Zweiter Teil
1.
Die Welt brannte in chauvinistischer Begeisterung. Pfaffen zerrten an Kirchenglocken Sturm. Fabriken leerten sich. Alles rannte aus dem alten Elend ... In Menschenbörsen stempelten Generäle die Pferde, Arbeiter und Autos „k.v.". Und Flaggen wehten.
Wahnsinn raste. „Es lebe der Krieg!"
Militärkapellen schmetterten die Vernunft nieder. Männer und Weiber schreien wie wild: „Mit Gott für König und Vaterland!"
Erschüttert lag Heinrich in seiner Zelle. Der Ausbruch des Krieges hatte die Erfolge seines Schaffens zertrümmert. Auch die Gedanken an sein Weib und an sein Kind marterten seine Seele. Und überhaupt: Er, dessen Vaterland keine geographischen Grenzen hatte, der den Krieg natürlich als ein ungeheures Verbrechen gegen den friedlich strebenden Weltbürger und gegen das sittliche Empfinden schlechthin erkannte, er, der Heinrich Hölzel, sollte nun auch noch seine Kräfte, ja sogar sein Leben dem Krieg opfern? Ingrimmig und verächtlich knurrte Heinrich: „Blöde Menschen!"
Endlich wurde er aus der Schutzhaft zur Bahnstation geführt. Mit dem Gestellungsbefehl nach Wilhelmshaven musste er in dem D-Zug Platz nehmen.
Die Fahrt begann. Truppenzüge passierten. Und all die Berauschten jubelten: „Hurra - 'rra! - 'rra!" Auf den Stationen erfrischten patriotische Rotkreuzschwestern die heiser gebrüllten Soldatenkehlen... Immer mehr Truppenzüge,buntgeschmückt mit Kriegsreklamen, grölten einander an. Die Stationen tauchten als Kasernen auf. Es war eine Völkerwanderung in den Tod.
Schweigsam wie sonst erwartete Heinrich seine neue Situation. Allmählich raste der D-Zug in das Dunkel der Nacht. Auch die Kriegsbegeisterten wurden müde. Und schnarchten...
„Wilhelmshaven! Alles raus! Hier antreten!" — So weckte der neue Tag.
Im Reichskriegshafen tobten die elementaren Gewalten der Befehle und der Dummheit. In den Kasernen und auf den Exerzierplätzen wurden die Mannschaften militärisch ausgebildet und gehetzt. Und unaufhörlich brachten Truppenzüge neues Menschenmaterial.
Handelsschiffe wurden Hilfskreuzer und Minenleger. Die Salondampfer lagen bereit als Lazarettschiffe.
In den Werften gab es keine Pausen mehr. Tag und Nacht übernahm die Flotte Kohlen, Munition und Menschen. Und schon schreien gellend die Sirenen der kleinen Kreuzer und der Torpedo- und U-Boote die Hafenschleusen auf.
Scheinwerfer blinkten zitternd.
Signalflaggen gingen hoch.
Die erste Streitformation lief in See.
Unterdessen verlasen auf dem Kasernenhof der II. Marinedivision die Offiziere: „Lüttich ist erobert! Und unaufhörlich dringen die deutschen Armeen vor im Westen... "
Tatenbegeisterte Gemüter explodierten: „Hurra!"
Die Marinekapelle zog das Wildflammende in brünstige Feier. Es war ein Jubel ohne Maßen... „Immer feste druff!" machte alle besoffen. „Segg, Hein, die glöven wohl all, dat die Inglänner mit Kabeljauköpp smieten?" fragte ein Matrose aus der Umgebung Heinrichs, welcher sich gegen die Vorschrift seine Mützenbänder so abgeschnitten hatte, dass sie nunmehr einem Heringsschwanz glichen. Heinrich lachte. „Den Mut, den die besitzen, um ihre Ausbeuter zu verteidigen, muss man bewundern. Aber wie werden sie glotzen, wenn ihnen der Teufel einheizt?"
Der Offizier las weiter: „U neun, Kommandant Kapitänleutnant von Weddingen, hat drei englische Kreuzer versenkt." „Hurra! - 'rra! - 'rra!"
Der Platz tobte.
Dann wurde die Nachricht bekannt gegeben: „Papst Pius der Zehnte ist gestorben."
In die plötzlich herrschende Stille brüllte Heinrich: „Oh — oh!"
Und lachender Wind bewegte die Mützenbänder der versammelten Kriegsschiffmatrosen. Verlegen wandte sich der Offizier an eine eben angekommene Ordonnanz, nahm zwei Schriftstücke entgegen, prüfte beide, schob das eine unwillig in die Tasche und schrie wie im Zorn: „Leute! — Ein neuer, ein großer Sieg! Antwerpen ist gefallen und fest in unserer Hand!"
Und während die beiden Kreuzer „Mainz" und „Köln" und der Hilfskreuzer „Königin Luise" mit Mann und Maus auf den Meeresgrund sanken und der Kreuzer „Frauenlob", von feindlichem Torpedo getroffen, mit Toten und Schwerverwundeten still in den Kriegshafen geschleppt wurde, schrie es an Land unaufhörlich: „Hurra! — 'rra! — 'rra!"
Die Nacht senkte sich nieder. Als große dunkle Schatten standen die Kasernen ...
Hoch in der Luft brummten Motoren. Die Signalstation sprach mit Scheinwerfern nach den Wolken. Und irgendwo draußen auf See lasen Signalgasten mit freudigen Augen vom Nachthimmel: „Großer Sieg des Generals von Hindenburg bei Tannenberg. Neunzigtausend Gefangene. Unzähliges Kriegsmaterial erbeutet."
Neblig brach der Morgen an.
Und rasender Jubel überschrie den Tod der vierhundertköpfigen Besatzung des bei Morgengrauen im heimatlicher Fahrwasser auf Minen gelaufenen Kreuzers „York".
Immer deutlicher machte sich das Kriegsgespenst bemerkbar. Schon sammelten sich die Angehörigen toter und vermisster Seeleute vor dem Stabsgebäude der II. Marinedivision. Das misstrauisch gewordene Volk kaute aus der Beruhigungspille „Wenn das Laub fällt, ist wieder Friede" große Hoffnung. Dagegen hauten Franzosen die vorgedrungene: deutsche Armee zurück. Aber die deutschen Kriegsberichterstatter schwindelten die Erfolge von Wochen summarisch zusammen und schilderten in Phrasen die „unbeschreibliche" Wirkung der deutschen 42-Zentimeter-Mörser.
Welterschütternde Ereignisse hatten Heinrich überrascht und ihn von dem, was ihm lieb und wert war, weggerissen unter die militärische Gewalt. Aber für ihn galt: sich unter allen Umständen dieser Kriegsgesellschaft, die er verachtete, zu entziehen. Dabei kamen ihm seine Kenntnisse wie seine Klugheit sehr zustatten. Unterhaltungen mied er. Ihm kochte das Blut in den Adern, wenn er sah, wie Ärzte den zusammengezogenen Volkshaufen nach „Schlachtvieh" für berüchtigte „Himmelfahrtskommandos" durchwühlten. Und Groll verbitterte ihn, wenn er mit ansehen musste, wie arme Familienväter sich geschmeichelt fühlten, wenn sie für kriegsdienst-| tauglich befunden wurden. Allein Heinrich biss die Zähne zusammen und schwieg. Denn das war ihm klar, dass diese Arbeitsmenschen noch nicht an Auflehnung zu denken vermochten.
Obwohl Heinrich sich mit klugen Vorkehrungen zu schützen verstand, der Krieg näherte sich ihm immer mehr. Ein) Matrosenregiment nach dem andern war begeistert, die begleitende Kapelle überschreiend, nach dem Bahnhof gezogen und nach Flandern gerollt.
Die Flotte mit allen Hilfsschiffen war kriegsstark besetzt. Die großen Kasernen der Matrosendivision hatten sich also:; bis aufs Normale geleert...
Das Laub war längst gefallen! —
Schon ächzten jene Züge mit dem Roten Kreuz als Zeichen tiefernst und langsam von der Front ins Land, beladen mit zerrissenen und laut stöhnenden Hoffnungen. Erschreckende Tatsachen ernüchterten allmählich die Vernunft. Trotz der paar Monate Krieg reichten in Wilhelmshaven die Lazarette, obgleich für „außergewöhnliche Vorkommnisse" eingerichtet, nicht mehr aus, Seeleute, die draußen auf See Glück im Unglück hatten, wenn auch von schweren feindlichen Schiffsgranaten zersplittert, zerquetscht oder verbrannt, so doch noch matt lebend aufzunehmen, um sie zu erhalten.
Rohheit lief parallel mit Leichtsinn. Kamen Schiffe von See, hatten die Seeleute den drohenden knöchernen Finger des Todes gesehen, so benutzten sie die Hafenzeit zur Vertreibung dessen, was ihr Gemüt bedrückte: Sie genossen ihr Leben gierig. Die Hafenstädte wurden Zerrbilder der Menschlichkeit; die engen, niederen Kaschemmen waren die Oasen der Kriegsschiffmatrosen. Hier wurde im Verein mit anderen Verzweifelten, mit Dirnen und Kriegerfrauen, gesoffen. Was war noch zu verlieren?
„Immer feste druff!" hieß es überall. Achtung vor Trauer und Leid verschwand. Der Widerwillen gegen den Krieg äußerte sich schon ganz merklich in Demoralisation. Das war es, was den Heinrich hoffend machte. Und wo es ihm möglich war, warf er Funken in die brodelnde Unzufriedenheit der Seeleute. Doch gerade als sich Matrosen und Heizer der verschiedensten Formationen, geleitet von ihrer gleichen Gesinnung, zusammenfanden, griff die eiserne Faust des Militarismus zwischen sie und holte Heinrich aus Wilhelmshaven weg.
Das stille Wesen Heinrichs innerhalb der Kaserne und das Verbergen seiner Kenntnisse fiel höheren Vorgesetzten gelegentlich einer Unterredung mit ihm auf und hatte zur Folge,
dass er weitgehende Berücksichtigung erfuhr. So wurde er mit dem Posten eines Dolmetschers und Kommissionärs beim Stab der II. Marinedivision in Flandern betraut.
Dem Kriegstod war er entrissen.
Doch jener unwiderstehliche Drang, der ihn auf seiner Lebenswege immer weiter schob, bewahrte ihn vor der Phlegmatik im Beharren persönlicher Sicherheit und Erfolge.
Schnee war schon gefallen, als Heinrich in Flandern ankam. Schwerbepackte Marinetrupps, ganz verdreckt, tappten auf der matschigen Landstraße schweigend nach der Front.. Rasende Autos erschütterten die Häuser. Und in der Ferne hörte Heinrich die Kriegsbestie grollen, ganz anders als in Wilhelmshaven.
Am nächsten Morgen fuhr Heinrich dienstlich nach Brügge, der militärischen Zentrale für Flandern, um zu requirieren. Durch seine Tätigkeit kam er in Fühlung mit der Bevölkerung. Schlimmer als im Reichskriegshafen sah er hier die Demoralisation wachsen. Grauenhafte Not schrie nach Erwerb. Krieg! — Winter! — Aus Frontdörfern flüchteten Männer, Frauen und Kinder. Alles sammelte sich unter dem himmelschreienden Elend des Städtchens. Und lüstern leckte die von der Zeit gezüchtigte Hyäne am nackten Körper der Armen. Dazwischen schreien Kinder: „Mutter!" Um so gieriger aber ward die geile Bestie. Heißhungriges Haschen nach einem halben Kommissbrot machte Mütter zu Huren und ihre Kinder krank. Den blind draufloslebenden Truppen aber schreien uniformierte Pfaffen, dekoriert mit Tapferkeitsauszeichnungen, zu: „Gott strafe England!" und predigten Vergewaltigung der Menschheit; während aus alldem erschreckenden Jammer gellend der Todesschrei schwerverwundeter und zerfetzter Soldaten nach Einhalt schrie.
Kalt, ehern, hämmerte über dem Massenelend das Glockenspiel des Beifried: „Deutschland, Deutschland über alles... "
War es die alte Herznarbe Heinrichs, die erneut aufriss und ihn schmerzte, als wäre heißes Blei hineingegossen? — Heinrich spürte das gesehene Elend in sich. Auf der Rückfahrt ins Stabsquartier nach Jabeke stiegen schwere Gedanken in ihm auf... Und als Heinrich, trotzdem er mit Umsicht und Weitblick seine Aufgaben erledigt hatte, von einem Stabsoffizier Willkür zu fühlen bekam, da flammte aus ihm sein ganzer Hass, seine ganze Verachtung. „Sie Lump!"
Noch am selben Abend erfuhr Heinrich deshalb seine Abkommandierung nach einem Matrosenregiment an der Front. Nur zu gut verstand er, was man mit ihm vorhatte. Einem Vertreter der Offizierskaste war er zu nahe gekommen, und darum musste er auf irgendeine Weise verschwinden. Ihn ins Gefängnis zu schicken schien zu gefährlich, weil durch den Prozess vieles, von dem nur er als vertrauter Kommissionär wusste, an die Öffentlichkeit dringen würde. Also an die Front!
„Eine Patrouille, und der Kerl ist mundtot!" „Bevor ich im Schützengraben falle, fällt jene infame Brut! Das schwöre ich!" antwortete Heinrich einem Kameraden, der ihn mit vaterländischem Schmus beschwichtigen wollte.
Heinrich hatte sich von seinen belgischen Freunden verabschiedet und für ihre in Westflandern durch Briefsperre isolierten Angehörigen lang entbehrte Botschaft übernommen.
Dann begab er sich auf den Marsch.
Nach achttägiger Reise als geheimer Postbote klopfte er am Büro des Bataillonskommandeurs an. Ob ein Hund drinnen bellte? — Heinrich trat ein. „Wer sind Sie?" — „Matrose Hölzel zur Stelle!" Und da schnauzte der Kommandeur, dass seine Augen wie Billardkugeln hervorquollen. Aber Heinrich schwieg. Und dachte...
Aber Heinrichs Schweigen reizte den sich wie wild gebärdenden Kommandanten derart, dass er, vollends in Wut aufgehend, dem Heinrich den Marschbefehl vor die Füße warf und schrie: „Raus, du Schweineaas! - Zur elften Kompanie! Dich, Bürschchen, kriegen wir schon!" Heinrich verstand die Bedeutung dieser Worte. Vor der Tür des Bataillonsbüros schüttelte er sich wie ein nasser Hund. Und im Weitergehen lachte er. „Großartig, wie diese Gesellschaft zusammenhält! Der Narr da drinnen ist längst vom Divisionsstab benachrichtigt!"
Am nächsten Tag aber meldete sich Heinrich krank. Dem Arzt sagte er nicht, dass er erst einen Tag beim Bataillon sei, vielmehr erklärte er ihm ganz unverfroren, er sehe seit den letzten Tagen fast nichts mehr.
Nachdem ihn der Arzt gründlich beäugelt hatte, ging der Befehl an den Sanitätsfeldwebel: „Matrose Hölzel wird morgen früh zum Spezialarzt nach Brügge gebracht!" Heinrichs Herz pochte vor Freude.
Nach sechswöchiger Behandlung des Augenspezialisten im Kriegslazarett I Brügge besteigt Heinrich den Lazarettzug nach Wilhelmshaven.
Zerrissene Soldatenleiber tropfen von Blut und Ohnmachtsschweiß. Trostlose Qual zuckt hinter geronnenen Verbänden. Fiebernde Augen stieren in ätherdunstige Gegenwart...
Der Lazarettzug fängt an zu bremsen!
Schmerzaufreißendes Ziehen in brandigen Wunden! Knochen- und Granatsplitter spießen Bewusstlose wach.
Ein Ruck! — Verzweifeltes Geschrei! „Was ist? — Wo sind wir?" fragen die Blindgeschossenen ängstlich.
Antwort ist Wimmern. Tote werden abgegeben. Und die leeren Betten werden wieder mit röchelnden Fleischrümpfen gefüllt. Der Zug zieht an. Und der Tod schreit im Rhythmus der rollenden Räder Vorwürfe. Dazwischen lachen die Irrsinnigen. Dann hallt das Echo der Front in hohler Bahnhofshalle. Heinrich und Leichtverwundete führen Blindgeschossene. Dann folgen die zugedeckten Bahren...
Qual schreit trotz Narkose.
Dazwischen ächzen Knochensägen.
Aus geschlitzten Bäuchen werden zerschossene Därme gezogen, geflickt und wieder reingepackt. Die Atmosphäre ist Eiter-, Blut- und Kresoldunst. Immer wieder werden die
Schlachtbänke belegt. Schon fallen Schwestern vor Mattigkeit um. Unentwegt füllen und leeren sich die Leichenkammern.
Grauen pestete der Krieg. Die Welt wurde zur Hölle. Von Heinrich waren nunmehr die letzten Bedenken gewichen.
