FÜNFTER TEIL
Die Welt draußen
1
Andrews und sechs andere Leute seiner Division saßen an einem Tisch draußen vor dem Cafe gegenüber vom Gare de l'Este. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, eine Tasse Kaffee in der Hand und sah auf die Steinhäuser im Umkreis mit den vielen Baikonen. Dampf, nach Milch und Kaffee duftend, stieg ihm in die Nase, als er einen Schluck aus der Tasse nahm. In seinen Ohren lärmte der Verkehr, klapperten die Stöckel, während Menschen hastig auf dem feuchten Pflaster vorübereilten. Eine Zeitlang achtete er nicht auf das, was die Männer, die mit ihm dasaßen, sagten. Sie sprachen und lachten, aber ganz unwillkürlich wanderte sein Blick an ihren Khakiuniformen und ihren kahnförmigen Mützen vorbei. Der Geruch des Kaffees und des Nebels nahm ihn völlig gefangen. Ein bisschen rostbrauner Sonnenschein fiel auf den Kaffeetisch und die dünne feuchte Kotschicht, die den Asphalt bedeckte. Als er, vom Bahnhof weg, die Avenue entlangblickte, sah er die Häuser, dunkelgrau, im Schatten eher grünlich und in der Sonne violett, in den sanften Nebel der Ferne entschwinden. An den Baikonen schimmerten matte Goldbuchstaben. Im Vordergrunde bewegten sich mit hastigen Schritten die Passanten, die raue Morgenluft peitschte eine leichte Röte in ihre Wangen. Der Himmel war von einem blassen rosigen Grau. Walters sagte gerade: «Das erste, was ich überhaupt sehen will, ist der Eiffelturm.» «Warum willst du den sehen?» fragte ein kleiner Sergeant
mit schwarzem Schnurrbart und Ringen unter den Augen, wie ein Affe.
«Mensch, weißt du denn nicht, dass die Welt mit dem Eiffelturm anfängt? Wenn es keinen Eiffelturm gäbe, hätte man auch keine Wolkenkratzer bauen können.»
«Und wie steht's mit dem Flat-Iron-Gebäude und der Brooklynbrücke? Die wurden doch vor dem Eiffelturm gebaut?» unterbrach der Mann aus New York.
«Der Eiffelturm ist die erste vollkommene Eisenkonstruktion in der ganzen Welt!» wiederholte Walters dogmatisch.
«Ich gehe zuerst zu den Folies Bergere. Ich bin für die wilden Weiber.»
«Lass die wilden Weiber lieber in Ruhe, Bill», sagte Walters.
«Ich werde keine Frau anrühren», sagte der Sergeant mit dem schwarzen Schnurrbart. «Habe in meinem Leben genug Weiber gesehen, und außerdem ist der Krieg ja vorüber.»
«Warte nur, Kerl, bis dir so 'ne richtige Pariserin in Schussweite kommt... Da wirst du nicht mal warten, um dich nach der nächsten Sanitätsstation zu erkundigen», sagte ein plumper, unrasierter Mann, brüllend vor Lachen.
«Na, wenn man 'n bisschen vorsichtig ist, ist die Geschichte nicht so sehr gefährlich.»
Ein verwegen aussehender Mann mit dünnen Lippen und grünlichen Augen sprach vom nächsten Tisch herüber.
«War mit Weibern überall hier in Frankreich und auch in Amerika und habe nie was abgekriegt. Aber ich gehe nicht gleich mit dem ersten Mädel, das mir in die Finger läuft. Habe noch nie einer einen roten Heller bezahlt und werde es auch nie tun, bei Gott nicht.»
Andrews beachtete das Gespräch nicht mehr. Er starrte träumerisch durch halbgeschlossene Augen die lange, große Straße hinunter. Er wollte allein sein, nach seinem eigenen Belieben durch die Straßen wandern, Menschen träumend anschauen und Dinge, Männer und Frauen wie im Zufall ansprechen, mit seinem ganzen Leben in dieses nebelige, leuchtende Straßenleben versinken. Der Geruch des Nebels erinnerte ihn an irgend etwas. Lange Zeit tastete er danach, bis er plötzlich sich seines Diners mit Henslowe und der Gesichter des jungen Mannes und des jungen Mädchens, mit denen er gesprochen hatte, erinnerte. Er musste Henslowe sofort finden. Sekundenlang durchzuckte ihn ein heftiger Abscheu vor all diesen Menschen rings um ihn. Himmel! Er musste sie loswerden. Er hatte sich seine Freiheit schwer genug erkämpft. Nun wollte er sie bis zum Äußersten genießen.
«Ich werde mich dir anschließen, Andy.»
Walters' Stimme zerschnitt seine Träumerei:
«Du solltest Dolmetscher werden.»
Andrews lachte.
«Weist du den Weg zur Schulabteilung des Hauptquartiers?» «Der R.T.O.(Anm.: Railway Transport Officer.) hat mir gesagt, wir sollen die Metro nehmen.» «Ich gehe zu Fuß», erwiderte Andrews. «Du wirst dich verirren.»
«Keine Bange — leider nicht», sagte Andrews und stand auf. «Wir treffen uns in der Schulabteilung des Hauptquartiers — oder wie das Ding heißt... Bis dann!»
«Werde da auf dich warten, Andy!» rief Walters hinter ihm her.
Andrews schritt in eine Nebenstraße hinein. Er konnte sich kaum davon abhalten, laut zu schreien, weil er nun endlich allein war, frei, mit Tagen und Tagen vor sich, zu arbeiten und zu denken, und um endlich Schritt für Schritt seine Glieder von den steifen Bewegungen des Heeresautomaten zu befreien.
Der Straßengeruch und der Nebel, undefinierbar scharf, zogen wie Weihrauch in phantastischen Spiralen durch sein Hirn, machten ihn hungrig und schwindlig, machten seine Arme und Beine geschmeidig und so lebensfreudig wie eine Katze, die zum Sprung ansetzt. Seine schweren Stiefel tappten wie im Tanz unter seinen federnden Schritten über das feuchte Pflaster. Er ging sehr rasch, blieb ab und zu stehen, um das Grün, Gelb und Rot der Gemüse auf einem Karren zu betrachten, um einen Blick in verwinkelte Gassen zu werfen oder in das üppig braune Dunkel eines kleinen Weinladens, in dem Arbeiter an der Theke standen und Weißwein tranken. Ovale, zarte Gesichter, bärtige Mannsgesichter, fast hagere Gesichter junger Frauen, rote Knabengesichter, verrunzelte Altweibergesichter, in deren Hässlichkeit all die Schönheit der Jugend und die Tragödie des gelebten Lebens auf eine rührende Weise verborgen lagen: — die Gesichter der Menschen, an denen er vorüberkam, fesselten ihn wie die Rhythmen eines Orchesters. Nachdem er lange so gegangen war, stets die Straße wählend, die er am nettesten fand, kam er an ein Rondell mit dem Standbild einer pompösen Figur auf einem sich bäumenden Ross. «Place des Victoires», las er auf dem Schild, ein wenig belustigt. Mit einem spöttischen Lächeln betrachtete er die heroischen Züge des Sonnenkönigs und ging dann lachend weiter. «Damals haben sie sich besser aufs Grandiose verstanden!» murmelte er vor sich hin. Und sein Vergnügen wurde doppelt so groß, als er Schulter an Schulter neben den Menschen einherspazierte, deren Abbilder niemals auf stolzierenden Rossen erscheinen würden — mitten auf Plätzen, die dem Andenken großer Siege geweiht sind. Er gelangte zu einer breiten schnurgeraden Avenue, wo er zahlreichen amerikanischen Offizieren begegnete, die er grüßen musste, und Militärpolizei, und Läden mit breiten Schaufenstern voller funkelnder, kostspielig aussehender Sachen... <Noch so ein klarer Fall von Sieg!> dachte er, während er in eine Seitenstraße einbog und einen Blick auf die bläulich-graue Masse der Oper mit ihren pompösen Fenstern und ihren lampentragenden nackten Bronzedamen mitnahm.
Er befand sich in einer engen Gasse voller Hotels und eleganter Friseurgeschäfte, aus denen kosmopolitische Parfumdüfte strömten, einer Gasse voller Kasinos, Ball-Lokale und diplomatischer Empfangsräume. Ein amerikanischer Offizier trat ein wenig schwankend auf ihn zu. Es war ein großer, ältlicher Mann mit rotem Gesicht und einer Flaschennase. Er salutierte. Der Offizier hielt an, schwankte von der einen Seite auf die andere und sagte in weinerlicher Stimme: «Söhnchen, weißt du, wo die Henry-Bar ist?»
«Nein, Herr Major», antwortete Andrews, der sich in ein Gewölk von Cocktails eingehüllt fühlte.
«Hilf mir suchen, Söhnchen, ja? Es ist schrecklich, dass ich sie nicht finden kann! Ich muss Leutnant Trevors in der Henry-Bar treffen.»
Der Major hielt sich an Andrews' Schulter. Ein Zivilist kam an ihnen vorbei.
«Dih-donc!» rief der Major hinter ihm her. «Dih-donc, Mossjeh, ou ey Henrybar?»
Der Mann ging weiter, ohne zu antworten.
«Ist doch so'n richtiger Franzmann! Versteht noch nicht mal seine eigene Sprache!» sagte der Major.
«Aber da ist die Henry-Bar, gleich hier über die Straße», meinte Andrews plötzlich.
«Bon, bon», stotterte der Major.
Sie gingen über die Straße und traten ein. Am Eingang zur Bar flüsterte der Major in Andrews' Ohr, sich immer noch fest auf seine Schulter stützend: «Bin fort ohne Urlaub, hm, hm, alle von der Flugabteilung sind fort ohne Urlaub. Willst du einen mit mir trinken? Kümmert sich keiner drum... Die Demokratie hat die Welt erobert.»
Andrews setzte gerade seinen Cocktail an die Lippen, schaute amüsiert auf die Menge amerikanischer Offiziere und Zivilisten, die sich in der kleinen Mahagonibar zusammendrängten, als eine Stimme hinter ihm ausrief: «Donnerwetter noch mal!» Andrews wandte sich um und sah Henslowes braunes Gesicht und kleinen, seidigen Schnurrbart. Er überließ den Major seinem Schicksal.
«Bin ich aber froh, dich zu sehen! Hatte schon Angst, würdest es nicht schaffen», sagte Henslowe und stotterte ein wenig.
«Ich bin fast verrückt vor Freude, Henry, bin gerade vor ein paar Stunden angekommen.»
Sie lachten, unterbrachen einander im Sprechen und redeten aufeinander ein in abgebrochenen Sätzen.
«Aber, wie in Dreiteufelsnamen, bist denn du hierhergekommen?»
«Mit dem Major», erwiderte Andrews lachend. «Ach was!»
«Ja, mit dem Major», flüsterte Andrews seinem Freunde ins Ohr. «Er sah recht mitgenommen aus, bat mich, ihn in Henrys Bar zu lotsen, und spendierte mir einen Cocktail in memoriam der inzwischen selig entschlafenen Demokratie... Aber was machst denn du hier? Es ist nicht gerade sehr — exotisch.»
«Ich will einen Mann aufsuchen, der mir sagen soll, wie ich mit dem Roten Kreuz nach Rumänien kommen kann... Aber das hat Zeit...»
«Wollen hier 'rausgehen», sagte Henslowe schließlich. «Gott, ich hatte schon Angst, du würdest es nicht schaffen.»
«Ich musste auf dem Bauch kriechen und den Leuten die Stiefel lecken... Gott war das gemein... Aber nun bin ich hier!»
Sie waren wieder draußen auf der Straße, liefen und gestikulierten.
«Libertad! Libertad! Allons, ma femme! Wie Walt Whitman sagen würde», schrie Andrews.
«Es ist ein einziges großes und glorreiches Gefühl. Seit drei Tagen bin ich hier. Meine Abteilung ist fort. Gott sei mit ihr.»
«Aber was hast du zu tun?»
«Zu tun? Nichts!» rief Henslowe aus. «Kein einziges, verdammtes Bisschen zu tun!»
«Ja, es hat eigentlich keinen Zweck, sich anzustrengen... Das Ganze ist eine so große Schweinerei, dass man gar nichts ausrichten könnte, auch wenn man wollte.»
«Ich will mich mit den Leuten in der Schola cantorum unterhalten.»
«Da kommst du noch lange zurecht. Die Musik wird dir nie etwas einbringen, wenn du sie ernst nimmst.»
«Außerdem muss ich mir schließlich irgendwoher etwas Geld beschaffen.»
«Endlich ein vernünftiges Wort!» Henslowe zog eine braune Lederbrieftasche aus der Innentasche seines Waffenrocks. «Monaco!» sagte er und klopfte auf die Brieftasche, in die ein dunkelrotes Blumenmuster eingraviert war. Er schürzte die Lippen, zog einige Hundertfrancscheine hervor und schob sie Andrews in die Hand.
«Gib mir nur einen», sagte Andrews.
«Alles oder nichts... Jeder reicht für etwa fünf Minuten.»
«Aber dann muss ich so viel zurückzahlen.»
«Zurückzahlen — meine Güte!... Da, nimm und halt den Mund! Wahrscheinlich werde ich nie wieder so viel Geld haben, also nütze die Gelegenheit aus. Ich mache dich darauf aufmerksam — Ende der Woche ist es futsch.»
«Na schön! Ich bin halb verhungert.»
«Setzen wir uns an den Boulevard und denken wir darüber nach, wo wir zu Mittag essen, um Miss Libertad zu feiern... Aber so wollen wir sie nicht nennen, es klingt fast wie Liverpool, Andy, ein scheußliches Nest.»
«Na, wie wäre es mit <Freiheit!>», sagte Andrews, als sie sich im rötlich gelben Sonnenschein auf Rohrstühlen niederließen.
«Landesverrat... Ab mit dem Kopf!»
«Aber überlege es dir, Mann», sagte Andrews, «die Schlächterei ist vorbei, und du und ich und auch alle anderen werden bald wieder Menschen sein. Menschlich — allzumenschlich...»
«Nicht mehr als achtzehn Kriege im Gang», murmelte Henslowe.
«Ich habe seit einer Ewigkeit keine Zeitung gelesen... Was meinst du damit?»
«Überall wird gekämpft, nur nicht im Westen», erwiderte Henslowe. «Aber da werde ich mich einschalten. Das Rote Kreuz schickt Nachschubzüge, um den Leuten zu helfen... Wenn ich es durchsetzen kann, fahre ich nach Russland.»
«Und die Sorbonne?»
«Die Sorbonne kann mir den Buckel runterrutschen.»
«Aber, Henny, ich falle tot um, wenn du nicht schnell mit mir essen gehst.»
«Willst du in einem pompösen Lokal mit rotem Plüsch oder mit lachsrosa Brokat speisen?»
«Warum denn überhaupt in einem pompösen Lokal?»
«Weil Pomp zum guten Essen gehört. Nur das fromme Restaurant bringt dem Bauch die nötige Andacht entgegen. Ach, ich weiß schon, wir gehen nach <Brooklyn> hinüber.»
«Wohin?»
«Rive Gauche. Ich kenne jemanden, der darauf besteht, es <Brooklyn> zu nennen. Ein sehr ulkiger Knabe — war noch nie in seinem Leben nüchtern. Du musst ihn kennen lernen.»
«Aber gern... Es ist Gott weiß wie lange her, dass ich jemanden kennengelernt habe — außer dir. Ich kann nicht leben, ohne alle möglichen Typen um mich zu haben. Du?»
«Du brauchst dich nur umzuschauen. Serben, Franzosen, Engländer, Amerikaner, Australier, Rumänen, Tschechoslowaken — mein Gott, gibt es denn eine Uniform, die man hier nicht zu sehen bekäme?... Ich will dir was sagen, Andy, der Krieg war großartig für Leute, die es verstanden haben, ihn auszunützen. Schau dir bloß die Gamaschen an!»
«Hoffentlich wird man es auch verstehen, den Frieden richtig hinzukriegen.»
«Na, das wird noch das Beste vom Ganzen... Komm! Seien wir leichtsinnig, nehmen wir ein Taxi.»
«Ja, das ist wirklich die Hauptstraße von Cosmopolis.»
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge voller Umformen, voller Gefunkel und bunter Farben, die sich in zwei
Strömen zwischen den Cafes und den Stämmen der kahlen Bäume hin und her übers breite Trottoir wälzte. Sie stiegen in ein Taxi ein und holperten in schnellem Tempo durch Straßen, wo im dunstigen Sonnenschein Graugrün und Graublau sich mit blauen und matten Reflexen vermischten wie die Farben im Brustgefieder einer Taube. Sie kamen an den entlaubten Tuileriengärten vorbei, hatten an der anderen Seite die großen Innenhöfe des Louvre mit ihren roten Mansardendächern und den hohen Schornsteinen, und sahen eine Sekunde lang den Fluss, den jadegrünen Fluss, und an den Kais die braun und gelblich gesprenkelten Platanen, bevor sie sich in die schmalen, bräunlichgrauen Gässchen der alten Viertel verirrten.
«Das war Cosmopolis — hier fängt Paris an», sagte Henslowe. «Momentan bin ich nicht wählerisch», rief Andrews vergnügt Der Platz vor dem Odeon war nur ein Flecken Weiß und die Kolonnade ein verwaschenes Dunkel, während das Taxi um die Ecke fegte und am Luxembourg entlangfuhr, wo hinter dem schwarzen Eisengitter viele braune und rötliche Farben im verwickelten Muster entlaubter Zweige hier und dort den Blick auf Statuen, Balustraden und in dunstige Fernen lenkten. Das Taxi hielt mit einem Ruck.
«Das ist der Place de Médicis», sagte Henslowe. Am Ende einer ansteigenden Straße stand die Kuppel des Pantheon und sah im Nebel recht flach aus. Mitten auf dem Platz, zwischen gelben Trams und niedrigen grünen Bussen, lag ein stiller Teich, in dem die horizontalen Schatten der Häuserfassaden sich spiegelten.
Sie saßen am Fenster und schauten hinaus auf den Platz. Henslowe bestellte beim Kellner.
«Erinnerst du dich, wie sentimental Geschichtsbücher von den Gefangenen zu erzählen pflegen, die man nach Jahren aus ihren Löchern hinauslasst, die dann aber nicht fähig sind, das auszuhalten und in ihre Zellen zurück wollen?» «Möchtest du sole meuniére essen?»
«Was du willst! Aber am liebsten alles... Aber lass es dir gesagt sein — es ist lauter dummes Zeug. Wirklich, ich glaube, ich war im Leben noch nie so glücklich... Weißt du, Henslowe, in mir ist irgend etwas, das sich davor fürchtet, glücklich zu sein...»
«Tu nicht so morbid... Es gibt nur ein einziges wirkliches
Übel in der Welt: irgendwo zu sein, ohne die Möglichkeit zu haben, wegzulaufen. Habe Bier bestellt. Dies ist das einzige Lokal in ganz Paris, wo man ein anständiges Bier bekommt.»
«Und ich werde mir jedes anständige Konzert anhören... Am Sonntag Colonne-Lamoureux, das ist mal sicher! Das einzige Übel in der Welt ist, keine Gelegenheit zu habeji, Musik zu hören oder Musik zu machen... Diese Austern hätten sogar Lucullus befriedigt.»
«Warum nicht John Andrews und Bob Henslowe?... Warum jedes Mal die Geister armer, alter, toter Römer zitieren, wenn einer eine Auster isst? Das sehe ich nicht ein. Wir sind genauso gut wie die. Ich bin mir immer noch mehr wert, als so 'n alter, vermoderter Lucullus, sogar wenn ich noch keine Lamprete gegessen habe.»
«Und warum solltest du keine essen, Bob?» ertönte eine heisere Stimme neben ihnen.
Andrews schaute auf, in ein rundes, weißes Gesicht mit großen, grauen Augen, die hinter dicken Brillengläsern verborgen waren. Außer den Augen hatte das Gesicht etwas Chinesisches.
«Hallo, Heinz! — Mister Andrews — Mister Heinemann», stellte Henslowe vor.
«Freut mich, Sie zu treffen», sagte Heinemann mit seiner jovialen, heiseren Stimme. «Ihr scheint euch ja tatsächlich zu überfressen; wie ihr auf eurem Tisch habt anfahren lassen!» Hinter der Heiserkeit in Heinemanns Stimme entdeckte Andrews einen leichten näselnden Yankee-Akzent.
«Setz dich lieber her und hilf uns», sagte Henslowe.
«Warum nicht...»
«Wissen Sie, wie ich diesen Mann da nenne?» Er wandte sich an Andrews: «... Sindbad.»
«Sindbad ging's dreckig in Tokio und Rom,
In Trinidad ging's übel aus,
In Tokio, Rom und Trinidad,
Und doppelt schlimm zu Haus.»
Er sang die Worte laut und dirigierte dazu mit einem langen, dünnen französischen Weißbrot.
«Halts Maul, Heinz, sonst wirft man uns hier raus — wie man uns neulich abends aus dem Olympia rausgeschmissen hat.»
Beide lachten.
«Und erinnerst du dich an Monsieur Le Guy mit seinem Mantel?»
«Und ob ich mich erinnere! Lieber Gott!»
Sie lachten, bis ihnen die Tränen die Backen hinunterliefen. Heinemann nahm seine Gläser ab und putzte sie. Er wandte sich zu Andrews.
«Oh, Paris ist die schönste Stadt der Welt. Erstens: die Friedenskonferenz und ihre 999 Ausschüsse. Zweitens: die Spione. Drittens: amerikanische Offiziere ohne Ausgangserlaubnis in der Stadt. Viertens: Die Sieben Schwestern (Anm.: Gemeint sind die Plejaden.) zum Mord verschworen.» Er brach wieder in Lachen aus bis sein gedrungener Körper auf dem Stuhl davon zu beben anfing.
«Wer sind denn die?»
«Drei von ihnen haben sich verschworen, Sindbad zu erschlagen, und vier haben sich verschworen, mich zu erschlagen... Aber das ist zu kompliziert, um es beim Mittagessen zu erzählen... Achtens: sind da noch die Damentröster, Sindbads Spezialität. Neuntens: Sindbad selber...»
«Halt doch's Maul, Heinz, du redest mich besoffen!» platzte Henslowe heraus.
«Ach, Sindbad saß immer im Dreck»
sang Heinemann. «Aber warum gibt mir denn niemand zu trinken!» schrie er. «Garcon, une bouteille de Macon pour un cadet de Gascogne! Was kommt dann? Es endet auf <vergogne>, Ihr habt doch das Stück gesehen. Das großartigste Stück, das momentan läuft... Zweimal habe ich es in nüchternem Zustand gesehen — und außerdem noch siebenmal.» «Cyrano de Bergerac?»
«Richtig. Nous sommes les Cadets de Gascogne — reimt sich auf <ivrogne> und <sans vergogne>... Weißt du, ich bin beim Roten Kreuz... weißt du, Sindbad, der olle Peterson ist ein feiner Kerl... Im Augenblick müsste ich eigentlich schwindsüchtige Kinder photographieren... Der edelste meiner Berufe ist der des Kunstphotographen... Ich habe mir die Photos bei dem Rachitisfritzen ausgeliehen — jetzt habe ich drei Monate lang nichts zu tun und kriege noch außerdem fünfhundert Francs Reisespesen. Ach, Kinder, ich kenne nur ein Gebet: <Lieber Gott, gib
uns heute unsern Sanitäterausweis — den Rest besorgt das Rote Kreuz>.» Heinemann lachte, bis die Gläser auf dem Tische klirrten. Er nahm die Brille ab und begann sie mit zerknirschter Miene zu putzen.
«Jetzt nenn' ich das Rote Kreuz nur noch meine lieben Cadets de Gascognel» rief er aus. Seine Stimme war schrill vom vielen Lachen.
Andrews trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und betrachtete durch die Fensterscheibe die vorbeiflanierenden Menschen. An der Ecke saß auf einem kleinen Rohrstuhl eine alte Frau mit einem Blumenstand. Die rosa, gelben und blauvioletten Farben der Blumen schienen das dunstige Strohgelb und das azurblaue Grau von Wintersonne und Schatten in den Gassen zu verstärken. Ein junges Mädchen in einem hautengen schwarzen Kleid und schwarzem Hut blieb an dem Blumenstand stehen, um einen Strauß mattblauer Maßliebchen zu kaufen, und spazierte dann langsam am Fenster vorbei in Richtung auf den Jardin du Luxembourg. Als Andrews sie ansah, jagten ihm ihr Elfenbeingesicht, der schlanke Körper und ihre außerordentlich schwarzen Augen einen heißen Schauer durch Mark und Bein. Die schwarze, hohe Gestalt verschwand durch das Tor des Jardin du Luxembourg.
