilung, Bataillon, kommandierender Offizier. Es wäre doch alles so schön... Die Dinge hatten ihren Höhepunkt erreicht. Das ist alles. Ich konnte mich nicht mehr länger der Disziplin fügen. Oh, diese langen, römischen Worte; wie Mühlsteine hängen sie um unseren Hals... Es war vielleicht auch verrückt; ich war ja fast willens, dabei zu helfen, die Deutschen abzuschlachten, mit denen ich keinen Streit hatte, vielleicht aus Neugierde oder Feigheit... Sehen Sie, so lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, wie die Welt ist. Es gab keinen, der mir den Weg gezeigt hätte.»
Er machte eine Pause, als ob er erwarte, dass sie sprechen werde. Der Vogel in dem Weidenbaum sang immer noch.
Plötzlich schwankte ein Zweig ein wenig zur Seite, so dass Andrews ihn sehen konnte: einen kleinen, grauen Vogel, der die Kehle ganz aufgeblasen hatte im Gesang.
«Es scheint mir», sagte er sehr sanft, «dass die menschliche Gesellschaft immer so gewesen ist und dass sie vielleicht immer so bleiben wird: Organisationen, die aufwachsen und die Menschen erdrücken, und Individuen, die hoffnungslos dagegen revoltieren, um schließlich neue Gesellschaften zu bilden, die alten niederzukämpfen, vielleicht, um dann selbst wieder Sklaven zu halten...»
«Ich dachte, Sie seien Sozialist?» warf Geneviève scharf ein mit einer Stimme, die ihm fast körperlich weh tat, er wusste nicht, warum.
«Einer im Arbeitsbataillon erzählte mir», fuhr Andrews fort, «dass man einen Freund von ihm einmal dadurch misshandelt habe, dass man ihn zwang, brennende Zigaretten zu verschlucken. Jeder Befehl, den man mir ins Gesicht schrie, jede neue Erniedrigung vor den Vorgesetzten war ein fast ebenso großer Schmerz für mich. Können Sie das verstehen?»
Seine Stimme hatte plötzlich den Klang wie die Stimme eines
Richters. Sie nickte mit dem Kopfe, dann schwiegen sie. Die Weidenblätter zitterten im Hauch des Windes. Der Vogel war fortgeflogen.
«Aber erzählen Sie mir doch von dem Schwimmen! Das klingt aufregend!»
«Wir waren dabei, Zement in Passy auszuladen, um das Stadion zu erbauen, welches die Armee den Franzosen zum Geschenk darbringen wird, in Sklavenarbeit erbaut, wie die Pyramiden.»
«Ach, Passy, wo Balzac gewohnt hat. Haben Sie sein Haus gesehen?»
«Ein Junge war da, der arbeitete mit mir. Ohne ihn hätte ich es vielleicht nie getan... Ich war vollkommen niedergedrückt und schlaff... Der Junge ist wahrscheinlich ertrunken... Wir schwammen unter Wasser, so weit wir konnten, und als es fast dunkel war, gelang es mir, auf einen Kahn zu kommen, wo eine seltsame Anarchistenfamilie sich meiner annahm. Von dem Jungen habe ich seither nichts mehr gehört. Dann habe ich diese Kleider, die Sie so amüsant finden, Geneviève, gekauft und bin nach Paris zurückgegangen. Hauptsächlich um Ihretwillen.»
«Ich bedeute Ihnen also so viel?» flüsterte Geneviève.
«Wenn Sie nicht gewesen wären, würde ich gleich nach Bordeaux oder Marseille zur See gegangen sein.»
«Aber in der Armee? Hatten Sie denn da nicht genug von dem schrecklichen Leben, immer zwischen ungebildeten Leuten herumgeworfen zu werden, immer in schmutziger, faulig riechender Umgebung? Sie, ein sensibler Mensch, ein Künstler? Kein Wunder, dass Sie nach solchen Jahren fast verrückt geworden sind!»
Geneviève sprach mit Leidenschaft und sah ihn aus starren Augen fest an.