„Nieder mit dem Krieg!" schwor er endgültig, als er wieder zu seinem Truppenteil entlassen worden war.
2.
Mit Umsturzgedanken wühlte Heinrich in den Kaschemmen Wilhelmshavens den vorhandenen Widerwillen am Krieg auf. Bald fand er auch gleichgesinnte und beherzte Kameraden. Mit diesen gründete er geheim einen revolutionären Zirkel. Unter Heinrichs Organisationsfähigkeit gedieh dieses Unternehmen vortrefflich. Schon nach dreimonatigem Bestehen des revolutionären Zirkels waren auf allen Schiffen Vertrauensleute, welche die Bordkameraden „bearbeiteten". Erfolg machte sich schnell bemerkbar. Aus der Flotte drängten Mannschaften mit Zorn zum Umsturz. Heinrich aber erklärte, man müsse warten, bis wenigstens die ganze Marine-Nordseestation „dazu reif" sei. Aber die zornerfüllten Seeleute verlangten den Angriff. In einer abgelegenen und geschlossenen Kaschemme fand denn auch eines Nachts eine Vollversammlung des revolutionären Zirkels statt. Rebellengeist drückte den Zeiger über den roten Warnungsstrich. »Wir verlangen die Lahmlegung der Flotte! Der Krieg muss niedergeschlagen werden!"
Leidenschaftliche Zustimmungsrufe.
Heinrich stand auf. Ruhig ergriff er das Wort: „Aber Kameraden, bevor wir unsere Aktion beraten, muss jeder den Schwur auf sich nehmen: ,Verrat und Feigheit unter uns wird mit dem Tode gesühnt!'"
Beklemmende Stille...
Der Schwur wurde abgenommen.
Wieder klang Heinrichs Stimme: „Kameraden, wir schreiten zur Beratung der Aktion. Es gilt, die Gewalt der Marine-Nordseestation an uns zu reißen. Der Hauptfaktor ist die Eroberung der Flotte. Um in dieser wichtigen Sache Erfolg zu haben, ist unbedingt erforderlich: die Sprengung der Schleusen des Reichskriegshafens in der Zeit, wenn der größte Teil der Flotte im Hafen liegt. Denn der Kriegshafen liegt höher als der Wasserspiegel des Jadebusens. Sind also die Schleusen demoliert, dann fließt das Wasser ab, und die Schiffe liegen mit Schlagseite auf. Folge ist, dass die Schiffe nicht mehr manövrierfähig sind. In der ausbrechenden Konfusion, in der die Schiffsbesatzungen an Land sein werden, muss unabwendbar die Sprengung der Flotte rasch beginnen. Die Kameraden der Landkommandos erhalten in der Stunde der Detonation von einer zu errichtenden Zentrale den Befehl zur Besitzergreifung der Kasernen, des Nachrichtenwesens und der umliegenden Küstenforts. Wichtig ist, dass von diesem Augenblick an kein Mensch, ebenso absolut keine Nachricht aus Wilhelmshaven hinauskommt. Die Verhaftung aller Offiziere ohne Unterschied und der Widerstand leistenden Kameraden muss stillschweigend geschehen. Überhaupt wird dann sofort der verschärfte Belagerungszustand verhängt und Standgerichte geschaffen. Die eroberten Kommandostellen und Truppenformationen sind sofort der erwähnten Zentrale zuzuleiten, welche damit die Sicherung des Reichskriegshafens nach außen übernimmt. Ist die Aktion so weit gediehen, dann muss die Zentrale sofort versuchen, mit Kiel, Cuxhaven und Emden Fühlung zu erreichen. Dies erst durch Abwerfen von Flugblättern. Die Seefahrtsstraßen Jade — Weser — Elbe sind mit Minen zu verseuchen. Mit Proviant ist sparsamst umzugehen. Und nun muss vor allem, aus Misstrauensgründen gegen Kiel, der einzig mögliche Wasserverbindungsweg Kiel — Wilhelmshaven unbefahrbar gemacht werden!" Heinrichs Plan lag nun jedem Mitglied offen. In gleich anschließender technischer Beratung bezeugten die mutigen Seeleute großes Verantwortungsgefühl. Durch Heinrichs außerordentliche Vorarbeit war die einheitliche Organisation am folgenden Morgen bis ins einzelne vollkommen fertig. Und die Rebellenkommandos wurden schnell verteilt. Die Detonation im Kaiser-Wilhelm-Kanal war als allgemeines Aufbruchsignal festgesetzt.
Paarweise mit strenger Instruktion verließen dann die Seeleute das Versammlungslokal. Und warteten bei ihren Formationen Näheres ab.
Eine Gruppe Vorpostenboote (von der Kriegsmarine gecharterte Fischdamper) fuhr die Weser, von See kommend, aufwärts. An Deck der kleinen schwarzen Fahrzeuge herrschte reges Leben. Laue und Leinen wurden klargelegt. Das Führerboot der „Piratengruppe" ließ seine Dampfpfeife brummen und stoppte vor der Hafeneinfahrt. Auf der Mole winkten freudig wartende Bekannte. In Kiellinie liefen die Boote der I. Nordsee-Vorposten-Halbflottille ein. Rauschen und Brausen. Die Boote lagen an der Pier.
„Leinen fest!" Der Bootsmann erwiderte mit erhobener Hand nach der Kommandobrücke:
„Alles klar."
Ein Matrose zog hastig seinen weiten Takelanzug aus und stand sauber in Blau. Noch schnell mal die Hände ins warme Wasser! Ein Sprung an Land! Und zwei ausgestreckte Arme einer jugendlichen Schönen fingen unter herzlichem Lachen den „Vorpostenkuli" auf. „Donnerwetter! — Hein hat's aber eilig!" Ein anderer spöttelte: „Recht! — Wer hat — hat!"
Es war Abend. Lebensfreude schwellte Herzen. Das Orchester rauschte auf wie Sturzwellen. Heinrich war auf einmal niedergeschlagen. Seine Freundin staunte. „Hein, was ist dir?"
„Mir? - Haha! Prost, Mignon!"
„Hein, du bist heute so... ? — Was soll das bedeuten?" Die einsetzende Musik machte sein Brummen unverständlich. Und er lachte. Und trank hastig.
Lind wehte die Frühlingsnacht.
Heinrich wollte sich von Mignon verabschieden. „Bleibe bei mir! — Besser ist besser! In dir stimmt etwas nicht... !"
Von den schlaflosen Nächten der Patrouillenfahrten in der minenverseuchten Nordsee ermattet und unter Wirkung des verlebten Abends folgte Heinrich im Halbschlaf seiner Freundin.
Es war Mittag, als er sich endlich die Augen blank rieb. Mignon drang in ihn: „Gesteh's mir doch, was ist seit deiner letzten Hafenliegezeit in dir vorgegangen?" „Lächerlich!"
Mignon bangte. Sie schwieg aber. Und er verabschiedete sich plötzlich auffällig herzlich.
Seit einigen Tagen wurde Heinrich an Bord vermisst. Auch seine Freundin fragte wiederholt auf seinem Vorpostenboot nach ihm. Aber vergebens.
Beim letzten Passieren der Insel Helgoland hatte Heinrich den Fernspruch eines dortigen revolutionären Kameraden aufgefangen: „,Westfalen' läuft aus nach Kiel — r. 2." Demgemäß verschwand Heinrich im Hafen heimlich von Bord. Denn er mit einem Torpedobootheizer hatte übernommen, die Umsturzaktion vor Kiel dadurch zu sichern, dass sie im Kaiser-Wilhelm-Kanal das Linienschiff sprengen und so zum Gesamtaufbruch alarmieren wollten.
Von allen Lebensfreuden hatte sich Heinrich verabschiedet.
„S. M. S. ,Westfalen' nimmt in dieser Nacht Kohlen über und ist morgen früh fünf Uhr dreißig seeklar. Um sechs Uhr schleust die ,Westfalen' aus und fährt zur Schießübung in die Kieler Bucht!" So berichtete ein Vertrauensmann der „West-falen"-Besatzung in der tagenden außerordentlichen Versammlung des geheimen revolutionären Zirkels. Nachdem brachte ein Kamerad vom Artilleriedepot zwei Schiffsbomben und übergab sie dem Heinrich. Die revolutionären Seeleute wünschten ihren beiden Beauftragten noch ein herzliches „Glück auf!".
Und Heinrich schlich mit seinem Gehilfen durch die stille nichts ahnende Nacht zum Hafen...
Bogenlampen bleichten das bestimmte Linienschiff aus der Dunkelheit. Hinter vorgelagerten Kohlenbergen lauerten Heinrich und sein Freund. Sie wechselten die Mützenbänder ihrer Formationen mit dem der „Westfalen" und zogen sich wie die Besatzung des Linienschiffes den Takelanzug über.
Im Osten merkte man bereits den Morgen. Noch immer balgten sich die Matrosen mit Kohlenbrocken, mit Schaufeln und Körben.
„Bald sind's zweitausend Tonnen, Herr Kapitän!" drang's herüber ins Versteck.
„Aufpassen, aufpassen... Die müssen bald fertig sein da drüben!" Verstärktes Rauschen und Rattern. Plötzlich ein Aufschrei.
Der Lärm verstummt.
Ein Offizier schreit: „Ab mit ihm ms Lazarett!" Und das „Kohlen" beginnt wieder.
(Ein Matrose, von der ungeheuren Arbeit vollständig erschöpft, hatte nicht mehr die Kraft, der hastenden Eile nachzukommen. Gerade als er zwei Kohlenkörbe in den Greifer des Zugseils eingehakt hatte und auch noch einen dritten Korb einschäkeln wollte, schnauzte ihn der Offizier an: „Sie Lahmarsch, dalli!" Der Matrose oben an Deck, der die Dampfwinde bediente, meinte, das Anschnauzen gälte ihm. Er setzte Volldampf auf die Winde. Und unten im Kohlenprahm schnellte der Greifer hoch, hakte sich dem abgeschufteten Matrosen unterm Kinn ein und riss ihm den Unterkiefer aus.)
„Verdammte Schlappschwänze! Der Teufel holt euch alle, wenn die Prähme nicht bald leer werden! Los!"
Die Bordkapelle spielte einen bekannten Schlager. Die Menschentiere reagierten. Ihre letzte Kraft gaben sie her. Der Osten war schon lila.
„Jann, also, du verschwindest in der Kartuschkammer des Geschützturmes ,Dora' und ich in der des Turmes ,Cäsar'. Sind die Bomben in den Kammern gut untergebracht, dann aber schnell in den Kohlenbunker drei. Dort können wir gut abwarten, bis wir im Kanal sind! Jann! 's ist Zeit, komm, komm!"
Zack, zack! — Beide waren an Deck. Wie Mäuse huschten sie in die Luke.
Heinrich saß im Kohlenbunker drei. Totenstille, Gestank und Finsternis: wie unter der Erde!
Auf einmal Geräusch. Heinrich linste ins Dunkel. Flüstern : „Hein?"
„Hallo, Jann?"
„Wo... "
„Komm! Hier... "
Auf allen vieren kroch Jann über die Kohlenbrocken zum Heinrich.
„Erledigt?"
„Tadellos geklappt, Hein!"
„Du, die ,Westfalen' muss ja auseinander fallen wie'n verkochter Fisch. Unten in den Kartuschkammern etliche hundert Zentner Pulver. Darüber die vollgestauten Granatkammern mit 28-Zentimeter-Geschossen und daneben noch die Heizräume! Hein, ich bin überzeugt, dass diese Barrikade im Wilhelmskanal nicht so schnell demontiert wird, wie wir sie hinsetzen!"
„Jann — aber vorläufig ist die Wirkung noch Nebensache. Hauptsächlich kommt es nun erst darauf an, dass die Dinge zum Erfolg uns glücken!"
Kräftiges Stoßen der vollarbeitenden Schiffsmaschinen!
„Wir sind aus der Hafenschleuse!"
Das Linienschiff dampfte seewärts. Leicht fing es an, sich auf den Wellen zu wiegen, und ganz unbemerkt schläferte der warme Stickstoff im Kohlenbunker die beiden ermüdeten Seeleute ein...
Immer heftiger stampfte das Schiff.
Im Kohlenbunker begann es zu rascheln... Eine Welle hob die „Westfalen" am Steven und ließ sie wieder fallen. Der Kohlenberg im Bunker wurde erschüttert, und abrutschender Kohlengrus bedeckte die Eingeschläferten. Schrecken riss Heinrich aus dem gefährlichen Dusel. Mit aller Kraft arbeitete er sich frei. „Jann? Jann?"
Keine Antwort...
Heinrich fühlte um sich: Seine Hände griffen ins dunkle Leere.
Der Schlaf hatte ihm jede Orientierung genommen. Verzweifelt tastete er nach seinem Freund. „Jann! — Jann?"
Angst um den Kameraden machte ihn irre. Das Beißen des Schweißes und des Kohlendrecks in seinen Augen spürte er nicht. Nur in den abrutschenden Kohlen suchen, ihn finden. „Verflucht... "
Die Kohlen rutschten toller.
Mit Bärenkräften stemmte sich Heinrich gegen die stürzende Masse. Seine Hände klebten schon von Blut. Doch zäh scharrte er weiter unter den scharfkantigen Brocken nach seinem Freund. Endlich fühlte er ihn. Rasch machte er das mit Kohlen verschüttete Gesicht seines Kameraden frei. „Jann? — Du, Jann? — Himmeldonnerwetter, Jann! — Bist du wach?"
Der Freund blieb stumm. Was nun? — Kein Wasser! — Keine Luft! — Und niemand an Bord darf erfahren...
Aber ja: Im Heizraum eins arbeitete doch einer unserer Vertrauensmänner. Ob der jetzt auf Wache war? Wenn ich bloß die Zeiger meiner Uhr erkennen könnte! Diese Gedanken zuckten in Heinrichs Gehirn. Er erschrak: Atmet er denn überhaupt noch? Hastig befühlte er den Puls des Bewusstlosen. „Hallo, Jann! Verdammt, gib Antwort, Jann!" Schnell wusch ihm Heinrich das Gesicht mit Rum, den er bei sich trug, reinigte ihm Mund und Nase von dem Kohlendreck und stülpte ihm schließlich die Feldflasche in den Mund.
Jann schluckte! Nachdem Heinrich auch sich den Mund ausgespült hatte, packte er den Jann bei den Schultern, schüttelte ihn, dass der Kopf schnickte, und verabreichte ihm ein paar zünftige Ohrfeigen. Die Wirkung beglückte den Heinrich. Denn Jann brummte.
„Was ist denn mit dir los, Jann?"
„Hmmmmm."
„Du, Jann, alte Eule, bist du bald bei dir? Komm hoch!"
„Wa-as?"
„Komm nur!"
„Wo - bin - ich?"
Die „Westfalen" fuhr längst wieder ruhig.
„Ob wir die Schleuse im Kanal schon passiert haben?"
„Ich weiß nicht, Jann, ob die Maschinen schon mal stoppten! Jann, wir müssen uns unbedingt orientieren. Du bleibst hier sitzen, und ich schleiche mich nach dem Heizraum."
„Sieh zu, ob du Trinkwasser und Zündhölzer von unserem Vertrauensmann bekommen kannst!"
Heinrich stolperte hinter der mannshohen Schutzmauer (die sich schließlich die beiden aus großen Kohlenbrocken errichtet hatten) hervor, um nach dem Ausgangsschott zu gelangen, das nach dem Bunker zwei führte, und durch den er den Heizraum erreichen konnte, ohne von den Kohlen-ziehern bemerkt zu werden.
„In welcher Richtung ist denn bloß das Schott?" Wie ein Blinder tappte Heinrich, bald nach da, bald nach dort.
„Verflucht!" Wo er hintappte, fühlte er nur Kohlen.
„Hast du die Bunkerwand, Hein?"
„Nee! Noch nicht!"
Mit Kohlenbrocken nach allen Richtungen werfend, suchte er. Pump!
Behutsam arbeitete sich Heinrich nach der Richtung, in die er zuletzt geworfen.
„Hier! Bravo!"
„Bleib nicht zu lange fort, Hein, und lass dich nicht erwischen!"
„Menschenskind, so schnell geht das nicht! Ich muss erst mal das Ausgangsschott haben! Sakrament! Die ganze Wand hab ich schon abgefühlt... Ist das Schott verschüttet?"
„Soll ich kommen?"
„Halt's Maul! Bleib hinter deiner Mauer!" Mit seinen zerschundenen Händen fing Heinrich nun an, den abgerutschten Kohlenberg von der Wand zu räumen.
Salziger Schweiß mit Kohlendreck sickerte ihm in die Augen. Im Mund spürte er nur noch Staub. Aber wütend bis er auf die Zähne. „Es muss gehen, und sollte alles verrecken!"
„Hein, ich lös dich ab!"