Andrews stand plötzlich auf.
«Ich muss gehen», sagte er mit seltsamer Stimme. «Ich erinnere mich gerade, dass an der Universität einer auf mich wartet.» «Lass ihn doch warten.»
«Sie haben ja noch gar keinen Liqueur getrunken!» rief Heinemann.
«Nein, aber wo kann ich euch nachher treffen?»
«Cafe de Rohan. Um fünf. Gegenüber vom Palais Royal.»
«Das wirst du nie finden.»
«Doch», sagte Andrews.
«Metrostation Palais Royal!» riefen sie ihm nach, als er zur Tür hinauslief.
Er eilte in den Luxembourg. Zahlreiche Menschen saßen auf Bänken im dürftigen Sonnenschein. Buntgekleidete Kinder rannten mit ihren Reifen umher. Eine Frau schleppte ein riesiges Bündel karminroter, grüner und purpurner Ballons, das wie ein umgekehrtes Bündel buntscheckiger Trauben über ihrem Kopf hing. Andrews ging in den Alleen auf und ab und musterte die Gesichter. Das junge Mädchen war verschwunden. Er lehnte sich an eine graue Balustrade und blickte in das leere Bassin hinab, wo eine geplatzte Bertha ihre Spuren hinterlassen hatte. Er sagte sich, dass er ein Idiot sei. Selbst wenn er sie gefunden hätte, hätte er doch nicht mit ihr sprechen können. Nur weil er ein paar Tage Urlaub hatte, brauchte er sich noch nicht einzubilden, das Goldene Zeitalter sei auf die Erde zurückgekehrt. Diesen Gedanken belächelnd, wanderte er quer durch den Garten, durch einige Gassen mit alten grauweißen Stuckhäusern, schiefergrauen Mansardendächern und einem phantastischen Gewirr von Schornsteinen, bis er vor einer Kirche landete, deren neoklassizistische Säulenfassade unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte.
Er fragte eine Zeitungsverkäuferin, wie die Kirche heiße.
«Mais, Monsieur, c'est Saint Sulpice», erwiderte die Frau verwundert.
Saint Sulpice! Manons Melodien fielen ihm ein und das Paris des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner sentimentalen Melancholie, seinen Spielhäusern im Palais Royal, wo die Jeunesse dor6e sich in Gegenwart ihrer strengen catonischen Väter mit Schimpf und Schande bedeckte, mit seinen auf kleinen vergoldeten Tischchen geschriebenen Billets doux und den Kutschen, die kotbespritzt aus den Provinzen durch die Porte d'Orleans und die Porte de Versailles rumpelten — das Paris Diderots und Voltaires und Jean-Jacques' mit seinen schmutzigen Straßen und seinen Garküchen, in denen man Bisque und gemästete Poulets und Souffles aß — ein Paris voll modriger vergoldeter Pracht, voll pompöser Langeweile am Gestern und erfüllt von sinnloser Zukunftshoffnung.
Er spazierte durch eine enge, verräucherte Gasse mit Antiquitätengeschäften und alten Buchläden und stieß unvermutet gegenüber dem Voltaire-Denkmal auf den Fluss. Auf dem Schild an der Ecke stand Quai Malaquais. Andrews ging über die Straße und blickte lange Zeit ins Wasser hinunter. Gegenüber ragten hinter dem Netzwerk der kahlen Äste die purpurnen Dächer des Louvre mit ihren hohen Giebeln und ihren endlosen Schornsteinreihen, dahinter standen die alten Kaihäuser und der Flügel eines Kuppelbaus, dessen Namen er nicht kannte, mit einer Dachbalustrade, auf der große graue Steinurnen thronten. Lastkähne fuhren stromaufwärts, das dicke, grüne Wasser schäumte unter ihrem breiten Bug, sie wurden von einem kleinen schwarzen Schlepper gezogen, der den Schornstein nach hinten klappte, um unter den Brücken durchzukommen. Der Schlepper stieß einen dünnen, schrillen Pfiff aus. Andrews begann stromabwärts zu wandern. Er ging über die Brücke an der Ecke des Louvre, kehrte dem Bogen den Rücken, den Napoleon hatte errichten lassen, um die berühmten Sankt-Markus-Pferde entgegenzunehmen — wie eine rosarote Konditorware — und ging durch die Tuilerien, wo es wimmelte von Menschen, die umherschlenderten oder in der Sonne saßen, von puppenhaften Kindern und Kindermädchen mit kunstvoll getürmten weißen Hauben, von Wuscheligen Hündchen, die an ihren Leinen zerrten. Plötzlich überkam ihn eine friedliche Schläfrigkeit. Er setzte sich in der Sonne auf eine Bank und betrachtete, ohne sie recht zu sehen, die vorbeispazierenden Leute, die lange Schatten warfen. Stimmen und Gelächter drangen leise durch den Lärm des fernen Verkehrs an sein Ohr. Für ein paar Augenblicke hörte er in der Ferne die Klänge einer Militärkapelle, die einen Marsch spielte. Die Schatten der Bäume legten ein mattes Blaugrau auf den rötlichgelben Kies. Die Schatten der Menschen huschten darüber hinweg, unaufhörlich, hin und her. Er fühlte sich matt und glücklich.
Plötzlich fuhr er hoch. Er hatte gedöst. Er fragte einen alten Herrn mit einem herrlichen weißen Spitzbart nach dem Wege zur Rue du Faubourg St. Honoré.
Nachdem er sich verschiedene Male verirrt hatte, stieg er einige Marmorstufen eines großen Gebäudes hinauf, wo eine Menge Männer in Khaki im Gespräch standen. An den Türpfosten gelehnt, stand Walters. Näher kommend hörte Andrews ihn sagen: «Der Eiffelturm ist die erste reine Eisenkonstruktion der Welt... Das sollte jeder helle Kopf wissen.»
«Die Oper, die muss man sehen!» meinte der Mann neben ihm.
«Ja, wenn's da Wein und Weib gibt, bin ich sehr dafür.»
«Und vergiss nicht den Gesang!»
«Aber das ist alles nicht so interessant wie der Eiffelturm», beharrte Walters.
«Sag, Walters, ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet», stammelte Andrews.
«Nein», erwiderte der. «Ich habe mich wegen der Kurse erkundigt... Ich will das gleich in Ordnung bringen.»
«Ich werde mich morgen darum kümmern», meinte Andrews
«Hast du dich schon um ein Zimmer bemüht, Andy? Wollen wir uns nicht eins zusammen nehmen?»
«Wenn du willst... Aber vielleicht willst du da gar nicht wohnen, wo es mir gefällt.»
«Wo ist das denn? Im Quartier Latin?... Ich will 'was vom französischen Alltag sehen, darauf kannst du Gift nehmen.»
«Heute ist's zu spät, ein Zimmer zu suchen.»
«Heute Abend schlafe ich auf jeden Fall im CVJM.»
«Ich habe einen Bekannten, der bringt mich bei sich unter... Morgen werden wir weitersehen... Also bis dann!» sagte Andrews und setzte sich in Bewegung.
«Warte — ich komme mit... Wir gehen ein bisschen durch die Stadt.»
«Gut», sagte Andrews.
Das Kaninchen war recht unförmig, sehr flaumig und hatte einen irren Ausdruck in den rosigen Augen mit dem schwarzen Punkt in der Mitte. Wie ein Sperling hüpfte er übers Pflaster, aus seinem Rücken kam ein Gummischlauch mit einem Ballon, den ein Mann in der Hand hielt und zusammendrückte, um das Kaninchen voranzutreiben. Trotzdem sah das Tierchen seltsam lebendig aus. Als Andrews es erblickte, brach er in schallendes Lachen aus. Der Verkäufer, der einen ganzen Korb mit solchen Kaninchen am Arme trug, sah Andrews lachen und näherte sich schüchtern dem Tisch. Er hatte ein rosiges Gesicht mit schmalen, sensiblen Lippen, die an ein richtiges Kaninchen erinnerten, und große, ängstliche Augen von einem fahlen Braun.
«Stellen Sie sie selber her?» fragte Andrews lächelnd.
Mit nachlässiger Gebärde ließ der Mann das Karnickel auf den Tisch hüpfen.
«Oh, oui, Monsieur, d'aprés la nature.»
Er drückte plötzlich fest auf den Gummiballon, und das Kaninchen machte einen Purzelbaum. Andrews lachte, der Kaninchenverkäufer lachte.
«Wenn man sich vorstellt, dass ein großer starker Mann sich damit sein Brot verdient...» sagte Walters angewidert.
«Ich mache alles... de matière première au profit de l'acca-pareur», sagte der Kaninchenverkäufer.
«Hallo, Andy... Furchtbar verspätet... Entschuldige...»
Henslowe ließ sich neben ihnen auf einen Stuhl sinken. Andrews stellte ihm Walters vor, der Kaninchenverkäufer lüftete seinen Hut, verbeugte sich vor den Herren und ging davon. Das Kaninchen hüpfte am Bordstein vor ihm her.
«Was ist aus Heinemann geworden?»
«Da kommt er», sagte Henslowe.
Eine offene Droschke war vor dem Cafe vorgefahren. In ihr saß Heinemann, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, und neben ihm eine Frau in einem lachsfarbenen Kleid, einer Hermelinboa und einem smaragdgrünen Hut. Die Droschke fuhr weg. Heinemann, immer noch lächelnd, kam an den Tisch.
«Wo ist das Löwenjunge?» fragte Henslowe.
«Es hat angeblich Lungenentzündung.»
«Mister Heinemann — Mister Walters.»
Das Lächeln wich aus Heinemanns Zügen. Er sagte kurz: «Guten Tag!», warf Andrews einen wütenden Blick zu und setzte sich auf einen Stuhl.
Die Sonne war untergegangen. Der Himmel war voller Lila, Hellblau und Karminrot. In den tiefblauen Schatten flammten Lichter auf, primelfarbene Straßenlaternen, violette Bogenlampen, rötliche Lichtbahnen, die aus den Schaufenstern fluteten.
«Gehen wir rein, ich friere erbärmlich», sagte Heinemann verdrossen. Im Gänsemarsch gingen sie durch die Drehtür, ein Kellner trug ihnen die Getränke nach.
«Ich war den ganzen Nachmittag im Roten Kreuz, Andy... Ich glaube, die Sache mit Rumänien wird klappen... Willst du mitkommen?» flüsterte Henslowe Andrews ins Ohr.
«Wenn es mir gelingt, ein Klavier aufzutreiben und ein bisschen Unterricht zu nehmen, und wenn die Konzerte nicht aufhören, dann wirst du mich nicht mit zehn Pferden aus Paris wegkriegen. Nein, mein Lieber, ich will mir Paris gründlich anschauen... Es steigt mir zu Kopf — es wird Wochen dauern, bevor ich weiß, was ich mir eigentlich dabei denke...»
«Denken Sie sich lieber gar nichts - trinken Sie!» brummte Heinemann mit böser Miene.
«Weiber und Suff - beides werde ich mir hier in Paris vom Leibe halten», sagte Walters. «Und das eine ist nicht ohne das andere zu haben.»
«Sehr richtig, sehr richtig», sagte Heinemann. «Beides hat man dringend nötig.»
Andrews hörte nicht zu. Er drehte den Stiel seines Wermutglases zwischen zwei Fingern und dachte an die Königin von Saba, die von den Schultern ihres Elefanten herabgleitet, phantastisch funkelt ihr Schmuck im Licht der knisternden, harzigen Fackeln. Musik sickerte ihm durch den Kopf, wie das Wasser in ein Loch sickert, das man in den Sand des Meeresstrandes gegraben hat. In allen Gliedern spürte er die Spannung der Rhythmen und der Worte, die Gestalt annehmen wollten, noch nicht ganz greifbar, noch an der Schwelle des Bewusstseins verweilend. Vom kleinen Mädchen an der Straßenkreuzung, das unter der Laterne singt, bis zu der Patrizierin, welche auf ihrem hochgetürmten Pfühl Rosen zerpflückt... Alle die Träume deines Verlangens... Er dachte an das junge Mädchen mit einem Teint wie altes Elfenbein, das er auf dem Place de Médicis gesehen hatte. So war nun in seinen Phantasien das Gesicht der Königin von Saba, still und unergründlich. Ein jäher Zymbelklang der Freude ließ sein Herz heftig pochen. Nun war er befreit von den Träumen seines Verlangens, den ganzen Tag an Cafétischen zu lungern; zuzuschauen, wie die Tische vor ihm sich zu wechselnden Ornamenten formen; Körper und Geist mit dem Widerhall der Rhythmen all dieser Menschen zu füllen, die sich vor seinen Augen über den Fries des Lebens bewegen, die nicht mehr gleich hölzernen Automaten nur die Griffe des Exerzierreglements kennen, sondern geschmeidig sind und bunt, voller Kraft, voller Tragik...
«Um Gottes willen, hauen wir hier ab... Dieses Lokal geht mir auf die Nerven.» Heinemann schlug mit der Faust auf den Tisch.
«Schön», sagte Andrews und erhob sich gähnend.
Henslowe und Andrews entfernten sich und überließen es Walters und Heinemann, ihnen zu folgen.
«Wir essen im Le Rat qui Danse», sagte Henslowe, «das ist ein sehr ulkiges Lokal... Jetzt haben wir gerade noch Zeit, gemächlich hinzuschlendern und uns Appetit zu machen.»
Sie folgten der langen, mattbeleuchteten Rue de Richelieu bis zu den Boulevards, wo sie sich eine Weile in der Menge treiben ließen. Die grellen Lichter schienen die Luft mit Goldstaub zu erfüllen. Die Cafés und die Tischchen davor waren dicht besetzt. Es roch nach Wermut und Kaffee und Parfüm und Zigarettenrauch, vermischt mit den Benzindünsten der Taxis.
«Ist das nicht toll?» sagte Andrews.
«Um sieben ist immer Karneval auf den großen Boulevards... »
Sie begannen die steilen Straßen zum Montmartre hinaufzugehen. An einer Ecke schritten sie an einem Mädchen mit geschminkten Lippen und gepuderten Backen vorbei, die lachend am Arm eines amerikanischen Soldaten ging, der ein blasses Gesicht und graugrüne, im Scheine der Straßenlaterne glitzernde Augen hatte.
«Hallo, Stein!» rief Andrews.
«Wer ist das?»
«Einer aus unserer Division, der heut' morgen mit mir ankam.»
«Der hat einen komischen Mund für 'nen Juden», sagte Henslowe.
An der Gabelung von zwei abschüssigen Straßen traten sie in ein Restaurant, das kleine, mit rotem Papier beklebte Fenster hatte, durch die das Licht nur spärlich hereinkam. Drinnen gab es viele dicht beieinanderstehende Eichentische und Eichentäfelung, die oben mit einem Bord abschloss; darauf standen Granathülsen und ein paar Schädel, etliche gesprungene Majolikateller und eine Reihe ausgestopfter Ratten. Die einzigen Menschen hier waren eine fette Frau und ein Mann mit langem, grauem Haar und Bart, die über zwei kleine Gläser gebeugt saßen und ein ernstes Gespräch zu führen schienen. Eine eckige, alte Kellnerin mit holländischer Haube und Schürze hockte an der Tür, aus der der Duft gebackener Fische kam.
«Der Koch hier kommt aus Marseille», sagte Henslowe, als sie sich an einem Tisch für vier niederließen.
«Ob wohl die anderen den Weg finden werden?» meinte Andrews.
«Wahrscheinlich wird Heinz unterwegs 'nen kleinen Schluck zu sich genommen haben!» erwiderte Henslowe. «Wollen die Wartezeit mit einigen Hors d'ceuvre ausfüllen.»
Die Kellnerin brachte eine Kollektion bootartiger Platten mit roten Salaten und gelben Salaten und grünen Salaten und zwei kleine Holzgefäße mit Heringen und Anchovis. Henslowe hielt sie an, als sie fortgehen wollte und fragte: «Rien de plus?» Die Kellnerin betrachtete den ganzen Aufbau mit tragischem Gesicht, die Arme über ihren reichhaltigen Busen gefaltet.
«Que voulez vous, Monsieur? C'est l'armistice.»
«Der größte Schwindel in dieser ganzen Kriegsaffäre ist der Frieden. Ich sage dir, Junge, nicht einen Augenblick eher, als die Hors d'oeuvre die ihnen gebührende Fülle und Mannigfaltigkeit wiedererlangt haben, gebe ich zu, dass der Krieg zu Ende ist.»
Die Kellnerin kicherte.
«Die Dinge sind nicht mehr wie früher», sagte sie und ging zurück in die Küche.
In diesem Augenblick brach Heinemann in das Restaurant ein, knallte die Tür hinter sich zu, dass die Fenster klirrten, und die fette Frau und der haarige Mann erschreckt in den Stühlen auffuhren. Er purzelte grinsend auf einen Stuhl.
«Und was hast du mit Walters angefangen?»
Heinemann wischte seine Brillengläser umständlich ab.
«Oh, der starb an einem Glas Himbeerwasser...» sagte er. «Dii dong, ptih, dü weng de Burgonj!» schrie er der Kellnerin zu. Dann fügte er hinzu: «Der Bursche wird wohl bald kommen, ich sprach ihn gerade.»
Das Restaurant füllte sich allmählich mit Männern und Frauen in den verschiedensten Kleidungen, auch viele Amerikaner in Uniform und ohne kamen herein.
«Ich hasse Leute, die nicht saufen», sagte Heinemann und goss sich ein Glas Wein ein. «Ein Mann, der nicht trinkt, schändet die Erde!»
«Aber was machst du dann in Amerika, nach dem Alkoholverbot?»
«Red nicht davon. — Da kommt ja der Bursche. Der darf unter keinen Umständen erfahren, dass ich einer Nation angehöre, die guten Likör verbietet... Monsieur le Bursche, Monsieur Henslowe, und Monsieur Andrews!» fuhr er zeremoniell fort. Ein kleiner Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbärtchen und einem kleinen zackigen Bart setzte sich auf den vierten Stuhl. Er hatte eine rote Nase und kleine, zwinkernde Augen.
«Wie froh bin ich», sagte er und machte eine seltsame Bewegung, so dass seine steifen Röllchen ihm auf die Hände rutschten, «dass ich nicht allein speisen muss. Für alte Leute ist Einsamkeit eine unmögliche Sache. Nur die Jugend darf es wagen, zu denken... Nachher denkt man nur noch an eins, an das Alter.»
«Man kann doch arbeiten», warf Andrews ein.
«Sklaverei. Jede Arbeit ist Sklaverei. Welchen Sinn hat es, sich intellektuell zu befreien, wenn man sich gleich drauf dem ersten besten Ausbeuter wieder verkaufen muss.»
«Faul», sagte Heinemann und entkorkte eine neue Flasche.
Am Tisch gegenüber saß ein Mädchen mit einem blassen Jungen in blauer französischer Uniform, der ihr außerordentlich ähnlich sah. Andrews sah sie an: sie hatte hohe Backenknochen und eine Stirn, in der sich die Formen des Schädels stark durch die durchsichtige, hellbraune Haut abzeichneten. Ihr schweres, kastanienbraunes Haar war am Hinterkopf leicht aufgesteckt. Sie sprach sehr leise und presste die Lippen zusammen, wenn sie lächelte. Sie aß schnell und sauber wie eine Katze.
Das Restaurant hatte sich langsam mit Leuten gefüllt. Die Kellnerin und der Besitzer, ein fetter Mann mit einer weiten, roten Schürze, die er sich straff umgebunden hatte, konnten sich nur mit Mühe in dem vollbesetzten Lokal bewegen. Eine Frau an einem Tisch in der Ecke mit toter, weißer Haut und unnatürlich leuchtenden Augen lachte heiser und bog ihren Kopf hinüber zur Wand. Beständig klirrten Gläser und Geschirr, und ein öliger Dunst von Essen und Frauenkleidung und Wein war in dem Raume.
«Willst du wissen, was ich wirklich mit deinem Freund gemacht habe?» sagte Heinemann und beugte sich zu Andrews.
«Hoffentlich hast du ihn nicht in die Seine gestoßen.»
«Es war verdammt unhöflich von mir... Aber gottverdammich, es war auch verdammt unhöflich von ihm, nicht zu trinken... Es hat keinen Zweck, seine Zeit an einen Mann zu verschwenden, der nicht trinkt. Ich ging mit ihm in ein Café und bat ihn, zu warten, während ich telefonierte. Er sitzt wohl noch immer dort und wartet. Eines der schlimmsten Hurencafés am ganzen Boulevard Clichy.» Heinemann lachte schallend und begann, es M. de Guy in näselndem Französisch zu erklären.
Andrews wurde einen Augenblick lang rot vor Ärger, dann fing auch er zu lachen an.
Heinemann hatte wieder begonnen zu singen:
«Sindbad ging's dreckig in Tokio und Rom,
In Trinidad ging's übel aus,
In Tokio, Rom und Trinidad,
Und doppelt schlimm zu Haus
Ach, Sindbad saß immer im Dreck!»
Alle klatschten, die bleiche Frau in der Ecke schrie «Bravo, Bravo!» mit schriller Stimme. Heinemann verbeugte sich. Sein großes, grinsendes Gesicht nickte herunter und wieder herauf wie das Gesicht einer Figur aus chinesischem Porzellan.
«Lui est Sindbad!» schrie er und zeigte auf Henslowe.
«Sing noch mehr, Heinz!» lachte der. «Sing noch mehr.»
«Die braunen Damen, hochhackig,
Am italienischen Strand,
Goldzöpfig und pausbackig,
An der Zuiderzee, der Zuiderzee
die Mädchen von Nederland.»
Alle klatschten wieder. Andrews schaute auf das Mädchen am nächsten Tisch, ihr Gesicht war rot vor Lachen. Sie hatte sich ein Taschentuch gegen den Mund gepresst und sagte immerzu mit leiser Stimme: «O qu'il est drôle, celui-là... O qu'il est drôle!»
Heinemann nahm ein Glas Wein auf und schwenkte es in der Luft, ehe er es austrank, in einem Zuge. Einige standen auf und füllten es aus ihren Flaschen mit rotem und weißem Wein. Der französische Soldat am Nebentisch zog eine Feldflasche unter seinem Stuhl hervor und hängte sie Heinemann um den Hals. Heinemann stand wieder auf, und mit rotem Gesicht verbeugte er sich wie eine Porzellanfigur und begann zu singen, feierlich und getragen:
«Die Hulas, die Hulas,
mit Lippen, rot geschwellt,
In ihren Kugellager-Hüften
dreht sich ihm die Welt;
Sie waren so braune Vögelchen,
denen man leicht verfällt...»
Sein untersetzter Körper bewegte sich mit im Rhythmus des Ragtime. Die Frau in der Ecke hob ihre langen weißen Arme und bewegte sich auf ihrem Stuhl im Rhythmus mit. «Die ist bestimmt eine Schlangenbeschwörerin», lachte Henslowe.
«Die wilde Frau, sie liebt das Kind,
Er macht zehn Weiber wild und blind!
Ach, Sindbad saß immer im Dreck!»
Heinemann schwenkte die Arme, zeigte auf Henslowe und sank in seinen Stuhl. Dann sagte er wie ein Shakespeare-Schauspieler: «C'est lui, Sindbad.»
Von Lachen geschüttelt legte das Mädchen den Kopf auf den Tisch. Andrews konnte hören, wie sie mit ihrer kleinen, vor Lachen zitternden Stimme sagte: «O qu'il est rigolo... »
Heinemann nahm die Feldflasche ab und gab sie dem französischen Soldaten zurück.
«Merci, Camarade», sagte er feierlich.
«Eh bien, Jeanne, c'est temps de ficher le camp», sagte der französische Soldat zu dem Mädchen. Er stand auf und schüttelte den Amerikanern die Hände. Andrews schaute dem Mädchen in die Augen, und sie begannen beide zu lachen. Andrews bemerkte, wie aufrecht und biegsam ihr Gang war und folgte ihr mit den Augen bis zur Tür.
Andrews' Gesellschaft folgte auch sehr bald.
«Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor der Sperrstunde beim Lapin Agile sein wollen... und ich muss noch was zu trinken haben», sagte Heinemann — noch immer mit seiner theatralisch shakespeareschen Stimme.
«Sind Sie einmal Akteur gewesen?» fragte Andrews.
«Wieso Akteur, Sir? Ich bin jetzt im letzten Akt... ich bin Kunstphotograph, sonst nichts... Moki und ich beabsichtigen, zusammen Filme zu drehen, sobald die Herrschaften sich entschließen, Frieden zu machen.»
«Wer ist Moki?»
«Moki Hadj ist die Dame in dem lachsfarbenen Kleid», sagte Henslowe mit lautem Bühnengeflüster in Andrews' Ohr. «Die beiden haben ein Löwenjunges namens Bubu.»
«Unser Erstgeborener», sagte Heinemann mit einer flotten Handbewegung.
Die Straßen waren leer. Ab und zu brach ein schmaler Mondstrahl durch die schweren Wolken und beleuchtete niedrige Häuser, holpriges Pflaster und die Treppen mit den spärlichen, trüben Laternen an den Hauswänden, die zur Butte hinaufführen.
Vor dem Eingang des Lapin Agile stand ein Gendarm. Die Straße war noch voller Gruppen, die soeben aus dem Lokal gekommen waren, amerikanische Offiziere, Pfadfinderinnen und dazwischen ein paar Leute, die in der Gegend wohnten.
«Siehst du, wir sind zu spät dran», klagte Heinemann weinerlich.
«Egal, Heinz», sagte Henslowe, «le Guy nimmt uns zu de Clocheville mit, wie letztes Mal, n'est ce pas, le Guy?» Dann hörte Andrews ihn hinzufügen — einem Mann zugewendet, den er vorher nicht gesehen hatte: «Kommen Sie mit, Aubrey, ich stelle Sie später vor.»
Sie gingen noch weiter bergan. In der Luft hing ein Geruch von feuchten Gärten, es war ganz still bis auf das Geräusch ihrer Schritte auf dem Steinpflaster. Heinemann tänzelte voran. Vor einem hohen, altersbleichen Haus blieben sie stehen und stiegen dann eine wacklige Holztreppe hinauf.
«Mit Informationen muss man Dusel haben... Ich habe sie von einem Mann, der mit dabei ist, wenn die Friedenskonferenz tagt...» Andrews hörte hinter sich auf der Treppe die Stimme Aubreys mit rollendem Chicago-RRR.
«Schön — heraus mit der Sprache!» sagte Henslowe.
«Wa'? Sagtest du, die Friedenskonferenz ist beduselt?» rief Heinemann, den man pusten hörte, wie er an der Spitze der Prozession die Treppe hinaufkletterte.
«Halts Maul, Heinz.»
Sie stolperten über eine hohe Schwelle in eine geräumige Dachkammer mit Fliesenboden. Dort empfing sie ein hochgewachsener, magerer Mann in einem mönchisch aussehenden Morgenrock aus irgendeinem braunen Stoff. Eine einzige Kerze brannte, phantastisch tanzten die Schatten an den schrägen weißen Wänden. An der einen Seite befanden sich drei große Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Hier und dort war ein Sprung in der Scheibe mit Zeitungspapier geflickt. Vor ihnen standen zwei mit Kissen beladene Couches. An der entgegengesetzten Wand lehnten schlampige Stöße aufeinander getürmter Gemälde, wie Kraut und Rüben.
«C'est le bon vin, le bon vin,
C'est la chanson du vin...»
sang Heinemann. Alle ließen sich auf den Couches nieder. Der schlaksige Mann in dem braunen Morgenrock holte einen Tisch aus dem Schatten hervor, stellte einige schwarze Flaschen und dickwandige Gläser drauf und zog für sich selber einen Feldstuhl heran.
«So haust er... Es heißt, dass er nie ausgeht. Er malt, und wenn Bekannte kommen, setzt er ihnen Wein vor und verlangt das Doppelte. Davon ernährt er sich», sagte Henslowe.
Der hagere Mann fischte Kerzenstümpfe aus der Schublade des Tisches und zündete sie an. Andrews sah, dass seine Füße unter dem zerfransten Saum des Morgenrocks nackt waren. Das Kerzenlicht beleuchtete die geröteten Mannsgesichter und die grellen Farben, Bananengelb und Arsenikgrün, auf den Bildern an den Wänden. Glaskrüge voller Pinsel warfen ihre verschwommenen Schatten darauf.
«Was ich Ihnen eben erzählen wollte, Henny...» sagte Aubrey. «Meine Information ist, dass der Präsident die Konferenz verlassen wird, ihnen allen ins Gesicht sagen wird, dass er sie für gemeine Schurken hält, und abmarschieren wird, während die Kapelle die Internationale spielt.»
«Na, das ist mal eine Nachricht, die sich gewaschen hat!» rief Andrews aus.
«Wenn er das macht, wird er die Sowjets anerkennen», sagte Henslowe. «Ich melde mich zu der ersten Rotkreuzmission, die loszieht, um die hungernden Russen zu retten... Großartig! Ich schicke dir eine Ansichtskarte aus Moskau, Andy, wenn dort nicht die Ansichtskarten als bourgeoiser Firlefanz abgeschafft worden sind.»
«Nein, nein, um Gottes willen!... Ich besitze russische Pfandbriefe im Wert von fünfhundert Dollar, die mir die Vera gegeben hat... Aber sie sind fünf Millionen, zehn Millionen, fünfzig Millionen wert, wenn der Zar zurückkehrt... Ich setze auf Väterchen!» rief Heinemann aus. «Übrigens behauptet Moki, dass er noch lebt. Savarow hat ihn im Ritz in einem Apartement eingesperrt... Und Moki muss es wissen.»
«Moki weiß sehr viel, das gebe ich zu», sagte Henslowe.
«Aber überlegt euch das mal!» sagte Aubrey. «Das bedeutet die Weltrevolution mit den Vereinigten Staaten an der Spitze. Was haltet ihr davon?»
«Moki ist anderer Meinung», sagte Heinemann. «Und Moki weiß Bescheid.»
«Sie weiß nur, was die reaktionären Kriegshetzer ihr erzählen», sagte Aubrey. «Der Mann, mit dem ich im Crillon gesprochen habe — wenn ich euch bloß seinen Namen nennen dürfte! - hat es aus erster Quelle gehört — na ja, ihr wisst schon, von
wem...» Er wandte sich an Henslowe, der vielsagend lächelte. «Schon in diesem Augenblick befindet sich eine Mission in Russland und schließt Frieden mit Lenin.»
«Eine Affenschande!» schrie Heinemann und warf eine Flasche vom Tisch. Der magere Mann hob geduldig und ohne ein Wort die Scherben auf.
«Die neue Ära beginnt, Leute! glaubt mir...» begann Aubrey. «Die alte Ordnung löst sich auf. Sie bricht unter dem Gewicht des Elends und Verbrechens zusammen... Das ist der erste Schritt zu einer neuen und besseren Welt. Es gibt keine Alternative. Die Gelegenheit kommt nie wieder. Entweder müssen wir mutig vorwärts schreiten oder in die unvorstellbaren Gräuel der Anarchie und des Bürgerkriegs versinken... Friede — oder zurück ins finstere Mittelalter!»
Andrews spürte schon seit einiger Zeit, wie ihn eine unbezwingliche Schlafsucht überkam. Er wickelte sich in eine Decke und streckte sich auf der leeren Couch aus. Eine Weile noch lärmten ihm die Stimmen im Ohr, zänkisch, bissig, pompöse Phrasen dreschend. Er schlief ein.
Als er aufwachte, fiel sein Blick auf den rissigen Bewurf eines fremden Plafonds. Ein paar Sekunden lang hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Henslowe lag schlafend neben ihm, gleichfalls in eine Decke gehüllt. Bis auf Henslowes Atem herrschte völlige Stille. Silbergraue Lichtfluten strömten durch die breiten Fenster herein, durch die Andrews einen Himmel voll heller taubengrauer Wölkchen sah. Vorsichtig setzte er sich auf. Irgendwann im Laufe der Nacht musste er Rock, Stiefel und Gamaschen ausgezogen haben, die neben der Couch auf dem Fußboden lagen. Die Tische mit den Flaschen waren verschwunden und der schlaksige Mann nirgends zu sehen.
Andrews ging in Strümpfen ans Fenster. Gegen Paris zu breitete sich wie ein Perserteppich eine schiefergraue und taubenblaue Schwade aus mit einem silbernen Nebelstreif, dort, wo der Fluss lag, und aus den Dünsten ragte der Eiffelturm empor wie ein watender Mensch. Hier und dort stieg in Spiralen blauer und brauner Rauch empor und verlor sich in dem matten Baldachin braunen Nebels, der hoch über den Häusern hing. Lange blieb Andrews so stehen an den Fensterrahmen gelehnt, bis er hinter seinem Rücken Henslowes Stimme vernahm.
«Depuis le jour où je me suis donnée... Du siehst aus wie <Louise>...» Andrews wandte sich um.
Henslowe saß mit zerrauften Haaren auf der Couchkante und kämmte sich mit einem Taschenkamm das seidige Schnurrbärtchen.
«Mein Gott, habe ich einen Schädel!» sagte er. «Meine Zunge fühlt sich an wie eine Muskatreibe... Deine nicht?»
«Nein. Ich fühle mich wie ein Kampfhahn.»
«Was meinst du, wenn wir an die Seine runtergehen und in Benny Franklins Wanne ein Bad nehmen?»
«Wo ist denn das? Es klingt großartig.»
«Und dann frühstücken wir wie noch nie.»
«So ist es richtig... Wo sind denn alle die anderen abgeblieben?»
«Der olle Heinz hat sich wahrscheinlich zu seiner Moki begeben und Aubrey ins Crillon, um neue Informationen zu sammeln. Er sagt, vier Uhr morgens ist die beste Zeit für einen Journalisten, da kommen die Besoffenen nach Haus.»
«Und unser mönchischer Gastgeber?»
«Keene Ahnung.»
Die Straßen waren voller Männer und Frauen, die zur Arbeit hasteten. Alles leuchtete, sah aus, als ob es gerade geputzt sei. Sie kamen an Bäckereien vorbei, aus denen der angenehme Geruch frisch gebackenen Brotes strömte. Aus Cafes strich der Geruch gerösteten Kaffees. Sie durchquerten Märkte, auf denen schwere Handwagen hin- und hergeschoben wurden und Frauen mit schönen Markttaschen voll Gemüse dahingingen. Es roch scharf nach zertretenen Kohlblättern, Karotten und feuchtem Lehm. Der Nebel am Kai war rau und beißend, er trieb das Blut in die Wangen und die vor Kälte steifen Hände.
Das Badehaus war ein großes, breites Boot, mit einem rautenförmigen Oberbau. Sie schritten hinüber über eine kleine Planke, auf der einige Geranien-Töpfe standen. Der Wärter gab ihnen zwei Kabinen nebeneinander auf dem unteren Deck, mit vor Dampf nassen Fenstern, durch die Andrews draußen das vorbeifließende grüne Wasser sehen konnte. Er legte seine Kleider schnell ab. Die Wanne war aus Kupfer, innen weiß verzinkt. Das Wasser strömte durch die Hälse kupferner Schwä-
ne herein. Als Andrews in das heiße, grüne Wasser stieg, flog ein kleines Fenster in seiner Zelle auf, und Henslowes Stimme schrie zu ihm hinüber:
«Sprechen wir über die Annehmlichkeit des modernen Lebens. Man muss plaudern beim Baden.»
Andrews rieb sich mit einem viereckigen Stück rosa Seife ein und platschte im Wasser herum wie ein kleiner Junge. Er stand auf, seifte seinen ganzen Körper ein und ließ sich dann ins Wasser gleiten, das sich über den ganzen Boden ergoss.
«Du denkst wohl, du bist ein dressierter Seehund!» rief Henslowe.
«Es ist alles so widersinnig!» rief Andrews und begann sich vor Lachen zu schütteln. «Sie hat ein Löwenjunges namens Bubu — Nicolaus Romanow lebt im Ritz-Carlton-Restaurant, und die Revolution ist auf übermorgen zwölf Uhr mittags angesetzt.»
«Ich möchte sie lieber am ersten Mai haben», antwortete Henslowe, im Wasser herumpatschend. «Ich werde Volkskommissar, und du kannst gehen und den Dalai Lama von Tibet revolutionieren.»
«Oh, es ist alles so entzückend wahnsinnig!» rief Andrews hinüber und ließ sich ein zweites Mal in die Wanne gleiten.
2
Zwei Militärgendarmen gingen draußen an dem Fenster vorbei. Andrews sah ihnen nach, bis ihre gelben, schweinsledernen Revolvertaschen außer Sicht waren. Er fühlte sich glücklich sicher vor ihnen. Der Kellner, der an der Tür mit einer Serviette unterm Arm stand, erhöhte sein Gefühl der Sicherheit so, dass er lachen musste. Vor ihm auf dem Marmortischchen befanden sich ein kleines Glas Bier, ein Notizbuch mit linierten Blättern und zwei gelbe Bleistifte. Das Bier, von der Farbe eines Topas, in dem klaren grauen Licht, das durchs Fenster fiel, warf einen mattgelben Reflex mit heller Mitte auf den Tisch. Auf dem Boulevard gingen einige Menschen eilig vorüber. Ein leerer Marktwagen fuhr laut ratternd vorbei. Auf einer Bank zählte eine Frau in einem schwarzen Strickshawl und mit einem Bündel Zeitungen auf den Knien ihr Geld in andächtiger Konzentration.
Andrews schaute auf die Uhr. Er hatte noch ungefähr eine Stunde Zeit vor der Universität.
Er stand auf, bezahlte den Kellner, schlenderte mitten auf dem Boulevard dahin und dachte lächelnd an Seiten, die er geschrieben hatte, an Seiten, die er noch schreiben würde und war von einem Gefühl frohen Zufriedenseins erfüllt. Es war ein grauer Morgen, gelblicher Nebel lag in der Luft. Das Pflaster war feucht und spiegelte Frauenkleider und Beine und die Umrisse von Droschken wider. Von einem Blumenstand mit Veilchen und roten und rosa Nelken rannen zackige Farbflecken auf das bräunliche Grau des Pflasters hinab. Ein Geruch von Veilchen traf Andrews, als er im Nebel an dem Blumenstand vorbeiging. Er erinnerte sich plötzlich, dass der Frühling nahte. In diesem Frühling werde ich nicht einen einzigen Augenblick vergeuden, sagte er zu sich selbst. «Man muss ihn Schritt für Schritt verfolgen, von dem ersten Veilchen an. Wie intensiv muss man doch leben, um sich für all die vergeudeten Jahre schadlos zu halten.»
Er ging weiter auf dem Boulevard. Er erinnerte sich daran, wie er und das Mädchen, das der Soldat Jeanne genannt hatte, zusammen gelacht hatten, als ihre Augen sich in jener Nacht in dem Restaurant trafen. Er wünschte, mit einem Mädchen wie diesem den Boulevard hinabgehen zu können und im nebligen Morgen zu lachen.
Er wundert sich, in welchen Teil von Paris er wohl kommen werde. Aber er war zu glücklich, um sich darum zu kümmern. Wie wundervoll lang waren die Stunden am frühen Morgen!
Am gestrigen Abend hatte er bei einem Konzert im Salle Gaveau Debussys Nocturnes und Les Sirènes gehört. Die Rhythmen dieser Musik zogen sich durch alle seine Gedanken. Vor dem Hintergrund der grauen Straße und des bräunlichen Nebels, der alle Perspektiven mit einem Schleier verhängte, begann er sich eigene Rhythmen vorzustellen, Variationen und Wendungen, die aufleuchteten und verblassten, die eine Weile wie bunte Fahnen über seinem Kopf durch das Rattern der Straße flatterten.
Er bemerkte, dass er an einem langen Gebäude mit glänzenden Fensterreihen vorbeiging, an dessen Haupteingang Gruppen rauchender amerikanischer Soldaten standen. Unbewusst beschleunigte er seine Schritte, in der Angst, einen Offizier, den
man grüßen müsse, zu treffen. Er ging an den Soldaten vorbei, ohne sie anzuschauen. Eine Stimme hielt ihn zurück: «Hallo, Andrews!»
Als er sich umwandte, sah er einen kleinen Mann mit lockigem Haar, dessen Gesicht, obschon bekannt, er nicht identifizieren konnte, und der jetzt auf ihn zuschritt.
«Hallo, Andrews! Dein Name ist Andrews, nich'?»
«Ja.»
Andrews gab ihm die Hand und versuchte, sich zu erinnern.
«Ich bin Fuselli. Erinnerst du dich nicht? Als ich dich das letzte Mal sah, fuhrst du gerade in einem Zuge mit Chrisfield an die Front... Wir nannten ihn immer Chris, nich'? In Cosne. Erinnerst du dich nicht?»
«Natürlich.»
«Wie geht's Chris?»
«Der ist jetzt Korporal», sagte Andrews.
«Donnerwetter... Ich sollte auch mal Korporal werden.»
Fuselli trug fleckige olivfarbene Hosen und schlecht gewickelte Gamaschen. Sein Hemd war am Hals offen. Aus seinem blauen Kitteljackett kam der Geruch ranzigen Fettes, den Andrews sofort erkannte: der Geruch von Armeeküchen. Sofort erinnerte er sich daran, wie er inmitten langer Reihen an kalten, dunklen Morgen gestanden hatte und an das Geräusch, das das Essen verursachte, wenn es in das Essgeschirr hineingeschüttet wurde.
«Warum bist du denn nicht Korporal geworden, Fuselli?» fragte Andrews nach einer Pause mit gezwungener Stimme.
«Habe Dummheiten gemacht, nehme ich an.»
Sie lehnten sich gegen die staubige Hausmauer. Andrews sah an sich hinunter. Der Schmutz des Trottoirs, der an der Wand emporspritzte, bildete an ihrem unteren Rand einen ebenmäßigen Sockel, an dem Andrews mit der Stiefelspitze hin und her kratzte.
«Nun, wie geht's dir jetzt?» Andrews fragte und schaute plötzlich auf.
«Ich bin in einem Arbeitsbataillon. So geht's.»
«Mein Gott, so ein Pech!» Andrews wollte fort. Er hatte plötzlich Angst, zu spät zu kommen. Aber er wusste nicht wie abbrechen.
«Wurde krank», sagte Fuselli grinsend. «Vielleicht bin ich's noch. Sie behandeln einen hier wie Dreck...»
«Warst du die ganze Zeit in Cosne? So ein Pech, Fuselli!»
«Ja, Cosne ist ein Drecknest... Du bist wohl immer vorne gewesen. Mein Gott, du musst froh gewesen sein, dass du nicht bei den Sanitätern warst.»
«Ich weiß nicht, ob ich immer so froh war, vorne zu sein... Oder vielleicht doch...»
«Weißt du, ich habe es schon verdammt lange gehabt, bevor sie dahinter kamen... Militärgericht war verdammt streng — und noch dazu nach dem Waffenstillstand... Mein Gott, können sie uns nicht endlich nach Haus gehen lassen?»
Eine Frau in einem hellblauen Hut ging vorbei. Andrews erblickte ein weißes, gepudertes Gesicht. Ihre Hüften zitterten auf und ab wie Gelee unter ihrem blauen Rock, bei jedem schweren Tappen ihrer hohen Absätze auf das Pflaster.
«Die sieht ja wie Jenny aus. Bin froh, dass sie mich nicht gesehen hat.»
Fuselli lachte.
«Hätte vor ein paar Nächten bei ihr sein sollen. Wir waren so betrunken, dass wir uns nicht rühren konnten.»
«Ist das nicht schlecht für dein Leiden?»
«Ich pfeif schon drauf — was hat es für einen Zweck?»
«Aber, du lieber Gott — Mann!» Andrews verstummte jäh. Dann sagte er in verändertem Ton: «Bei welcher Einheit bist du jetzt?»
«Ich bin hier beim ständigen Küchendienst — da drin.» Fuselli zeigte mit dem Daumen auf das Tor des Gebäudes. «Nicht so übel, zwei freie Tage die Woche, kein Drill, gutes Essen... Zumindest kann man sich satt essen... Aber es war säuisch, sage ich dir, Ascheimer leeren und Kohlen schaufeln — und jetzt hat man mich auch noch trockengelegt.»
«Du wirst wohl bald nach Hause kommen, nicht? Sie können dich aber wohl nicht entlassen, ehe du geheilt bist.»
«Weiß nicht. Einige sagen, dass so etwas nie heilt.»
«Findest du nicht, dass die Küchenarbeit verdammt langweilig ist?»
«Nicht langweiliger als irgend etwas anderes. Was machst du in Paris?»
«Abteilung Schulen.»
«Was ist denn das?»
«Leute, die studieren wollten und die jetzt endlich dazu kommen.»
«Bin froh, dass ich nicht wieder zur Schule muss.» «Auf Wiedersehen, Fuselli.» «Auf Wiedersehen, Andrews.»
Fuselli wandte sich um und schlenderte zurück zu der Gruppe Soldaten am Eingang. Andrews beeilte sich, fortzukommen. Als er um die Ecke ging, sah er Fuselli mit den Händen in den Taschen und gekreuzten Beinen, an die Mauer des Toreingangs gelehnt, stehen.
3
Die Dunkelheit, in der der Regen durch den trüben Glorienschein der Straßenlaternen fiel, wurde von blassgoldenen Blitzen durchzuckt. Andrews' Ohren waren von dem Rauschen der Rinnsteinbäche und dem Geplätscher der Regenrinnen erfüllt und von dem unablässigen harten Prasseln des Regens auf dem Straßenpflaster. Es war nach der Sperrstunde. Vor den Cafefenstern waren die Wellblechläden herabgezogen. Andrews' Mütze war nass. Wasser rieselte ihm über die Stirn und an der Nase entlang und in die Augen. Seine Füße waren durchnässt, er fühlte, wie die nassen Flecken an seinen Knien immer größer wurden, dort, wo das Wasser landete, das an seinem Mantel entlanglief. Breit und finster lag vor ihm die Straße, hier und dort schimmerte der grünliche Abglanz einer Laterne. Während er mit langen Schritten durch den Regen plantschte, merkte er plötzlich, dass er mit einer Frau unter einem Regenschirm Schritt hielt, einer schlanken Person, die mit kleinen, resoluten Schritten den Boulevard entlangeilte. Als er sie erblickte, regte sich plötzlich eine wilde Hoffnung in ihm. Er erinnerte sich an ein vulgäres Theaterchen und den grellen Glanz eines Scheinwerfers. Durch die Schminke und den Puder hatte die goldbraune Haut einer jungen Frau ihm entgegengeleuchtet, so fest, so strahlend, dass er sich an weites, sonnverbranntes Hochland und an tanzende Figuren auf griechischen Vasen erinnert fühlte. Seit er sie vor zwei Abenden gesehen hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken. Mit fieberhaftem Eifer hatte er ihren
Namen festgestellt. <Naya Selikow>. Eine wilde Hoffnung durchzuckte ihn, diese Frau, die neben ihm ging, könnte das junge Mädchen sein, dessen schlanke Glieder wie ein endloser Fries durch seine Gedanken wanderten. Mit regentrüben Augen schielte er zu ihr hin. Was bin ich für ein Esel! Natürlich kann sie es nicht sein, es ist ja zu früh... In diesem Augenblick stand sie noch auf der Bühne. Andere gierige Blicke musterten ihre Schlankheit, andere gierige Hände verlangte es danach, ihre goldbraune Haut zu streicheln. Wie er so durch den steten Guss dahinschritt, der gegen sein Gesicht und gegen die Ohren peitschte und ein winziges kaltes Rinnsal an seinem Rücken entlanglaufen ließ, überkam ihn plötzlich ein schwindelerregendes Verlangen. Seine tief in die Taschen vergrabenen Hände ballten sich krampfhaft. Er glaubte sterben zu müssen, er befürchtete, seine pochenden Blutgefäße würden platzen.
Der Regen rauschte schwer um ihn und machte seine Nerven ganz lebendig und sein Fleisch zitternd vor Erregung. Das Gurgeln des Wassers, das durch die Straßen rinnend abfloss, erweckte in ihm Vorstellungen von einschläfernder, wollüstiger Musik, Die fiebrige Erregung seiner Sinne schuf rasende Rhythmen in seinen Ohren.