«Oh, das war es nicht», erwiderte Andrews voller Verzweiflung. «Ich liebe die Menschen, die Sie gemeines Volk nennen. Die Unterschiede zwischen den Menschen sind so gering...» Er sprach seinen Satz nicht zu Ende. Er blieb unruhig auf seinem Sitze und hatte Angst, er werde schreien. Er bemerkte die Umrisse des Revolvers in seiner Tasche.
«Aber können Sie nicht etwas tun? Sie haben doch Freunde!» brach Geneviève aus. «Man hat Sie entsetzlich ungerecht behandelt! Man kann es doch wieder einrenken, und Sie werden dann richtig demobilisiert! Man wird doch einsehen, dass Sie ein Mensch von Intelligenz sind! Man kann Sie doch nicht behandeln wie irgendeinen x-Beliebigen!»
«Ich muss schon, wie Sie selbst sagen, ein wenig verrückt sein, Geneviève», sagte Andrews. «Aber jetzt, nachdem ich, obschon nur schwach, einen Schritt vorwärts, der menschlichen Freiheit entgegen, getan habe, kann ich nicht mehr so handeln, wie Sie mir vorschlagen..., vielleicht bin ich ein Narr. Aber ich bin's einmal, Geneviève.»
Er saß, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände fest um den Bordrand des Bootes klammernd. Nach einer langen Weile sagte Geneviève mit trockener, kleiner Stimme:
«Wir müssen jetzt nach Hause gehen, es ist Zeit zum Tee.»
Andrews schaute auf. Eine Libelle saß auf der Spitze eines Schilfrohrs mit silbrigem Flügel und einem langen, schmalen Körper.
«Sehen Sie einmal dorthin, Geneviève.»
«Oh, eine Libelle! Es gab doch einmal ein Volk, das in ihr das Symbol des Lebens sah! Waren es nicht die Ägypter? Oh, ich habe es ganz vergessen.»
«Ich werde rudern», sagte Andrews.
Das Boot schoss in der Strömung fort. In wenigen Minuten schon hatten sie es vor dem Hause der Rods an den Strand gezogen.
«Kommen Sie, und trinken Sie Tee mit uns», sagte Geneviève.
«Nein, ich muss arbeiten.»
«Sie arbeiten etwas Neues?»
Andrews nickte.
«Wie soll es heißen?»
«Die Seele und der Leib von John Brown.»
«Wer ist John Brown?»
«Ein Verrückter, der das Volk befreien wollte. Es gibt ein Lied über ihn...» «Werden Sie morgen kommen?» «Wenn Sie nicht zu beschäftigt sind...» «Oh, die Boileaus kommen zum Lunch. Zum Tee wird niemand da sein. Wir können also allein den Tee trinken.»
Er ergriff ihre Hand und hielt sie unbeholfen, wie ein Kind die Hand eines neuen Spielkameraden hält.
«Gut, also so gegen vier. Falls niemand da ist, werden wir musizieren», sagte er.
Sie entzog ihm ihre Hand eilig, machte eine seltsame, konventionelle Bewegung des Abschiednehmens und ging über die Straße durch das Tor, ohne sich umzuschauen. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn: Ins Zimmer laufen, die Tür hinter sich abschließen, sich dann mit dem Gesicht auf das Bett werfen. Dieser Gedanke amüsierte ihn irgendwie. Das hatte er immer getan, wenn ihm als Kind die Welt zu schwer erschienen war. Dann war er die Treppen hinaufgelaufen, hatte die Tür hinter sich abgeschlossen und sich mit dem Gesicht auf das Bett geworfen.
«Ob ich wohl weinen werde?» sagte er.
Madame Boncour kam die Treppe herunter, als er hinaufging. Er ging zurück und wartete.
Als sie hinuntergekommen war, sagte sie: «So, Sie sind ein Freund von Madame Rod, Monsieur?»
«Woher wissen Sie?»
Ein Grübchen erschien auf ihren beiden Wangen.
«Sie wissen, auf dem Lande weiß man alles», sagte sie.
«Au revoir», sagte er und begann die Treppe hinaufzugehen.
«Mais monsieur. Sie hätten mir doch davon erzählen müssen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Sie nicht gebeten, im voraus zu bezahlen. Sie müssen mir verzeihen, Monsieur.»
«Schon gut.»
«Monsieur est américain? Sie sehen, ich weiß sehr viel.» Ihre schlaffen Wangen gingen auf und nieder, als sie zu kichern anfing.