„Quatsch! Bleib dort!" Zäh arbeitete er weiter. Plötzlich krächzte er: „Bravo... "
„Hein, hast du ihn?"
„Ja, endlich! Aber... Ho — ruck, ho — ruck! Verdammtes Aas... "
„Was ist, Hein?"
„Mensch! Vor dem Schott liegt ein Brocken, mit dem man die ,Westfalen' verankern könnte!"
„Wart, ich helf dir!"
„Nein, Sakrament! Du sollst dort bleiben! Ho — ruck, ho — ruck, ho — ruck, ho — ruck, ho — ru — ru — ru — ruck! — A-ah!"
„Hast du ihn weg, Hein?"
„Ja, hallo, der Teufel! Verflucht, verflucht... "
Ein Brausen, Donnern und Toben. Der Brocken war weg. Der Kohlenberg aber rutschte nach. Von oben rollten schwere Brocken gegen die eiserne Bunkerwand.
" Wie ersterbender Seufzer verrauschte endlich das Tosen. Die Hand fühlte den Kohlenstaub, so dicht wirbelte er. „Hein? - Hein... "
Verstecktes Stöhnen antwortete.
Jann tastete sich nach der Unglücksstätte und arbeitete den heruntergerutschten Kohlenberg von der Bunkerwand. Den Kopf von eine Riesenbrocken an die Wand gepresst, so fand Jann seinen Freund unter den Kohlen. Er befreite ihn.
Mit unsäglicher Mühe hatte Jann den verschütteten Freund hinter die sichere Schutzmauer geschleift. „Ist dir's besser, Hein?" „Ja. — Forsche, wo sich das Schiff befindet!"
Jann hatte sich bis zum Heizraumschott durchgearbeitet. Langsam, ganz unmerklich öffnete er es und lugte unter die halbnackten Heizer vor den grellen Kesselfeuern. Der Kamerad vom revolutionären Zirkel schaufelte gerade Kohlen auf die Glut. „Pst! - Pst!"
Aber der Heizer warf die Feuertür zu und ging an die nächste, dicht am Schott. „Pst! - Pst!"
Er schaute um sich. „Pst, pst!"
Gemerkt. Der Heizer ging an das Schott. Und Jann fragte: „Sind wir im Kanal ... ? Wie viel Uhr ist's? Besorg zu trinken und Brot und Zündhölzer! Aber schnell!"
Der Freund verschwand. Bald kam er wieder mit einer Büchse voll heißem Kaffee, mit Brot und mit Zigaretten und Zündhölzern. „Wir fahren andauernd langsame Fahrt. In einer Stunde schleusen wir erst in den Kanal. Jetzt ist die Uhr neun!
„Neun Uhr? — Vormittag oder Abend?" „Vormittag! Was macht Hein? Ist's langweilig im Bunker?"
„Mann! Du hast keine Ahnung von dem, war wir in den paar Stunden geschuftet und ausgestanden haben! Sag uns Bescheid, wenn's Zeit ist... "
„Ja."
Zwei Zigaretten glimmten im Dunkel des Kohlenbunkers. „Aber was ist mit der Mannschaft, Jann? Die müssen wir unter allen Umständen warnen! Aber wie... " Sie berieten.
„Recht, Jann! Eine Explosion genügt! Ruhig!" Vom Ausgangsschott her Stolpern!
Beide löschten ihre Zigaretten und verhielten sich, ohne zu mucksen. „Hein? — Jann?"
„Unser Vertrauensmann! — Hallo — hier! Ist's Zeit?" „Ja! Grad passieren wir Rendsburg!"
„Recht! Komm, setz dich! Hör: Wir machen die Sache folgendermaßen... "
„Ausgezeichnet, Hein! Und jetzt, wenn meine Wache abgelöst wird, dann lauft ihr so quasi als blinde Schafe mit uns nach dem Baderaum. In dem Dampfschwalm könnt ihr euch ungesehen erfrischen, und von dort aus treten wir in Aktion."
„Gut!"
„Nun kommt mit bis zum Heizraumschott, dort wartet ihr, bis ich euch Bescheid sage!"
Die Heizer hatten ihre Kessel an die neue Wache abgegeben und kletterten, schwarz wie Neger und abgeschuftet, den Niedergang hoch zum Zwischendeck. In den Trubel mischten sich unauffällig Heinrich und Jann. Im Baderaum brachte ihnen ihr Vertrauensmann Seife und Schweißtuch. Dann wies er sie in eine weniger benutzte und dampfdunstige Ecke. „Ihr armen Teufel seht ja treu aus." Unter der heißen Dusche weichten die von Schweiß, Blut und Kohlendreck verkrusteten Wunden.
Heinrich lief im Zwischendeck auf Steuerbordseite von einem Heizraumsprachrohr zum andern und gab energisch den Befehl hinunter: „Sofort Feuer raus! Alles an Land! Kartuschkammer brennt! Die Flutventile und Pumpen sind demoliert!" Dann schrie er in die Maschinenräume: „Maschinen stopp! Personal sofort an Land! Höchste Lebensgefahr! Explosionsgefahr! Kartusch- und Granatkammer brennt!"
Während Jann die Backbordseite auf gleiche Weise bearbeitete, ließ der Vertrauensmann, der sich zur Kommandozentrale des Linienschiffes geschlichen hatte, sämtliche Alarmglocken rasseln. Diese außergewöhnlichen Befehle warfen alles über den Haufen. Aus jedem Winkel des Kriegsschiffes stürmte die Panik. Offiziere waren der flüchtenden Gewalt gegenüber machtlos. Das Schiff stoppte.
Und während die Besatzung sich an Land in Entfernung vom Schiff sammelte, stieg Heinrich in die Kartuschkammer des Turmes „Cäsar".
Die Offiziere der „Westfalen" hatten mit nicht weniger Überraschung die richtige Kopfzahl der Besatzung festgestellt und sie dem Kommandanten gemeldet. Und sofort wurden Matrosen und Heizer, Unter- und Deckoffiziere für die Durchsuchung des Schiffes abkommandiert...
Heinrich hielt die Bombe vor sich, stellte sie auf eine Verzögerung von zehn Minuten ein und holte aus, um sie abzuschlagen, als das Alarmsignal „Schotten dicht!" durch das ganze Schiff rasselte. Erschreckt hob Heinrich die Bombe zwischen die Kartuschen. Er horchte auf. Knacks — knacks! — Das Seitenschott der Kartuschkammer öffnete sich. „Hände hoch!" Heinrich leistete erblasst Folge.
Dann fielen drei Unteroffiziere über ihn her und schnürten ihn in eine Hängematte. Als er aus dem Geschützturm nach der Arrestzelle geschleppt wurde, sah er den Vertrauensmann an der Seite des Offiziers. Heiß schlug das Blut in Heinrichs Gehirn: „Verrat?"
Es war Herbst 1915.
Eine Eskorte der Marineinfanterie übernahm den Heinrich an der Schleuse des Reichskriegshafens von einem Kieler Torpedoboot und lieferte ihn ins militärische Untersuchungsgefängnis ein. Unter scharfer Bewachung fand gleich sein erstes Verhör statt. Aber ergebnislos. Heinrich verweigerte jede Aussage.
In die erdrückende Enge seiner Zelle brandete der Lärm des Hafens. Ruhelos wälzte er sich auf der quälenden Pritsche.
Tritte! — Schlüsselgerassel! Flüstern! Und Knarren der Riegel! Dann das Schnauzen: „Aufstehen! Raus!"
Im fahlen Mondschein auf dem Korridor blitzten Bajonette und — die Augen Heinrichs.
Es war nach Mitternacht, als ihm der Oberkriegsgerichtsrat zuredete: „Ich kann Ihnen nur raten, Aussagen zu machen! Denn sonst, Sie wissen — das Gesetz — der Paragraph — 's ist Meuterei — Sie werden erschossen. Sagen Sie ruhig die volle Wahrheit! Vielleicht lässt sich die Sache noch etwas reparieren!"
Im Nu war jedes niederdrückende Gefühl von Heinrich verschwunden: Die Krisis war überstanden! Trotzig erwiderte er: „Ich protestiere gegen meinen Haftbefehl! Ich beschwere mich darüber!"
Höhnisch grinste der kaiserliche Oberkriegsgerichtsrat. „Trösten Sie sich! Wir haben alle, nicht nur Sie!"
Heinrich lag wieder in seiner Zelle. Den dicken Strich unter sein Leben hatte er gezogen... Rebellenstolz aber erleichterte seine Seele. Bald schlief er ein.
Endlich wurde Heinrich zur Aburteilung vorgeführt. Gerade als wenn ihn die Sache nichts anginge, so ließ er sich auf der Anklagebank nieder. Nachdem vier Heizer der „Westfalen" beschworen hatten, Heinrichs Stimme sei dieselbe, welche damals im Kanal die falschen Befehle in die Heiz- Und Maschinenräume gegeben habe, zog sich das Militärgericht Zurück zur Beratung.
Bald schallte das Urteil: „Im Namen des Königs ist der Angeklagte, der Matrose Heinrich Hölzel, vom Kommandanturgericht Wilhelmshaven wegen Meuterei zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die militärischen Ehren aber werden ihm wegen seiner Verwegenheit belassen!"
Seelenruhig nahm Heinrich den Richterspruch hin. In seiner Zelle durchrieselte ihn trotz allem Freude, weil es dem Jann gelungen sein musste, die Bomben und sich selbst in Sicherheit zu bringen, und weil also die Aktion nicht von dem Vertrauensmann denunziert worden war. Und deshalb triumphierte Heinrich. „Nun mag geschehen, was will! Der revolutionäre Zirkel besteht!"
Anfang Dezember 1915 wurde Heinrich von drei bewaffneten Unteroffizieren nach der Marinestrafanstalt Köln am Rhein transportiert. Durch strahlendes Großstadtleben, vorbei an tannenduftenden Plätzen schleifte die Militärbestie die Beute nach ihrer Höhle.
Das schwere Tor der Festung hatte sich hinter Heinrich geschlossen. Unaufhörlich schüttete der Himmel Regen.
Eine Stunde schon stand Heinrich im Festungshof vor dem Aufnahmebüro. Plötzlich schrie ein Hauptmann: „Wo ist der Kerl?" Und während der Dom feierliches Geläute über die weihnachtsfrohe Stadt goss, grinste der Offizier nach dem Heinrich. „Freundchen! — Den Schlüssel zu dem Ausgangstor hier haben Sie: Entweder Sie fügen sich bedingungslos, oder Sie kommen Ihr Lebtag nicht wieder hinter diesen Mauern raus! Verstanden?" Und dann fauchte er: „Hinleg'n! Auf! Dahin marsch, marsch! — Zurück marsch, marsch!" Herzlose Befehle schleiften den Heinrich durch den Dreck, bis er abgehetzt liegen blieb. Hungrig, müde, matschig bis auf die Haut, trieben dann die Henker nach schamloser Leibes- und Aftervisitation den Heinrich in den Kerker und schmissen ihn auf sein Lager. Aber die Nacht, die dunkle Nacht, erbarmte sich endlich über das Grauen. Zerrüttet sank Heinrich in wohltuende Erschöpfung.
„Ist der Kerl noch nicht hoch?"
Erschreckt schnellte Heinrich vom Lager in militärisches Starren. „Scheißkübel raus!" So wurde Heinrich am Weihnachtsmorgen geweckt.
Die Klappe an der Zellentür, durch welche die Nahrung gereicht wurde, fiel zurück. „Kaffee! Brot gibt's heute... " Der Schlag der zugeworfenen Kosttüre verschluckte die letzten Worte. Wieder sprang die Zellentür auf. Der Abteilungsfeldwebel visitierte den Kerker. „Schweinekerl! Soll das 'n Bett sein?"
Der begleitende Korporal zerrte die blau und weiß karierte Zudecke in die Mitte der Zelle. „Der Scheißkorb wird mir gebaut wie eine Zigarrenkiste so kantig! Die Zudecke ist unten, oben und in der Mitte zweiunddreißig Karo breit, aber haargenau!" Dann wandte sich der Feldwebel nach dem Korporal. „Sie melden mir in zehn Minuten, dass der Kerl fertig ist!"
Mit verbissener Miene verließen endlich die beiden die Zelle. Heinrich fasste sich an die Schläfen. Und stöhnte: „Fünfzehn Jahre... " Wütend ballte er die Fäuste: Der revolutionäre Zirkel wird mich schon rächen!
„Achtung! — Zum Kirchgang — raustret'n!"
Zack! Wie auf einen Schlag klappten auf den Galerien des Zellenbaues Türen und Hacken.
Weihnachtsgottesdienst. Der Choral war in atemloser Stille verklungen. Der Hauptmann sprach. Laut warfen die Wände seine brutalen Worte ab in ängstlich ergriffene Herzen. Sein „Wehe dem... " verhallte langsam unter fröstelnden Menschen. Dann kam der Pfaff, zeigte den abgeschreckten, schmachtenden militärgefangenen Leibern den Kelch und soff ihn aus.
Ruhelose Schritte in den Zellen. Wild stürmte es in Heinrichs Hirn. Endlich war Weihnachten vorüber.
„Wenn Sie Ihr Tagespensum Arbeit nicht leisten, fliegen Sie ins Dunkel, bei Wasser und Brot!"
Der Feldwebel ließ dem Heinrich einen Armvoll zugeschnittener Unterhosen vorwerfen. „Was sind Sie von Beruf?"
„Seemann, Herr Feldwebel!"
„Na, dann aber man ran und feste ins Zeug!"
An langen Tischen im Arbeitssaal saßen stumm, mit knurrendem Magen, die Militärgefangenen und nähten.
„Achtung!"
Die Köpfe ruckten in die Höhe. Die Augen richteten sich nach dem Aufsichthabenden.
„Fertigmach'n zum Austret'n!" Behände wurden Nadel und Zeug zur Seite gelegt.
„Raustret'n!"
Die Soldaten waren im Festungshof in zwei Reihen hintereinander angetreten. „Zu vieren abzähl'n! In Gruppen rechts schwenkt — marsch!"
Im Paradeschritt marschierten die Militärgefangenen zum Abort.
„Beine raus! — Zurück marsch, marsch!" Wild stürmten alle an den Standplatz.
„Achtung! Wenn ihr eure Kackstelzen nicht hochschmeißt, ziehe ich euch im Dreck rum, bis euch die Zunge am Boden schleift! Abteilung — marsch!"
Die Soldaten hatten ihre Notdurft verrichtet und saßen wieder an ihrer Arbeit. Plötzlich schrie der aufsichtführende Unteroffizier in die traurige Stille: „Sie unverschämter Lümmel! Sie hab'n erst um Erlaubnis zu bitten, wenn Sie sich schnäuzen müssen!"
„Marinegefangener Hölzel bittet, das Taschentuch benutzen zu dürfen!"
Heinrich errötete vor Scham und Zorn.
Kaum hatte sich Heinrich die Nase geputzt, da schrie der Korporal: „Achtung! — Fertigmach'n zum Exerzier'n!"
Schnell reinigten sich die Militärgefangenen. „Raustret'n! — Abzählen! — Rechts um! Marsch!"
Zehn Uhr vormittags. „Das Ganze - halt! Richt' euch!"
Wie angewachsen standen zweitausend Militärgefangene im Isolierhof der Festung. Die Unteroffiziere meldeten einem Offiziersstellvertreter ihre Korporalschaften. An den Militärgefangenenhänden bis der Frost.
„Achtung!" Der Feldwebel hatte das Kommando übernommen. „Der Größe nach angetret'n — marsch, marsch!" Wild stoben die Soldaten durcheinander. Und schon wieder standen sie in „Reih und Glied" — wie angefroren. „Noch mal zurück — marsch, marsch!" Scheu, mit Aufwand ganzer Kraft, liefen alle an ihre alten Plätze, gejagt von tierisch brüllenden Korporalen.
„Was ist mit dies'n? Woll'n die nicht mehr?" Einige Militärgefangene wälzten sich jammernd auf der kalten Erde. „Der war verschüttet!" „Der hat 'n Kopfschuss!" „Der hat 'n Bauchschuss!"
„Der hat 'n Nervenschock!" so lautete die Antwort der Unteroffiziere. „Dort an die Wand leg'n! — Auszappeln lass'n! Die Krüppel links raus — marsch, marsch! Das übrige anfangen mit Laufschritt."
Scharf blies eisiger Ostwind. Der Isolierhof dröhnte.
An der Mauer lagen Wimmernde. Davor standen mit der Krücke oder mit einem oder zwei Stützstücken die Verstümmelten und machten auf Befehl — Kopf- oder Fußrollen. Die mit schwulstigen Narben, mit Geschoß- und Granatsplittern im Körper folgten mit schmerzverzerrtem Gesicht dem Kommando:
„Kniebeuge! — Ei-n-s! — Zw-ei-i-i! — Ei-n-s! — Zw-ei-i-i!" Der große Haufen dampfte.
