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Maria Leitner - Hotel Amerika (1930)
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Zwölftes Kapitel

Ingrid steht vor dem Ausgang für die Hotelangestellten und blinzelt beglückt in die Sonne. Sie hat heute abend Inspektion, dafür einen freien Nachmittag. Den unerwarteten Betrag, den sie vor einigen Tagen in des Professors Zimmer erhielt, hat sie nutzbringend verwertet.
Ein Kleid, das sie schon lange in einem Schaufenster bewundert hatte, wurde gekauft und sofort angezogen, ohne erst auf den Sonntag zu warten.
Salvatore Menelli nähert sich jetzt gleichfalls dem Ausgang. Er hatte Shirley den Vorschlag gemacht, ein Zimmer für sie zu suchen, sie hatte das aber lachend und hochmütig abgelehnt. Wollte sie nicht einsehen, dass man sie bestimmt heute noch hinauswerfen würde, oder bildete sie sich ein, es plötzlich so weit zu bringen, dass sie ihre alten Freunde nicht mehr brauchte? Pah! — Salvatore war nicht der Mann, einem Mädchen nachzulaufen, das ihn nicht mehr mochte. Salvatore Menelli trägt nagelneue Schuhe, einen gutsitzenden Anzug und eine leuchtende Krawatte. Er sieht so elegant aus, dass man ihn sicher für einen Gast des Hotels Amerika halten könnte, wenn er nicht den Eingang für das Personal benutzte. So denkt Ingrid wenigstens. Unter ihren bewundernden Blicken bleibt Salvatore geschmeichelt stehen und betrachtet das Mädchen nun auch wohlgefällig.
„Wie hübsch du bist, du siehst ja aus, wie eine richtige hier geborene Amerikanerin." „Findest du das wirklich?"
„Bestimmt. Wollen wir zusammen Spazierengehen? Ich lade dich ein. Wir gehen in unsere Konditorei. Mein Vater hat nämlich eine Konditorei im italienischen Viertel. Willst du mitkommen?"
„Gern, ich war noch nie da, ich möchte es gern sehen." „So, und mit mir möchtest du nicht gern zusammen sein?"
„Doch, früher habe ich dich oft mit Shirley —", sie brach plötzlich ab, denn Salvatores Gesicht verdunkelte sich. „Also gehen wir, ich muss heute abend zurück ins Hotel." „Ich doch auch. Wir fahren mit der Untergrund." „Nein, lieber mit der Hochbahn. Ich freue mich, wenn ich etwas Neues sehen kann."
Während der Fahrt kramt Salvatore in seinen Taschen. „Ich habe heute nicht viel verdient, musste um so mehr springen. Komisches Leben im Hotel, findest du nicht auch?"
„Ja, warum musst du als Page im Hotel arbeiten, wenn dein Vater eine Konditorei hat?"
„Ja, siehst du, Svenska, ich will doch das Leben sehen, das große vielseitige Leben, nicht immer nur einige italienische Nachbarn." „Ich heiße Ingrid."
„Aber du bist doch eine Schwedin, nicht wahr? Also, Svenska, höre. Wenn ich bei meinem Vater bliebe, würde ich in einer italienischen Kleinstadt leben, ganz abgeschlossen von der übrigen Welt. Das Hotel aber erscheint mir wie ein ungeheurer Zoologischer Garten, in dem man einfach alle Arten von Menschen entdecken kann, die neueste Arche Noah. Findest du nicht auch, Svenska?"
Ingrid sagt nichts, sie findet, dass man viel Schmutziges im Hotel sehen kann; nein, sie konnte nicht behaupten, dass sie besonders gern in einer so verworrenen Welt lebe. „Verstehst du auch, was ich sage?" fragt Salvatore, der das
nachdenkliche Schweigen missversteht. „Du bist noch nicht sehr lange hier im Lande, nicht wahr?" „Wenn man nicht sehr schnell spricht, verstehe ich alles, besonders, wenn die Sätze nicht zu lang sind." „Du sollst mich lieb haben. Ist das ein kurzer Satz?" „Das Leben ist schön. Wie viel Menschen es hier auf der Straße gibt. Und die Turme, die Häuser, alles ist so mächtig, alles scheint endlos zu sein, ganz anders als bei uns zu Hause. Nie hätte ich früher gedacht, dass die Welt so groß sein könnte. Ich habe immer in einem kleinen Dorf gelebt, jeder kannte den anderen. Und bei uns ist alles so rein, die Luft und die Häuser." „Hier gefällt es dir nicht?"
„Anfangs hatte ich schreckliches Heimweh. Ich dachte, ich müsste in der schlechten Luft ersticken. Und dieser schreckliche Lärm in den Straßen, ich hatte immer Angst." „Und jetzt...? Hast du noch Heimweh?" „Nein, jetzt nicht mehr."
„Siehst du, bei uns gibt es auch Bäume, schau, dort ist einer."
„So ein armer Baum, man sieht ihm an, dass er ein schweres Leben hat."