«O, ce pauvre poilu! Qu'il doit être mouillé», sagte eine kleine, zitternde Stimme neben ihm.
Er wandte sich um. Das Mädchen bot ihm ihren Schirm an.
«O, c'est un Américain», sagte sie, als ob sie noch zu sich selbst spreche.
«Mais 9a ne vaut pas le peine.»
«Mais oui.» Er trat unter den Schirm neben sie.
«Aber Sie müssen mir schon erlauben, ihn zu halten.»
«Bien.»
Als er den Schirm in die Hand nahm, sah er sie an. Er blieb stehen.
«Aber Sie sind ja das Mädchen aus der Rat qui Danse.» «Und Sie waren an dem nächsten Tisch mit dem Mann, der das Lied sang?» «Wie amüsant!» «Et celui là, o, il était rigolo... »
Sie brach in Lachen aus, ihr Kopf, in ein rundes, schwarzes Hütchen gezwängt, bewegte sich unter dem Schirm auf und ab. Andrews lachte auch.
Als sie den Boulevard Saint Germain überschritten, wurden sie beinahe von einer Droschke angefahren, die sie mit einer gehörigen Ladung Dreck beschlammte.
Sie hielt sich an seinem Arm fest und blieb dann zitternd vor Lachen stehen.
«O, quelle horreur, quelle horreur», sagte sie.
Andrews lachte und lachte.
«Aber halten Sie doch den Schirm über uns... Der Regen läuft auf meinen besten Hut», sagte sie.
«Ihr Name ist Jeanne?» meinte Andrews.
«Impertinent... Sie hörten meinen Bruder mich so nennen... Armer Kerl. Musste in jener Nacht wieder zur Front. Er ist erst neunzehn Jahre alt... Sehr klug... Oh, wie bin ich glücklich, dass der Krieg vorbei ist!»
«Sie sind älter als er?»
«Zwei Jahre... Ich bin das Haupt der Familie... Ich bin eine Respektsperson.»
«Haben Sie schon immer in Paris gelebt?»
«Nein. Wir kommen aus Laon... wegen des Krieges.»
«Flüchtlinge?»
«Nennen Sie uns nicht so; wir arbeiten.» Andrews lachte.
«Gehen Sie weit?» fragte sie und sah ihm ins Gesicht.
«Nein, ich wohne hier in der Nähe... Mein Name ist übrigens genau der gleiche wie der Ihre.»
«Jean? Wie komisch. Wo gehen Sie hin?»
«Rue Descartes, hinter Saint Etienne.»
«Dann wohne ich ja ganz in Ihrer Nähe.»
«Aber Sie dürfen nicht kommen. Die Pförtnerin ist eine Tigerin. Etienne nennt sie immer Madame Clemenceau.»
«Wer, der Heilige?»
«Nein, Sie Dummkopf, mein Bruder. Er ist Sozialist, Setzer bei der Humanité.»
«So? Ich lese oft die Humanité.»
«Armer Junge. Er hat früher immer geschworen, nie ins Heer einzutreten. Er wollte nach Amerika.»
«Das würde ihm jetzt nicht viel helfen», meinte Andrews bitter. «Was arbeiten Sie jetzt?»
«Ich?» Erbitterung überlief ihre Stimme. «Warum sollte ich's Ihnen nicht sagen? Ich arbeite bei einer Schneiderin.»
«Wie Louise?»
«Haben Sie <Louise> gehört? Ach, wie ich geweint habe...!» «Warum wurden Sie traurig?»
«Ach, ich weiß nicht, warum... Aber ich lerne stenographieren... Und hier bin ich zu Haus.»
Neben ihnen ragte wuchtig das Pantheon in den Regen. Vor ihnen war der Turm von St. Etienne-du-Mont kaum zu sehen. Rings um sie prasselte der Regen nieder.
«Oh, wie nass ich bin!» rief Jeanne aus.
«Übermorgen gibt die Opera Comique <Louise>... Wollen Sie mit mir hingehen?» «Nein, ich würde wieder zu sehr weinen.» «Ich werde mitweinen.» «Aber es ist doch nicht —» Andrews unterbrach sie. «C'est l'armistice.» Beide lachten.
«Wollen wir uns nicht wieder treffen?»
«Gut. Im Cafe am Ende des Boulevard Saint Michel. Aber Sie werden wahrscheinlich doch nicht kommen.» «Ich schwöre, dass ich kommen werde!» rief Andrews eifrig aus. «Werden sehen.»
Sie lief fort, die Straße neben St. Etienne-du-Mont hinunter. Andrews blieb allein inmitten des rauschenden Regens. Er fühlte sich ruhig und müde.
Als er in sein Zimmer zurückkam, fand er keine Streichhölzer in der Tasche. Durch das Fenster drang kein Licht. Er hörte nur das zischende Geräusch des Regens im Hof. Er stolperte über einen Stuhl.
«Bist du betrunken?» kam Walters' Stimme aus dem Bett. «Auf dem Tisch sind Streichhölzer.»
«Aber wo zum Teufel ist der Tisch?»
Endlich gelang es ihm, die Streichholzschachtel zu erwischen. Das rote Flackern des Zündholzes blendete ihn. Er blinzelte. Die Lider waren noch voller Regentropfen. Als er eine Kerze angezündet und sie zwischen die Noten auf den Tisch gestellt hatte, riss er sich die nassen Kleider vom Leibe.
«Habe gerade ein entzückendes Mädchen getroffen, Walters.»
Andrews stand nackt neben dem Haufen Kleider und rieb sich mit einem Handtuch ab.
«Donnerwetter, bin ich nass... Aber sie ist wirklich das entzückendste Geschöpf, das mir bisher in Paris über den Weg gelaufen ist.»
«Ich dachte, du wolltest die Weiber zufrieden lassen?» «Die Dirnen, meinst du wohl.»
«Ist nicht jedes Mädchen, das du von der Straße raufholst,
'ne Dirne?» «Unsinn.»
«In diesem verfluchten Land gibt's nur Dirnen... Gott, ich möchte mal wieder so'n nettes, fesches, gesundes amerikanisches Mädchen zu sehen kriegen.»
Andrews antwortete nicht. Er blies das Licht aus und stieg ins Bett.
«Aber ich habe neue Arbeit», sagte Walters. «Ich arbeite im Büro der Schulabteilung.»
«Warum, zum Donnerwetter? Du bist doch hergekommen, um an der Sorbonne zu studieren.»
«Ja, ja. Ich gehe zu den Vorlesungen. Aber solange ich beim Militär bin, will ich mitmischen, verstehst du, damit man mich nicht übers Ohr haut.»
«Da ist was dran.»
«Da ist sehr viel dran, mein Junge. Das ist das einzig Richtige — immer auf dem laufenden bleiben, damit einen die hohen Herrschaften nicht vergessen... Wer weiß, vielleicht fangen die Kämpfe wieder an. Diese verfluchten Deutschen benehmen sich gar nicht sehr schön — nachdem der Präsident so viel für sie getan hat... Ich hoffe auf jeden Fall dabei Sergeant zu werden.»
«Na ja, ich will jetzt schlafen», sagte Andrews verdrossen.
John Andrews saß an einem Tisch vor dem Café Rohan. Die Sonne war soeben über einem rötlichen Abend untergegangen, alles mit blauviolettem Licht und grünlichkalten Schatten überflutend. Der Himmel war von einem hellen Lila, mit einigen ambragelben Wolken gestreift. In allen Schaufenstern des gegenüberliegenden Magasin du Louvre brannte Licht, so dass sie wie geschliffene Glasscherben im Nachglanz der Sonne funkelten. Zwischen den Säulen des Palais Royal wurden die Schatten tiefer und kälter. Ein gleichförmiger Menschenstrom wälzte sich an der Métro aus und ein. Grüne, gestopft volle Busse fuhren in endloser Reihe vorbei. Der Verkehrslärm, das Fußgetrappel und das dumpfe Stimmengewirr umschwirrten Andrews' Kopf wie Tanzmusik. Plötzlich bemerkte er, dass der Kaninchenverkäufer vor ihm stand. Ein Karnickel baumelte vergessen am Ende des Gummischlauchs.
«Et 9a va bien — le commerce?» fragte Andrews.
«Mäßig, mäßig», erwiderte der Kaninchenverkäufer und ließ zerstreut das Kaninchen zu seinen Füßen einen Purzelbaum schlagen. Andrews sah zu, wie die Leute in die Métro strömten.
«Der Herr amüsiert sich in Paris?» fragte der Kaninchenverkäufer schüchtern. «O ja. Und Sie?»
«Mäßig.» Der Mann lächelte. «Zu dieser Abendstunde sind die Frauen sehr schön», fuhr er mit einer äußerst schüchternen Stimme fort.
«Es gibt nichts Schöneres als diese Abendstunde — in Paris.»
«Oder die Pariserinnen.» Die Augen des Kaninchenverkäufers funkelten. «Entschuldigen Sie mich, mein Herr», fügte er hinzu. «Ich muss versuchen, Kaninchen zu verkaufen.»
«Au revoir!» sagte Andrews und hielt ihm die Hand hin.
Der Kaninchenverkäufer drückte ihm mit jäher Kraft die Hand und ging weg, ein Kaninchen am Bordstein vor sich hertreibend. Schnell verschwand er in der dahinflutenden Menge.
Auf dem Platz flammten violette Bogenlampen auf und erhellten ihre vergitterten Kugeln, die wie grelle Monde über dem Pflaster hingen.
Henslowe ließ sich neben Andrews nieder.
«Wie geht es Sindbad?»
«Er funktioniert noch, mein Junge... Frierst du nicht?» «Warum, Henslowe?»
«Überhitzt, Mensch — in diesem Polarwetter draußen zu sitzen...»
«Nein, aber ich meine — wie funktionierst du?» sagte Andrews lachend.
«Morgen fahre ich nach Polen.» «Wieso?»
«Als Wachtposten mit einem Transportzug des Roten Kreuzes. Wehn du mitkommen willst, lasst es sich vielleicht noch arrangieren, wenn wir schnell ins Rote Kreuz laufen, bevor Major Smithers geht. Oder wir laden ihn zum Essen ein.» «Aber, Henny, ich bleibe in Paris!»
«Warum, zum Donnerwetter, willst du in diesem Loch hocken bleiben?»
«Mir gefällt es hier. Der Instrumentationsunterricht ist so gut, wie ich es mir nie habe träumen lassen, und neulich habe ich ein Mädel kennen gelernt, und ich bin vernarrt in Paris.»
«Wenn du dich in was einlasst, dann schlage ich dir mit einem polnischen Knüppel den Schädel ein... Natürlich hast du ein Mädel kennen gelernt. Ich habe auch Mädels kennen gelernt — dutzendweise. In Polen werden wir noch mehr kennen lernen und mit ihnen Polonaise tanzen.»
«Nein, aber dieses Mädchen ist reizend... Du hast sie doch gesehen. Sie war mit dem Poilu im Rat qui Danse — an meinem ersten Abend in Paris. Wir haben uns zusammen <Louise> angesehen.»
«Das muss geradezu rührend gewesen sein... Schau, ich laufe auch ab und zu hinter einer Schürze her, aber sie dürfen mir nie in mein Leben pfuschen!» murmelte Henslowe mürrisch.
Beide schwiegen.
«Bald wirst du genauso unerträglich sein wie Heinz mit seiner Moki und dem Löwenjungen namens Bubu... Übrigens ist das Vieh gestorben... Na, wo essen wir?»
«Ich esse mit Jeanne — wir treffen uns in einer halben Stunde. Es tut mir sehr leid, Henny, aber wir könnten ja zu dritt essen gehen.»
«Enormes Angebot! Nein, nein, ich werde sehen, ob ich diesen Hornochsen Aubrey aufstöbern kann, er soll mir was über die Friedenskonferenz erzählen... Heinz kann Moki nicht allein lassen, weil sie wegen Bubu hysterische Anfälle hat. Wahrscheinlich werde ich am Ende gezwungen sein, mich mit Berthe zu begnügen... Du bist mir ein schöner Freund!»
«Wir veranstalten morgen eine grandiose Abschiedsfeier, Henny!»
«Pass auf, beinahe hätte ich es vergessen. Du sollst Aubrey morgen um fünf Uhr im Crillon treffen, er nimmt dich zu Geneviève Rod mit.»
«Wer zum Kuckuck ist Geneviève Rod?»
«Als ob ich das wüsste... Aber Aubrey sagt, du müsstest mitkommen. Sie ist eine Intellektuelle, sagt Aubrey.» «Das Letzte, wonach ich mich sehne.» «Mach, was du willst. Bis dann!»
Andrews blieb noch eine Weile an dem Tischchen vor dem Cafe sitzen. Es wehte ein kalter Wind. Der Himmel war blauschwarz, die aschweißen Bogenlampen verbreiteten ein Licht wie in einem Leichenschauhaus. Zwischen den Säulen des Palais Royal waren die Schatten schroff und tintig. Auf dem Platz wurde das Gedränge allmählich geringer. Die Lichter im Magasin du Louvre waren erloschen. Aus dem Cafe hinter ihm kam ein schwacher Geruch nach frischgekochtem Essen und begann die kalte Straßenluft zu sättigen.
Dann sah er Jeanne über das aschgraue Pflaster des Platzes herankommen, schlank und schwarz unter den Bogenlampen. Er lief ihr entgegen.
Der runde Ofen mitten auf dem Fußboden brummte leise. Vor ihm hatte die weiße Katze sich zu einem flaumigen Ball zusammengerollt. Die Ohren und die Nase bildeten winzige rosa Pünktchen wie die an den Spitzen der Blütenblätter einer bestimmten weißen Rosensorte. Neben dem Ofen, an einem Tisch vor dem Fenster, saß ein alter, braunhäutiger Mann mit einem hellroten Fleck auf jedem Backenknochen. Er hatte einen verdrückten Manchesteranzug an, der so braun war wie seine Haut. Er hielt den kleinen Löffel in der knotigen Hand und rührte langsam und unablässig eine gelbe und dampfende Flüssigkeit in einem Glase um. Hinter ihm lag das Fenster, Hagel schlug gegen die Scheiben im bleiernen Licht eines Winterabends. An der anderen Seite des Ofens befand sich eine Zinktheke mit gelben Flaschen und grünen Flaschen und einem Wasserhahn mit einem Giraffenhals neben einem gefirnissten Holzpfeiler, auf dem ein Farbtopf aus Terrakotta stand, die Zierde dieses Winkels. Von der Polsterbank aus gesehen, auf der Andrews im Hintergrunde saß, bildeten die Farne ein schwarzes Flechtwerk vor der linken Fensterscheibe, während sich von der anderen Scheibe die braune Silhouette des alten Mannes abhob, sein Kopf und die schiefe Mütze. Die Tür wurde durch den Ofen verdeckt, und die weiße Katze, rund und symmetrisch, bildete den Mittelpunkt des sichtbaren Universums.
Auf dem Marmortisch neben Andrews waren ein paar mit Butter bestrichene knusprige Brotbrocken zu sehen, ein Tellerchen mit Pflaumenmus und eine Tasse mit Kaffee und heißer Milch, aus welcher der Dampf in einer dünnen Spirale emporstieg. Den Uniformrock hatte er aufgeknöpft, den Kopf in die Hände gestützt. Durch die Finger betrachtete er einen dicken Stoß linierten Notenpapiers voll hastig hingekritzelter Zeichen, manche mit Tinte, manche mit Bleistift, und ab und zu setzte er mit einem Bleistift ein Strichlein hinzu. Hinter dem Papierstoß lagen zwei Bücher, ein gelbes und ein weißes, mit Kaffee bekleckert.
Das Feuer brummte, die Katze schlief, der alte braunhäutige Mann rührte und rührte, hielt kaum eine Sekunde lang inne, um das Glas an die Lippen zu führen. Gelegentlich war das Prasseln des Hagels an den Scheiben zu hören oder ein entferntes Geräusch von Geschirr durch die Hintertür.
Die Uhr mit dem fahlen Zifferblatt über dem Spiegel hinter der Theke räusperte sich und schlug einmal, die halbe Stunde. Andrews blickte nicht auf. Die Katze schlummerte noch immer vor dem Ofen, der sein brummendes Lied sang. Der alte Mann rührte noch immer die gelbe Flüssigkeit in seinem Glas um. Die Uhr tickte der vollen Stunde entgegen.
Andrews Hände waren kalt. In den Handgelenken und in der Brust saß ein nervöses Flattern. In ihm strömte ein Licht, unendlich weit und unendlich fern. Durch diesen Lichtstrom drangen Laute von irgendwoher, die ihn bis in die Fingerspitzen durchzitterten, Klänge wurden zu Rhythmen, die hin und her wogten und einander kreuzten wie Meereswellen in einer Bucht, Klänge ballten sich zu Akkorden.
Hinter allem Flauberts Königin von Saba, die ihre phantastische Hand mit den langen, vergoldeten Fingernägeln ihm auf die Schulter legte, und er beugte sich über den Rand des Lebens. Aber das Bild war undeutlich, wie ein Schatten, der auf den Glanz seiner Gedanken fiel.
Die Uhr schlug vier.
Langsam entrollte sich der weiße, flaumige Katzenknäuel. Ihre Augen waren sehr rund und gelb. Erst streckte sie das eine und dann das andere Bein vor sich auf dem Fliesenboden aus und spreizte weit die rosiggrauen Krallen. Ihr Schwanz reckte sich hoch wie ein Schiffsmast. Mit gemächlich feierlichen Schritten ging die Katze zur Tür.
Der alte braunhäutige Mann goss das gelbe Nass hinunter und schmatzte zweimal mit den Lippen, laut, versonnen.
Andrews hob den Kopf; seine blauen Augen starrten ins Leere, ohne etwas zu sehen. Er ließ den Bleistift fallen, lehnte sich an die Wand zurück und räkelte die Arme. Dann nahm er die Kaffeetasse in beide Hände und trank ein wenig. Der Kaffee war kalt geworden. Er löffelte etwas Pflaumenmus auf ein Stück Brot, aß es und leckte sich nachher die Finger ab. Dann sah er zu dem alten braunhäutigen Mann hin und sagte:
«On est bien ici, n'est ce pas. Monsieur Morue?»
«Oui, on est bien ici», erwiderte der alte braunhäutige Mann mit einer Stimme, so barsch, dass sie zu poltern schien. Ganz langsam stand er auf. «Gut! Ich muss auf meinen Kahn!» Dann rief er: «Chipette!»
«Oui, M'sieu.»
Ein kleines Mädchen in einer schwarzen Schürze, das Haar in zwei festen Zöpfen, die hinter ihrem winzigen, kugelrunden Köpfchen einherflatterten, kam durch die Tür aus den hinteren Regionen gelaufen.
«Da, gib das deiner Mutter», sagte der alte braunhäutige Mann und legte ihr einige Kupfermünzen in die Hand.
«Oui, M'sieu.»
«Bleiben Sie doch lieber hier in der Wärme», sagte Andrews gähnend.
«Ich muss arbeiten gehen», polterte der alte Mann. «Nur die Herren Soldaten brauchen nicht zu arbeiten.»
Als die Tür aufging, wirbelte ein rauer Luftzug durch die Weinkneipe, und von dem kotbespritzten Kai kam Windessausen und Hagelzischen. Die Katze flüchtete zum Ofen, mit buckeligem Rücken und zuckendem Schwanz. Die Tür fiel zu. Die Silhouette des alten braunhäutigen Mannes, schief in den Wind geneigt, glitt an dem grauen länglichen Viereck des Fensters vorbei.
Andrews machte sich wieder an seine Arbeit.
«Aber Sie sind sehr fleißig, M'sieur Jean!» sagte Chipette, stützte das Kinn auf den Tisch neben den Büchern und blickte zu ihm auf mit Äuglein wie schwarze Perlen.
«Na, wer weiß?»
«Wenn ich mal groß bin, rühre ich keine Hand mehr. Dann fahre ich in einer Kutsche spazieren.»
Andrews lachte. Chipette betrachtete ihn eine Weile und ging dann mit der leeren Kaffeetasse ins Hinterzimmer.
Vor dem Ofen saß die Katze auf den Hinterbeinen und leckte sich rhythmisch die eine Pfote mit einer rosigen, gekringelten Zunge, die wie ein Rosenblatt aussah.
Andrews pfiff einige Takte vor sich hin, den Blick auf die Katze gerichtet.
«Was hältst du davon, Minet? Das ist la reine de Saba - la reine de Saba...»
Mit großer Behutsamkeit rollte die Katze sich wieder zusammen und schlief ein.
Andrews begann an Jeanne zu denken, und der Gedanke an sie ließ ein Gefühl ruhigen Wohlseins durch seinen Körper strömen. Wenn er mit ihr durch die abendlichen, menschengefüllten Straßen schlenderte, besänftigte die Berührung mit ihrem Körper die Erregtheit seiner Nerven, so wie er es noch nie vorher gekannt hatte. Es erregte ihn, mit ihr zu sein, doch sehr süß und sanft, so dass er fast vergaß, dass seine Glieder steif in eine unbequeme Uniform eingepresst waren, so dass seine fiebrigen Wünsche fast aus ihm auszuströmen schienen, bis er mit ihrem Körper zusammen mühelos in dem Strome all der Leben der vorübergehenden Menschen zu treiben schien. Er war dann so matt von der ruhigen Liebe, die ihn umströmte, dass die harten Wälle seiner Individualität fast ganz in dem nebligen Straßenzwielicht zu zerfließen schienen, und auf einen Augenblick, wie er daran dachte, stieg ihm der Geruch von Blumen, schwer von Blütenstaub und von sprießendem Gras und feuchtem Moos und schwellenden Säften in die Nase. Manchmal, wenn er an einem rauen Tage im Ozean schwamm, hatte er dieselbe unbekümmerte Heiterkeit gefühlt, wenn er von einer ungeheuren, brausenden Welle gefangen an die Küste getragen wurde. Er saß ruhig und still in dem leeren Weinladen an diesem grauen Nachmittag und fühlte sein Blut in den Adern murmeln und anschwellen, wie das neue Leben jetzt murmelte und anschwoll in den klebrigen Knospen der Bäume, im zarten Grün, das sich unter ihrer rauen Rinde regte, in den kleinen Tieren der Wälder und in dem süß duftenden Vieh, das auf den Wiesen zur Weide hinausging. Dieser Vorfrühling war eine unwiderstehliche Kraftquelle, die ihn und alle mit sich forttrug.
Die Uhr schlug fünf. Andrews sprang auf und stürzte, noch kaum in seinen Mantel geschlüpft, aus der Tür.
Ein rauer Wind blies auf dem Platze. Der Fluss war schmutzig graugrün angeschwollen und reißend. Ein heiseres, triumphierendes Brüllen entstieg seinen Wellen. Der Regen hatte aufgehört, aber das Pflaster war mit Matsch bedeckt, und in der Gosse waren große Pfützen, die der Wind kräuselte. Alles - Häuser, Brücken, Fluss und Himmel - war kalt graugrün beschattet und nur von einem Fetzen Ockergelb am Himmel unterbrochen, gegen den Notre Dame und ihr schlanker Turm dunkel und rötlich aufragten. Andrews ging mit schnellen Schritten, patschte durch die Pfützen, bis er gegenüber dem niedrigen Gebäude der Morgue einen überfüllten grünen Autobus erreichte.
Draußen vor dem Hotel Crillon waren viele Limousinen, olivgrau, mit weiß gemalten Zahlen auf den Türen. Die Fahrer, Männer in olivgrauen Mänteln, deren Kragen rund um ihre roten Gesichter standen, warteten in Gruppen unter dem Portal. Andrews passierte die Wache und ging durch die Drehtür in die Halle, die ihm seltsam vertraut war. Hier roch es genau wie in den Vestibülen der New Yorker Hotels - nach Zigarettenrauch und Möbelpolitur. Auf der einen Seite führte eine Tür in ein großes Esszimmer, wo viele Frauen und Männer Tee tranken und aus dem Geruch von Backwerk strömte. Auf dem roten Teppich vor ihnen standen Offiziere und Zivilisten, die leise miteinander sprachen. Das Geräusch von klirrenden Sporen und klapperndem Geschirr war aus dem Restaurant zu hören, und in Andrews' Nähe, der von einem Fuß auf den anderen trat, saß in einem Ledersessel ein dicker Mann mit einem schwarzen Velourhut über den Augen und einer großen Uhrkette, die über seinem voluminösen Bauch spannte. Gelegentlich räusperte er sich und spuckte in den Spucknapf neben sich.