«Und Monsieur kennen Madame und Mademoiselle Rod schon eine lange Zeit. Ein alter Freund. Monsieur ist Musiker?» «Ja. Bon soir.»
Andrews lief die Treppen hinauf. «Au revoir, Monsieur.»
Ihre singende Stimme verfolgte ihn die Treppen hinauf. Er schmiss die Tür zu und warf sich auf das Bett.
Als Andrews am nächsten Morgen aufwachte, war sein erster Gedanke, wie lange er an diesem Tage warten müsse, um Geneviève zu sehen. Dann erinnerte er sich an ihr Gespräch am Tage zuvor. Lohnte es sich überhaupt, sie zu besuchen? fragte er sich, und langsam ergriff ihn kalte Verzweiflung. Einen Augenblick lang fühlte er, dass er das einzige Lebewesen in einer Welt toter Maschinen sei. Der Frosch, der über den Weg hüpft vor einer großen Dampfwalze.
Plötzlich dachte er an Jeanne. Er sah sie vor dem Café Rohan an irgendeinem Mittwoch-Abend auf und ab gehen und auf ihn warten. Was würde sie an Genevièves Stelle getan haben? Die Menschen waren immer einsam, in Wirklichkeit. Die, die in den prächtigen, großen Wagen fuhren, konnten nie so fühlen, wie die anderen, die hinterher gehen und den Staub einschlucken, die Frösche, die über den Weg hüpfen. Er fühlte keinen Groll gegen Geneviève.
Diese Gedanken fielen von ihm ab, während er seinen Kaffee trank und das trockene Brot aß, und nachher, als er am Flussufer bin und her ging, fühlte er, wie die Steifheit seines Bewusstseins und Körpers sich auflöste und alles in ihm zu zittern begann in dem Strom der Musik, wie eine Pappel, die im Winde rauschte. Er spitzte einen Bleistift und ging wieder hinauf in sein Zimmer. Der Himmel war wolkenlos an diesem Tage. Wie er sich an seinen Tisch setzte, erschienen im Fenster das Blau des Himmels und die Hügel, von der Windmühle überragt, und das silbrige Blau des Flusses. Manchmal schrieb er Noten schnell nieder, nichts denkend, nichts fühlend, nichts sehend. Dann wieder saß er lange und starrte in den Himmel, auf die Windmühle, irgendwie glücklich mit unerwarteten Gedanken spielend, die kamen und wieder erloschen.
Als die Uhr zwölf schlug, bemerkte er, dass er hungrig war. Zwei Tage lang hatte er nichts als Brot, Wurst und Käse gegessen. Drunten bat er Madame Boncour um ein Mittagbrot. Sie brachte ihm Essen und eine Flasche Wein und blieb da, beobachtete ihn beim Essen, die Arme gekreuzt und mit den Grübchen in ihren ungeheuren, roten Wangen.
«Monsieur isst weniger, als irgendein anderer junger Mann», sagte sie.
«Ich arbeite sehr», sagte Andrews und wurde rot. «Aber wenn man arbeitet, muss man sehr viel essen.» «Und wenn einem das Geld knapp ist?» fragte Andrews lächelnd.
Irgend etwas in dem forschenden Blick ihrer Augen erschreckte ihn für einen Augenblick.
«Sind jetzt nicht viel Menschen hier, Monsieur... Wollen Sie nicht etwas Nachtisch haben, Monsieur?» «Käse und Kaffee.»
«Nichts sonst? Es gibt doch jetzt Erdbeeren.» «Nichts mehr, danke schön.»
Als Madame Boncour mit dem Käse zurückkam, sagte sie: «Ich hatte hier schon einmal Amerikaner, Monsieur. Habe eine ganz schöne Zeit mit ihnen verlebt. Es waren Deserteure. Sie liefen fort, ohne zu bezahlen. Die Gendarmen hinter ihnen. Ich hoffe, dass man sie gefasst hat und an die Front gesandt, diese nichtsnutzigen Kerls.»
«Es gibt allerhand Amerikaner», sagte Andrews leise. Er war wütend über sich selbst, weil sein Herz so heftig schlug. «Ich gehe jetzt ein wenig aus. Au revoir, Madame.»