„Achtung! — In Korporalschaften angetret'n marsch, marsch! — Einrück'n!"
Zweitausend Gefangene seufzten zum Himmel. „Fertigmachen zum Appell! — Mit Waschschüssel, mit Essnapf und mit dem Urinkübel! — Raustret'n!"
Die Verzweifelten zitterten vor Kälte, Hunger und Anstrengung.
Endlich! „Achtung! — Fertigmachen zum Essenhol'n! Tretet — weg!"
Erlöst stürzten die deutschen Soldaten die Galerien hoch, in ihre Zellen.
„Wehe dem, der es hier wagt, als Mann zu handeln!" hauchte Heinrich.
Die Essklappe schlug zurück. „Ess'n!"
Gierig schlürfte Heinrich den halben Liter warme Brühe und verschlang sein Stück Brot. „Schüssel raus!"
Nachdem schlug die Glocke der Zentrale. Die Militärgefangenen rückten wieder in ihre Arbeitssäle.
Endlich war es sieben Uhr abends. Dann noch einen halben Liter Wassersuppe. Und die Nacht kam.
3.
Wie die Kriegslazarette, so hatten sich auch die militärischen Strafanstalten des Reiches und der besetzten Gebiete gefüllt. Aber fortwährend schmissen die Fronten neue Massen unwillig Gewordener hinter jene Mauern. Um all die Militärgefangenen zu bergen, wurden schließlich die großen zivilen Zentralgefängnisse verwendet. Mit Genugtuung sah Heinrich das Abbröckeln militärischer Macht. Kurz nach Neujahr 1916 kam er mit noch etlichen hundert Kameraden nach dem Zentralgefängnis Berlin-Tegel.
Die Strafbehandlung ward durch die stetig wachsende Zahl der Militärgefangenen und durch die steigende Not im Lande immer brutaler. Heißhunger und entmenschte Vorgesetzte trieben viele der vogelfreien Soldaten zum Wahnsinn und Selbstmord. Wut und Hass gegen die Tyrannen quälten Heinrich. „Wehe, wenn der Tag der Abrechnung kommt!" schrie er eines Nachts aus seiner Zelle. Laut schallte das Echo in dem hohlen Zellenbau und verklang in vielstimmigem: „Ra-che!" Da stürmten die Henker heran. Aber die Zellen schwiegen...
Es war Herbst 1916.
Das Fleisch von Heinrichs Körper war weg. In langen Reihen hintereinander standen im Gefängnishof die lebenden Skelette feldmarschmäßig, ohne Waffen, fertig zum Abtransport nach Nordschleswig.
Mitten durch die Freiheit raste der Sonderzug mit Militärgefangenen. Aus den Rahmen der Wagenfenster schmachteten bleiche und zerfallene Gesichter. Die verstaubten Lungen mit Freiheitshauch blähen und die von den Kerkermauern niedergehaltenen Blicke wieder ins Weite unter Menschen schweifen lassen zu können löste aus all den gefangenen Soldaten andächtige Freude. Heinrichs Blicke fraßen geradezu Natur und Leben. Doch tückisch verhängte der Himmel die Freiheit mit undurchdringlichem Dunkel...
Aus dem Schleier der Nacht erhoben sich in der Ferne abseits der Welt schwarze Baracken ins Grau des aufbrechenden Tages: das Gefangenenlager. „Lügumkloster!"
Der Sonderzug hielt. Die erwartungsvollen Soldaten wurden ausgeladen, wie Vieh abgezählt, und dann querfeld ins Gelände — in ungeahntes Elend getrieben. Im Gefangenentrupp tappte Heinrich stumm, an die Freiheit denkend. Plötzlich erhielt er einen Stoß mit dem Gewehrkolben gegen die Rippen. Ein deutscher Soldat — einer vom Wachtpersonal, fauchte ihn an: „Vordermann! — Abstand halt'n!"
Herbststurm heulte in der zwei Meter hohen Stacheldrahtumzäunung des Gefangenenlagers. Wie Riesensärge lagen die schwarzen, fensterlosen Baracken. Davor standen lange Reihen schauernder Militärgefangener. „Achtung! — Die Augen — links!"
Der Lagerkommandant schritt mit Monokel und Reitpeitsche die lange Elendsfront ab. „Kerls! — Von jetzt ab werden Vergehen als vor dem Feinde begangen bestraft!" Dann grinste er. „In einer Stunde besichtige ich die Quartiere! — Einrücken!"
Dunkelheit und faulenden Dunst hauchte der aufgesperrte Rachen des Feldgefängnisses. In Heinrichs Adern fror das Blut. „Los! Rin marsch, marsch!"
Mit Kolbenhieben trieb das Wachtpersonal eine Kompanie Menschen durch die enge Tür. Wer stolperte und fiel, wurde zertrampelt.
Die Barackentür schloss sich.
Endlich waren die Militärgefangenen zur Ruhe gekommen. Aus den durch die Mitte der Baracke zu einer langen Reihe ausgerichteten und vierfach übereinander stehenden Schlafkasten drang seufzendes Schnarchen. Nur in einem ganz oben flüsterte es noch: „Ja, ja, ich fühle, hier gehen wir zugrunde!" Im spärlichen Mondschein, der durch den engen Luftschacht fiel, schüttelte Heinrich seinen mit verfaultem Laub gefüllten Strohsack auf und legte sich nieder.
Kolbenschläge an die Schlafkasten und wüstes Geschrei schreckte die Gefangenen auf. Ein neuer Tag begann.
Es war früh vier Uhr, als die dreizehnte Arbeitskompanie die Baracke verließ, um Essen zu holen. Und eine Stunde später, durchgeregnet und von Frost geschüttelt, stülpte Heinrich die dünne und gallenbittere Kunstmehlsuppe in sich hinein. Seine erste Nahrung außer einem Pfund Brot seit der Abreise von Tegel. Gleich nach dem Einnehmen der Morgensuppe brüllten die Korporale: „Austret'n!" Und kaum hatten die Soldaten ihre Notdurft verrichtet, da schrie das Wachtpersonal in die unheimliche Stille der Baracke: „Zum Arbeitsdienst — raustret'n!"
Gegen den Wind gelehnt, standen, wie aus Stein gemeißelt, zehn Kompanien Gefangener im Matsch des Lagerhofes, die Mäntel trugen diese Soldaten zusammengerollt über der Schulter. Ihr Brotbeutel und Kochgeschirr waren leer. Vor und hinter der jammervollen Reihe gruppierte sich in Mänteln und ein Zelttuch übergehängt, das Wachtpersonal — mit geladenem Gewehr. Ein Gardeoffizier postierte sich vor das Ganze. „Ich mache drauf aufmerksam, dass bei Fluchtversuch, tätlichem Angriff, Arbeitsverweigerung und Ungehorsam rücksichtslos von der Waffe Gebrauch gemacht wird!" Dann übernahm ein Offiziersstellvertreter das Kommando zum Abrücken, worauf die Militärgefangenen im Paradeschritt das Lager verließen. Endlich, als alle von oben bis unten mit Schlamm bespritzt waren, erscholl: „Rührt euch!" Und stumm, im Gleichschritt, bewegte sich der Jammerzug nach dem unbekannten Arbeitsplatz.
Auf der Station Lügumkloster hatten die Militärgefangenen einen bereitstehenden Zug nach Scheerebeck bestiegen. Dort wurden sie in einen Pionierpark geführt, woselbst je sechs Mann ein sieben Meter langes Feldbahngeleise auf die Schultern nehmen mussten. Dann grinste der aufsichthabende Offizier. „Ma-a-rsch!" Und langsam ging der Gefangenentrupp mit der schweren Last vorwärts... Es regnete: Es goss!
„Wo sollen die Geleise hinkommen?"
„Habe keine Ahnung, Kamerad!" Kaum hatte Heinrich seinem Nebenmann die Antwort zugeflüstert, da sank er auch schon in den Kot der Straße: Ein Unteroffizier, der ihn sprechen hörte, hatte ihm deswegen einen Fußtritt gegen den Magen versetzt. Wie ein Wurm krümmte sich Heinrich im Dreck und rang nach Luft. Neben ihm schrie der Unmensch: „Eine Minute Pause!"
Die zitternden Gefangenen hatten ihre Last wieder auf die Schultern genommen.
„Aufsteh'n! Sie soll'n aufsteh'n!" Heinrich griff in die aufgeweichte Straße, um dem Befehl nachkommen zu können. Aber vergebens.
„Was! — Sauhund! — Willst markieren?" Wie wahnsinnig stieß der Wachtmann mit dem Kolben auf Heinrich ein. Heinrichs Gesicht war Blut und Straßendreck. Seine einstigen Riesenkräfte hatte die barbarische Strafe längst aufgezehrt. Wie verendet lag er mit dem Gesicht im Schlamm. Da überkam den Korporal plötzlich Furcht vor der Verantwortung. Deshalb redete er geheuchelt in gutmütiger Weise auf den Stöhnenden ein. Dann pflanzte er sein Seitengewehr auf, hob Heinrich am Rockkragen hoch und warf ihn auf den Rücken. „Ich gebe Ihnen jetzt zum letzt'nmal den Befehl: Sie soll'n aufsteh'n!" Heinrichs Glieder zuckten.
„Ich mach von der Waffe Gebrauch, wenn Sie nicht woll'n! - Hör'n Sie?"
Allmählich vermochte sich Heinrich aufzurichten.
„Sie unverschämter Sauhund! Sie woll'n sich verstell'n! Was? Laufschritt — marsch, marsch!"
Nach langem verbissenem Sichfortschleppen bat Heinrich, seine Fußlappen richten zu dürfen.
„Nein! Die Schuh bleib'n angezog'nü Nachher komm'n Sie nicht mehr rin in Ihre Quadratlatsch'n!"
Nun bat Heinrich, wenigstens, „einen Moment bloß", rasten zu dürfen. Und wirklich, die sadistische Bestie erbarmte sich. Heinrich setzte sich ins nasse Gras. Er wünschte sich tot.
„Auf!" Heinrich bis sich verzweifelt auf die Zunge. Seine Augen schauten irr. Immer vorwärts musste er, dem Gefangenentrupp nach. Links und rechts der Straße im Graben lagen vereinzelt, dann immer mehr andere Kameraden, die auch unter der schweren Last zusammengebrochen waren und nach den kurzen Ruhepausen nicht mehr die Kraft aufbrachten aufzustehen.
Deutsche Männer lagen wie Tote im Dreck der Straße. Daneben stand, wie Kettenhunde bellend, das Wachtpersonal. Da kam der Begleitoffizier vom Gros zurück. „Wer nicht unter seinem Geleise zum Bestimmungsort kommt, kriegt — heut abend — nichts zu fressen!" Er spottete: „Hättet ihr eure Pflicht an der Front getan, dann wärt ihr schon längst kaputt, und man müsste sich nicht mit solch'm Gesindel rumärgern! Auf! Oder ich lasse auf euch feuern!" Mit geradezu viehischer Kraft rafften sich die Zusammengestürzten auf und quälten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter, immer weiter. Endlich, unter unsäglicher Mühsal, hatte auch Heinrich den Gefangenentrupp wieder erreicht. Zwei Stunden später kam das Kommando: „Ha-a-lt!"
Zehn Kompanien legten die schwere Last ab. Alle atmeten erleichtert auf. Es war mittags zwei Uhr. Siebzehn Kilometer hatten die deutschen Militärgefangenen die schweren Feldbahngeleise durch die Heide getragen. Ihre Gedärme zogen sich vor Hunger zusammen. Ihre Seele fror. Und die Glieder schmerzten. Deswegen bekümmerte sich aber kein Vorgesetzter, kein Gott und kein Teufel! Die Gefangenen standen bald wieder in der Marschformation.
„Ma-a-rsch!" Und sie tappten zurück — zurück nach Scheerebeck.
Fünf Uhr abends. Da standen sie endlich paarweise in langen Reihen und stierten und gierten mit gekrümmtem Rückgrat, das Kochgeschirr in gekrampften Händen, nach dem dampfenden Viehkessel.
„Achtung! — Wer sei'n Fraß hat, kommt dann nach hier!" Die Unteroffiziere begannen auszuteilen: einen halben Liter dünne Grießsuppe per Kopf.
„Herr Unteroffizier? — Die Kelle war aber nicht ganz voll!" „Was will der?" schnauzte der Wachthabende. „Auskipp'n!
- Weg marsch!"
Der Gefangene ging mit leerem Kochgeschirr zur Seite, verhüllte das verfallene Gesicht in seinem Vollbart. Und weinte. Langsam schlängelte sich die Reihe am Kessel vorbei. Diejenigen, welche ihre Suppe hatten, standen nach Befehl abseits angetreten, steckten heimlich die Finger ins Kochgeschirr und schleckten sie dann verstohlen ab. „Hinsetz'n! Anfang'n mit Ess'n!"
Ein Schlürfen, Lecken und Schaben! „Ah! — Ob man noch was kriegt?"
Die Unteroffiziere riefen einige Gefangene. Die durften den Viehkessel auskratzen. Wie Raben über Aas, so gierig fraßen vier „glückliche" Gefangene den angebrannten Grieß aus dem Kessel, beneidet von ihren Kameraden. „Achtung! — Antret'n — marsch, marsch!"
Und bald bestiegen die abgehunzten Militärgefangenen die Eisenbahn, die sie wieder nach Lügumkloster brachte.
Während der Fahrt waren die strapazierten Glieder der Gefangenen derart angeschwollen, dass jeder Auftritt neue Qual wurde. Endlich abends acht Uhr war der Drahtverhau des Lagers erreicht. Die Gemarterten seufzten nach der Nacht.
Eben hatten sie den Eingang in die Hölle passiert. „Achtung!" — Paradeschritt war wieder befohlen. Vor den Baracken machten die Kompanien halt. „Abzähl'n!" Dann erfolgte gründliche Leibesvisitation und
— Bekanntgabe der Disziplinarstrafen. „Marinegefangener Hölzel wird wegen Sprechens auf dem
Marsch mit zwei Stunden Anbinden an dem Pfahl bestraft! Einrück'n!"
Um neun Uhr, als die Gefangenen noch einen Liter Sauerrüben verschlungen hatten, erscholl das letzte Kommando des ersten Tages: „Nachtruhe!"
Erlöst kletterte Heinrich nach seinem hochgelegenen Schlafkasten. Das Entkleiden war wegen der Kälte und des vom Dache auf die Laubsäcke tropfenden Regens nicht vorteilhaft! Heinrich würgte sich die Stiefel von den geschwollenen Füßen. Und packte seine quatschnassen Fußlappen zum Trocknen unter sich auf den verfaulten Laubsack. Bald lag der zuckende Leib zähneklappernd in dem nassen und verlausten Schlafkasten des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers.
Am Morgen war es Heinrich nicht möglich, die wunden Füße in die hart gewordenen Stiefel zu zwängen. Barfuss tappte er daher über den schlammigen Lagerhof, um die Morgensuppe zu empfangen. Und später, als die noch Marschfähigen der Gefangenenkompanien zur Arbeit ausrückten, musste er, wie alle Kranken, den Vormittag bei eisigem Regen vor der Arztbaracke warten. Der Arzt behandelte die Fußkranken mit Jod und schrieb sie ohne Bedenken „dienstfähig"...
Um zwölf Uhr wurden sämtliche Kranken des Lagers zusammengestellt und auf einem Feldweg zur Ablegstelle der Feldbahngeleise getrieben.
Gegenseitig sich stützend, plagte sich der elende Trupp vorwärts. Bis einer nach dem andern ganz abgeschunden mit Schaum vor dem Munde in den Dreck stürzte. Verzweifelt schrie Heinrich, als zwei Unteroffiziere auch auf ihn eintraten: „Schlagt mich endlich tot!"
Der Krankentrupp lag mehrere Stunden blutend und wimmernd im kalten Schlamm des Feldwegs. Beim Dunkelwerden kamen Wagen. Wie mit den Toten an der Front, so ging das entmenschte Wachtpersonal mit den Gefangenen um. Ob beim Aufschmeißen auf die Wagen einem Gefangenen der Schädel zertrümmert wurde oder ob einem die Arme brachen und ein anderer erstickte, das war dem Strafvoll-streckungspersonal egal.
Während die Pferde galoppierten, machten die Bedauernswerten jammernd ihre eingeklemmten wunden Körper frei.
Heinrich röchelte wie ein Sterbender. Über seinem linken Auge klaffte eine frische Wunde. Er war bewusstlos.
Langsam waren die ersten Tage in Lügumkloster vergangen. Sonntagmorgen!
Im Gefangenenlager herrschte angespornter Hochbetrieb. Vor einer Baracke wurde gewaschen. In einer Ecke des Lagerhofes wurde stramm exerziert. Währenddessen polierten andere Kompanien die rissigen Stiefel und die verrosteten Kochgeschirre. Dabei grölten wirr durcheinander das Schimpfen und Fluchen des Aufsichtspersonals. Endlich war es Mittag.