Endlich erblickte Andrews Aubrey, der mit seinen weißen Backen und seiner großen, runden Hornbrille wie eine abgewaschene Porzellanpuppe aussah.
«Komm mit», sagte er und presste Andrews am Arm. «Du kommst spät!»
Dann fuhr er fort und sprach flüsternd in Andrews' Ohr beim Hinausgehen durch die Tür: «Große Dinge sind heute auf der Konferenz vor sich gegangen, kann ich dir nur sagen, alter Junge!»
Sie überschritten die Brücke. Bei der Deputiertenkammer, den Fluss hinunter, konnte man undeutlich den Eiffelturm sehen, der wie ein Stück Spinnengewebe, zwischen die Stadt und die Wolken gehängt, von dünnem Nebel umflossen war.
«Müssen wir wirklich zu diesen Leuten gehen, Aubrey?»
«Ja, du kannst nicht mehr zurück. Geneviève Rod will etwas von dir über amerikanische Musik hören.»
«Aber was in aller Welt kann ich ihr von amerikanischer Musik erzählen?»
«Hat es denn nicht einen Mann namens MacDowell gegeben, der verrückt wurde — oder so ähnlich?» Andrews lachte.
«Aber du weißt doch, dass ich keine guten Manieren habe... Ich muss wohl verkünden, dass ich Foch für einen kleinen Blechgötzen halte, ja?»
«Wenn du nicht willst, brauchst du gar nichts zu sagen... Übrigens sind es sehr fortschrittliche Menschen.»
«Ach, zum Kuckuck...»
Sie gingen eine Treppe mit braunen Teppichen hinauf. Auf den Treppenabsätzen hingen Stiche an der Wand, und es roch leicht nach abgestandenem Essen und Kehricht.
Oben angelangt klingelte Aubrey an einer gefirnissten Tür. Nach einem Augenblick öffnete ein Mädchen. Sie hatte eine Zigarette in der Hand, ihr Gesicht war bleich unter einer Masse rötlich-braunen Haares, ihre Augen sehr groß und hellbraun, so groß wie die Augen der Frauen auf den Gemälden von Artemisias und Berenike, die man in den Gräbern von Fajum fand. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid.
«Enfin», sagte sie und streckte Aubrey die Hand entgegen.
«Hier ist mein Freund Andrews.»
Sie hielt ihm abwesend die Hand entgegen und schaute immer noch hinüber zu Aubrey.
«Spricht er Französisch?... Gut... Hierher bitte.»
Sie gingen in ein großes Zimmer, in dem es ein Piano gab, und wo eine ältliche Frau mit grauem Haar, gelben Zähnen und denselben großen Augen wie ihre Tochter vor dem Kamin stand.
«Maman, enfin ils arrivent, ces Messieurs.» «Geneviève hatte Angst, Sie würden nicht kommen», sagte Madame Rod zu Andrews lächelnd. «Monsieur Aubrey hat uns
so viel von Ihrem Spiel vorgeschwärmt, dass wir den Tag über ganz aufgeregt waren... Wir verehren die Musik.»
«Ich wünschte, ich könnte etwas mehr tun, als die Musik nur verehren», sagte Geneviève Rod hastig. Dann fuhr sie mit einem kurzen Lächeln fort: «Aber ich vergaß, — Monsieur Andrews — Monsieur Ronsard.»
Sie machte mit ihrer Hand eine Geste von Andrews zu dem jungen Franzosen, der sich in seinem Cutaway und seiner sehr engen Weste zu Andrews hinüber verbeugte.
«Jetzt wollen wir ein wenig Tee trinken», sagte Geneviève Rod. «Man kann nur richtig miteinander sprechen, wenn man Tee getrunken hat. Nur nach dem Tee ist man amüsant.»
Sie zog einige Portieren zurück, die die Tür in das nebenanliegende Zimmer verbargen.
«Ich verstehe, warum Sarah Bernhardt Portieren so hebt», sagte sie. «Sie verleihen dem Dasein etwas Dramatisches... Es gibt nichts Heroischeres als Portieren!»
Sie saß am Kopfende eines Eichentisches, wo Porzellangeschirr mit buntem Gebäck, ein alter Kessel, unter dem Spiritus brannte, eine Meißener Kanne in mattgelben und grünen Tönen und Tassen und Teller mit einem dumpfroten Doppeladlermuster in schöner Anordnung standen.
«Tout ca», sagte Geneviève und zeigte mit ihrer Hand über den Tisch, «c'est boche... Aber wir haben nichts anderes. Wir müssen uns also damit behelfen.»
Die alte Frau, die neben ihr saß, flüsterte ihr etwas zu und lachte. Geneviève setzte eine Schildpattbrille auf und begann Tee einzuschenken.
«Debussy hat einmal aus dieser Tasse getrunken... Sie hat einen Sprung», sagte sie und gab sie John Andrews. «Kennen Sie Mussorgsky, und können Sie etwas von ihm uns nachher spielen?»
«Ich kann überhaupt nichts mehr spielen... Vielleicht nach drei Monaten wieder.»
«Oh, niemand erwartet von Ihnen etwas Vollkommenes. Sie sollen uns nur ein wenig unterhalten, das ist alles, was ich will.»
«Ich habe meine Zweifel.»
Andrews schlürfte seinen Tee langsam, sah dann und wann zu Geneviève hinüber, die plötzlich sehr geschäftig mit Ronsard zu sprechen begonnen hatte. Sie hielt eine Zigarette zwischen den
Fingern ihrer langen, dünnen Hand. Ihre großen, hellbraunen Augen waren erstaunt, als ob sie heute zum ersten Mal in die Welt schauten. Ein Lächeln erschien und verschwand maliziös auf der Rundung ihrer Wange — ging von ihren kleinen, festen Lippen aus. Die ältere Frau neben ihr sah beständig ihre Gäste mit einem vergnügten Ausdruck von Gastfreundlichkeit an und lächelte verbindlich, so dass man ihre gelben Zähne sehen konnte.
Nachher gingen sie wieder hinüber in das andere Zimmer, und Andrews setzte sich an das Klavier. Das Mädchen saß sehr gerade in einem kleinen Sessel neben dem Klavier. Andrews ließ seine Finger über die Tasten gleiten.
«Sie sagten, Sie kennen Debussy?»
«Ich? Nein. Aber er pflegte meinen Vater zu besuchen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich bin mit der Musik aufgewachsen... Es ist sehr dumm, eine Frau zu sein. Ich habe Musik nicht im Kopf. Natürlich habe ich ein Gefühl für sie, wie auch die Tische und Stuhle in diesem Hause, nach der vielen Musik, die sie gehört haben.»
Andrews begann Schumann zu spielen. Plötzlich hielt er inne.
«Können Sie singen?» fragte er.
«Nein.»
«Ich möchte gern die Croses Lyriques versuchen... Ich habe sie nie gehört.»
«Ich habe einmal versucht, de Soir zu singen», sagte sie.
«Wunderbar! Singen Sie!»
«Ach, du lieber Gott — es ist mir viel zu schwer.»
«Was hat es für einen Zweck, die Musik zu heben, wenn man nicht bereit ist, draufloszupfuschen, nur um Musik zu machen... Ehrenwort — ich höre lieber einen Menschen Auprès de ma Blonde auf einer Posaune herunterstottern, als Kreisler so makellos Paganini fiedeln, dass einem übel davon wird.»
«Es gibt einen Mittelweg.»
Er unterbrach sie, indem er wieder zu klimpern begann. Während er drauflosspielte, ohne sie anzusehen, spürte er, dass ihre Blicke an ihm hingen, dass sie mit angehaltenem Atem hinter ihm stand. Ihre Hand berührte seine Schulter. Er hielt inne.
«Oh, Verzeihung!» sagte sie.
«Ich war ohnedies fertig.»
«Sie haben etwas Eigenes gespielt.»
«Haben Sie je La Tentation de Saint Antoine gelesen?» fragte Andrews leise. «Von Flaubert?» «Ja.»
«Es ist nicht seine beste Arbeit, aber immerhin ein sehr interessanter, wenn auch missglückter Versuch», sagte sie.
Andrews stand vom Klavier auf, plötzlich sehr irritiert. «Man scheint hier alle Leute zu lehren, das zu sagen», murmelte er. Er bemerkte plötzlich, dass auch noch andere Menschen im Zimmer waren und ging zu Madame Rod hinüber. «Sie müssen mich entschuldigen», sagte er. «Ich habe noch eine Verabredung.»
«Aubrey, lass dich nicht stören, ich komme schon zu spät, ich muss mich beeilen.»
«Kommen Sie doch bald wieder, uns besuchen.»
«Danke schön», murmelte Andrews.
Geneviève Rod begleitete ihn zur Tür.
«Wir müssen einander besser kennen lernen», sagte sie. «Ich mag Sie gern, weil Sie so plötzlich davonlaufen.»
Andrews wurde rot. «Ich bin schlecht erzogen», sagte er und drückte ihre dünne, kühle Hand. «Und ihr Franzosen müsst euch immer daran erinnern, dass wir Barbaren sind. Manche bedauern es zu sein; ich nicht.»
Sie lachte, und John Andrews lief die Treppen hinab und hinaus in die graublauen Straßen, wo die Lampen gelblich brannten. Er fühlte irgendwie unsicher, dass er sich wie ein Narr benommen hatte. Ihn packte eine hilflose Wut. Mit langen Schritten ging er durch die Straßen der Rive Gauche, die voller Menschen waren, welche von der Arbeit nach Hause gingen, nach dem kleinen Weinlokal am Quai de la Toumelle.
Es war ein Pariser Sonntagmorgen. Alte Frauen in schwarzen Tüchern gingen in die Kirche von Saint Etienne-du-Mont. Jedes Mal, wenn die Ledertüren aufgingen, wehte ein leichter Weihrauchduft in die verräucherte Morgenluft hinaus. Drei Tauben spazierten auf den Pflastersteinen herum, setzten mit wichtiger Miene das eine korallrote Füßchen vors andere. Die scharfe Fassade der Kirche, ihr schlanker Turm und die Kuppel warfen auf den Platz davor einen bläulichen Schatten, in dem die Schatten, welche die alten Frauen hinter sich herschleiften, verschwanden, wenn sie in die Kirche hineinhumpelten. Die gegenüberliegende
Seite des Platzes und das Gelände des Pantheons waren mit orangefarbenem Sonnenlicht überflutet.
Andrews sah in den Himmel und dann auf die Tauben und die Fassaden der Bibliothek von Sainte Geneviève und auf die wenigen Menschen, die am Rande des Platzes vorbeispazierten, registrierte mit stiller Freude Formen und Farben und kleine komische Eigenheiten, alles fast selbstgefällig genießend. Er hatte das Gefühl, nun gehe es voran mit seiner Musik, unverdrossen, er lebte den ganzen Tag in ihren Rhythmen. Sein Hirn und seine Finger wurden immer geschmeidiger. Die harten Krusten, die sein Denken eingeengt hatten, begannen zu zerbröckeln. Wie er so hin und her marschierte vor der Kirche und auf Jeanne wartete, legte er sich Rechenschaft über seinen Zustand ab. Er war sehr glücklich.
«Eh bien?»
Jeanne war unbemerkt an ihn herangekommen. Sie liefen wie Kinder Hand in Hand über den sonnigen Platz.
«Habe noch keinen Kaffee getrunken», sagte Andrews.
«Wie spät musst du aufgestanden sein. Aber du kannst keinen bekommen, ehe wir in Porte Maillot sind.»
«Warum denn nicht?»
«Weil ich es sage.»
«Aber das ist ja grausam.»
«Es dauert nicht lange.»
«Aber ich sterbe doch vor Hunger. Ich werde in deinen Händen sterben.»
«Verstehst du denn nicht? Sind wir erst einmal an der Porte Maillot, liegt dein und mein Leben weit hinter uns. Dann wird der Tag uns ganz gehören. Man muss das Schicksal nicht versuchen.»
«Du bist ein seltsames Mädchen.»
Die Metro war nicht voll. Andrews und Jeanne saßen sich gegenüber, ohne zu sprechen. Andrews sah auf die Hände des Mädchens, kleine zerarbeitete Hände mit Flecken an den Fingerspitzen, an denen die Haut zerrissen und wund war. Plötzlich bemerkte sie seinen Blick. Er wurde rot. Sie aber sagte heiter:
«Nun, eines Tages werden wir alle reich sein wie die Prinzen und Prinzessinnen in den Märchenbüchern.»
Sie lachten beide.
Als sie den Zug an der Endstation verließen, legte er seinen Ann zaghaft um sie. Sie trug kein Korsett. Seine Finger zitterten in der Biegsamkeit des Fleisches unter ihren Kleidern. Er fühlte eine Art Schrecken und nahm den Arm weg. Als sie in das Sonnenlicht hinaustraten unter die nackten Bäume der breiten Straße, sagte sie ruhig:
«Du kannst jetzt so viel Kaffee trinken, wie du willst.»
«Du musst welchen mittrinken.»
«Warum so verschwenderisch? Ich habe ja schon gefrühstückt.»
«Aber ich will doch den ganzen Tag verschwenderisch sein. Wir können also schon jetzt damit beginnen. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin sehr glücklich. Wir werden Weißbrötchen essen.»
«Aber, mein Lieber, heutzutage können doch nur noch Schieber Weißbrötchen essen.» «Na, dann Pass mal auf.»
Sie gingen in eine Bäckerei. Eine ältliche Frau mit magerem, gelblichem Gesicht und dünnem Haar bediente sie und warf aus ihren Augen neidische Blicke auf sie, als sie vor ihnen die schönen, knusprigen Weißbrötchen aufhäufte.
«Sie werden den Tag wohl auf dem Lande verbringen?» fragte sie sinnend, als sie Andrews das Geld herausgab.
«Ja, wie gut Sie es erraten haben!»
Als sie zur Tür hinausgingen, hörten sie sie murmeln: «Oh, la jeunesse, la jeunesse!»
Sie fanden einen Tisch in der Sonne in einem Cafe gegenüber dem Tor, von dem aus sie die Menschen und Automobile und Wagen sehen konnten. Dahinter war ein grasbewachsenes Stück Befestigung, das dem Ganzen ein 1870er Aussehen gab.
«Wie lustig es an der Porte Maillot ist!» rief Andrews aus.
Sie sah ihn an und lachte.
«Ach, und wie lustig der Herr heute ist!»
«Hier gefällt es mir immer. Hier fühlt man sich immer wohl... Auf dem Hinweg hat man das schöne Gefühl, die Stadt zu verlassen — auf dem Rückweg den Spaß, wieder in die Stadt zurückzukehren... Aber du isst ja keine Brioches.»
«Ich habe eine gegessen. Iß du sie. Du bist hungrig.»
«Jeanne, ich glaube nicht, dass ich je in meinem Leben so glücklich gewesen bin... Diese Freude über die Freiheit ist es wert, in der Armee gewesen zu sein. Dieses Leben in Angst... Wie geht es Etienne?»
«Der ist in Mainz und langweilt sich.»
«Jeanne, wir müssen sehr viel leben, wir, die wir frei sind, für alle diese Menschen, die sich immer noch so langweilen.»
«Wird ihnen nicht sehr viel helfen!» rief sie lachend.
«Es ist seltsam, Jeanne, ich habe mich danach gedrängt, zum Militär zu kommen; ich war fast krank davon, frei zu sein und nichts zu erreichen. Jetzt habe ich gelernt, dass man das Leben nutzen muss, dass man es nicht in der Hand halten darf wie eine Bonbonschachtel, aus der niemand isst.»
Sie sah ihn fragend an.
«Ich meine, ich glaube nicht, dass wir aus dem Leben genug herausholen», sagte er. «Wir wollen gehen.» Sie standen auf.
«Was meinst du eigentlich?» fragte sie langsam. «Man nimmt eben das, was das Leben gibt, das ist alles. Es gibt keine Wahl... Aber schau, da ist der Malmaison-Zug. Wir müssen laufen.»
Kichernd und atemlos kletterten sie auf den Anhänger und standen eingezwängt auf der hinteren Plattform, wo alles stieß und schimpfte. Der Wagen begann durch Neuilly zu holpern. In dem dichten Menschenknäuel wurden sie aneinandergepresst. Andrews legte den Arm fest um Jeannes Mitte und blickte auf ihre blasse Wange hinunter, die an seine Brust gedrückt wurde. Ihr rundes, schwarzes Strohhütchen mit dem roten Blumentupfer reichte ihm gerade bis ans Kinn.
«Ich sehe gar nichts», stieß sie kichernd hervor und schnappte ein wenig nach Luft.
«Ich werde dir die Gegend beschreiben», erwiderte Andrews. «Schau, jetzt fahren wir schon über die Seine.»
«Ach, wie hübsch muss das sein!»
Ein alter Herr mit einem weißen Spitzbart stand neben ihnen und lachte wohlwollend.
«Aber finden Sie denn nicht, dass die Seine schön ist?» Jeanne blickte frech zu ihm auf.
«Zweifellos, zweifellos... Sie haben es nur so komisch gesagt. Die Herrschaften fahren nach St. Germain?» fragte der alte Herr,
«Nein, nach Malmaison.»
«Oh, Sie sollten lieber nach St. Germain fahren. Dort befindet sich Monsieur Reinachs prähistorisches Museum. Großartig! Sie sollten nicht in Ihre Heimat zurückkehren, ohne es gesehen zu haben.»
«Gibt es dort auch Affen!» fragte Jeanne.
«Nein», sagte der alte Herr und wandte sich ab.
«Ich habe Affen zum Fressen gern», sagte Jeanne.
Der Zug fuhr an einem breiten, leeren Boulevard mit Bäumen und Rasen und Reihen kleiner Häuser vorbei. Viele Leute waren ausgestiegen, und es war genug Platz. Andrews aber behielt seinen Arm um des Mädchens Hüften. Die beständige Berührung mit ihrem Körper machte ihn matt und schlaff.
«Wie gut es hier riecht», sagte Jeanne. «Das ist der Frühling.»
«Ich möchte im Rasen hegen und Veilchen essen. Oh, wie gut warst du, mich so hinauszunehmen, Jeanne.»
«Du kennst doch gewiss genug feine Damen, mit denen du hättest herausgehen können; du bist ja so gebildet. Wie kommt es, dass du nur ein gewöhnlicher Soldat bist?»
«Guter Gott, ich möchte doch nicht Offizier sein!»
«Es muss doch herrlich sein, Offizier zu sein.»
«Will Etienne vielleicht Offizier sein?»
«Der ist ja Sozialist. Das ist was anderes.»
«Nun, vielleicht bin ich auch einer. Aber sprechen wir von etwas anderem.»
Andrews ging zur anderen Seite der Plattform. Sie kamen an kleinen Villen und Gärten vorbei, in denen gelbe und blassrote Krokusse blühten. Dann und wann war der Duft von Veilchen in der feuchten Luft zu riechen. Die Sonne war hinter sanften, rötlich-grauen Wolken verschwunden. Gelegentlich strich ein feuchter Wind an ihnen vorbei.
Andrews dachte plötzlich an Geneviève Rod. Seltsam, wie lebhaft er sich an ihr Gesicht erinnern konnte, an ihre großen Augen und an ihre seltsame Art zu lächeln, ohne ihre festen Lippen zu bewegen. Wie dumm war es doch gewesen, plötzlich davonzulaufen! Er spürte unvermittelt den Wunsch, wieder mit ihr zu sprechen. Dinge, die er ihr sagen wollte, kamen ihm ins Bewusstsein.
«Nun, schläfst du?» fragte Jeanne und zog ihn am Arm. «Hier sind wir.» Andrews wurde plötzlich rot.
«Oh, wie schön ist es hier, wie schön ist es hier!» sagte Jeanne. «Oh, es ist schon elf», sagte Andrews.
«Wir müssen uns noch vor dem Mittagessen das Schloss ansehen!» rief Jeanne und lief durch eine Lindenallee, wo die fetten Knospen sich soeben zu kleinen, runzligen, grünen Fächern entfalteten. In den feuchten Gräben links und rechts spross junges Gras. Andrews lief ihr nach, seine Füße stampften schwer über den nassen Kies. Als er sie eingeholt hatte, umarmte er sie ungestüm und küsste ihren keuchenden Mund. Sie riss sich los und ging mit sittsamen Schritten weiter, den Hut zurechtrückend.
«Untier!» sagte sie. «Diesen Hut habe ich mir eigens zurechtgemacht, um mit dir auszugehen, und jetzt gibst du dir Mühe, ihn zu ruinieren.»
«Armes Hütchen!» sagte Andrews. «Aber heute ist es so schön, und du bist sehr süß, Jeanne.»
«Das hat sicher auch der große Napoleon zur Kaiserin Josephine gesagt, und du weißt doch, wie er sie nachher behandelt hat», sagte Jeanne fast ernst.
«Aber sie hat ihn doch schon vorher gründlich satt gehabt.»
«Nein», sagte Jeanne, «so sind die Frauen.»
Sie gingen durch ein breites Eisentor in den Schlosspark.
Eine Weile später saßen sie an einem Tisch im Garten eines kleinen Restaurants. Eine bleiche Sonne war eben zum Vorschein gekommen, Messer, Gabeln und der weiße Wein in den Gläsern schimmerten matt in ihren Strahlen. Das Essen war noch nicht serviert. Stumm saßen sie da und sahen einander an. Andrews war müde und melancholisch. Er wusste nichts zu sagen, es wollte ihm nichts einfallen. Jeanne spielte mit ein paar winzigen Maßliebchen mit rosa Spitzen an den Blütenblättern, ordnete sie auf dem Tischtuch zu Kreisen und Kreuzen.
«Das geht aber langsam», sagte Andrews.
«Aber hier sitzt man sehr nett, nein?» Jeanne lächelte strahlend. «Ach, sieht der Herr jetzt wieder finster drein!» Sie warf einige Blumen nach ihm. Dann, nach einer Pause, fügte sie spöttisch hinzu: «Das macht der Hunger, mein Lieber. Ach du meine Güte, wie sehr die Männer vom Essen abhängig sind!»
Andrews leerte sein Glas auf einen Zug. Er hatte das Gefühl, er brauche sich nur anzustrengen, um die erstickende, trübe Stimmung von sich abzuwälzen, die auf ihm lastete wie ein Gewicht, das immer schwerer wurde.
Ein Mann in Khaki, Gesicht und Hals scharlachrot, kam in den Garten gestolpert, ein schmutzverkrustetes Fahrrad neben sich herschleppend. Er ließ sich auf einen Eisenstuhl sinken, und das Fahrrad fiel krachend zu Boden.
«He — he —!» rief er mit heiserer Stimme.
Ein Kellner erschien und betrachtete ihn misstrauisch. Der Mann in Khaki hatte Haare so rot wie sein Gesicht, das vor Schweiß glitzerte. Sein Hemd war zerrissen, er hatte keine Jacke an. Kniehose und Gamaschen waren vor Dreck nicht zu sehen.
«Gib mir n Bier!» krächzte der Mann in Khaki.
Der Kellner zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen.
«Il demande une bière», sagte Andrews.
«Mais, Monsieur...»
«Ich bezahle. Bringen Sie es ihm.»
Der Kellner verschwand.
«Dankeschön, Yankee!» krächzte der Mann in Khaki.
Der Kellner brachte ihm ein hohes, schmales, gelbes Glas. Der Mann in Khaki nahm es entgegen, leerte es auf einen Zug und gab es ihm zurück. Dann spuckte er aus, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, erhob sich mühsam und watschelte auf Andrews' Tisch zu.
«Ich hoffe doch, die Dame und Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich ein bisschen mit Ihnen quatsche, oder?»
«Los, setzen Sie sich, Mann! Wo kommen Sie denn her?»
Der Mann in Khaki zog einen Eisenstuhl näher an den Tisch heran. Bevor er sich hinsetzte, machte er eine kleine Verbeugung vor Jeanne und zupfte gleichzeitig mit ernster Miene an einer roten Locke. Nach einigem Gefummel brachte er ein rotgerändertes Taschentuch zum Vorschein und wischte sich das Gesicht ab. Auf seiner Stirn blieb ein länglicher schwarzer Schmierölfleck zurück.
«Ich habe wichtige Geheimmeldungen bei mir, Herr Amerikaner», sagte er und lehnte sich auf dem Eisenstühlchen zurück. «Ich bin Depeschenfahrer.»