«So, Monsieur geht ein wenig aus. Amusez vous bon, Monsieur. Au revoir, Monsieur.»
Madame Boncours Sing-Sang verfolgte ihn bis draußen.
Ein wenig vor vier Uhr klopfte Andrews vor dem Hause der Rods an. Er konnte Santo, den kleinen, schwarzen Hund, drinnen bellen hören. Madame Rod öffnete ihm die Tür.
«Oh, da sind Sie ja», sagte sie. «Kommen Sie herein und trinken Sie etwas Tee mit uns. Haben Sie heute viel Arbeit?»
«Und Geneviève?» stammelte Andrews.
«Sie ist mit einigen Freunden Auto fahren. Sie hat einen Zettel für Sie dagelassen. Er liegt auf dem Teetisch.»
Er fand sich selbst dann sprechend, Fragen stellend und antwortend, Tee trinkend, Kuchenstücke in den Mund führend; alles in einem weißen toten Nebel. Auf Genevièves Zettel stand:
John!
Ich denke an Mittel und Wege. Sie müssen in irgendein neutrales Land. Warum haben Sie nicht erst mit mir darüber gesprochen, ehe Sie sich so jede Möglichkeit abgeschnitten haben? Ich komme morgen zur selben Zeit.
Bien à vous. G. R.
«Wird es Sie stören, wenn ich einige Minuten Klavier spiele, Madame Rod?» fragte Andrews plötzlich.
«Nein, spielen Sie nur, wir werden später kommen Ihnen zuhören.»
Als er das Zimmer verließ, bemerkte er, dass er außer zu Madame Rod noch zu den beiden Cousinen gesprochen hatte.
Am Klavier vergaß er alles und wurde wieder froh und heiter. Er fand Papier und einen Bleistift in seiner Tasche und spielte das Thema, das über ihn gekommen war, als er damals die Fenster abwusch im Feldlager.
Als er mit der Arbeit aufhörte, war es fast dunkel. Geneviève Rod, mit einem Schal um den Kopf, stand an dem französischen Fenster, das zu dem Garten führte.
«Ich hörte Ihnen zu», sagte sie, «fahren Sie fort.»
«Ich bin fertig. Wie war Ihre Autofahrt?»
«Wunderschön. Ich habe nicht oft Gelegenheit dazu.»
«Und ich auch nicht, mit Ihnen allein zu sprechen», sagte Andrews bitter.
«Sie scheinen zu glauben, dass Sie Besitzeranrechte auf mich haben? Ich weise das zurück. Niemand hat Anrecht auf mich.»
Sie sprach, als ob es nicht das erste Mal sei, dass sie diese Phrase ausgesprochen habe.
Er ging hinüber zum Fenster.
«Hat es Ihnen so viel ausgemacht, Geneviève, zu erfahren, dass ich Deserteur bin?»
«Nein, natürlich nicht», sagte sie hastig.
«Ich denke doch, Geneviève... Was soll ich denn tun? Glauben Sie, ich soll mich selbst aufgeben? Ein Mann, den ich in Paris kannte, hat sich selbst aufgegeben. Doch die Uniform, die hatte er nicht ausgezogen. Das scheint ein großer Unterschied zu sein. Er war ein netter Kerl. Er hieß Al. Aus San Francisco. Der hatte Mut. Er amputierte sich selbst den kleinen Finger, als ihm die Hand von einem Güterwagen abgefahren wurde...»
«O nein, nein, nein, das ist ja entsetzlich... Sie wären ein großer Komponist geworden. Ich bin dessen sicher.»
«Wieso geworden? Das, was ich jetzt schreibe, ist weitaus besser, als all die kleinen, unwichtigen Dinge, die ich früher geschrieben habe. Ich weiß das.»
«O ja, aber Sie brauchen doch Studium, um bekannt zu werden.»
«Wenn ich sechs Monate durchhalten kann, bin ich sicher; dann wird die Armee nicht mehr hier sein, und man wird ja Deserteure nicht ausliefern.»
«Ja, aber welche Schande! Immer die Gefahr, erwischt zu werden.»
«Ich schäme mich vieler Dinge in meinem Leben, Geneviève; ich bin stolz darauf, dass ich desertiert bin.»