„Achtung! — Fertigmach'n zum Appell! Alles mitbring'n!" Den Tornister vor den Füßen, daneben das Kochgeschirr und den Löffel, den Brotbeutel umgehängt, auf dem einen Arm die Schlafdecke, über dem andern den Mantel, so standen die Militärgefangenen.
„Achtung! — Decken vorzeig'n!" Die Musterung begann.
„Sie meld'n sich heut zwisch'n ein und zwei Uhr noch mal mit Ihrer Decke!"
„Herr Feldwebel, ich konnte die Decke nicht reiner kriegen, weil ich keine Bürste habe!"
„Warum antwort'n Sie? War'n Sie gefragt?"
„Nein, Herr Feldwebel!"
„Von zwei bis fünf Uhr antret'n zum Strafexerzier'n! Vielleicht halt'n Sie nächstens Ihr blödes Maul, wenn Sie nicht gefragt sind!"
Der Offiziersstellvertreter hatte die Reihen durchgemustert.
„Deck'n weg! Mäntel zeig'n!"
„Warum komm'n Sie zum Appell mit seichnass'm Mantel? Sie Toppsau!"
„Herr Feldwebel, ich musste den Mantel unbedingt waschen!"
„Wer hat's Ihn'n befohl'n?"
„Niemand, Herr Feldwebel! Er war doch zu schmutzig!" „Eig'nmächtig gehandelt! Ebenfalls von zwei bis fünf Uhr... Verstand'n!" „Jawohl, Herr Feldwebel!"
Nun stellte sich der Offiziersstellvertreter breitbeinig, mit beiden Händen auf den Säbel gestützt, hin, grinste verschmitzt, rieb sich die Nase und fragte: „Was hab'n Sie denn da am Auge?" Heinrich zögerte.
Denn: Hätte er die Wahrheit gesagt, es wäre ihm noch schlechter ergangen. Der Feldwebel holte Luft, um ein Donnerwetter auf ihn loszulassen. Heinrich aber kam ihm zuvor: „Gestoßen, Herr Feldwebel!" „Gestoß'n? An was?" „Am Auge, Herr Feldwebel!"
Höhnisch grinsten die beiden Korporale, die dem Heinrich mit ihren Kommissstiefeln beinahe das Auge ausgetreten hatten.
Der Appell war beendet.
Der Feldwebel machte dem abseits der Gefangenenkompanie stehenden Offizier Meldung. Dann kreischte der Gardeoffizier die Namen derer, die nachmittags zum Strafexerzieren mussten. „Achtung! — Zum Ess'nhol'n — weggetret'n!"
Panikartig flüchteten die Gefangenen mit ihren Sachen in das Dunkel der Baracken.
Eben war die dreizehnte Strafkompanie vom Essenholen gekommen, und schon platzte das Kommando unter sie: „Die zum Strafexerzier'n Abgeteilten fertigmachen zum — Raustreten! Anzug — feldmarschmäßig!" Schnell brachte Heinrich sein Brot und sein Kochgeschirr (halbvoll Dörrgemüse) nach seinem Schlafkasten und betraute den Kameraden neben ihm mit der Aufbewahrung der Nahrung. Und schon erscholl das Kommando: „Zum Strafexerzieren — raustreten!"
Die lahmen und ausgehungerten Gefangenen wurden neben die Lagerküche an einen Haufen Lokomotivenbriketts geführt. Jeder musste zwei Brocken in den mit größter Mühe gereinigten Tornister packen. Dann begann die Hetze. „Paradeschritt! — Laufschritt!
Rechts schwenkt — marsch, marsch!
Hinlegen! — Auf! — Kniebeuge!
Hinsetzen! — Auf!
Dahin — marsch, marsch!
Zurück — marsch — marsch!
Achtung!"
Schweißtriefend, zitternd, wie abgehetzte Hunde, so standen die Gefangenen. „Weggetreten!"
Die Ruhezeit war um.
Heißhunger trieb Heinrich, so verdreckt, wie er von draußen kam, nach seinem Schlafplatz. Sein erster Griff galt der Stelle, wo er mittags in Eile sein Kochgeschirr mit dem Essen und das Brot versteckte. Heinrich starrte wie vom Schlag getroffen. Sein Kochgeschirr war leer, sein Brot weg. Wilder Zorn schrie aus ihm: „Wenn ich jenen Lump kriege, der mir mein Brot und mein Essen gestohlen hat, dem schlage ich alle Zähne in den Schlund!" Die Gefangenen, welche in Heinrichs Schlafkasten wohnten, hockten lautlos. „Wisst ihr nicht, wer der Lump ist?"
Alle beteuerten, nicht gewusst zu haben, dass Heinrich sein Essen und Brot unter dem Kopfteil seines Lagers verborgen hatte. Der aber, dem er das Versteck anvertraute, lag, die Decke über den Kopf gezogen, auf dem Schlafplatz. Ohne ein Wort zu sagen, riss ihm Heinrich die Decke weg und verboxte ihn dermaßen, dass man in der herrschenden Dunkelheit annehmen musste, das Gesicht des Diebes müsse zerfetzen.
„Hast du es getan? Du hast mein Essen gestohlen?"
„Ja!" wimmerte der Dieb.
„Du elender Lump, schämst du dich nicht, deine Kameraden zu bestehlen?" Heinrich verabreichte dem rücksichtslosen Kameraden eine abermalige Lage Hiebe.
Die täglich länger werdenden Märsche führten in grenzenlosen Jammer. Der zu tierischer Gier gesteigerte Heißhunger verschlang alle Selbstachtung. Gefrorene Steckrüben, die von irgendeinem Bauernwagen gefallen waren, wurden Grund zu größten Keilereien unter den Militärgefangenen. Was die Gefangenen fanden und zur Befriedigung des Hungerwahnsinns diente, fraßen sie. Die ihnen abgegebene Nahrung nahmen sie in aller Hast ein, zogen sich in den Hinterhalt, würgten sie wieder aus und fraßen das Ausgespiene noch mal. Hatte einer im Lager in einem unbeobachteten Moment die kostbare Gelegenheit, mit dem Kochgeschirr in die stinkende Tranktonne zu greifen, dann vertilgte er überglücklich die im Regenwasser gärenden Küchenabfälle. Mit dieser Not vereinigte sich der grauenhafte Winter 1916/17. An blutleeren Leibern der Militärgefangenen bissen die Läuse und der Frost. Einer wärmte sich am anderen. Neigte sich endlich der schwere Tag, dann erhob sich zwischen den erschöpft Liegenden die Menschenbestie. Leidenschaftlich spähten diebische Augen nach den lebensnotwendigen Habseligkeiten der Schlafenden.
Mensch — Kamerad war Hohn geworden.
Die Lagerlatrine, wo morgens die Gefangenen aller Kompanien zusammentrafen, war die Lagerbörse. Hier wurde der Raub der Nacht verwertet. Fortwährendes Einundausgehen in der dunklen Pesthütte. Anfragen und Angebote summten durcheinander. Der Handel mit Bekleidungsstücken konzentrierte sich an der langen Urinierrinne. Hinter dem Gedränge auf den Sitzen, wo Gestank wie Zwiebelsaft in der Nase und den Augen bis, war die Lebensmittelabteilung.
Eben drehte sich ein Gefangener aus zerriebenen Zigarrenstumpen, die er von der Straße aufgelesen hatte, mit Zeitungspapier eine Zigarette. „Du, ich geb dir die Suppe dafür!"
„Lass mal sehen! — Ist das die ganze Morgensuppe? Da hast du doch schon davon gegessen! Wenn's die ganze Portion wäre, ja! Aber so... „Gib mir wenigstens die Hälfte der Zigarette dafür."
Der Tausch war gemacht. Hastig trank der eine das Kochgeschirr aus, der andere inhalierte kräftig. „Kamerad, lass mich auch einmal ziehen!" „Ich glaub, du bist verrückt! Ich gab mein Essen dafür." „Aber bevor du wegwirfst, lässt du mich doch mal ziehen! —
Ja?"
„Wenn du nicht machst, dass du fortkommst, schlag ich dir vorn Kopf! Vertausch dein Essen, dann kannst du rauchen!"
Eine andere Kompanie war noch hinzugekommen. Der Morgen war trüb. Nasse Witterung stand bevor. Deshalb war die Nachfrage nach Tabak (weil auf verregneter oder verschneiter Straße nichts zu finden war) außerordentlich.
Ein Mantel — zwei Zigaretten. Drei für ein paar gute Stiefel.
Fußlappen und Suppen kamen außer Kurs.
Die Tagesration Brot stand am höchsten: vier Zigaretten.
Und während der Tausch seinen Höhepunkt erreichte, jammerten in den Baracken die Bestohlenen nach ihren Kochgeschirren, nach ihrem Brot, nach ihren Stiefeln und sonstigem. Die Schwerkranken aber mussten sich in das faulende Warme ihres Schlafsackes verkriechen, denn ihnen waren Hose, Rock, Decke, Mantel und Essen gestohlen worden. Kam beim Frühappell das Stehlen von Bekleidungsstücken und Nahrung zur Meldung, dann war das Fehlende längst in den Händen anderer Kompanien. Jeder trachtete mit allen Mitteln, sein Ich aus diesem Jammer zu retten. Zumal die deutsche Militärjustiz dem, der vor allem ständig seinen schweren Dienst leistete, Strafunterbrechung versprach. Kam es vor, dass doch einige mit Groll gegen die Behandlung sich militärisch verfehlten, so wurden nicht nur diese allein, sondern ihre ganze Kompanie mitbestraft. Der so entfachte Zorn entlud sich nicht gegen die Vorgesetzten, die Unrecht begingen, sondern gegen die eigenen Kameraden.
Meldete sich dann der mit wund und lahm geschlagenem Körper dem Lagerarzt, so wurde er ohne weiteres „krank" geschrieben. Die Korporale aber ließen seine Tagesleistung von der Arbeitsgruppe, welcher der Unglückliche angehörte, mit verrichten und leisteten der Uneinigkeit unter den Gefangenen Vorschub, indem sie die Verbitterten aufhetzten: „Das habt ihr bloß eurem Kameraden zu verdanken!" Der Kompanieführer nannte das alles „Selbsterziehung".
4.
In dieser trostlosen Situation suchte Heinrich nach Mitgefangenen, die noch nicht von der tierischen Selbstsucht verseucht waren, um der furchtbaren Demoralisation in der Baracke mit Gewalt entgegentreten zu können. Denn ihm war brennender Vorsatz, sie alle, die im Grunde genommen doch mit Hass gegen ihr Elend erfüllt waren, zu vereinigen und ihrem Zorn, den sie sich gegenseitig fühlen ließen, revolutionären Inhalt zu geben. Aber bei den Abgeschmachteten, die nur mehr Sinn für die Befriedigung ihrer Gier hatten, waren die Bemühungen Heinrichs nutzlos. Überzeugt von dieser Erkenntnis, sann er nach, wie er trotzdem seinen Zweck erreichen könnte. Er entschloss sich also, durch außerordentliche Tüchtigkeit im Dienst sich nach einer bevorzugten Stellung unter seinen Kameraden emporzuarbeiten, um dann den militärischen Unterordnungszwang der Mitgefangenen ihm gegenüber für sein revolutionäres Vorhaben anzuwenden.
Heinrich gönnte sich nicht mehr die freien Augenblicke der Erholung. Ständig mühte er sich ab, sein Zeug in ordentlichen Zustand zu bringen. Beim Arbeitsdienst, beim Exerzieren und beim Appell fiel er als Muster auf. Das Wachtpersonal schätzte ihn bald als einen willigen, strammen Soldaten.
Nach geraumer Zeit unsäglicher Bemühungen hatte er das erreicht, was er wollte: Der Kompanieführer ernannte ihn wegen seiner „mustergültigen Führung" zum Barackenältesten, dem Verantwortlichen für Ruhe und Ordnung in der Baracke und — Respektsperson unter den Gefangenen.
In seiner jetzigen Eigenschaft hatte Heinrich den Befehl erhalten, die übrig gebliebene Suppe, die von der Lagerküche in die Baracke kam, an Mitgefangene mit guter Führung zu verteilen. Deshalb trachteten die Gefangenen danach, sich bei ihm beliebt zu machen. Er aber hatte sich längst Leute, die er zur Revolutionierung der Militärgefangenen benötigte, vorgemerkt. Es waren die Deserteure und Meuterer. Unauffällig gruppierte er sie um sich, besorgte ihnen, sooft es ging, Suppe, band sie zu einem Freundschaftskreis zusammen und brachte allmählich wieder Rebellenstolz in die Verwahrlosten. Und so war in der verpesteten Baracke eine unsichtbare Wand zwischen den Vertierten, nach Strafunterbrechung Schmarotzenden, und den hoffnungslosen Höchstbestraften entstanden.
Aus dem abenddunklen Wald, durch den die Heerstraße nach der dänischen Grenze führte, krachten Gewehrsalven. Dann kamen aus dem Föhrendickicht die Militärgefangenenkompanien.
„Herrgott! Wenn er bloß durchkommt!"
„Ich wünsche es. Aber ich glaube nicht an das Gelingen einer Flucht in dieser patrouillenverseuchten Gegend!" erwiderte Heinrich.
„Verflucht... , den Julius machen die Hunde ja kaputt, wenn er wieder ins Lager eingeliefert wird! Dem Julius haben sie in einer Woche fünfzig Tage strengen Arrest gegeben. Außerdem trat er beim letzten Exerzieren dem Unteroffizier, der ihn mit der Faust unters Kinn schlug, vor den Magen. Der Tatbestand wegen tätlichem Angriff ist schon aufgenommen worden. Abermals zehn Jahre, das ist die Mindeststrafe dafür, hat er noch zu erwarten. Julius floh vor seinem Tod. Er sah, wie sie den armen Petermann aus dem Arrest brachten. Der hatte aber nur vierzehn Tage in jener verdammten Bretterbude, durch die der Wind den Schnee fegt, gebrummt. Und wie dann die Kameraden, weil sie wegen ihm strafexerzieren mussten, wie rasend Gewordene auf den armen Teufel einhauten... "
„Max, schweige jetzt! Heute Nacht werden wir mal zusammen über unsere Lage sprechen!"
Die erste „Nachtrunde" hatte kontrolliert. Aus den Schlafkasten drang Gestank und Schnarchen. Kümmerlich warf eine Stalllaterne Licht auf ein paar zusammengedrängt hockende Militärgefangene.
„Kameraden, ich muss euch leider mitteilen, dass unser Freund Julius, der gestern auf dem Heimweg dort im Föhrendickicht flüchtete, mit einem Streifschuss am Oberschenkel drei Kilometer vor der dänischen Grenze eingefangen wurde. Er soll wahrscheinlich, so gab mir der Feldwebel zu wissen, morgen abend der Kompanie zugeführt werden. Ihr wisst, dass wir wegen seiner Flucht schwer geschunden wurden. Deswegen hat sich eine böse Stimmung unter den Kameraden gegen ihn breit gemacht. Die Vorgesetzten erwarten, dass er in der Baracke windelweich gehauen wird. Wenn wir Julius vor der Wut der andern nicht schützen, geht es ihm wie dem Petermann. Also! — Es ist unsere Pflicht, endlich mal mit dem Gesindel unter uns gründlich aufzuräumen. Kameraden! — Wir sind den andern gegenüber nur ein kleines Häufchen. Deshalb darf, wenn wir loslegen, absolut keine Rücksicht genommen werden. Es wird so lange draufgehauen, bis alle am Boden liegen!"
„Selbstverständlich, Hein!"
„Gut! — Ist der Trubel aber um oder kommt die Wache dazwischen, dann schnell in die Schlafbunker und nicht mehr gemuckst. Das Weitere mache ich."
Nachdem Heinrich mit der Verteilung der einzelnen Posten und der Knüppel fertig war, wünschte sich der mühselig zustande gekommene Freundschaftskreis „Gute Nacht!". Und alle krochen in ihre Schlafkasten. Dann kam die zweite Nachtrunde.
Aber alles schlief.
Die Gefangenenkompanie war wieder vom Tagesmarsch zurückgekommen und saß, die Kochgeschirre zwischen die Beine geklemmt, den Löffel in der steif gefrorenen Faust, beim Verschlingen der Abendsuppe. Plötzlich knallte unter sie das Kommando: „Achtung!" — Einige Unteroffiziere hatten die Baracke betreten. Die Militärgefangenen stellten ihre Kochgeschirre vor sich auf den Boden und verharrten in militärischer Haltung. „Raustreten zum Exerzier'n — marsch, marsch!"