„Wie kannst du das sehen?"
„Er ist doch ganz krumm und verkrüppelt, steht da ganz allein zwischen den vielen Häusern. Aber das Leben ist schön, auch wenn es schwer ist."
„Beug dich nicht so weit hinaus."
„Und die Frauen hier, sie sind alle so schön gekleidet. Bei uns tragen sie immer die gleichen Kleider. Kannst du dir das vorstellen?" „Ich weiß nicht."
„Hier kann man eigentlich nur an den Kleidern der Frauen erkennen, welche Jahreszeit es ist, nicht an dem Grün, ich finde das sehr komisch."
„Du hast honigfarbene Haare, Svenska, weißt du das?" „Ja, ich weiß das, und meine Augen sind wie Kornblumen, das habe ich auch schon gehört." „Haben Männer dir das gesagt, viele Männer?" „Bist du eifersüchtig?"
„Siehst du, jetzt beginnt das italienische Viertel. Wir werden bald aussteigen." „Sieht es hier so aus wie in Italien?" „Ich kenne Italien nicht, ich war zwei Jahre alt, als wir nach Amerika fuhren."
„Ich kenne das skandinavische Viertel in New York, da gibt es Knäckebrot, geräucherte Fische, viele Holzhäuser und lauter schwedische, dänische und norwegische Zeitungen. Aber es ist doch ganz anders als in Skandinavien." Jetzt umfängt sie beide das laute Geschrei, die Gebärden, die Gerüche einer südlicheren Welt. Schiebekarren stehen in allen Straßen; Kleider, Wäsche, Schals flattern in lauten, bunten Farben, Frauen kramen und wühlen, reden laut und gebärdenreich in einer fremden Sprache. In anderen Gassen sind fremde, exotische Lebensmittel in den Karren abgehäuft und hüllen die Straßenzüge in ihren Geruch ein. Paprikaschoten, Knoblauch, Artischocken, stachlige, grüne Früchte, die die Käufer auf der Straße schälen, Auberginen häufen sich in bunten Bergen. Schnecken, Muscheln und Krabben wimmeln in Fässern, weite Flächen glitzern silbern von abertausend Fischlein. Grüngeäderter Gorgonzola, groß wie Mühlräder, ist auf dem Bürgersteig aufgestapelt, Rehe und Hasen aus weißem Käse erfreuen die Kinder. Dazwischen preisen die Verkäufer mit lautem „Billig, billig!" ihre Waren an. Das ist wirklich eine neue, eine andere Welt, fühlt Ingrid mit Entzücken.
Sie bewundert die Schaufenster, die mit Papierblumengirlanden und mit Öldrucken in schreienden Farben, die durchweg leidenschaftliche Szenen darstellen, geschmückt sind. Zwischen den Wagen blinzeln beschaulich Katzen oder trillern Vögel in Käfigen.
Und wie herrlich ist erst die Konditorei des Salvatore Menelli.
Sie heißt „Pasticceria Dante". Den Mittelpunkt des Schaufensters bildet ein Hochzeitskuchen. Bei feierlichen Gelegenheiten will man auch hier etwas Großartiges bieten. Das Brautpaar aus Zucker steht unter einem farbigen Baldachin, der von Tauben, natürlich gleichfalls aus Zucker, umflattert wird.
Daneben befinden sich Heilige aus Marzipan, rosenverzierte Törtchen und eine Abbildung des Domes von Padua aus Schokolade.
Denn die Menellis stammen aus Padua, wo der Großvater Salvatores noch heute eine kleine Pasticceria besitzt, die nach dem großen Künstler Giotto benannt wurde. Ingrid bewundert die Konditorei, Salvatore und die Vorliebe seiner Vorfahren sowohl für Kunst als auch für Literatur. Die Mutter Salvatores, eine dunkle, starke Frau, empfängt zwar ihn und Ingrid ohne Begeisterung, aber sie bekommen doch Gelato, ein leichtes Eis, und farbige Kringel vorgesetzt. Verwundert hört Ingrid die fremden Laute, die mit staunenswerter Schnelligkeit hervorgesprudelt werden, sieht die lebhaften Gebärden, die dunklen, südlichen Erscheinungen. „Soll ich dir mein Zimmer zeigen?" fragt endlich Salvatore Ingrid.
Sie willigt gleich ein.
Es gibt wohl nur wenige Zimmer, die so wenig Sehenswürdigkeiten aufweisen. In dem schiefen, schmalen Raum steht nur ein Bett.
Durch das winzige Fenster sieht man die Wäscheleinen, auf denen die gestopften und geflickten Wäschestücke, die farbigen Bettbezüge der Nachbarschaft wehen. Das Geschrei der Straßenhändler, einiger heiserer Grammofone, das Weinen von Kindern, das Geschrei der Frauen vermischt sich zu einer merkwürdigen Melodie. Ingrid sieht die dunklen Augen Salvatores ganz nahe. Sie ist bezaubert, es ist eine andere, eine neue, die südliche Welt.

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