«Aber können Sie nicht verstehen, dass andere Leute Ihre Gedanken über individuelle Freiheit nicht teilen?»
«Ich muss gehen, Geneviève.»
«Kommen Sie doch bald wieder.»
«An einem der nächsten Tage.»
Er stand draußen auf der Straße in der Dämmerung, seine Noten in der Hand zusammengedrückt. Der Himmel war voller rötlicher Staubwolken. Zwischen ihnen waren Flecken hellen, klaren Lichtes. Einige Tropfen Regen fielen in dem Wind, der durch die breiten Blätter der Linden rauschte und die Weizenfelder bewegte wie Wogen auf der See und den Fluss zwischen den hellen Sandbänken dunkel färbte. Es begann zu regnen. Andrews eilte nach Hause, damit sein einziger Anzug nicht nass werde. Im Zimmer angekommen, zündete er vier Kerzen an und stellte sie auf die Ecken seines Tisches. Dann legte er sich auf das Bett und starrte hinauf auf das flackernde Licht an der Decke und versuchte zu denken.
«Du bist jetzt allein, John Andrews», sagte er laut nach einer halben Stunde und sprang auf die Füße. Er dehnte sich und gähnte. Draußen schlug der Regen laut und ständig nieder.
«Generalabrechnung», sagte er zu sich selbst.
«Es wird wenigstens einen Monat dauern, ehe ich von Henslowe höre, und jetzt habe ich schon zwanzig Franken für Essen, ausgegeben. So geht es nicht weiter. Außer den paar Franken bares Geld besitze ich nur einen Band Villon, ein grünes Buch über Kontrapunkt, eine entzweigerissene Karte von Frankreich und einen immerhin noch nicht ganz in Unordnung geratenen Verstand.»
Er legte die beiden Bücher mitten auf den Tisch vor sich, darüber das unordentliche Bündel seiner Notenpapiere, dann fuhr er fort, seine Habseligkeiten vor sich aufzuhäufen: drei Bleistifte, einen Füllfederhalter. Automatisch griff er nach seiner Uhr, doch er erinnerte sich, dass er sie Al gegeben hatte, damit der sie, wenn er sich entschließen sollte, sich nicht aufzugeben, verkaufen könne... Eine Zahnbürste, Rasierzeug, ein Stück
Seife, eine Haarbürste und ein zerbrochener Kamm. Noch etwas? Er griff in den Sack, der am Fußende seines Bettes hing. Eine Schachtel Streichhölzer, ein Messer, von dem eine Klinge fehlte und eine zerdrückte Zigarette. Von Minute zu Minute wuchs das Amüsement über den vor ihm ausgebreiteten Haufen. Dann, in der Schublade, war doch, wie er sich erinnerte, ein reines Hemd und zwei Paar getragene Strümpfe. Und das war alles, absolut alles. Nichts Verkäufliches mehr. Außer Genevièves Revolver. Er zog ihn aus der Tasche. Das Kerzenlicht flackerte auf dem hellen Nickel. Nein, er würde ihn vielleicht brauchen. Der war zu wertvoll, um verkauft zu werden. Er richtete ihn auf sich selbst. Unter dem Kinn sollte die beste Stelle sein. Er wunderte sich, ob er wohl den Hahn abziehen werde, wenn der Lauf an seinem Kinn sein werde. Nein, wenn das Geld zu Ende ist, wird man eben den Revolver verkaufen. Ein teurer Spaß für einen Hungers sterbenden Menschen! Er saß auf dem Bettende und lachte.
Dann entdeckte er, dass er sehr hungrig sei. «Zwei Mahlzeiten an einem Tage. Shocking!» sagte er zu sich selbst. Er pfiff froh, wie ein Schuljunge, ging die Treppe hinunter und bat Madame Boncour um noch eine Mahlzeit. Seltsam erschreckt bemerkte er, dass die Melodie, die er pfiff, ein Thema aus John Brown war:
John Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt,
Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts...