Knurrend wie Hunde, denen man den Knochen aus der Schnauze riss, traten die Gefangenen über ihre Kochgeschirre in den Gang und rannten unter dem Gebrüll der Korporale aus der Baracke. Gleich standen sie auf dem Lagerhof in Reih und Glied.
„Ich will euch Saubande helfen, auszureißen! Ihr bekommt zuviel zu fressen! Euch geht's zu gut! Hinlegen! Auf!"
Drinnen stand das bisschen Abendsuppe und wurde kalt. Und draußen wurden die Heißhungrigen und Todmüden nach ihrer schweren Tagesleistung noch zwei Stunden im Dreck und Frost herumgejagt. Erst als über fünfzig Militärgefangene ohnmächtig am Boden lagen und die übrigen vor Verzweiflung schäumten, kreischte der Gardeoffizier endlich: „Achtung!"
Der Gardeoffizier trat vor die Zitternden. „Kommt es noch einmal vor, dass so 'n Saukerl ausreißt, dann geht's euch noch dreckiger! Feldwebel! — Bring'n Sie den Kerl her!"
Julius stand der Dunkelheit wegen unkenntlich zwischen dem Kompanieführer und dem Feldwebel.
„Sie soll'n das rufen, was ich befohl'n habe. Woll'n Sie oder nicht? Ich gebe Ihnen jetzt zum letzten Mal den direkten Befehl. Sie soll'n das rufen, was ich Ihnen befohl'n habe!"
Zitternd kam Julius diesem verbrecherischen Befehl nach. „Kameraden, ebendie Parade war famos! Ich habe meine Freude daran gehabt, deshalb morgen abend noch mal!"
Wütende Blicke blitzten aus den Reihen der Gefangenen. Der Gardeoffizier: „Barackenältester!" „Hier, Herr Oberleutnant!" „Herkomm'n!"
Heinrich stand vor dem Offizier.
„Sie sorgen dafür, dass dem Kerl nichts, ja nichts passiert! Verstand'n! — Weg!"
Heinrich lief nach seinem Platz.
„Kommt noch mal so was vor, dann wehe euch! Weggetreten — marsch, marsch!"
Heinrich rannte zu Julius, der dastand wie ein zum Tode Verurteilter, und flüsterte ihm schnell zu, wie er sich in der Baracke verhalten sollte.
Während sich Gefangene allmählich an Julius, der in Heinrichs Nähe war, heranmachten, nahmen Heinrichs Freunde unauffällig ihre angewiesenen Posten ein. Jetzt fielen zwei über Julius her. Mit einem Sprung war Heinrich an Julius' Seite, zerrte ihn in einen gesicherten Schlafkasten und schrie: „Ruhe!" Das war das Signal... Sofort erlosch die Laterne. Dann hörte man nur Getrampel, Hiebe und Aufschreien. Die Gruppen Heinrichs, die sich an den Enden des Haupteingangs beiderseits der Schlafkasten postiert hatten, hauten mit ihren Knüppeln den überraschten Gefangenenhaufen nach der Mitte. Dort prasselten blindlings von den Schlafkasten herab knorrige Prügel auf die unten zusarhmengedrängten Köpfe. Aus den kleinen Gängen zwischen den Schlafkasten, welche die beiden Hauptgänge verbanden, drang bereits entsetzliches Wimmern. Aber Heinrich gab noch nicht das Signal zum Einhalt.
Draußen vor der Tür standen grinsend die „Herodes", ahnten aber nicht die revolutionäre Aktion in der Baracke. Endlich schrie Heinrich: „Ruhe! — Was ist hier los?! — Wache! -Wache!"
Ein Getrampel, als ob Pferde über verfaulten Holzboden galoppierten.
Die Barackentür öffnete sich. Das Laufen und Stolpern hörte auf.
„Barackenältester! Warum brennt hier kein Licht?! Was geht hier vor?"
„Herr Oberleutnant, ich weiß nicht! Ich rief eben die Wache!" „Unteroffiziere! Sofort nachsehen!"
Grelles Licht der Taschenlampen stach in blutunterlaufene Augen. Aus dem Dunkel grinsten die Korporale über die wimmernd am Boden Liegenden.
Fußtritte. Kolbenhiebe. Schnauzen. Das Nachsehen war beendet. Und der Feldwebel machte Meldung: „Baracke in Ordnung!" Dann wandte sich der Kompanieführer. „Der Vorgang wird am nächsten Sonntag untersucht!"
Das Wachtpersonal verließ die Baracke.
Noch in derselben Nacht ließ Heinrich durch seine Freunde in alle Schlafkasten die Parole bringen:
„Hütet euch, mit Vorgesetzten außerdienstliche Gespräche zu führen. Wer bei der Untersuchung gefragt wird, sagt, er hat in der Dunkelheit nichts gesehen und auch niemand erkannt! Wer anders handelt, den holt der Tod!"
Schmerzfiebernd staunten die verwundeten Gefangenen über den seltsamen Geist, der auf einmal in die Baracke eingezogen war.
Die Untersuchung des Vorfalls am Abend der Keilerei sollte stattfinden. Die Gefangenenkompanie stand auf dem Lagerhof. Der Offizier rief Heinrich vor die Front. „Melden Sie mir, was sich damals in der Baracke zugetragen hat!"
Heinrich berichtete: „Herr Oberleutnant, wir aßen unsere Abendsuppe, als der Befehl kam ,2um Exerzieren raustreten!'. Die Kompanie stellte die Kochgeschirre auf den Boden und begab sich im Laufschritt auf den Platz. Nach dem Strafexerzieren wurde der Befehl ,Weggetreten marsch, marsch!' gegeben. Alle liefen, so schnell wie sie nur laufen konnten, in die dunkle Baracke. Da wurden Kochgeschirre umgerannt und gestohlen, deswegen entstand eine Schlägerei, wobei die Laterne umfiel. In der Dunkelheit wurde die Stehlerei und die Keilerei schlimmer. Ich gebot mehrmals Ruhe. Als ich einsah, dass in dem Dunkel das Durcheinander nicht nachließ, rief ich die Wache!"
„So 'n Viehzeug! Sie als Barackenältester sorg'n nächstens besser für Ordnung, oder ich lasse Sie einsperr'n! Weg!"
Die Untersuchung war beendet.
Heinrichs Aussage hatte Glauben gefunden.
Unter dem Schein militärischer Selbsterziehung begann Heinrich mit der Revolutionierung seiner Mitgefangenen. Rücksichtslos wandte er sich gegen seinen größten Feind, den tierischen Selbsterhaltungstrieb der Kameraden. Waren Stehlereien vorgekommen, dann plazierte er den Bestohlenen in seine Nähe. Und über den diebischen Schlafkasten und dessen Umgebung kam nachts jener Geist, den er zum ersten Mal, um Julius zu schützen, beschworen hatte. Nach kurzer Zeit war es Heinrich auf diese Weise gelungen, einen Teil der besseren Elemente aus der Demoralisierung herauszuziehen. Auch baten ihn viele um persönlichen Schutz vor dem nächtlichen Terror. Alle diese schloss er dem revolutionären Freundschaftskreis an. Und bald hatte er jene, die zur Selbstermannung nicht mehr fähig waren, abgesondert.
Alte Energie und Schaffensfreude belebte wieder Heinrichs mau gewordene Augen. Seine schwer errungenen Erfolge machten ihn unermüdlich. Bis spät in die Nacht hockte er oft unter seinen Freunden. Hell glühten da schöne Erinnerungen.
Alle lauschten andächtig. „- Und jetzt?"
Vor der schrecklichen Gegenwart erschauerten die aus der Menschheit Verbannten.
„Wer ist schuld an unserem Elend? — Der Krieg! Der Krieg!
Wer ist schuld an diesem heillosen Menschenmorden? — Die Reichen! Die Kapitalisten!
Und warum? — Weil sie mehr verdienen wollen! Nur um des Profits der Reichen willen bluten, leiden und sterben Millionen Menschen! Schuld an unserem Elend sind ihr Staat und ihre Kirche! Kameraden! Wir müssen fest zusammenhalten, um vereint mit dieser verrohten Gesellschaft abrechnen zu können! Nur Mut! Wir haben nichts mehr zu verlieren! — Wohl aber können wir eine ganze — eine neue Welt gewinnen!"
Viel deutlicher fühlten die Hockenden durch diese Worte, was sie erlebten. Und wie erst Heinrich allein, so ging nun der größer und fester gewordene Freundschaftskreis gegen die in der Not Verkommenen vor.
Unverzagt rettete der Heinrich seine Kameraden immer mehr aus der militärischen Demoralisation. Neben der diktatorischen Faust zeigte er auch die helfende Hand. Seine vornehmste Besorgnis galt den verrotteten und hilflosen Schwerkranken. Diese holte er in die unteren Schlafkasten, weil da die Beobachtung und die Pflege praktischer war. Der so entstandenen Krankenabteilung wies er ein Pflegekommando unter Aufsicht eines Mitglieds des Freundschaftskreises zu. Andere im Charakter wieder verlässlich gewordene Gefangene verteilte er als seine Vertrauensleute in alle Schlafkasten. Der schleichenden Menschenbestie waren somit die Zähne gezogen, und leise wehte kameradschaftlicher Geist durch die verpestete Baracke. Auch brannte der Ofen, welcher sonst mit vier Kilogramm Kohlengrus die große Menschenremise erwärmen sollte, bis zum Morgen. Das er-
reichte Heinrich durch seinen Befehl, dass jeder abends nach dem Tagesmarsch an ihn ein Stückchen Holz abzugeben hätte. (Im Pionierpark lagen genügend Holzstücke herum.) Ruhrkranke, die nicht zur Arbeit ausrückten, beauftragte er mit der Instandhaltung des Feuers während der Nacht. Dabei mussten sie auch dafür sorgen, dass morgens beim Wecken sämtliche Fußlappen getrocknet waren. So begann für alle der Tag mit einer heißbegehrten Wohltat. Überhaupt atmeten die schwergeplagten Militärgefangenen im Genusse des Menschlichen, das ihnen Heinrich verschaffte, ordentlich auf. Und nannten ihn, „den Rücksichtslosen", auf einmal „einen feinen Kerl".
Bei seinen Erzählungen, an denen sich die meisten beteiligten, wies er immer wieder darauf hin, wie anders sich die barbarische Strafe gestaltet, wenn alle für einen und einer für eintritt. „Das ist Sozialismus!" rief er unter die Gefangenen Und erklärte: „Würden alle, alle Geknechteten sich wie wir rechtlosen Militärgefangenen zusammenraffen, dann wäre das Leben ein menschlicheres. Das ist doch euer Wunsch. Und der muss aber auch euer Ziel werden!"
Nach einiger Zeit war es tatsächlich zustande gekommen, dass jeder Gefangene abends einen Löffel Suppe für den Kameraden abgab, der grad aus dem Arrest kam. Dieser Erfolg ermutigte den Heinrich so, dass er unter seinen Kameraden von der Verwirklichung des Sozialismus zu sprechen begann. „Revolution!
Die furchtbaren Vorgesetzten stürzen in den Dreck da draußen!
Die Reichen aus ihren Sesseln schmeißen! Sie arbeiten lassen, feste!
Gleichen Anteil haben an allen Erzeugnissen der Erde!
Kein Krieg mehr!
Nicht mehr Militärgefangener!"
Diese Gedanken beseelten die Abgeschmachteten wie Wein. Und bald fühlten sie sich leichter und folgten den Anweisungen Heinrichs nunmehr, ohne sich zu sträuben.
Eine Militärkommission hatte das Gefangenenlager besichtigt und dem Kompanieführer der dreizehnten Arbeitskompanie Lob über den ordentlichen Zustand der Baracke gezollt... Aber misstrauisch betonte sie die oppositionell gefärbten Antworten der Militärgefangenen beim Befragen über Nahrung, Arbeit und Unterbringung.
Längst war dem Kompanieführer die wesentliche Wandlung seiner Kompanie aufgefallen. Jetzt aber roch er Lunte! Und begann, die selbständig gewordenen Militärgefangenen mit scharfen Verordnungen zu unterdrücken. Das brachte die Zerstörung der aufopfernden Arbeit Heinrichs. Mit seiner alten Zähigkeit versuchte Heinrich seine Schöpfung zu retten, aber er wurde krank.
Groß hingen die Eiszapfen vom inneren Dach in die Baracke und leckten auf die Nachtlager. Das Feuer im Ofen musste wieder abends um neun Uhr gelöscht werden. In der Lagerküche übrig gebliebene Suppe verteilten seit kurzem — die Korporale. Und der Krankendienst war Disziplinarstrafe geworden. Die besten Militärgefangenen hatte die Ruhr in die Schlafkasten geworfen. Von Lungenentzündung niedergehalten, sah Heinrich sein mühevolles Werk in den alten Sumpf versinken. Das namenlose Elend schrie: Rette sich, wer kann! Heinrichs Zustand wurde schlimmer. Mit Aufwand letzter Kräfte riss er sich jeden Morgen auf und schleppte sich vor den Arzt. Bis er schließlich, in hohem Fieber lachend, nach dem „Militärgefangenen- und Seuchenlazarett Schleswig" übergeführt wurde.
5.
In der Nacht schienen die beschneiten Stämme des Eichenwaldes, durch den der Fußweg von der Stadt Schleswig nach dem Gefangenenlazarett führte, als gewaltige Säulen, die
den Himmel trugen. Plötzlich wurde das tiefe Schweigen in diesem wuchtigen Gewölbe von barschen Menschenstimmen zerstört. Blanker Stahl blitzte. Aus dem Schnee ließ der Mondschein zwei Soldaten mit Bajonetten erkennen und beleuchtete ein hohlwangiges Gesicht am Boden. „Woll'n Sie etwa schon hier verrecken? — Auf!"
Dann halfen die zwei Soldaten einem uniformierten Knochengestell auf die Beine. Zwischen knirschenden Schritten hauchte ein Militärgefangener röchelnde Seufzer in die kalte Nacht.
Der Wald war zu Ende. Kaum sichtlich, mit Drahtverhau umzäunt, standen geduckt vier verschneite Baracken: das Seuchenlazarett. Bald lag Heinrich auf einem Feldbett zwischen schwer Ruhrkranken.
Gleichgültig und abgestumpft begann der Sanitätsoffizier die Visite in Baracke vier. Sein Blick galt nur der Kopftafel über den Betten. Hinter ihm tappte, blöd, mit wässerigen Augen, der Krankenwärter, ein ostfriesischer Heidebauer.
„Sind Zugänge da?"
Der Wärter zeigte nach dem Patienten am Anfang der fünfzig Betten zählenden Reihe, die aber bereits abgeschritten war: „Jawohl, Herr Stabsarzt, dort in der ersten Koje! Hei is awer all im Totenschuppen!"
Die Visite nahm ihren Fortgang an der gegenüberliegenden Reihe. Empört blieb der Arzt plötzlich vor einem Bett stehen. „Nehmen Sie gefälligst Ihre Flossen unter der Zudecke hervor, wenn ich an Ihrem Bett vorbeigehe!" Er ging weiter. „Was ist mit diesem?"
„Der? — Der is hüt morgen storben!"
„Warum liegt die Leiche noch nicht im Schuppen? — Nachher... , aber sofort. Haben Sie gehört?"
Er kam an Heinrichs Bett. „Fieber nachgelassen?"
„Ja-wohl!"
„Fühlen Sie sich sehr schwach?"
„Ja-wohl!"
„Wie lange liegen Sie schon?"
„Vier Wochen!"
„Ja, natürlich... !" Der Arzt wies nach Heinrichs Kopftafel. Und schaute zum Wärter. „B auswischen!"
Während der Torfbauer sich auf die Finger spie, um das Zeichen für „bettlägerig" zu entfernen, befahl der Arzt dem Heinrich: „Sie können aufstehen!"
Die Visite war beendet. Heinrich hatte sich auf seine schwachen Beine gestellt. Schwerfällig, wie bei Seegang, stieg er in die stinkende Uniform.
„Na, Hölzel, dat heste nu achter dir! Ick hew nit gläuvt, dat du noch mol opleven deist! Nu nimm mal erst en' op die Back', dann woll'n wi die Kojen holen und den Toden nach achtern sleppen!"
„Behalt den Priem! Wer hat gesagt, dass ich schon arbeiten soll?"
„Der Feldwebel hat dat doch seggt!"
Die Betten waren aufgeschlagen. Der Tote lag im Schuppen auf den andern... Heinrich sank erschöpft und keuchend wie ein Hund auf sein Lager. Wagen rollten vor die Baracke. „Hein! — Komm afladen, die Zugäng sin do!" Aus dem Lazarettwagen zogen die Wärter bis auf die Knochen abgehungerte Militärgefangene. Ledern geschmachteten Lippen entfiel Schmerz. Aus den wettergebräunten Totenschädeln quollen die trüben Augen. Fäulnis dunsteten die lebenden Leichen! „Alles ruhrkrank!"
