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Maria Leitner - Hotel Amerika (1930)
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Sechszehntes Kapitel

Die Korridore am Personalausgang haben sich wieder gefüllt.
Mit unglaublicher Schnelligkeit hat es sich herumgesprochen, dass die Kellner im Ballsaal in Streik treten wollen. Kam die Nachricht durch das Küchenpersonal oder die Garderobieren, kam sie durch die Speisenträger oder die Musiker? Jedenfalls gab es in kurzer Frist niemanden, der nicht von ihr wusste.
Sie wurde auch bald ausgeschmückt verbreitet, ins Fantastische vergrößert.
Man erzählt sich, dass die Kellner im Ballsaal alles kurz und klein schlügen, dass die Polizei benachrichtigt sei und dass man auf wahre Kämpfe vorbereitet sein müsse. Das Personal, das sich noch im Hotel aufhält und nicht arbeiten muss, fährt hinunter zum Ausgang, um letzte und authentische Berichte zu erhalten.
Sogar die alte Nanny erscheint, die sonst immer ihre freie Zeit regungslos sitzend in ihrem Zimmer oben verbringt. Sie hatte schon schwere Lohnkämpfe mitgemacht, bei denen auch Blut floss. Sie erzählt den Umstehenden davon, aber da sie keine Zähne im Mund hat, ist es schwer, sie zu verstehen.
Auch Celestina ist gekommen; sie war bisher oben geblieben, weil sie befürchtete, Shirley könnte meinen, die Mutter spioniere ihr nach. Nein, das wollte sie nicht mehr tun, denn sie hatte das untrügliche Gefühl, sie könne ihre Tochter nicht mehr verlieren.
Jemand sagt in der Nähe: „Die Kleine hat alle aufgewiegelt."
„Ja, wenn es anfängt unruhig zu werden, kommt es früher oder später doch zu einem Ausbruch." „Wenn die Leute anfangen zu sehen, ist es nicht so leicht, sie wieder blind zu machen." „Die Direktion wird unbarmherzig aufräumen." „Wenn wir es zulassen." „Pah, was können wir schon viel tun?" „Weil ihr nichts weiter sagen könnt, als dieses: ,was können wir schon tun'. Können wir auch wirklich nichts tun?" „Hast du vielleicht Lust zu streiken, wenn man die Kleine an die Luft setzt?"
„Es würde nicht nur dabei bleiben. Die Kellner werden der Gesellschaft schwerer im Magen liegen."
„Wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, will ich auch dabei sein."
„Aber dumm ist die Kleine doch nicht." „Vielleicht kann sie später noch einmal etwas Richtiges werden."
Celestina zweifelt nicht: man wird Shirley wegschicken und niemand wird versuchen, sie zu halten. Aber sie würde sich schon weiterhelfen können, sie ist jung und kann arbeiten. Shirley steht an die Wand gelehnt und spricht wieder mit Fritz. Ihre Blicke wandern unruhig umher. Wieder kommen neue Nachrichten aus dem Ballsaal. Man hätte die Forderungen der Kellner bewilligt. „Nun, freust du dich nicht, dass alles in Fluss kommt? Siehst du, wenn wir zusammenhalten und nur wollen, haben wir auch die Macht."
„Ich habe gehört, dass wir dumm sind. Ist es wahr, dass man vor unserer Nase Kriege vorbereitet und wir nichts davon merken?"
„Ich ahnte nicht, dass du soviel weißt. Hast du dich schon mit allen diesen Fragen beschäftigt?" „Ich weiß, dass man viel Geld haben muss, wenn man nicht will, dass einem Böses geschieht." „Du hast merkwürdige Gedanken."
„Ich habe da einiges gehört von jemandem, der sich als besonders klug aufgespielt hat, — aber er ist auch sicher klug, klüger als ich oder du."
„So, du bist ja sehr nett. Ich möchte ihn sehen, den du für so viel klüger hältst als mich."
„Vielleicht hast du ihn sogar gesehen. Siehst du, er hat auch nichts und lebt doch gut, genau so, als ob er reich wäre." „Und das hältst du für so besonders klug?" „Natürlich, wir müssen schwer arbeiten und haben doch nichts."
„Aber weißt du denn nicht, dass, wenn wir nur wollen, wir viel mächtiger und viel reicher werden können als der mächtigste, reichste Millionär? Dann könnte alles uns gehören, alles was wir sehen, alles was uns umgibt. Alles!" „Das glaub' ich nicht. Das ist ja gar nicht möglich." „Freilich würde uns das alles nicht in den Schoß fallen. Wir müssten dafür kämpfen, arbeiten, lernen." „Aber wie?"
„Ich werde dir die Bibliothek zeigen. Wir gehen zusammen hin. Du wirst sehen, wie viele Bücher es dort gibt. Liest du manchmal?"
„Nur Sachen, über die man lachen kann. Aber vielleicht ist auch anderes interessant. Wenn du es mir gut erklären kannst..."
„Wills du immer noch nicht ins Freie?" „Nein, ich muss noch warten."

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