Die Linden standen in Blüte. Von dem Baum neben dem Hause kam der Geruch der Lindenblüten in schweren Wellen durch das offene Fenster herein. Andrews lag über dem Tisch mit geschlossenen Augen und mit dem Gesicht auf einem Haufen Notenpapier. Er war sehr müde. Der erste Teil von «Die Seele und der Leib von John Brown» war niedergeschrieben. Die Turmuhr schlug zwei. Er stand auf und sah einen Augenblick abwesend zum Fenster hinaus. Es war ein dumpf-schwüler Nachmittag. Die Wolken hingen dick geschwollen und niedrig über dem Fluss. Die Windmühle auf dem Hügel war regungslos. Es schien ihm, als ob er Genevièves Stimme hörte, das letzte Mal, als er sie sah... es war schon so lange her: Sie wären ein großer Komponist geworden... Er ging hinüber zum Tisch und wandte einige Blätter um, ohne sie anzusehen. Wären geworden... Er zuckte die Achseln. Man kann also nicht zugleich ein großer Komponist und Deserteur sein im Jahre 1919. Vielleicht hatte sie recht. Doch er musste etwas essen.
«Wie spät Sie kommen!» schimpfte Madame Boncour, als er sie um Lunch bat.
«Ich weiß, es ist spät. Ich habe gerade ein Drittel meiner Arbeit beendet.»
«Und bekommen Sie viel dafür, wenn die Arbeit fertig ist?» fragte Madame Boncour. Die Grübchen erschienen wieder auf ihren Wangen.
«Vielleicht, eines Tages.»
«Sie werden einsam sein jetzt, da die Rods fort sind.» «So, sie sind fort?»
«Wussten Sie es nicht? Haben sie Ihnen nicht adieu gesagt? Sie sind an die See... Ich werde Ihnen ein kleines Omelett bereiten.»
«Danke schön.»
Als Madame Boncour mit dem Omelett und gebratenen Kartoffeln zurückkam, sagte sie ihm geheimnisvoll:
«So, Sie haben die Rods in diesen letzten Wochen nicht oft gesehen?»
«Nein.»
Madame Boncour starrte ihn an, ihre roten Arme über den Brüsten gekreuzt und schüttelte den Kopf. Als er die Treppen hinaufgehen wollte, rief sie ihn plötzlich an:
«Wann wollen Sie mich bezahlen? Es ist schon zwei Wochen her, seitdem Sie nichts mehr bezahlt haben.»
«Aber Madame Boncour, ich sagte Ihnen doch, dass ich kein Geld habe. Wenn Sie noch einen oder zwei Tage warten wollen, bekomme ich bestimmt welches mit der Post. Es kann nicht mehr als zwei Tage dauern.»
«Ich habe diese Geschichte schon einmal gehört.»
«Ich habe sogar versucht, auf verschiedenen Gütern hier in der Nähe Arbeit zu bekommen.»
Madame Boncour warf den Kopf zurück und lachte, zeigte dabei die schwarzen Zähne ihres Unterkiefers.
«Schauen Sie», sagte sie endlich. «Noch eine Woche, und dann bin ich fertig mit Ihnen. Entweder Sie zahlen dann, oder... Bedenken Sie, ich schlafe sehr leicht, Monsieur...»
Ihre Stimme nahm plötzlich die gewöhnliche Färbung wieder an. Andrews lief die Treppen hinauf in sein Zimmer.
«Ich muss diese Nacht weg», sagte er zu sich selbst. «Aber vielleicht werden am nächsten Tage Briefe mit Geld kommen.»
Er war unentschlossen, den ganzen Nachmittag.
Am Abend unternahm er einen langen Spaziergang. Als er am Hause der Rods vorbeiging, sah er, dass die Rouleaux heruntergelassen waren. Er fühlte sich irgendwie befreit, zu wissen, dass Geneviève nicht mehr in seiner Nähe lebte. Seine Einsamkeit war jetzt vollkommen.
Und warum, anstatt Musik zu schreiben, die vielleicht etwas taugen wird, wenn er nicht Deserteur wäre — sagte er immer und immer wieder zu sich selbst — warum hatte er nicht versucht zu handeln, eine wenn auch schwache Bewegung zu machen für die Freiheit der anderen Menschen? Halb aus Zufall war es ihm gelungen, sich aus der Tretmühle zu befreien. Hätte er nicht anderen helfen können! Wenn er doch nur sein Leben noch einmal leben könnte!