Einer der Wärter antwortete dem Lazarettfeldwebel: „Jawohl!" „Dann kommt die ganze Sendung in die Baracke vier!"
Heinrich streifte den verkoteten Gefangenen die faulende Uniform ab und half ihnen in die Betten.
„Militärgefangener Hölzel! Sie packen sofort die Lumpen zusammen und bringen sie nach dem Zeugschuppen!"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
Bald brachten zwei Wärter den ohnmächtig gewordenen Heinrich von draußen angeschleppt und legten den am ganzen Körper Zitternden auf sein Bett.
In der Baracke vier kommandierte der Tod. Aufzuckendes Leben bäumte sich im Fieber unter dem Griff der knöchernen Hand. „Leben! — Leben! — Ich will noch leben!"
Mitten in diesem furchtbaren Ringen stand der Heinrich unter der Lampe an dem großen Tisch und rührte Boluspulver in einem Eimer an. Dann füllte er die breiige Medizin in Biergläser und lief damit geschäftig von Bett zu Bett. Plötzlich fiel etwas drüben in der anderen Reihe schwer zu Boden. Fragend rief Heinrich nach der im Schatten befindlichen Stelle. Lautes Stöhnen antwortete. Sofort stellte er die Gläser, welche er in den Händen hatte, auf einen Stuhl zwischen den Betten und eilte, um zu helfen. „Wärter! Wärter! — Wär-ter!" Niemand kam. Heinrich hob den im höchsten Stadium der Lungenentzündung aus dem Bett gefallenen Patienten wieder auf das Lager. Und da begann in der Mitte der Baracke ein wüstes Geschrei heiserer Stimmen. Und der Boluseimer rasselte auf den Fußboden. Schnell rückte Heinrich die beiden Betten zu beiden Seiten des Lungenkranken heran, damit der Fiebernde nicht wieder herausfallen konnte, und lief hin zu dem Tisch. Dort standen lebende Skelette, die Hände und den Mund voll Bolusbrei, und verschlangen gierig die Medizin als Nahrung...
Gutmütig erklärte der Heinrich seinen Kameraden, dass das Verschlingen der breiigen Medizin lebensgefährlich sei. Aber die Hungerwahnsinnigen ließen nicht von ihrer Beute. Aus Mitleid versuchte Heinrich, ihnen die vollen Bolusgläser abzunehmen. Da aber kreischten sie: „Du Lump! — Du Bluthund!" Schließlich packte Heinrich einen Patienten nach dem andern und legte ihn in die Koje. Dann begab er sich eilig zwischen die Betten, wo er die Gläser abgestellt hatte. Sie waren sogar ausgeleckt. Sofort lief er nach der Barackentür und sagte dem "Wachtposten, er solle dafür sorgen, dass der Wärter komme.
Bald traf der Lazarettfeldwebel ein. „Was ist hier geplatzt?"
Heinrich meldete den Vorgang.
„Warum passen Sie nicht auf? Für was sind Sie denn hier?" Dann brüllte der Feldwebel nach den Kranken: „Wenn ihr euern Magen vollstopfen wollt mit dem Porzellankitt, nur zu! Draußen im Schuppen... ist wieder Platz!"
Die Nacht hindurch hatte der Regen auf dem Dach der Baracke vier stürmische Wirbel getrommelt. Erst die Morgendämmerung brachte den Fieberschlappen die ersehnte Ruhe. Heinrich teilte die winzigen Portionen Morgensuppe aus. Aber keiner rührte sich. Im Schlaf war alle Gier und Qual geschwunden.
Die Barackentür öffnete sich.
„Militärgefangener Hölzel!"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
„Sie heizen sofort den Badeofen, aber sofort! Wenn das Bad fertig ist, machen Sie Meldung!"
„Herr Feldwebel, es sind keine Kohlen da!"
„Was? — Die haben Sie wohl alle für die Zugänge verpulvert?"
„Nein, Herr Feldwebel, die Zugänge baden doch nicht!"
„Halten Sie 's Maul, Sie dreckiger Militärgefangener! Sie bekommen Kohlen von der Küche... , und dann machen Sie mir schleunigst das Bad!"
Der Lazarettfeldwebel entfernte sich. Unter den Decken begann ein Räuspern, und hastig griffen die Skeletthände nach den Schüsseln...
Der Badeofen brannte. Heinrich stand wieder am großen Tisch und rührte den Eimer voll Boluspulver an. Danach stellte er auf die Stühle zwischen den Betten für jeden Patienten ein Glas voll Brei.
Schmatzen!
Hohle Augen stierten verlangend nach dem Eimer. „Nichts mehr drin, Kameraden!"
Damit sich die Hungrigen selbst überzeugen konnten, hob Heinrich den Eimer hoch, stülpte ihn um und ging aus der Baracke, um das Feuer im Badeofen zu schüren. Da horchte er plötzlich auf. Aus der Baracke drangen heisere Stimmen. „Wenn du mir nichts abgibst, melde ich, dass der überhaupt schon tot ist!" „Wir teilen! Hier!"
„Morgen aber muss er weg, der stinkt doch schon!" „Stinken? — Haha! — Verrückt! — Bleibt liegen!" Heinrich trat ein. Ruhe herrschte...
Die Stunde des ärztlichen Rundgangs kam näher. Heinrich war fertig mit dem Ausfegen der Baracke. Er sammelte in Eile die Essnäpfe und die Bolusgläser. Dabei warf er flüchtig jedem Kameraden einen Blick zu.
„Ist der da tot?"
In dem Bett, vor dem Heinrich stand, lag ein Gefangener auf dem Rücken und starrte mit gebrochenen Augen. Um den Mund klebte frischer Bolusbrei... Heinrich befühlte die Stirne des Regungslosen. „Der muss grad eben gestorben sein!" Dann packte er dessen Napf und dessen Glas in seine Schürze und ging weiter.
„Wann ist denn dieser gestorben? Der ist ja schon kalt!" Der Nebenliegende antwortete: „Keine Ahnung!"
„Hat er heute morgen noch gegessen?"
„Das siehst du ja! 's ist doch alles leer!"
Die Näpfe und Gläser in der einen Reihe waren eingesammelt. Sechs Verendete lagen nun zufrieden. Der Krankenwärter rief durch die Türspalte: „Hein, man tau, de Visit is unnerwegs!"
Heinrich begab sich hastig nach der Reihe gegenüber. Nun kam er an die Betten derer, die er belauscht hatte. „Der Teufel! — Was stinkt hier so... "
Mit einem Griff riss er die Zudecke von dem verdächtigen Bett. Heinrichs Magen drängte sich zum Schlund. Schnell warf er die Zudecke über das Bett, griff das leere Bolusglas und eilte aus dem Gang. Der Arzt kam, ging an der einen Reihe hinunter, an der anderen wieder hinauf, hinter ihm tappte der Krankenwärter.
„Die sterben wohl um die Wette! Die sechs kommen sofort in den Schuppen! Haben Sie gehört?"
„Jawohl, Herr Stabsarzt!"
Der Sanitätsoffizier hatte die Baracke verlassen. Da kam der Wärter auf Heinrich zu. „Erst mog mol min Kammer tauracht, dann erst kommen die Toten weg!"
„Verdammter Mistbauer! Stehen wir in deinen Augen unterm Vieh? Erst ess ich meine Morgensuppe!"
„Wat? Du deist och noch opmukken? Ik will dir helven!" Mit dieser Drohung wollte der Krankenwärter zum Lazarettfeldwebel. Heinrich aber fasste ihn am Arm und zog ihn nach der vergessenen Leiche...
In der Mitte der Baracke stand die Totenbahre. Heinrich nahm die Zudecke von dem faulenden Leichnam und zog ihm das Hemd ab. Dann schüttete er einen Eimer Kresol über das von der Verwesung angefressene Gerippe, hüllte es in ein Betttuch, griff ihm mit einem Arm unter den Rücken, mit dem andern unter die Beine und hob es hoch. Wie vom Teufel gepeitscht, schnellte der Nebenliegende auf, fasste die Leiche am Kopf, zerrte und schrie in tierischen Lauten. Dabei stierte er nach dem Heinrich. Heinrich taumelte zurück. Und der Leichnam fiel auf das Bett, dass der faulende Kot spritzte. Wahnsinn feixte aus dem Nebenliegenden. „Der? — Der braucht nichts! Ha-aa!"
Heinrich erschauerte. Er sah den Hungertod aus dem Patienten feixen.
Der Kranke saß wieder ruhig neben der Leiche. Heinrich versuchte noch mal, den Toten, der die ganze Baracke verpestete, hochzuheben. Aber der Nebenliegende gebärdete sich wild. Heinrich gab sich alle Mühe, um ihn zu beruhigen. „Petermann? — Petermann?" —
Der Angesprochene staunte plötzlich stumm. „Kennst du mich noch, Petermann?"
Wirr stierte der Kranke auf Heinrich. „Na, sprich!" „Wa-as?"
Heinrich neigte sich zu dem widerlich dunstenden Kameraden.
„Wenn du mir Antwort gibst, besorge ich dir Suppe!" „Suppe! Suppe! Oh, oh... "
„Jetzt kennst du mich? Den Hölzel aus der dreizehnten Arbeitskompanie!"
„Hölzel? — Ja, ja! — Suppe — Suppe!" Der Hungerwahnsinnige weinte wie ein Kind. Unter Heinrichs Füßen bebte der Boden. Aber er tröstete: „Petermann, sei ruhig! Es wird schon besser... "
Die Augen des Gefangenen erhielten auf einmal Leben. Gleich aber stierte er wieder. Und murmelte: „Hein-rich!" Dann seufzte er tief auf und fiel hintenüber... Bald lagen die Toten im Schuppen.
Das Elend und die brutale Behandlung in dem Militärgefangenenlazarett trieben Heinrich zu dem Entschluss: Heraus aus dieser Hölle, koste es, was es wolle! Aber zurück ins Gefangenenlager wollte er auch nicht. Denn eingelieferte Ruhrkranke warnten ihn durch die Schilderung vor dem grauenhafter gewordenen Los im Lager. Auch erzählten sie ihm, dass die Zahl der Militärgefangenen allein in Nordschleswig bis auf fünfundvierzig kriegsstarke Kompanien angewachsen sei. Aus dieser Nachricht ersah Heinrich, dass der Rebellengeist an den Fronten zugenommen hatte. Das gab ihm Halt und Mut. Gern hätte er sich auch über die Missverhältnisse im Reich informiert. Aber den Krankenwärtern war es wie dem Wachtpersonal im Gefangenenlager strengstens verboten, den Militärgefangenen irgendwelche Nachricht über die Welt außerhalb der Drahtumzäunung zu geben. Heinrich sann nach, wie er sich aus dem Elend retten könne. Endlich hatte er sich einen Plan geschaffen: Mitten in der täglichen Hast legte er sich ins Bett. Als der Krankenwärter ihn darüber erstaunt fragte, antwortete Heinrich, er sehe auf einmal nichts mehr. Freundliche und grobe Worte waren nun umsonst. Immer wieder drang der Torfbauer auf ihn ein. Heinrich aber warf sich auf seine andere Seite, zog die Zudecke über seine Schultern und dachte...
Am folgenden Tag blieb der Arzt mit misstrauischer Miene vor Heinrichs Bett stehen. „Was ist mit Ihnen los?"
Gelassen antwortete Heinrich: „Seit ein paar Tagen ist vor meinen Augen alles verschleiert. Gestern wurde es schlimmer!
„Auf welchem Auge haben Sie die Erscheinung?" „Auf beiden, Herr Stabsarzt!"
„Hm... " Der Arzt erhob seine Faust, aus der sich zwei Finger streckten. „Wie viel Finger sehen Sie?" „Keinen, Herr Stabsarzt."
„Was? Machen Sie mir bloß keine Schnippchen, Sie Drückeberger!"
Heinrich erwiderte: „Herr Stabsarzt, ich erkläre, wo ich hinschaue, ist alles mit Nebel bedeckt."
„Schön! Dann bleiben Sie halt im Bett liegen, bis Sie anfangen zu faulen oder bis Ihre Augen besser sind!" Zum Feldwebel und Krankenwärter gewendet, sagte er: „Lassen Sie den Kerl täglich schwitzen, aber ordentlich, und passen auf, dass der Drückeberger auf keinen Fall das Bett verlässt. Zum Verrichten der Notdurft geben Sie ihm ein Steckbecken!" Der Arzt ging.
Heinrich merkte die Schwere des aufgenommenen Kampfes. Was ihn aber widerstandsfähig gegen die ärztlichen Schikanen machte, war der tiefe Hass gegen die Vergewaltiger der Menschlichkeit.
In acht Decken gehüllt, lag Heinrich und schwitzte — auf Befehl. Täglich wurde die Umgebung des Gefangenenlazaretts herrlicher. Durch die geöffneten Fenster duftete Frühlingsluft. Drei Wochen schon lag Heinrich in seiner Tortur. Der Sanitätsoffizier schüttelte den Kopf, denn solch ausdauernde Willenskraft, wie sie Heinrich aufbrachte, war dem Gefangenenarzt fremd.
„Na, ist's mit Ihren Augen besser geworden?" „Nein, Herr Stabsarzt, schlimmer!" „Dann wollen wir mal was anderes versuchen!"
Nun bekam Heinrich Tropfen in die Augen. Die aber stärkten nur seinen Willen zum Aushalten.
Nach vierzehn Tagen erhielt Heinrich den Befehl, aufzustehen und seine Uniform zu holen. Dann gab ihm der Lazarettfeldwebel bekannt, dass er zu einem Augenspezialisten in Schleswig geführt würde.
In Heinrichs Herz klang der Frühling in mächtigen Akkorden, als er durch den goldigen Maienmorgen, der den frischgrünen Wald erhellte, nach der Stadt Schleswig gebracht wurde. Heinrichs Blick aber blieb finster...
6.
Heinrich hatte dem Augen-Spezialarzt seine Beschwerden gemeldet.
„Na schön! — Nun wollen wir erst mal feststellen, was Sie überhaupt noch sehen können. Bitte nehmen Sie Platz!" Erstaunt über den liebenswürdigen Ton dieses Arztes, schaute Heinrich auf. Da gewahrte er an der Wand gegenüber die ihm von der Augenabteilung des Kriegslazaretts in Brügge gut bekannte Tabelle zur Feststellung der Sehschärfe oder — zur Feststellung der Simulation. Über Heinrichs Totengesicht glitt ein Lächeln, das zum Ausdruck brachte: Alter Schlaumeier, mich fängst du nicht mit deiner Heuchelei.
Schnell hatten Heinrichs Augen die Entfernung zwischen ihm und der Tabelle festgestellt: sechs Meter.
„Nun, mein Freundchen, können Sie diese Buchstaben da noch erkennen?" Der Arzt stand neben der Tabelle und deutete mit einem Stock nach der zweitobersten Reihe. Heinrich saß wie ein Medium. Er rechnete: Ein Sechstel Sehschärfe gab ich damals in Brügge an. Der Arzt deutet auf Rubrik vierundzwanzig. Um also bloß ein Sechstel zu lesen, muss ich bis auf einen Meter an die Tabelle herangehen.
Ungeduldig klopfte der Arzt an die Tabelle. „Bitte, antworten Sie!"
„Herr Doktor, von hier aus kann ich die Reihe nicht erkennen!"
Nun deutete der Spezialarzt auf die oberste Rubrik, deren Buchstaben so groß waren, wie eine Hand breit ist. „Na, aber diese Elefantenbuchstaben da werden Sie wohl noch lesen können?"
Heinrich ließ sich nicht beirren. Es war Rubrik dreißig, auf die der Arzt zeigte. Heinrich aber stand immer noch auf sechs Meter Distanz von der Tabelle. Er durfte also, wenn er ein Sechstel Sehschärfe behaupten wollte, nicht die Rubrik dreißig trotz der großen Buchstaben auf sechs Meter Entfernung lesen. Denn er hätte somit anstatt ein Sechstel Sehschärfe ein Fünftel, also mehr angegeben. Deshalb antwortete Heinrich: „Nein, Herr Doktor, es geht nicht!"
„Nun, dann kommen Sie mal so nahe heran, bis Sie die Reihe da lesen können!" Der Arzt deutete auf eine Reihe in der Mitte der Tabelle. Heinrich verließ die Wand. Schritt für Schritt.
„Um Gottes willen, Sie sind doch nicht blind?"
Heinrich musste trotz des Ernstes ein Lächeln verbeißen. Die zu lesende Reihe hatte er als die zwölfte erkannt und ging, seiner Formel folgend, von sechs bis auf zwei Meter an die Tabelle heran. „Jetzt kann ich die Buchstaben lesen!"
Aus des Arztes Augen zwinkerte List. „Nun? Wie? Man los!"
„F!"
„Schön! Und dieser da?"
„G!"