«Sie machen einen erschöpften Eindruck.»
«Ach wo! Ich bin überfallen worden. In einem kleinen Wald an einem See. Die Säue wollten mich umlegen.»
«Was soll das heißen?»
«Wahrscheinlich haben sie was läuten hören... Ich habe wichtige Mitteilungen von unserem Hauptquartier in Rouen an euren Präsidenten bei mir. Na, da kam ich mit meinem Motorrad nach der hiesigen Seite zu durch ein beschissenes Dickicht — keine Ahnung, wie der beschissene Ort sich schimpft... Ich hatte fünfzig Sachen drauf, denn der Weg war finster, da sehe ich vier
Rabauken mitten auf der Straße stehen — sie kamen mir gleich verdächtig vor — also ich hau' ran, was das Zeug hält, und glatt auf den mittleren zu. Er schmeißt sich auf die Seite. Dann fingen sie zu ballern an, und eine beschissene Kugel hat mir das Rad kaputtgeballert... Aber ich bin ein Glückskind — und das war meine Rettung! Ich rapple mich aus dem Graben hoch und hau' ab in den Wald; sie haben mich nicht erwischt. Dann kam ich zu einem andern beschissenen Ort und habe mir dort diese olle Schwitzkarre requiriert... Wie viele Furzer sind es denn noch bis Paris, Herr Amerikaner?»
«Ich glaube, fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer.»
«Was sagt er, Jean?»
«Man hat ihn unterwegs überfallen. Er ist Depeschenbote.»
«Ach, ist er hässlich! Engländer?»
«Ire.»
«Na, aber sicher, meine Dame! Irländer — bin ich... Sie haben sich etwas Hübsches angelacht, Herr Amerikaner. Aber warten Sie bloß, bis ich nach Paris komme. Meine Gratifikation! Wird mir glatt hundert Pfund einbringen. Aus welcher Gegend sind denn Sie?»
«Aus Virginia. Ich lebe in New York.»
«Ich war in Detroit. Sowie ich mir hier noch ein paar Prämien zusammengeholt habe, gehe ich wieder rüber — Automobilbranche. Europa ist tot und stinkt. Nischt für einen jungen Menschen! Tot und stinkig, weiter nischt.»
«Ich finde das Leben hier angenehmer als in Amerika... Sagen Sie mal, passiert es Ihnen oft, dass Sie überfallen werden?»
«Mir ist es noch nie passiert, aber Kameraden von mir.»
«Wer könnte es denn gewesen sein?»
«Keene Ahnung. Rund um die Friedenskonferenz wimmelt's von beschissenen Geheimagenten. Werden wohl welche gewesen sein... Aber jetzt muss ich weiter. Die Depesche hat's eilig.»
«Schön. Das Bier bezahle ich.»
«Dank' schön, Yankee.» Der Mann stand auf, reichte Andrews und Jeanne die Hand, schwang sich auf sein Rad und rollte durch den Garten auf die Straße hinaus, sich zwischen den eisernen Stühlen und Tischen hindurchschlängelnd.
«Ein komischer Kerl!» rief Andrews lachend aus. «Was für ein Witz ist das doch alles!»
Der Kellner kam mit der Omelette, die das Mittagessen einleiten sollte.
«Da bekommt man einen Begriff davon, wie die alte Lava im Vulkan brodelt. Nirgendwo tanzt es sich besser als auf einem Vulkan.»
«Aber sag doch nicht solche Sachen.» Jeanne legte Messer und Gabel hin. «Das ist schrecklich. Wir vergeuden unsere Jugend — ohne jeden Sinn. Als unsere Väter jung waren, da haben sie ihr Leben genossen... Und wenn nicht der Krieg gekommen wäre, wären wir so glücklich geworden, Etienne und ich. Mein Vater hatte eine kleine Seifen- und Parfumfabrik. Etienne hätte eine blendende Stellung bekommen. Ich hätte nicht zu arbeiten brauchen. Wir hätten ein hübsches Haus. Ich wäre verheiratet...»
«So aber bist du ein viel freierer Mensch, Jeanne.»
Sie zuckte die Achseln. Dann stieß sie hervor:
«Was nützt mir die Freiheit? Was fängt man mit ihr an? Man will doch gut leben und ein hübsches Haus haben und bei den Leuten was gelten. Ach, vor dem Krieg war das Leben in Frankreich so schön.»
«In diesem Falle lohnt sich das Leben nicht», sagte Andrews in heftigem Ton, sich mühsam beherrschend.
Wortlos aßen sie weiter. Der Himmel überzog sich. Ein paar Tropfen platschten aufs Tischtuch.
«Den Kaffee müssen wir drin trinken», sagte Andrews.
«Und du findest es lustig, dass man auf einen Mann schießt, der mit seinem Motorrad durch einen Wald fährt! Mir kommt das alles schrecklich vor, schrecklich», sagte Jeanne.
«Pass auf! Jetzt fängt es an zu regnen.»
Sie rannten durch den ersten prasselnden Guss ins Restaurant und setzten sich an einen Fenstertisch, sahen zu, wie die Regentropfen auf den grünlackierten Eisentischen tanzten und glitzerten. Feuchte Windstöße brachten den Geruch nassen Erdreichs und den Pilzgeruch durchweichten Laubes zur Tür herein. Ein Kellner machte die Glastür zu und schob die Riegel vor.
«Er möchte den Frühling aussperren — aber das wird ihm nicht gelingen», sagte Andrews.
Über die Kaffeetassen weg sahen sie einander lächelnd an. Nun waren sie wieder ein Herz und eine Seele.
Als es zu regnen aufhörte, gingen sie über die nassen Felder auf einem Fußpfad, der voll kleiner Pfützen war, die den blauen Himmel und die weißen Wolken reflektierten. Sie gingen langsam, Arm in Arm und pressten ihre Körper aneinander. Sie waren sehr müde, wussten nicht warum und blieben oft stehen, um sich gegen die feuchten Stämme der Bäume zu lehnen. Neben einem mattblauen Teich, in dem sich gelblich und silbern der Himmel spiegelte, fanden sie unter einer dicken Buche eine Menge wilde Veilchen, die Jeanne begierig pflückte und zu den kleinen, rotzüngigen Maßliebchen in ihrem festgepressten Strauß tat. An der Vorortbahnstation saßen sie schweigend, Seite an Seite, auf einer Bank — ab und zu an den Blumen riechend —, so versunken in erschlaffter Müdigkeit, dass sie kaum Kraft zusammenholen konnten, um einen Platz auf dem Oberdeck eines Dritter-Klasse-Wagens zu erklettern, der vollgepfropft war mit Menschen, die einen Tag auf dem Lande verbracht hatten und jetzt nach Hause fuhren. Jeder hatte Veilchen, Krokusse und Zweige mit Knospen in der Hand. Aus den steifen Stadtkleidern der Leute strömte ein Geruch nasser Felder und sprießender Wälder. Alle Mädchen kreischten und warfen ihre Arme um die Männer, wenn der Zug durch einen Tunnel oder unter einer Brücke fuhr. Was auch geschah, alle lachten. Als der Zug in der Station ankam, verließen sie ihn beinahe widerwillig, als hätten sie das Gefühl, von diesem Augenblick an beginne wieder der Alltag. Andrews und Jeanne gingen den Bahnsteig hinunter, ohne sich zu berühren. Ihre Finger waren schmutzig und klebrig von den vielen Knospen und jungen, saftigen Blättern, die sie zerpflückt hatten. Es fiel fast schwer, die Stadtluft zu atmen nach der frischen Feuchte der Felder.
Sie aßen in einem kleinen Restaurant am Quai Voltaire zu Abend und spazierten nachher langsam auf den Place St. Michel zu. Sie fühlten, wie der Wein und die Wärme des Essens neue Kraft in ihre ermüdeten Glieder schickten. Andrews hatte den Arm über ihre Schulter gelegt, und sie sprachen langsam und vertraut, kaum die Lippen bewegend, betrachteten aufmerksam die Paare, die eng umschlungen auf den Bänken saßen, die jungen Pärchen, die immerzu an ihnen vorüberkamen, leise plaudernd, genau wie sie, dicht aneinandergeschmiegt, genau wie sie.
«Wie viel Liebespaare es gibt!» sagte Andrews.
«Sind wir ein Liebespaar?» fragte Jeanne mit einem wunderlichen kleinen Lachen.
«Wer weiß ... Bist du schon einmal ganz toll verliebt gewesen, Jeanne?»
«Ich weiß es nicht. In Laon gab es einen Burschen namens Marcelin. Aber damals war ich eine kleine Gans. Zum letzten Mal habe ich von ihm aus Verdun gehört.»
«Hast du viele gehabt — solche wie ich?»
«Ach, sind wir sentimental!» rief sie lachend aus.
«Nein. Ich möchte es bloß wissen. Ich weiß so wenig vom Leben», sagte Andrews.
«Ich amüsiere mich, so gut es geht», sagte Jeanne in ernstem Ton. «Aber ich bin nicht frivol... es hat nur sehr wenige Männer gegeben, die ich wirklich mochte... Also habe ich eben ein paar Freunde gehabt... Würdest du die <Liebhaber> nennen? <Liebhaber> haben auf der Bühne die verheirateten Frauen... Das alles ist sehr dumm.»
«Vor gar nicht langer Zeit», sagte Andrews, «träumte ich immer von romantischer Liebe, von Menschen, die durch den Efeu an Schlossmauern hinaufklettern, von wilden Küssen auf Baikonen im Mondschein.»
«Wie in der Opera Comique», sagte Jeanne lachend.
«Das war alles sehr dumm. Aber auch jetzt noch verlange ich vom Leben viel mehr, als das Leben bieten kann.»
Sie lehnten sich über die Brüstung und lauschten dem hastigen Rauschen des Flusses, das bald leise war, bald laut. Wie goldene Schlangen wanden sich im Wasser die Reflexe der Laternen am gegenüberliegenden Ufer.
Andrews merkte, dass jemand neben ihnen stand. Der matte, grünliche Lichtschein der Laterne am Kai gestattete ihm, den gelähmten jungen Mann wieder zu erkennen, mit dem er sich vor Monaten auf der Butte unterhalten hatte.
«Ob Sie sich noch an mich erinnern?» sagte er.
«Sie sind der Amerikaner, der in dem Restaurant am Place du Tertre war, ich weiß nicht mehr wann, aber es ist lange her.»
Sie drückten einander die Hand.
«Aber Sie sind allein», sagte Andrews.
«Ja, ich bin immer allein», erwiderte der Krüppel mit fester Stimme. Wieder streckte er die Hand aus. «Au revoir!» sagte Andrews.
«Viel Glück!» sagte der Lahme. Andrews hörte seine Krücke über das Kaipflaster davontapsen.
«Jeanne», sagte Andrews plötzlich, «du kommst mit mir?» «Aber du wohnst doch nicht allein?»
«Mein Freund ist heute nach Brüssel. Er kommt nicht vor morgen zurück.»
«Ich nehme an, dass man für sein Essen bezahlen muss», sagte Jeanne maliziös.
«Guter Gott, hör doch damit auf.»
Andrews vergrub sein Gesicht in den Händen. Der singende Fluss, der drunten an den Brücken vorbeibrodelte, erfüllte sein Ohr. Schreien wollte er, verzweifelt schreien. Der wütende Wunsch wie Hass, der sein Fleisch zittern ließ, kroch in seine Hände, ihre Hände zu nehmen und sie zu zerquetschen.
«Komm», sagte er grob.
«Ich wollte dich nicht verletzen», sagte sie mit milder, müder Stimme. «Du weißt, ich bin kein gebildetes Mädchen.»
Der grünliche Schein der Lampe beleuchtete den Umriss einer ihrer Wangen, als sie den Kopf hob und traf in ihre Augen. Eine sanfte, sentimentale Traurigkeit ergriff Andrews plötzlich; ein Gefühl, als ob er noch ein kleines Kind sei und seine Mutter ihm Geschichten erzähle und er sich ganz hilflos von dem Strom ihrer sanften, erzählenden Stimme forttreiben ließ, hintreiben in etwas Unbekanntes, Trauriges, gegen das er sich nicht wehren konnte.
Sie begannen zu gehen, über die Pont Neuf nach dem leuchtenden Place Michel hinüber. Drei Namen waren Andrews ins Bewusstsein getreten: Arsinoe, Berenike, Artemisia. Eine Zeitlang riet er an ihnen herum, und dann erinnerte er sich, dass Geneviève Rod große Augen hatte und eine weite, glatte Stirn und feste, kleine Lippen, wie die Frauenbildnisse auf den Mumiensärgen von Fajum.
«Warum lachst du?» fragte Jeanne.
«Weil die Dinge so verrückt sind.»
«Vielleicht meinst du, dass die Menschen verrückt sind», sagte sie und schaute ihn aus den Augenwinkeln heraus an. «Du hast recht.»
Sie gingen schweigend, bis sie Andrews' Tür erreichten.
«Geh du zuerst hinauf und sieh nach, ob jemand dort ist», sagte Jeanne in einem fast geschäftlichen Tone.
Andrews' Hände waren kalt. Er fühlte sein Herz pochen, während er die Treppe hinaufstieg. Das Zimmer war leer. In dem kleinen Kamin war alles für ein Feuer hergerichtet. Andrews brachte schnell den Tisch in Ordnung und stieß einige schmutzige Wäschestücke mit dem Fuß unter das Bett. Ein Gedanke kam ihm: genauso hatte er sich benommen, damals auf der Universität, wenn ein Verwandter kam, ihn zu besuchen. Er ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter.
«Bien, tu peux venir, Jeanne», sagte er.
Sie setzte sich etwas steif in den großen Lehnstuhl neben das Feuer.
«Wie schön das Feuer ist», sagte sie.
«Jeanne, ich glaube fast, ich bin ganz verrückt in dich verliebt», sagte Andrews aufgeregt. «Wie in der Opéra Comique.» Sie zuckte die Achseln.
«Das Zimmer ist ganz nett», sagte sie. «Aber was für ein großes Bett!»
«Du bist die erste Frau, die hier oben ist, seitdem ich hier wohne, Jeanne. Aber diese Uniform ist furchtbar.»
Andrews dachte plötzlich an alle die lebenden Körper, die man in Uniformen wie diese gezwängt, zu Automaten gemacht hatte, an diese ganze hässliche Farce, Menschen in Maschinen zu verwandeln. Oh, wenn er nur mit einer Bewegung sie alle zum Leben, zur Freiheit und zur Freude befreien könnte! Der Gedanke daran ertränkte alles andere für den Augenblick.
«Aber du hast ja einen Knopf abgerissen!» schrie Jeanne, hysterisch lachend. «Ich muss ihn dir nachher annähen.»
«Lass doch, wenn du nur wüsstest, wie ich sie hasse!»
«Was für eine weiße Haut du hast. Wie eine Frau! Wahrscheinlich, weil du blond bist», sagte Jeanne.
Es wurde heftig an der Tür gerüttelt. Andrews wachte auf. Er stieg aus dem Bett und blieb eine Weile mitten im Zimmer stehen, ohne sich sammeln zu können. Es wurde weiter an der Tür gerüttelt, und er hörte Walters' Stimme rufen: «Andy, Andy!» Andrews spürte, wie ihm die Scham gleich einem Brechreiz durch die Adern schlich. Er empfand einen heftigen Abscheu vor sich selber, vor Jeanne und Walters. Er fühlte sich versucht, auf Zehenspitzen zu gehen, als hätte er etwas gestohlen. Er schlich zur Tür und öffnete sie ein wenig.
«Hör zu, Walters, olles Haus», sagte er, «ich kann dich nicht hereinlassen... Ich habe ein Mädchen bei mir. Tut mir leid... Ich dachte, du kommst erst morgen zurück.»
«Machst du Witze?» kam Walters' Stimme aus dem finsteren Korridor.
«Nein.» Andrews machte entschlossen die Tür zu und schob wieder den Riegel vor.
Jeanne schlief noch. Ihre schwarzen Haare hatten sich gelöst und hingen über das Kissen. Andrews wickelte sie sorgfältig in die Decken ein.
Dann legte er sich ins andere Bett, lag lange wach und starrte zur Decke hinauf.
4
Die Leute, die den Boulevard auf und ab gingen, sahen neugierig durch das Gitter auf die Männer in grauer Kleidung, die in der Ecke des Hofes zusammengeschart standen. Die Linie schob sich langsam vorwärts an einem Tisch mit einem Offizier vorbei; auf dem Tisch lagen große Listen mit Namen und Haufen von Banknoten und Silberfranken, die weiß schimmerten, ausgebreitet. Über den Köpfen der Männer erhob sich ein dünner Dunst von Zigarettenrauch in das Sonnenlicht. Stimmen schwirrten, und Füße scharrten im Kies. Die Abgelöhnten gingen mit frohen Gesichtern fort, das Geld klimperte in ihren Taschen.
Die Männer am Tisch hatten rote Gesichter mit gespanntem, ernstem Ausdruck. Sie schoben das Geld in die Hände der Soldaten und sprachen dabei die Namen aus, als ob sie tickende Schreibmaschinen seien.
Andrews sah, dass einer der Männer am Tisch Walters' war. Er lächelte und flüsterte: «Hallo», als er an ihn herankam. Walters hob die Augen nicht von der Liste.
Während Andrews darauf wartete, dass der Mann vor ihm entlohnt wurde, hörte er zwei andere sprechen:
«War das nicht ein furchtbarer Platz? Erinnerst du dich an den Jungen, der eines Tages da in den Baracken starb?»
«Klar, ich war auch bei den Sanis. In der Kompanie war ein Schweinekerl von einem Sergeanten, der den Jungen zwingen wollte, aufzustehen, und da kam der Leutnant und sagte, er wolle ihn vor ein Kriegsgericht stellen. Und dann fauchte ihn der Sergeant an, bald darauf war er hinüber.» «Woran starb er?»
«Herz, denk' ich. Weiß nicht, er war die ganze Zeit nicht recht lebensfroh.»
«In diesem Cosne konnte man nur seine Koffer packen.»
Andrews bekam sein Geld. Als er fortging, trat er an die beiden Männer heran, deren Gespräch er gehört hatte.
«Wart ihr Kerls in Cosne?»
«Ja.»
«Kanntet ihr einen, der Fuselli hieß?» «Weiß nicht.»
«Aber sicher», sagte der andere. «Erinnere dich doch an Dan Fuselli! Der kleine Italiano glaubte, er würde Korporal! Da hat er sich aber geschnitten!»
Sie lachten beide.
Andrews marschierte ab, irgendwie verärgert. Auf dem Boulevard Montparnasse waren viele Soldaten. Er wandte sich in eine Seitengasse, fühlte sich plötzlich erniedrigt und geduckt, als ob gleich wieder die barsche Stimme eines Sergeanten ihm Befehle entgegenschreien werde.
Das Silbergeld in seinen Taschen klimperte bei jedem Schritt.
Andrews lehnte sich auf die Brüstung des Balkons und blickte auf den Platz vor der Opera Comique hinunter. Ihm war noch ganz schwindlig von der Schönheit der Musik, die er gehört hatte. In den Tiefen seiner Gedanken glaubte er den mächtigen Rhythmus des Meeres zu spüren. Ringsumher auf dem breiten, überfüllten Balkon schnatterten Menschen, er aber merkte nichts als die blaugrauen Nebel der Nacht, durch die die Lampen ihre grüngoldenen und rotgoldenen Ornamente flochten. Und alles andere aus seinen Sinnen verscheuchend, durchwogte ihn der Rhythmus wie Meereswellen.
«Ich habe mir doch gedacht, dass Sie auch hier sein werden», sagte Geneviève Rod neben ihm ruhig.
Andrews war seltsam verlegen und brachte zuerst kein Wort hervor.
«Das ist aber nett, Sie wieder zu sehen», stotterte er, nachdem er sie ein paar Sekunden lang wortlos angestiert hatte.
«Natürlich lieben Sie Pelléas.»
«Ich habe die Oper zum ersten Mal gehört.»
«Warum haben Sie uns nicht besucht? Es ist schon zwei Wochen her... Wir haben Sie erwartet.»
«Das wusste ich nicht... Oh, ich komme bestimmt! Ich kenne momentan keinen Menschen, mit dem ich mich über Musik unterhalten kann.»
«Mich!»
«Ich hätte sagen müssen — niemand anderen.» «Arbeiten Sie etwas?»
«Ja... Aber das stört mich sehr.» Er zupfte an seiner Uniformbluse. «Aber ich hoffe bald frei zu kommen. Ich werde um meine Entlassung bitten.»
«Wahrscheinlich werden Sie das Gefühl haben, jetzt viel mehr ausrichten zu können... Sie werden sich viel kräftiger fühlen, nachdem Sie Ihre Pflicht getan haben.»
«Nein... Keineswegs.»
«Sagen Sie mal, was war denn das, was Sie bei uns zu Hause gespielt haben?»
«<Die drei Grünen Reiter auf den Wildeseln>...» erwiderte Andrews lächelnd.
«Was soll das heißen?»
«Ein Präludium zu der <Königin von Saba>», sagte Andrews. «Wenn Sie nicht über den Heiligen Antonius genauso dächten wie Monsieur Emile Faguet und alle andern, würde ich Ihnen sagen, was damit gemeint ist.»
«Das war sehr dumm von mir... Aber wenn Sie sich an all den Dummheiten stoßen, die die Leute so zufällig hinsagen — na, dann müssen Sie die meiste Zeit böse sein.»
In dem trüben Licht konnte er ihre Augen nicht sehen. Ein leiser Schimmer lag auf der Rundung ihrer Wange, die unter dem Schatten ihres Hutes zu dem etwas spitzen Kinn abfiel. Hinter ihr sah er fremde Gesichter, dichtgedrängt auf dem Balkon, schwatzende Gesichter, hart beleuchtet von dem goldenen Glanz, der aus dem Vestibül durch die Glastüren herausschien.
«Mich hat immer die Stelle in La Tentation fasziniert, wo die Königin von Saba den Heiligen Antonius aufsucht — c'est tout», sagte Andrews schroff.
«Ist das Ihr erstes Werk? Es hat mich ein wenig an Borodin erinnert.»
«Die erste Arbeit, die überhaupt etwas sein will. Wahrscheinlich zusammengestohlen aus allen möglichen Sachen, die ich gehört habe.»
«Nein, es hat nicht schlecht geklungen. Wahrscheinlich haben
Sie es immer im Kopf gehabt — an der Front — in schrecklichen und in glorreichen Stunden... Klavier oder Orchester?»
«Was ich fertig habe, ist für Klavier geschrieben. Ich hoffe, es mit der Zeit zu instrumentieren... Aber das ist ja lauter dummes Gerede. Ich kann noch nicht genug... Ich muss erst noch jahrelang fleißig arbeiten, bevor ich etwas zu Stande bringen kann... Und ich habe so viel Zeit vergeudet. Das ist das Allerschlimmste. Man ist ja nur so kurze Zeit jung.»
«Es klingelt, wir müssen auf unsere Plätze. Bis zur nächsten Pause...» Sie schlüpfte durch die Glastür und verschwand. Andrews kehrte auf seinen Platz zurück, er war sehr aufgeregt, von einem rastlosen Jubel erfüllt. Die ersten Orchesterklänge taten ihm weh, so intensiv berührten sie ihn.
Nach dem letzten Akt gingen sie stumm durch eine finstere Straße. Sie wollten möglichst schnell der Menschenmenge auf den Boulevards entrinnen.
Als sie zur Avenue de Opéra kamen, sagte sie:
«Haben Sie nicht erwähnt, dass Sie beabsichtigen, in Frankreich zu bleiben?»
«Ja, gewiss, wenn es geht. Morgen bitte ich um meine Entlassung hier in Frankreich.»
«Was wollen Sie dann anfangen?»
«Ich werde mir eine Arbeit suchen müssen, irgendeine Arbeit, die mir ermöglicht, an der Schola Cantorum zu studieren. Aber ich habe etwas Geld, das wird eine Weile reichen.»
«Sie sind mutig.»
«Ich habe vergessen, Sie zu fragen, ob Sie lieber die Metro nehmen wollen.» «Nein! Gehen wir zu Fuß.»
Sie spazierten durch die Arkaden des Louvre. Die Luft war von einem feinen, feuchten Nebel erfüllt und jede Straßenlaterne von einem trüben Lichthof umgeben.