Es war dunkel, als er ins Dorf zurückkam. Er hatte sich entschlossen, noch einen Tag zu warten. Am nächsten Morgen begann er am zweiten Teil zu arbeiten. Die Arbeit ging sehr schwer vorwärts, doch er wollte noch alles leisten, was ihm irgend möglich war.
Eines Nachts hatte er die Kerze ausgeblasen und stand am Fenster und beobachtete den Schein des Mondes auf dem Fluss. Er hörte einen schweren Schritt vor seiner Tür. Ein Brett knarrte, und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Der Schritt erklang wieder auf der Treppe. John Andrews lachte laut. Das Fenster war nur zehn Fuß vom Boden. Er ging zufrieden zu Bett, um noch einmal gut zu schlafen, denn morgen Nacht würde er zum Fenster hinausspringen, um nach Bordeaux zu gehen,
Am anderen Morgen. Ein frischer Wind hatte sich erhoben und fuhr durch Andrews Papiere beim Arbeiten. Draußen lag der Fluss blau und silbern. Die Arme der Windmühle schlugen schnell in die aufgehäuften Wolken. Der Geruch der Linden wurde von einem scharfen Wind von Zeit zu Zeit hereingetrieben. Die Melodie von John Browns Leib kroch durch alle seine
Gedanken. Andrews saß mit einem Bleistift an den Lippen, pfiff leise, während hinter ihm ein ungeheurer Chor zu singen schien:
John Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt,
Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts;
Gloria, Gloria, Halleluja,
Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts.
Wenn man doch nur frei sein könnte dadurch, dass man für die Freiheit marschiert!
Plötzlich erstarrte er. Seine Hände klammerten sich um das Tischende. Eine amerikanische Stimme erklang unter seinem Fenster:
«Das Weib hat uns wohl genarrt, was, Charlie?»
Verzweiflung blendete Andrews. O Gott, konnten die Dinge sich so wiederholen? Konnte alles sich wiederholen? Und es schien ihm, als flüsterten Stimmen in seine Ohren: «Einer von euch Kerls soll mal dem Mann das Salutieren beibringen!»
Er sprang auf und öffnete die Schublade. Sie war leer. Die Frau hatte ihm den Revolver weggenommen. «Es ist alles vorbereitet. Sie weiß alles», sagte er zu sich selbst. Er wurde plötzlich ruhig. Ein Mann in einem Boot fuhr an dem Haus vorbei. Das Boot war hellgrün angemalt. Der Mann trug ein seltsames braunes Jackett und hielt eine Angel aus. Andrews saß wieder auf seinem Stuhl. Das Boot war jetzt außer Sicht, aber die Windmühle drehte sich, drehte sich in den gehäuften weißen Wolken. Schritte waren auf der Treppe, zwei zwitschernde Schwalben kurvten am Fenster vorbei, sehr nahe, so dass Andrews die weißen Flecken unter ihren Flügeln sehen konnte, und wie sie ihre Beine unter ihren hellgrauen Körpern gefaltet hatten. Es klopfte. «Herein!» sagte Andrews fest.
«Ich bitte um Verzeihung», sagte ein Soldat mit dem Hut, um den ein rotes Band geschlungen war, in der Hand. «Sind Sie der Amerikaner?»
«Ja.»
«Die Frau dort unten sagte, dass Ihre Papiere nicht recht in Ordnung seien.»
Der Mann stammelte vor Verlegenheit. Ihre Augen trafen aufeinander.
«Nein, ich bin Deserteur.»
Der Militärpolizist ergriff seine Pfeife. Ein schriller Pfiff ertönte. Antwort erklang draußen vor dem Fenster. «Pack dein Zeugs zusammen!» «Ich habe nichts.»
«Geh langsam vor mir die Treppe hinunter.»
Draußen die Windmühle drehte sich, drehte sich in den weißen, gehäuften Wolken am Himmel.
Andrews wandte seine Augen zur Tür. Der Militärpolizist schloss die Tür hinter ihm und folgte ihm die Treppe hinunter.
Auf John Andrews' Schreibtisch rauschte der frische Wind zwischen die breiten Blätter Papier. Zuerst fiel ein Blatt, dann ein anderes vom Tisch, bis der ganze Boden damit bedeckt war... |
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