«Mein Blut ist voller Debussy-Musik», sagte Geneviève Rod und breitete die Arme aus.
«Es hat keinen Zweck sagen zu wollen, was man dabei empfindet. Worte taugen ohnedies nicht viel, habe ich recht?»
«Das kommt ganz darauf an.»
Stumm gingen sie den Kai entlang. Der Nebel war so dicht, dass sie die Seine nicht sehen konnten, aber so oft sie sich einer
Brücke näherten, hörten sie das Wasser zwischen den Pfeilern rauschen.
«Frankreich erwürgt einen», sagte Andrews plötzlich. «Es erstickt einen ganz langsam mit schönen Seidenschnüren... Amerika schlägt einem mit dem Polizeiknüppel den Schädel ein.»
«Was wollen Sie damit sagen?» fragte sie. Ihre Stimme klang etwas kühl und pikiert.
«Hier in Frankreich wisst ihr alle so viel. Ihr habt eure Welt so nett eingerichtet...»
«Aber Sie wollen doch hier bleiben!» sagte sie lachend.
«Weil es sonst nichts gibt. Nur in Paris kann man so viel lernen, besonders in Musikdingen... Aber ich gehöre zu den Menschen, die nie zufrieden sind.»
«Nur Schafe sind zufrieden.»
«Ich glaube, diese vier Wochen in Paris war ich glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Es kommt mir wie ein halbes Jahr vor, so viel hat sich ereignet.»
«Am wohlsten fühle ich mich in Poissac.»
«Wo ist denn das?»
«Wir haben dort ein Landhaus, ein sehr altes, halb verfallenes Haus. Es heißt, Rabelais sei oft in dem Dorf gewesen. Aber unser Haus ist älter, aus der Zeit von Henri Quatre. Poissac ist nicht weit von Tours entfernt. Ein unschöner Name, wie? Aber mir klingt er schön. Das Haus ist rundherum von einem Obstgarten umgeben, gelbe Rosen mit einem roten Fleck in der Mitte schauen zum Fenster herein, und es gibt einen kleinen Turm, wie Montaigne einen gehabt hat.»
«Sobald ich meine Entlassung habe, werde ich aufs Land ziehen und nur noch arbeiten, arbeiten.»
«Musik soll man auf dem Land treiben, wenn der Saft in den Bäumen hochsteigt.»
«<D'après nature>, wie der Kaninchenmann sagt.»
«Wer ist der Kaninchenmann?»
«Ein sehr netter Mensch», erwiderte Andrews, glucksend vor Lachen. «Sie werden ihn eines Tages kennen lernen. Er verkauft vor dem Café Rohan kleine ausgestopfte hüpfende Kaninchen.»
«Da sind wir... Schönen Dank, dass Sie mich nach Hause begleitet haben.»
«Aber so schnell? Sind Sie wirklich schon zu Hause? Es kann doch nicht so schnell gegangen sein.»
«Ja, hier bin ich zu Hause», sagte Geneviève Rod lachend. Sie reichte ihm die Hand, und er schüttelte sie eifrig. Der Schlüssel knackste in der Tür. «Trinken Sie doch morgen eine Tasse Tee bei uns», sagte sie. «Mit Vergnügen.»
Die breite gefirnisste Tür mit ihrem Klopfer, der wie ein Ring geformt war, fiel hinter ihr zu. Leichten Schrittes entfernte sich Andrews, heiter und vergnügt.
Als er über den in den Nebel gehüllten Kai auf den Place St. Michel zusteuerte, drang das lispelnde Gurgeln des Flusses an den Brückenpfeilern in sein Ohr.
Walters schlief bereits. Auf dem Tisch in seinem Zimmer lag eine Karte von Jeanne. Andrews hielt sie dicht ans Kerzenlicht und las:
<Wie lange haben wir uns schon nicht getroffen. Ich werde am Mittwoch um sieben Uhr auf dem Trottoir gegenüber dem Magasin du Louvre am Café Rohan vorbeikommen.>
Es war eine Ansichtskarte aus Malmaison.
Andrews wurde rot. Eine bittere Melancholie pochte durch seine Adern. Mit schleppenden Schritten ging er ans Fenster und blickte in den finsteren Hof hinunter. Das Fenster unter ihm sandte einen warmen goldenen Dunst in die neblige Nacht. Auf den feuchten Fliesen des Hofes standen, kaum zu sehen, einige Farntöpfe. Von irgendwoher kam ein starker Hyazinthenduft. Gedankenfetzen glitten ihm durch den Kopf. Er sah sich wieder — vor langer Zeit — im Ausbildungslager Fenster putzen und erinnerte sich daran, wie der raue Schwamm ihm die Hände zerschunden hatte. Unwillkürlich schämte er sich, wenn er an diese Zeit zurückdachte. «Na ja, jetzt ist das alles vorbei», sagte er sich. Halb und halb irritiert dachte er über Geneviève Rod nach. Was ist sie eigentlich für ein Mensch? Ihr Gesicht sah er recht deutlich vor sich, mit den großen Augen und dem spitzen Kinn und dem rötlichbraunen Haar in unscheinbarem Knoten über der weißen Stirn, aber wenn er sich an ihr Profil erinnern wollte, gelang es ihm nicht. Sie hatte schmale Hände mit langen Fingern, die wohl recht gut Klavier spielen müssten. Würde sie im Alter genauso vergnügt sein und genauso gelbe Zähne haben wie ihre Mutter? Er konnte sie sich nicht alt vorstellen, sie war zu kraftvoll, es lag zu viel Bosheit
in ihren leidenschaftlich beherrschten Gesten. Die Erinnerung an sie verblasste, und nun fielen ihm Jeannes abgearbeitete Händchen ein, mit den kleinen Schwielen und den von der Näharbeit beschmutzten und zerkratzten Fingerspitzen. Aber der Hyazinthenduft, der aus dem umnebelten Hof heraufstieg, war wie ein Schwamm, der alle Eindrücke aus seinem Hirn wegwischte. Der starke, süßliche Geruch in der feuchten Luft erfüllte ihn mit Trägheit und Melancholie.
Langsam zog er sich aus und legte sich ins Bett. Ganz schwach nur erreichte ihn der Hyazinthenduft, so schwach, dass er nicht mehr wusste, ob es nicht vielleicht Einbildung sei.
Das Büro des Majors war ein großes, weiß bemaltes Zimmer mit Spiegeln an allen vier Wänden, so dass Andrews, während er, die Mütze in der Hand, wartete, den kleinen, rundlichen Major mit seinem rosigen Gesicht und seiner Glatze nach zwei Seiten hin in dem grauen Glanz der Spiegel bis ins Unendliche vervielfacht sehen konnte.
«Was wollen Sie?» fragte der Major und schaute von den Papieren auf, die zur Unterzeichnung vor ihm lagen.
Andrews trat an den Schreibtisch heran. An beiden Seiten des Zimmers trat eine endlos oft wiederholte magere Gestalt in grauer Kleidung an endlose Mahagonischreibtische heran, die ineinander verschwammen in einer endlosen, staubigen Perspektive.
«Würden Sie so freundlich sein, dies Gesuch um Entlassung weiterzugeben, Herr Major?»
«Wie viele Angehörige werden von Ihnen erhalten?» murmelte der Major durch die Zähne.
«Keiner. Es handelt sich um Entlassung in Frankreich, um Musik zu studieren.»
«Is nicht. Sie brauchen eine Bestätigung, dass Sie sich selbst erhalten können, dass Sie sich ernähren können, und dass Sie genügend Geld haben, um Ihr Studium fortzusetzen. Glauben Sie, dass Sie Talent haben? Man muss sehr viel Talent haben, um Musik studieren zu können.»
«Zu Befehl, Herr Major!... Aber brauche ich außer einer solchen Bestätigung noch irgend etwas anderes?»
«Nein. Wird dann wohl ziemlich schnell erledigt werden. Wir freuen uns, anständige Leute entlassen zu können. Wir freuen uns, jeden Mann entlassen zu können, der sich anständig aufgeführt hat. Williams!» «Zu Befehl, Herr Majori»
Ein Sergeant kam herüber von einem kleinen Tisch an der Tür.
«Zeigen Sie dem Mann hier, was er braucht, um in Frankreich entlassen zu werden.»
Andrews salutierte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er die endlosen Figuren in den Spiegeln, die in dem endlosen Korridor endlos salutierten.
Als er auf die Straße hinauskam vor das große, weiße Gebäude, in dem das Büro des Majors war, überkam ihn ein drückendes Gefühl der Hilflosigkeit. Da waren viele Automobile verschiedener Größe und Formen, Limousinen, Runabouts, Tourenwagen, einer hinter dem anderen, alle olivfarben angemalt und peinlich genau mit weißen Nummern bezeichnet. Dann und wann kam jemand aus dem großen Marmorgebäude heraus, Gamaschen und Koppel auf Hochglanz poliert, und stürzte sich in ein Auto, oder ein lärmendes Motorrad hielt mit einem Ruck vor der großen Tür an, und ein Offizier mit Motorbrille und schmutzbedecktem Mantel sprang ab; er konnte sich sehr gut vorstellen, wie der Offizier durch weite Hallen hindurchschritt, wo aus jeder Tür das befehlshaberische Ticken einer Schreibmaschine kam, wo Papiere hochgetürmt auf gelb polierten Schreibtischen lagen, wo bleichgelbe Schreiber in Uniformen in den Räumen herumlungerten, wo die vier Wände vom Boden bis zur Decke mit Karteikästen bedeckt waren. Und jeden Tag wurde mehr Papier hinzugefügt, wurden in die kleinen Kästen der Kartotheken mehr Indexkarten hineingeschoben. Es schien Andrews, dass das glänzend, weiße Marmorgebäude von all dem darin aufgehäuften Papier platzen und die breite Straße mit Lawinen von Indexkarten überfluten müsse.
«Knöpfen Sie Ihren Mantel zu!» schnarrte eine Stimme in sein Ohr.
Andrews sah plötzlich auf. Ein Militärpolizist mit einem roh aussehenden Gesicht, in dem eine lange, scharfe Nase stand, kam auf ihn zu. Andrews knöpfte seinen Mantel zu, sagte aber nichts.
«Lungern Sie hier nicht so rum!» schrie der Militärpolizist hinter ihm her.
Andrews wurde rot und ging weg, ohne den Kopf zu wenden. Die Erniedrigung erbitterte ihn; eine wütende Stimme in ihm sagte immer und immer wieder: Du bist ein Feigling, du hättest dich dagegen auflehnen sollen.
Groteske Bilder von Revolten flammten durch sein Bewusstsein, bis er sich daran erinnerte, dass, als er noch sehr klein war, derselbe aufrührerische Stolz ihn ergriffen und gepeinigt hatte, wenn er irgendeinen Zusammenstoß mit einem älteren Menschen gehabt hatte. Hilflose Verzweiflung flatterte in ihm wie ein Vogel, der vergeblich gegen den Draht seines Käfigs mit den Flügeln schlägt. Gab es keinen Ausweg, keine Bewegung der Empörung dagegen? Muss man Tag für Tag so weiter leben, die Erbitterung hinunterwürgen, die jedes neue Zeichen der Sklaverei neu ins Bewusstsein bringt?
Er ging aufgeregt durch den Jardin des Tuileries, der voller kleiner Kinder und Frauen mit Hunden und Kindermädchen mit gestärkten weißen Hauben war. Dort traf er Geneviève Rod und ihre Mutter. Geneviève war grau angezogen, etwas zu elegant für Andrews' Geschmack. Madame Rod trag Schwarz. Vor ihnen lief ein schwarzer Terrier hin und her auf nervösen kleinen Beinen, die wie Stahlfedern zitterten.
«Ist er nicht herrlich, dieser Morgen?» rief Geneviève.
«Ich wusste nicht, dass Sie einen Hund haben!»
«Oh, wir gehen nie aus ohne Santo. Ein Schutz für zwei einsame Frauen, wissen Sie», sagte Madame Rod lächelnd. «Komm, Santo, dis bon jour à monsieur.»
«Er ist gewöhnlich in Poissac», sagte Geneviève.
Der kleine Hund bellte Andrews wütend an mit einem schrillen Bellen, das wie das Schreien eines Kindes klang.
«Der weiß, dass er einem Soldaten eigentlich nicht so recht trauen sollte... Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Soldaten gern mit ihm tauschen würden, wenn sie Gelegenheit dazu hätten... Viens, Santo, viens, Santo... Willst du mit mir tauschen, Santo?»
«Sie sehen aus, als ob Sie mit jemand gestritten hätten», sagte Geneviève Rod leichthin.
«Mit mir selbst. Ich werde ein Buch über Sklavenpsychologie schreiben. Das müsste eigentlich sehr amüsant sein», sagte Andrews mit rauer, atemloser Stimme.
«Aber wir müssen uns beeilen, meine Liebe, wir werden zu spät zum Schneider kommen», warf Madame Rod ein. Sie hielt ihre schwarz behandschuhte Hand Andrews hin.
«Wir werden heute Nachmittag zum Tee zu Hause sein. Sie könnten mir etwas aus der <Königin von Saba> vorspielen», sagte Geneviève.
«Ich fürchte, ich werde nicht dazu fähig sein. Aber man kann ja nie wissen. Danke schön.»
Er fühlte sich frei, als sie fort waren. Er hatte Angst gehabt, er würde in irgendeine kindische Tirade ausbrechen. Wie schade, dass Henslowe noch nicht zurück war! Dem hätte er all seine Verzweiflung ausschütten können. Er hatte es schon oft getan, und Henslowe war jetzt entlassen!
Müde stellte Andrews fest, dass er jetzt wieder intrigieren müsse, wie er intrigiert hatte, um nach Paris zu kommen. Er dachte an das weiße Marmorgebäude und die Offiziere und ihre glänzenden Stiefel, die ein und aus gingen, und an die Schreibmaschinen, die in jedem Zimmer tippten, und seine Hilflosigkeit gegenüber all diesen Dingen ließ ihn zittern.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er lief die Treppen hinunter zur Metro. Aubrey würde schon im Crillon jemanden kennen, der ihm helfen könnte.
Aber als der Zug den Concorde-Bahnhof erreichte, hatte er nicht genug Willenskraft, um auszusteigen. Er fühlte einen heftigen Widerwillen gegen jede Anstrengung dieser Art. Welchen Sinn hatte es, sich selbst zu erniedrigen und andere um Gefälligkeiten zu bitten! Es war sowieso hoffnungslos. In einem wilden Ausbruch von Stolz rief eine innere Stimme ihm zu, dass er, John Andrews, keine Scham kennen dürfe, weil er intensiver als die übrigen lebte, mehr Schmerzen und mehr Freude litt, die Kraft hatte, seinen Schmerz und seine Freude auszudrücken und deshalb seinen Willen denen, die ihn umgaben, aufzwingen solle. «Psychologie der Sklaverei», stellte Andrews fest und zerblies die Seifenblase seines Egoismus.
Der Zug hatte die Porte Maillot erreicht.
Andrews blieb auf dem sonnigen Boulevard vor der Metrostation stehen, wo an den Platanen bereits winzige goldbraune Blättchen zu sehen waren, er sog die Düfte eines Blumenstandes ein, vor dem eine Frau stand und mit geschickten, zerstreuten Gebärden ein Veilchensträußchen nach dem anderen band. Er fühlte plötzlich den heißen Wunsch, auf dem Lande zu sein, weit weg von Häusern und Menschen. Frauen und Männer standen Schlange, um Fahrkarten nach St. Germain zu kaufen. Immer noch unschlüssig, reihte er sich ihnen an, und auf einmal, fast ohne es beabsichtigt zu haben, holperte er durch Neuilly in dem grünen Anhänger, der wie ein Entenschwanz wackelte, wenn der elektrische Triebwagen schneller fuhr.
Er erinnerte sich an seinen letzten Ausflug zusammen mit Jeanne in diesem selben Wagen und bedauerte betrübt, dass es ihm nicht gelungen war, sich in sie zu verlieben, sich und die Armee und alles über einer tollen, romantischen Liebe zu vergessen.
Als er in St. Germain ausstieg, hatte er aufgehört, seine Gedanken zu formulieren. Dumpfe Verzweiflung pochte in ihm wie eine infizierte Wunde.
Er setzte sich für eine Weile in das Café gegenüber dem Schloss, betrachtete die hellroten Mauern und die kräftigen, mit Steinblöcken umrahmten Fenster und die luftigen Türmchen und Schornsteine, die über die klassische Balustrade mit ihren großen Urnen am Dachrand emporragten. Der Park hinter dem hohen Eisengitter lag von rötlichen und fahlen Strichen durchkreuzt im Nebel des frischen Laubes. Hatten sie wirklich intensiver gelebt, diese Renaissancemenschen? Beinahe glaubte er auf dem stillen Platz vor dem Tor des Châteaus Männer mit Federhüten und kurzen Mänteln und kunstvoll bestickten Röcken, die Hand am Degengriff, umherstolzieren zu sehen. Und er dachte an den großen, jähen Freiheitssturm, der aus Italien herangebraust kam, und vor dessen Anhauch Dogmen und Sklaverei in Staub zerfielen. Im Gegensatz dazu kam ihm die heutige Welt jämmerlich dürr vor. Neben dem gewaltigen Ausmaß der von ihnen erfundenen technischen Apparaturen schienen die Menschen an Statur verloren zu haben. Michelangelo, da Vinci, Aretino, Allini — würden je wieder kraftvolle Gestalten so die Welt beherrschen? Heutzutage war alles Gewimmel, ein Menschengedränge. Die Menschen waren zu Ameisen geworden. Vielleicht mussten die Massen unvermeidlich in immer tiefere Sklaverei versinken. Wer auch siegte, die Tyrannei von oben oder die spontane Organisation von unten, Individuen konnte es nicht mehr geben.
Andrews ging durchs Tor in den Park. Auf einigen Beeten blühten Maßliebchen. Zwischen den dunklen Reihen der Ulmenstämme war ein heller Himmel zu sehen, vor dem sich hier und dort eine moosgrüne Statue abzeichnete. Am Ende einer Allee trat er auf eine Terrasse hinaus. Jenseits der kräftig geschwungenen, eisernen Balustrade lag flaches Land, hellgrün, gegen den Horizont zu ins Blaue hinabgleitend, mit rosaroten und schiefergrauen Häusern betupft und von Eisenbahngleisen durchsägt. Zu seinen Füssen glitzerte die Seine wie die Klinge eines Krummsäbels.
Mit langen Schritten überquerte er die Terrasse und folgte einem Weg, der in den Wald einbog. Er vergaß die monotone Tretmühle seiner Gedanken über der Wärme, die der schnelle Marsch durch seinen ganzen Körper jagte, über der raschelnden Stille des Waldes, wo das Moos an der Nordseite der Baumstämme smaragdgrün war und der Himmel hinter dem lavendelfarbenen Flechtwerk der Zweige von einem weichen Grau. Der grüne, knorrige Wald erinnerte ihn an den ersten Akt von Pelléas. Mit aufgeknöpftem Waffenrock, das Hemd am Hals geöffnet, die Hände tief in die Taschen vergraben, schritt er dahin, pfeifend wie ein Schuljunge.
Nach einer Stunde kam er auf eine Landstraße hinaus und ging plötzlich neben einem zweirädrigen Karren her, der genau mit ihm Schritt hielt, so sehr er sich auch bemühte, ihn zu überholen. Nach einer Weile beugte ein junger Mann sich heraus:
«He, l'Américain, vous voulez monter?»
«Wohin fahren Sie?»
«Nach Conflans Ste.-Honorine.»
«Wo ist denn das?»
Der Junge zeigte mit der Peitsche über den Kopf des Pferdes nach vorn. «Schön», sagte Andrews.
«Das sind Kartoffeln», sagte der Junge. «Machen Sie sich's bequem.»
Andrews bot ihm eine Zigarette an, die er mit lehmigen Fingern entgegennahm. Er hatte ein breites Gesicht, rote Backen und plumpe Züge. Rötlichbraunes Haar sträubte sich strähnig unter einem lehmbespritzten Beret.
«Wo, sagten Sie, dass Sie hinfahren?»
«Conflans Ste.-Honorine. So dumm, alle diese Heiligen, wie?» Andrews lachte.
«Wo wollen denn Sie hin?» fragte der junge Mann.
«Ich weiß es nicht. Ich habe einen Spaziergang gemacht.» Der Junge beugte sich zu Andrews und flüsterte ihm ins Ohr: «Deserteur?»
«Nein... Ich hatte einen Tag frei und wollte mich in der Gegend umschauen.»
«Ich habe mir eben gedacht, wenn Sie Deserteur wären, könnte ich Ihnen vielleicht behilflich sein. Es muss sehr dumm sein, als Soldat herumzulaufen. Ein Hundeleben... Aber es gefällt Ihnen hier auf dem Land? Mir auch. Aber man kann es eigentlich nicht Land nennen. Ich bin nicht von hier, ich bin aus der Bretagne. Dort ist man richtig auf dem Land. Hier ist Paris zu nahe, hier erstickt man, so viele Menschen, so viele Häuser.»
«Ich finde es wunderbar.»
«Weil Sie Soldat sind. Schöner als in der Kaserne, hein? So ein Hundeleben. Ich werde nie Soldat werden. Ich gehe zur Handelsmarine, und wenn ich dienen muss, diene ich zur See.»
«Das dürfte angenehmer sein.»
«Man hat mehr Freiheit. Und das Meer... Wissen Sie, wir Bretonen, wir sterben alle am Meer oder am Schnaps.» Sie lachten.
«Sind Sie schon lange in dieser Gegend?» fragte Andrews.
«Seit sechs Monaten. Die Feldarbeit ist langweilig. Ich bin jetzt Vorarbeiter in einem Obstgarten, aber nicht mehr lange. Mein Bruder fährt auf einem Segelschiff. Sowie er nach Bordeaux zurückkehrt, lasse ich mich auf demselben Schiff anheuern.»
«Wohin denn?»
«Nach Südamerika — nach Peru — wie soll ich das wissen?» «Ich würde gern auf einem Segelschiff fahren», sagte Andrews.
«Ja? Ich finde es wunderbar, zu reisen und neue Länder zu sehen. Und vielleicht bleibe ich drüben.» «Wo?»
«Wie soll ich das wissen? Das heißt, wenn es mir gefällt... Das Leben in Europa ist mau.»
«Man erstickt», sagte Andrews langsam. «Diese vielen Völker, dieser Hass überall. Aber — es ist trotzdem sehr schön. In Amerika ist das Leben hässlich.»
«Trinken wir ein Glas. Dort ist ein Bistro!»
Der Bursche sprang vom Karren herunter und band das
Pferd an einen Baum. Sie gingen in eine kleine Weinkneipe mit einer Theke und einem winzigen viereckigen Eichentisch.
«Aber werden Sie sich denn nicht verspäten?» sagte Andrews. «Das ist mir egal. Ich plaudere gern. Sie auch?» «Ja, sicher.»
Sie bestellten Wein bei einer alten Frau in einer grünen Schürze. Wenn sie sprach, guckten ihr drei gelbe Zähne aus dem Mund.
«Ich habe noch nichts gegessen», sagte Andrews.
«Einen Augenblick.» Der Junge lief zu dem Karren hinaus und kehrte mit einem Leinenbeutel zurück, aus dem er ein halbes Brot und ein Stück Käse nahm.
«Ich heiße Marcel», sagte der Junge, nachdem sie eine Weile dagesessen und Wein getrunken hatten.
«Ich heiße Jean... Jean Andre.»
«Ich habe einen Bruder, der heißt Jean, und mein Vater heißt Andre. Das ist nett, nein?»
«Aber es muss doch wunderbar sein, in einem Obstgarten zu arbeiten», sagte Andrews, ein Käsebrot kauend.
«Gut bezahlt. Aber man bekommt es satt, immerzu an derselben Stelle zu sein. In der Bretagne ist das ganz anders...» Marcel hielt inne. Er schaukelte ein wenig auf dem Stuhl hin und her und hielt sich zwischen den Beinen am Sitz fest. Ein seltsamer Glanz trat in seine grauen Augen. «Dort», fuhr er mit leiser Stimme fort, «ist es auf den Feldern so still, und von jeder Anhöhe aus sieht man das Meer... Das habe ich gern, Sie nicht auch?» fragte er lächelnd.
«Sie dürfen von Glück sagen, dass Sie ein freier Mensch sind», sagte Andrews erbittert. Er hatte das Gefühl, er müsse in Tränen ausbrechen.
«Aber Sie werden doch sehr bald demobilisiert werden. Die Schlächterei ist vorüber. Dann können Sie zu Ihren Leuten nach Hause fahren. Das wird doch schön sein, hein?»
«Wer weiß. Es ist nicht weit genug weg. Bin unruhig!»
«Was erwarten Sie denn?»
Es begann leicht zu regnen. Sie kletterten wieder auf die Kartoffelsäcke, und das Pferd begann munter dahinzutrotten. Seine mageren braunen Flanken glitzerten ein wenig im Regen.
«Kommen Sie oft hier raus?» fragte Marcel.
«Jetzt werde ich öfters hierherkommen. Es ist die hübscheste Gegend in der Nähe von Paris.»
«Dann kommen Sie mal an einem Sonntag, und ich führe Sie herum. Das Schloss ist sehr schön. Und dann schauen wir uns Malmaison an, wo der Große Kaiser mit der Kaiserin Josephine gewohnt hat.»
Plötzlich erinnerte sich Andrews an Jeannes Ansichtskarte. Heute war Mittwoch. Er stellte sich ihre schwarze Gestalt vor in der Menschenmenge auf dem Pflaster vor dem Café Rohan. Natürlich hatte es so kommen müssen. Verzweiflung überfiel ihn, so hilflos, dass es fast angenehm war.
«Und die Mädchen?» fragte er plötzlich, «sind sie hier hübsch?»
Marcel zuckte die Achseln.
«Wenn man Geld hat, ist kein Mangel an Mädchen», sagte er.
Andrews schämte sich, ohne genau zu wissen, warum.
«Mein Bruder schreibt, dass in Südamerika die Frauen sehr braun und sehr hitzig sind», fügte Marcel mit einem versonnenen Lächeln hinzu. «Aber reisen und lesen, das macht mir Spaß... Passen Sie auf, wenn Sie den Zug nach Paris erwischen wollen... » Marcel brachte das Pferd zum Stehen. «Wenn Sie mit dem Zug fahren wollen, gehen Sie hier quer übers Feld und folgen dann der Straße links, bis Sie an den Fluss kommen. Dort gibt es eine Fähre. Der Ort heißt Herblay und hat einen Bahnhof... Jeden Sonntag bin ich bis zwölf Uhr in der Rue de Evéques Nummer drei in Reuil anzutreffen. Sie müssen kommen und mit mir spazieren gehen.»
Sie reichten einander die Hände, und Andrews marschierte über die nassen Felder davon. Marcels Geplauder hatte in ihm ein seltsam zärtliches und versonnenes Echo hinterlassen, das er nicht analysieren konnte. Über alles hinaus spürte er auf wunderliche Art den großen, freien Rhythmus des Meeres.
Dann erinnerte er sich, wie er heute früh im Büro des Majors gestanden hatte, hilflos und unterwürfig vor dem blankpolierten Mahagonischreibtisch, seine magere Gestalt endlos in den Spiegeln vervielfacht. Sogar hier draußen auf den Feldern, wo die feuchte Erde zu bersten schien von frisch sprossendem Wachstum, war er nicht frei. In jenen Bürogebäuden mit den weißen Marmorsälen und dem Klacken der Offiziersstiefel, in Karteikarten und Stößen maschinengeschriebener Akten lag sein wirkliches Ich, das sie auslöschen konnten, wenn es ihnen behagte, sein Name und seine Nummer neben Millionen anderer Namen und Nummern. Sein fühlender Leib, voller Möglichkeiten und Hoffnungen und Begierden, war nur ein blasses Gespenst, abhängig von dem anderen Ich, um seinetwillen gequält und erniedrigt. Er konnte die Erinnerung nicht loswerden, wie er dagestanden hatte, hager, in der schlechtsitzenden Uniform, sein Bild endlos in den beiden Spiegeln in dem weißgestrichenen Büro des Majors vervielfacht.
Plötzlich sah er zwischen den kahlen Pappeln die Seine.
Er eilte die Straße entlang, trat ab und zu in eine glitzernde Pfütze, bis er zur Landungsstelle kam. Der Fluss war hier sehr breit, silbergrau, mit mattgrünen und violetten Streifen durchzogen und vom Abendhimmel her mit strohgelbem Schimmer gefärbt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer standen kahle Pappeln, dahinter kletterten Gruppen brauner Häuser einen grünen Hang zu einer Kirche empor, und das alles spiegelte sich verkehrt in dem buntgestreiften Fluss. Der Wasserstand war recht hoch, das Wasser staute sich an den Ufern, so wie es sich über den Rand eines übervollen Glases wölbt. Aus den Wellen kam ein unaufhörliches Rauschen und Rascheln, das sich mit stillem Rhythmus in Andrews' Ohren hob und senkte.
Andrews vergaß alles über der mächtigen Melodienwelle, die sich stürmisch in ihm emporbäumte, mit dem heißen Blut durch seine Adern jagte, mit den bunten Streifen des Flusses und des Himmels durch seine Augen, mit dem Rhythmus des brausenden Flusses durch seine Ohren.
5
«So, ich komme ohne!» sagte Andrews lachend.
«Wie lustig!» rief Geneviève. «Aber man wird Ihnen auch so nichts tun können. Chartres ist sehr nah; es liegt vor den Toren von Paris.»
Sie waren allein im Abteil. Der Zug fuhr aus der Station hinaus und durch Vorstädte, wo die Bäume in den Gärten voller Blätter standen und Obstbäume weiß über den roten Ziegelwällen zwischen den schachteiförmigen Villen schäumten.
«Wie dem auch sei», sagte Andrews, «es war eine Gelegenheit, die man nicht versäumt haben möchte.»
«Das muss ja eines der amüsantesten Dinge im Soldatenleben sein, Verordnungen zu umgehen. Wahrscheinlich hat Damokles viel Spaß gehabt an dem Schwert über seinem Haupt. Glauben Sie nicht auch?»
Sie lachten.
«Aber meine Mutter hat ihre Bedenken gegen diese Ausfahrt mit Ihnen. Sie will sehr modern und liberal sein, aber im letzten Augenblick erschrickt sie immer. Und meine Tante wird an Weltuntergang denken, wenn wir erscheinen.»
Sie fuhren durch einige Tunnels, und als der Zug in Sèvres hielt, schauten sie in das Seinetal, wo der blaue Nebel eine Patinaschicht über das sanfte Grün neuer Blätter gelegt hatte. Dann fuhr der Zug durch weite Ebenen voll blaugrünen Schimmers junger Eichen und dem goldenen Grün frischer Weizenfelder, wo der Nebel am Horizont purpurn verfärbt war. Der blaue Schatten des Zuges eilte neben ihnen einher über Gras und über Zäune.
«Wie schön ist es, am frühen Morgen aus der Stadt herauszufahren... Hat Ihre Tante ein Klavier?»
«Ja, ein sehr altes und klappriges.»
«Es würde sehr schön sein, Ihnen all das, was ich bisher an der <Königin von Saba> gearbeitet habe, vorzuspielen. Sie können mir sehr viel helfen.»
«Ja, ich bin an Ihrer Arbeit sehr interessiert. Ich denke, Sie werden es eines Tages zu etwas bringen.»
Andrews zuckte die Achseln.
Sie saßen schweigend in dem ruckenden Rhythmus der Räder auf den Schienen, schauten sich dann und wann fast verstohlen an. Draußen hinter den Telegraphenmasten und dem Draht, auf dem die Sonne rote Kupferstreifen abmalte, glitten Felder und Hecken und blühende Landflecken und mit zartem Grün bepuderte Pappeln vorbei. Andrews entdeckte plötzlich, dass der kupferige Glanz der Telegraphendrähte derselbe war, wie der Glanz in Genevièves Haar.
Berenike, Artemisia, Arsinoe! Die Namen krochen langsam in sein Bewusstsein, so dass er sich, als er aus dem Fenster hinausschaute auf die langen Kurven der Telegraphendrähte, die aufzusteigen und wieder zu fallen schienen im Vorbeifahren, ihr
Gesicht vorstellen konnte mit den großen, hellbraunen Augen, dem kleinen Mund und der breiten, glatten Stirn, plötzlich erstarrt zur Glasurmalerei auf dem Mumiensarg einer jungen Alexandrinerin.
«Sagen Sie mir», fragte sie, «wann begannen Sie Musik zu schreiben?»
Andrews strich sich das in Unordnung geratene Haar von der Stirn.
«Ich glaube, ich habe heute morgen vergessen, mir das Haar zu kämmen. Sie sehen, wie mich die Vorstellung begeisterte, mit Ihnen nach Chartres zu fahren, so allein.»
Sie lachten.
«Aber meine Mutter hat mich im Klavierspielen unterrichtet, als ich noch ganz klein war», fuhr er ernst fort. «Wir wohnten allein in dem alten Haus in Virginia, das ihrer Familie gehörte. Wie das von alledem, was Sie bisher erlebt haben, verschieden sein mag! In Europa wäre es unmöglich, so isoliert zu sein, wie wir in Virginia waren... Mutter war sehr unglücklich, ihr Leben war entsetzlich zugrunde gerichtet worden... Jenes unbefreite, hilflose Elend, das nur eine Frau erleben kann. Sie pflegte mir Geschichten zu erzählen, und ich machte mir daraus kleine Liedchen zurecht — und auch sonst aus allen möglichen Themen. Mein größter Erfolg», fuhr er lachend fort, «war ein Lied an einen Löwenzahn... Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Mutter die Lippen schürzte und sich über den Schreibtisch beugte... Sie war sehr groß, und da es in unserem alten Wohnzimmer sehr dunkel war, musste sie sich weit vorbeugen, um etwas zu sehen... Sie pflegte stundenlang wundervolle Kopien meiner Melodien zu machen. Meine Mutter ist der einzige Mensch, der je in meinem Leben eine wirkliche Bedeutung hatte... Aber ich entbehre das technische Training sehr.»
«Glauben Sie, dass das so wichtig ist?» fragte Geneviève und beugte sich zu ihm hinüber, damit er sie im Rattern des fahrenden Zuges verstünde.
«Vielleicht; ich weiß nicht.»
«Aber ich glaube, es kommt immer früher oder später, wenn man nur intensiv genug fühlt.»
«Dennoch, es ist so entsetzlich, zu fühlen, dass alles, was man sagen will, einem entgleitet. Eine Idee kommt einem in den Kopf, und man fühlt sie wachsen und wachsen und kann sie nicht fassen. Es ist wie an einer Straßenecke stehen und eine ungeheure Prozession herankommen sehen, ohne in der Lage zu sein, sich ihr anzuschließen. Oder wie eine Flasche Bier zu öffnen, dass der Schaum herausspritzt, ohne ein Glas zu haben um es hineinzugießen.»
Geneviève brach in Lachen aus:
«Aber Sie können doch aus der Flasche trinken», sagte sie mit leuchtenden Augen.
«Ich versuche es ja», erwiderte Andrews.
«Hier sind wir. Da ist die Kathedrale! Nein, man sieht sie noch nicht!» rief Geneviève aus.
Sie standen auf. Als sie den Bahnhof verließen, sagte Andrews: «Aber nach alledem: das einzige, was wichtig ist, ist die Freiheit. Wenn ich erst aus der Armee heraus sein werde...!»
«Ja, Sie haben recht. Wenigstens was Sie betrifft. Der Künstler sollte frei sein. Von jedem Hindernis.»
«Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Künstler und irgendeinem anderen Arbeiter», sagte Andrews aufgebracht.
«Nein, aber schauen Sie!»
Von dem Platz, wo sie standen, über den grünen Kronen eines kleinen Parkes, konnten sie die Kathedrale sehen, cremegelb und rotbraun, mit dem strengen Turm und dem verzierten, und der großen Fensterrose dazwischen, die ganze Steinmasse, wie sie lässig dastand, knietief in den dichtgedrängten Dächern der Stadt.
Sie standen Schulter an Schulter und schauten sich an, ohne zu sprechen.
Nachmittags gingen sie den Hügel hinunter zum Fluss, der zwischen Häusern und Mühlen, aus denen das Geräusch mahlender Räder kam, hindurchfloß. Über ihnen und über den Gärten mit in voller Blüte stehenden Birnbäumen stieß die Kathedrale in den bleichen Himmel. Auf einer engen und sehr alten Brücke blieben sie stehen und schauten in das Wasser, das blau und grün und grau schimmerte vom Himmel und von den frischen Blättern der Weidenbäume, die am Ufer standen.
Ihre Sinne waren von der Schönheit des Tages und von der ungeheuren Herrlichkeit der Kathedrale erfüllt. Müde von alledem, was sie gesehen und gesagt hatten, sprachen sie von der Zukunft mit ruhigen Stimmen.
«Man muss an Arbeit gewöhnt sein», sagte Andrews. «Man muss ein Sklave sein, wenn man was zustande bringen will. Es kommt darauf an, sich den richtigen Meister zu wählen, meinen Sie nicht?»
«Ja. Ich glaube, dass alle die, die das Leben der Menschen irgendwie mitgeformt haben, in irgendeinem Sinne Sklaven waren», sagte Geneviève langsam. «Jeder muss sehr viel vom Leben aufgeben, um intensiv leben zu können. Aber es lohnt sich!»
Sie sah Andrews voll in die Augen.
«Ich glaube auch, es lohnt sich. Aber Sie müssen mir helfen. Ich bin wie ein Mensch, der aus einem dunklen Keller ins Licht kommt. Bin fast geblendet, so strahlend ist alles. Aber ich bin doch wenigstens aus dem Keller heraus.»
«Sehen Sie, da sprang ein Fisch!» schrie Geneviève.
«Ob wir nicht ein Boot mieten können? Glauben Sie nicht auch, es wäre schön, hier in einem Boot hinauszufahren?»
Eine Stimme übertönte Genevièves Antwort: «Zeigen Sie Ihren Pass her!»
Andrews wandte sich um. Ein Soldat mit einem runden, braunen Gesicht und roten Backen stand neben ihm auf der Brücke. Andrews starrte ihn an. Eine kleine Narbe oberhalb seines linken Auges stand weiß auf seiner braunen Haut.
«Zeigen Sie Ihren Pass her!» sagte der Mann wieder. Er hatte eine hohe, quietschige Stimme. Andrews fühlte sein Blut in den Ohren pochen.
«Sind Sie ein M. P.?»
«Ja.»
«Ich gehöre der Sorbonne-Abteilung an.» «Was ist denn das für'n Dings?» fragte der Militärgendarm lachend.
«Was sagt er?» fragte Geneviève und versuchte zu lächeln.
«Nichts. Ich muss mit dem Offizier sprechen und ihm erklären», sagte Andrews atemlos. «Gehen Sie zu Ihrer Tante. Ich komme hin, sobald ich die Sache in Ordnung gebracht habe.»
«Nein, ich komme mit Ihnen.»
«Bitte, gehen Sie zurück. Es kann ernst sein. Ich komme, so schnell ich kann», sagte Andrews bestimmt.
Sie ging den Hügel hinauf mit schnellen, bestimmten Schritten, ohne sich umzusehen.
«Pech gehabt, Jüngelchen», sagte der M. P. «Das Weib sah anständig aus. Hätte sie gern 'ne halbe Stunde für mich allein gehabt.»
«Ich gehöre der Sorbonne-Scbulabteilung an, in Paris, und ich bin hier ohne einen Pass. Was kann ich da tun?»
«Die werden dir schon was beibringen, mein Lieber», schrie der M. P. schrill. «Du bist doch nicht etwa ein Mitglied des Generalstabes in Verkleidung, he? Schulabteilung! Bill Huggis, der wird lachen, wenn er das hört. Guter Witz, Bürschchen... Aber komm' nur mit», fügte er vertraulich hinzu. «Wenn du keinen Widerstand leistest, werde ich dir keine Handschellen anlegen.»
«Woher weiß ich, dass Sie überhaupt Militärpolizist sind?» «Wirst schon bald genug wissen.»
Sie gingen eine enge Straße hinunter, zwischen grauen Stuckwänden, die mit Moos bewachsen waren.
Auf einem Stuhl hinter dem Fenster eines kleinen Weinladens saß ein Mann mit einem roten Militärpolizei-Abzeichen, rauchend. Er stand auf, als er sie kommen sah und öffnete die Tür, die eine Hand lauernd auf die Pistolentasche gestützt.
«Da habe ich 'n Vögelchen gefangen, Bill», sagte der andere und schob Andrews roh durch die Tür. «Gut gemacht, Handsome. Is' er still?» «Hm», grunzte Handsome.
«Setz dich dahin. Wenn du dich bewegst, kriegst ne Kugel in den Nischel.»
Der Militärpolizist schob den vierkantigen Unterkiefer vor. Er hatte eine schmutzige Haut, die unterhalb der grauen, starren Augen gedunsen war.
«Der sagt, er sei aus irgendeiner Schulabteilung. Wohl das erste Mal, dass sie'n erwischt haben, was?»
«Schulabteilung! Meinst du 'ne Offiziersschule?» Bill sank lachend in seinen Stuhl am Fenster und streckte die Beine weit von sich.
«Gut gemacht, was?» brüllte Handsome, schrill lachend. «Hast du Papiere bei dir? Musst doch irgendwelche Papiere haben!»
Andrews durchsuchte seine Taschen. Er wurde rot. «Ich sollte eigentlich einen Schulpass bei mir haben.»
«Das solltest du. Gott, ist der Kerl blöd!» sagte Bill. Er lehnte sich tief in seinen Stuhl zurück und blies den Rauch durch die Nase.
«Schau dir mal seine Hundemarke an, Handsome!» Der Mann ging hinüber zu Andrews und riss ihm die Uniform auf.
Andrews wich mit den Schultern zurück. «Ich habe vergessen, sie heute morgen umzunehmen.» «Keine Marke, keine Abzeichen.» «Doch, Infanterie.» «Keine Papiere...»
«Der ist bestimmt schon 'ne ganze Zeit unterwegs», sagte Handsome nachdenklich.
«Lege ihm lieber die Handschellen an», brummte Bill gähnend.
«Wollen noch 'n wenig warten. Wann kommt der Leutnant?»
«Erst nachts.»
«Sicher?»
«Ja. 's kommt vorher kein Zug.» «Was meinst du zu 'nem Schnaps, Bill?» «Der Hund da, der hat bestimmt Geld.» «Du spendierst uns doch 'n Glas Cognac, was, Schulabteilung?»
Andrews saß sehr steif auf seinem Stuhl und starrte sie an.
«Ja», sagte er. «Bestellen Sie sich, was Sie wollen.»
«Behalte ihn im Auge, Handsome. Man kann nie wissen, was so einer plötzlich gegen einen loslasst.»
Bill Huggis ging aus dem Zimmer mit schweren Schritten. Nach einem Augenblick kam er zurück und schwang eine Cognacflasche in der Hand.
«Habe der Madame erzählt, du bezahlst, Bürschchen», sagte der Mann, als er an Andrews' Stuhl vorbeiging. Andrews nickte. Die zwei Militärpolizisten setzten sich an den Tisch neben Andrews. Andrews musste sie immerzu ansehen. Bill Huggis summte, als er den Kork aus der Flasche zog:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
Wenn du lachst, dann trauerst du.»
Handsome beobachtete ihn grinsend. Plötzlich brachen sie beide in Lachen aus.
«Und dies Schwein denkt, er sei in einer Schulabteilung!» schrie Handsome mit seiner schrillen Stimme.
«Bürschchen, du wirst bald in einer anderen Sorte Abteilung sein», lachte Bill Huggis.
Er begoß sein Lachen mit einem langen Schluck aus der Flasche. Dann schmatzte er mit den Lippen. «Verdammt, nicht so übel», sagte er, und dann fing er an vor sich hinzusummen:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
Wenn du lachst, dann trauerst du.»
«Willst auch n Schluck, Bürschchen?» sagte Handsome und schob die Flasche Andrews zu.
«Überleg's dir richtig, Bürschchen. Wird verdammt lange dauern, bis du wieder solch' guten Cognac zu Gesicht kriegst», grollte Bill Huggis.
«Gut, ich nehme einen Schluck.»
Ein Gedanke war Andrews plötzlich in den Kopf gekommen. «Donnerwetter, der Hund kann ja Cognac trinken!» schrie Handsome.
«Hast du genug Geld, uns noch 'ne Flasche zu kaufen?»
Andrews nickte. Er wischte seinen Mund abwesend mit dem Taschentuch ab. Er hatte den Cognac getrunken, ohne ihn zu schmecken.
«Hol noch 'ne Flasche, Handsome», sagte Bill Huggis.
Eine purpurne Röte überzog den unteren Teil seiner Bakken. Als der andere zurückkam, brach er in Lachen aus.
«Das ist der letzte Cognac, den das Bürschchen da aus der Schulabteilung für lange Zeit kriegen wird. Trink ordentlich, Bürschchen... So was gibts da unten auf der Farm nicht... Schulabteilung!» Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schüttelte sich vor Lachen. Handsomes Gesicht war dunkelrot. Nur die Narbe über seinem Auge blieb weiß. Er fluchte leise, als er den Korken aus der Flasche herauszog. Andrews musste die Gesichter der Männer immer anschauen. Er sah von einem zum anderen, widerwillig. Dann und wann traten auf einen Augenblick die gelben und braunen Karos der Tapete und die Bar mit einigen leeren Flaschen in seinen Blick. Er versuchte die Flaschen zu zählen: eine, zwei, drei... Doch bald starrte er wieder in die glanzlosen, grauen Augen von Bill Huggis, der in seinen Stuhl zurückgelehnt lag. Rauch aus der Nase blasend, dann und warm nach der Cognacflasche greifend und immerzu schwach und undeutlich summend:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
Wenn du lachst, dann trauerst du.»
Handsome saß da mit den Ellbogen auf dem Tisch und das Kinn auf seine fleischigen Hände gestützt. Sein Gesicht war gerötet, aber die Haut sanft gerundet wie bei einer Frau.
Das Licht im Zimmer wurde langsam grau. Plötzlich sprang Andrews auf. Handsome war mit einem Satz neben ihm und packte ihn bei den Armen.
«Kann man denn hier nicht austreten?» fragte Andrews.
«Nimm den mit nach hinten und lass ihn nicht aus den Augen, hörst du? Das ist ein schläfriger Bursche.»
Als sie zurückkamen, stand Bill Huggis stramm. Ein junger Offizier mit weit gespreizten Beinen erfüllte die Mitte des Zimmers. Andrews ging an ihn heran.
«Ich bin in der Sorbonne-Abteilung, Paris, Herr Leutnant.»
«Sie wissen wohl noch nicht, dass Sie zu grüßen haben?» sagte der Offizier und sah ihn von oben bis unten an. «Einer von euch Kerls kann mal dem Aas das Grüßen beibringen», sagte er langsam.
Handsome machte einen Schritt vorwärts auf Andrews zu und schlug ihn mit der Faust zwischen die Augen. Sterne tanzten ihm plötzlich vor dem Gesicht, und das Zimmer wirbelte herum, hart schlug sein Kopf auf den Boden. Er stand wieder auf. Die Faust schlug ihn wieder auf dieselbe Stelle, blendete ihn, die drei Gestalten und das helle Rechteck des Fensters wirbelten durcheinander. Ein Stuhl krachte mit ihm zu Boden, und ein harter Stoß im Hinterkopf ließ auf einen Augenblick alles schwarz werden.
«Genug, lasst ihn zufrieden!» hörte er eine Stimme weit weg am Ende eines schwarzen Tunnels.
Ein ungeheures Gewicht schien ihn niederzuziehen, als er, von Tränen und Blut geblendet, aufzustehen versuchte.
Zuckende Schmerzen schossen wie Pfeile durch seinen Kopf, Handschellen lagen um seine Handgelenke.
«Steh auf!» schnarrte eine Stimme.
Er stand auf, schwaches Licht trat durch die strömenden Tränen in seine Augen. Seine Stirn brannte, als ob heiße Kohlen dagegen gepresst würden. «Achtung, Gefangener!» schrie die Stimme des Offiziers
«Marsch!»
Automatisch hob Andrews den einen Fuß und dann den anderen. Er fühlte in seinem Gesicht die kühle Luft der Straße. Auf beiden Seiten tönten die harten Schritte der Militärpolizisten. In ihm schrie eine Stimme, gellend, gellend. |
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