„Wunderbar! Können Sie nun auch diese da lesen?" Der Spezialist wollte den Heinrich überrumpeln: Er zeigte, weil Simulanten bei schnellem Durcheinanderfragen mit der Antwort zögern oder befangen werden und demzufolge sich mit ihren ersten Angaben verwerfen, beliebig auf Buchstaben in Reihen über der Rubrik zwölf. Aber Heinrich las wie auswendig gelernt. Denn wenn er kleinere Buchstaben auf einen Meter Entfernung erkennen konnte, dann durfte er erst recht die großen Buchstaben auf zwei Meter Entfernung lesen. Der kluge Arzt deutete nun geschwind auf eine Reihe unter der Rubrik zwölf. Wie auf Befehl verstummte der Heinrich. Der Doktor wurde ärgerlich. „Was? Eben haben Sie so flott gelesen, und auf einmal sehen Sie wieder nichts mehr?"
Jetzt machte Heinrich den Doktor nervös. „Ich lese nur, was ich sehen kann."
„Dann laufen Sie in Gottes Namen so dicht heran, bis Sie das Scheunentor da entdecken können. Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Sie bereits der Simulation überführt habe und dass auf Vortäuschung von Krankheiten, die den Mann dem Heeresdienst entziehen sollen, fünf Jahre Gefängnis stehen! Wie hoch ist Ihre Strafe?"
„Fünfzehn Jahre, Herr Doktor!"
„Also, noch mal fünf Jahre dazu, dann können Sie sich aufhängen. Seien Sie vernünftig, und geben Sie endlich an, was Sie wirklich sehen!" Der Augenarzt zeigte auf die Rubrik sechs. Heinrich ließ das Gerede des Doktors außer acht und ging unentwegt bis auf einen Meter Entfernung an die Tabelle heran. Dann las er Rubrik sechs auf einen Meter, also: ein Sechstel. Der Augenarzt kratzte sich hinter den Ohren. Nachdem Heinrich vor einer anderen Tabelle, auf welcher die Buchstaben der einzelnen Rubriken durcheinander standen, ebenfalls frei gelesen, versuchte der Spezialist seine Kunst mit dem Brillenkasten. Aber Heinrich las durch „plus" oder durch „minus" nicht mehr oder weniger als mit dem bloßen Auge, nämlich: ganz genau nur ein Sechstel.
Immer war es „der graue Fleck" auf der Stelle, wo er hinsah, der alle Augengläser hinfällig machte. Der Doktor geriet bald in Verzweiflung.
„Was sind Sie denn von Beruf?"
„Seemann, Herr Doktor!"
„Aber da müssen Sie doch ganz besonders scharfe Augen haben!"
„Jawohl, Herr Doktor, die hatte ich auch, aber an der Front sind sie ruiniert worden... "
„Wie, was? Sie waren während der Kriegszeit schon in Augenbehandlung?"
„Jawohl. Im Kriegslazarett I Brügge."
„So?"
Da öffnete sich die Zimmertür, und ein Herr in Zivil mit einem „Schmiss" an der Backe trat ein. Der Arzt wandte sich, denselben begrüßend, von Heinrich und erzählte in französisch, damit Heinrich nichts verstehen sollte, welch hochinteressanten Fall er gerade vorhabe. Heinrich hockte sich auf Weisung des Arztes in die Dunkelkammer, hörte den beiden hübsch zu und grinste verschmitzt. Schließlich begab sich der Augenarzt mit seinem Freund zu dem Heinrich. Aus der Dunkelkammer drangen nun die Worte: „Mal nach oben schauen! — Nach unten! Mal nach hier! Mal nach da!" Dann vernahm man ärgerliches Schnalzen.
Drinnen saßen neben einer elektrischen Lampe bald Nase an Nase der Heinrich und der Augenarzt. Zwischen beiden Köpfen blitzte der Augenspiegel, durch den der Arzt in Heinrichs Auge zielte.
Endlich kamen die beiden Ärzte mit dem Heinrich heraus, flüsterten zusammen und stellten ihn wieder an den Stuhl vor der Wand, zum letzten Versuch: zur Spiegelprobe.
Scheinbar reagierte der Arzt auf die Angaben des Heinrich. Aber nur — um ihn zu fangen... Er stellte den Heinrich auf zwei Meter Distanz vor die Tabelle, zeigte auf die Reihe in der Mitte (Rubrik zwölf) und fragte bestimmt: „Diese Reihe können Sie von dort aus lesen?" „Ja!"
Nun hängte der Arzt an den Aufhängenagel der Tabelle einen großen Wandspiegel. Dann stellte er sich mit der Tabelle hinter den Heinrich, hob sie so hoch, dass sie sich im Spiegel an der Wand zeigte, und fragte recht herzlich: „Nun lesen Sie mal diese Reihe da, dann sind wir fertig."
Der Augenarzt zeigte auf die Rubrik achtzehn.
Heinrich stand auf zwei Meter Entfernung vor dem Spiegel. Ursprünglich hatte er auf diese Entfernung sämtliche Reihen von der Rubrik zwölf ab von unten nach oben gelesen. Heinrich erkannte die Raffiniertheit der Spiegelprobe. „Es geht nicht, Herr Doktor!" „Dann versuchen Sie's mal näher!"
Heinrich machte einen kleinen Schritt nach vorn und blieb auf anderthalb Meter Abstand vom Spiegel stehen: Ein Sechstel muss ich angeben. Rubrik achtzehn soll ich im Spiegel lesen. Also muss ich bis auf anderthalb Meter heran. Denn von dem Spiegel gelesen, muss ich die Entfernung, auf welche ich sonst ein Sechstel las, mit zwei dividieren, wenn ich wieder ein Sechstel angeben will. Weil die Distanz von der Tabelle zum Spiegel und vom Spiegel zum Auge ja der doppelte Weg ist.
Prompt las Heinrich durch den Spiegel — ein Sechstel.
Die beiden Ärzte schauten sich bedeutungsvoll an. Dann stützte der eine seine Hände in die Hüften und sagte zu Heinrich: „Sie können gehen!"
Draußen im Wartezimmer saßen die beiden Wachtleute und nahmen den Heinrich in Empfang. Nachdem der Arzt einem der Transportleute ein verschlossenes Schreiben an den Gefangenenarzt gegeben hatte, wurde der Heinrich wieder ins Seuchenlazarett zurückgeführt.
Dass man im Seuchenlazarett sich anscheinend nicht um sein angebliches Augenleiden kümmerte, ärgerte den Heinrich.
Mit gesteigerten Klagen wagte er sich daher vorsichtig an den Gefangenenarzt heran. Aus dessen Antworten entnahm Heinrich zur Genüge, dass man großes Misstrauen gegen seine Beschwerden hege. Um aber unter allen Umständen sein Ziel zu erreichen, erdreistete er sich eines Morgens zu der Meldung, jetzt sehe er auf dem linken Auge gar nichts mehr. Je hartnäckiger Heinrich vorging, desto offener verfolgte ihn der Gefangenenarzt. Doch ohne Rücksicht und Blinzeln überrannte der Heinrich alle Schikanen, die ihm in den Weg gelegt wurden. Endlich gab ihm der Sanitätsoffizier unter zynischem Schnauzen zu wissen, dass er in eine Augenklinik übergeführt werde. Wenn Heinrich sich im stillen auch seines Erfolges freute, so krampfte er fester als je die Faust. Denn ihm war bewusst, dass nun hart auf hart geraten würde.
7.
Ergriffen von dem vorbeischwärmenden Leben der Kriegsschiffmatrosen, war Heinrich an der Universitäts-Augenklinik in Kiel angekommen.
Drei Rotkreuzschwestern, die eben noch mit einem Arzt in dem stillen Korridor leise kicherten, schauten leicht erschreckt zum Heinrich und zu den zwei Posten mit Gewehr, die ihn führten.
Als der Gefangenentransport auf sie zukam, trat der Arzt aus der sich unterhaltenden Gruppe und fragte mit abstoßendem Blick: „Name? Woher?"
Heinrich meldete: „Marinegefangener Hölzel vom Militärgefangenenlager Lügumkloster."
Eine der Rotkreuzschwestern staunte gebannt. „Was haben Sie denn ausgefressen?" „Meuterei."
Der Arzt rümpfte seine Nase wie bei einer Obduktion.
„Hm! Wo haben Sie gemeutert?"
„Auf S. M. S. .Westfalen'."
„Aha. — Und was haben Sie dafür bekommen?"
„Fünfzehn Jahre."
Bedenklich schaute der Arzt vor sich hin und nickte dabei. Auf einmal wandte er sich freundlich an Heinrich: „Sagen Sie mir bloß, was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie das ausheckten?"
Während Heinrich zwischen den beiden Wachtleuten im Korridor weiter nach dem Aufnahmebüro ging, legte sich auf Arzt und Schwestern eine merkwürdige Beklommenheit. Dann vernahm man ein: „Entschuldigen Sie, Herr Professor!" Und die Operationsschwester eilte in ein Zimmer der Seitenflucht.
Heinrich wurde, nachdem er gebadet und die stinkige Militärgefangenenuniform mit frisch riechendem Krankenanzug gewechselt hatte, in ein kleines Stübchen unter dem Dach des fünfstöckigen Hauses gebracht. Wie neugeboren stand Heinrich in dem sauberen Raum. Vor gewisser Freude trat er an das Fenster, das eine wundersame Aussicht auf die Stadt und auf den Kriegshafen bot, und — ergötzte sich an der unter ihm liegenden Welt — aber nicht bloß mit ein Sechstel Sehschärfe...
Die Tür des netten Verbannungsortes wurde geöffnet. Zwei Matrosen brachten Essen und stellten dies auf den Tisch. Dann verließen sie die Gefangenenstube. An der Tür wandte sich der eine noch mal. „Kamerad, wenn du noch mehr willst, klopf!" Heinrich grinste.
Denn er vermochte fast nicht zu glauben, dass er sich „endlich wieder einmal" an kräftiger Kost satt essen durfte. Später kamen die Matrosen wieder. „Hat's geschmeckt, Kamerad? Willst du noch?"
Heinrich lachte und prustete. „Vorläufig langt's!" Zwischen ihm und den Matrosen entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, wobei der eine Posten einen Karton Zigaretten und eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche zog und dies dem Heinrich gab. Vor Heinrichs Augen fing sich die Stube an zu drehen. Denn die lang entbehrten Genüsse war er nicht mehr gewohnt. Endlich gab er sich den beiden Matrosen als „Wilhelmshavener Kuli" zu erkennen. Heinrich erzählte, weshalb er bestraft sei. Auch schilderte er den Morast des Militärgefangenenlagers und des Seuchenlazaretts. Die Matrosen hörten gebannt zu.
Schritte hallten.
„Also, wenn du was brauchst, sag Bescheid. Und wenn jemand in die Bude kommt und fragen sollte, wer hier geraucht hätte, dann sagst du nur: der Posten!" Bald hörte man in dem Stübchen tiefe Atemzüge.
Längst lärmte wieder die Stadt und der Kriegshafen. Aber Heinrich schlief noch immer. Die neue Sphäre, in die sich Heinrich hineingeschwindelt hatte, tat ihm sehr wohl. Erst als der Schlüssel im Schloss knirschte, öffnete er die Augen. „Guten Morgen, Hein! Na, wie hast du hier gepennt?"
Heinrich richtete sich auf und lachte. „Ich schlief wie im Frieden."
Auf dem Tisch duftete Bohnenkaffee. Butter lachte. Und bald knisterte das frische Weißbrot. Dieses Kameradschaftsopfer erfreute ihn maßlos. Ja, was diese Leute im Kampf mit den Gewalten auf See fest zusammenschweißte, war in Fleisch und Blut übergegangen: Teilnahme am Los der andern war selbstverständlich geworden. Helfen wollten sie ihm; sie wollten ihn, den Abgeschmachteten, aufleben lassen.
Die Hände in den Hosenbund gesteckt, verbissen vor sich hin schauend, so ging Heinrich ruhelos in seiner Stube hin und her. Plötzlich blieb er stehen. Und lauschte. Er hörte Schritte näher kommen. Das Schloss knackste. Heinrich stand in Erwartung. Die Tür ging auf. Ein Arzt in Begleitung einer Rotkreuzschwester kam auf ihn zu. „Was haben Sie für Beschwerden?"
Heinrich berichtete militärisch. Während der Arzt den Posten befahl: „Der Gefangene ist sofort nach unten in die Augenklinik zu bringen!", musterte Heinrich das Gesicht des Arztes, dann das der Schwester. Diese stand hinter dem Doktor und sah zur Seite, auf die Kopftafel über Heinrichs Bett. Aber der Arzt wandte sich hastig, um zu gehen. Ungewollt berührte er die abseits schauende Krankenpflegerin. „Pardon!" Verlegen wandte die Rotkreuzschwester den Blick von der Kopftafel und streifte Heinrichs Augen. Und gerade als sie dem Arzt lächelnd erwidern wollte, erbleichte erschreckt ihr hübsches Gesicht. Doch der Arzt, der dies merkte, verwischte ihre Blässe. „Ja, Schwester, ein ganz gefährlicher Bursche!"
„Hein, du kennst ja das Kasperltheater." Bei diesen Worten zogen die beiden Matrosen ihr Seitengewehr. Und der Heinrich folgte zwischen ihnen nach unten — in die Augenklinik.
Auf den Stühlen längs den Wänden des hohen weiten Saales der Augenklinik saßen Frauen, Kinder und Soldaten, An den Tischchen in der Mitte saßen Kranke mit tränenden Augen vor hantierenden Ärzten. Waren Patienten abgefertigt, dann winkten die Schwestern lächelnd andere heran. Unaufhörlich. Allmählich wurde die Luft dick. In diesem Massenbetrieb langte der Heinrich mit seiner Bewachung an. Verblüffte Gesichter richteten sich nach ihm. Aus Nischen und hinter Portieren kamen neue Ärzte.
„Herr Geheimrat, nehmen Sie ihn vor. Er gibt zentrales Skotom in der Macula an und ein Sechstel."
Kaltblütig begann der Heinrich vor den Patienten, Schwestern und Ärzten mit seiner gefahrvollen Vorstellung. Wie ein Zirkuspferd in der Manege, so glatt „arbeitete" er. Was waren für ihn die verächtlichen Blicke der Zuschauer? Nur die Tabellen und ihr Abstand von ihm interessierten ihn. Von einem Apparat zum andern wurde er kommandiert. Dann in die Dunkelkammer. Wieder an die Tabellen. Endlich kam die Spiegelprobe! Die Ärzte, lauter Spezialisten, umringten ihn. „Sie sind entlarvt!" Mit gleichem Maß der Herausforderung erwiderte Heinrich: „Herr Professor! Was Sie mir sagen, ist unverantwortlich! Ich lese nur, was ich sehen kann!" Das hatten die Arzte nicht erwartet. Ihr ironisches Lächeln ging in Verlegenheit unter. Schnell winkte der Geheimrat den Posten. Die Operationsschwester öffnete die Tür des Saals. Heinrich ward wieder nach oben geführt.
Unter der Fürsorge seiner Kameraden, die ihn bewachten, erholte sich Heinrich zusehends. Auch erwirkten die Seeleute unter den verwundeten Soldaten in der Klinik sowie beim Dienstpersonal allseitige Teilnahme an seinem Schicksal. Die ursprüngliche verächtliche Meinung über ihn war weg. Alle sahen in ihm einen Kameraden, der sich eigentlich für das blutende Volk geopfert hatte. Diese Anerkennung wirkte auf den Heinrich wie Sonne. Verwundert sahen die Augenärzte „den lebenden Leichnam" kräftiger, lebendiger werden. Ja, jene Kraft, die den Heinrich beseelte, war ihnen ein Rätsel. Kein Krankheitsbefund, dennoch die unglaublich sicheren Angaben. Der Professor, der Geheimrat und die Assistenten wurden stutzig. „Das ist ein ganz sonderbarer Fall. Ich kann nicht mehr glauben, dass der Patient vortäuscht. Hier ist das Krankenblatt vom Kriegslazarett I Brügge und das vom Seuchenlazarett. In beiden decken sich die Beschwerden über das Leiden und über die Angabe seiner Sehschärfe. Auch die Gesichtsfeldproben stimmen. Herr Geheimrat, wir setzen Behandlung an!"
„Ich hatte bereits vor, Herr Professor, mal bei ihm einen Versuch mit Kochsalzinjektion in das linke Auge zu machen. Es ist möglich, dass eine Reaktion folgt!" „Wie war denn die Blutprobe, Herr Geheimrat?" „Negativ, Herr Professor. Der Mensch ist ein wahres Prachtexemplar."
Der Chefarzt schüttelte den Kopf. „Schade um den Kerl!" Dann wandte sich der Geheimrat an die Operationsschwester, die mit dem Auskochen der Instrumente beschäftigt war. „Schwester, geben Sie dem Militärgefangenen morgen früh eine Cocaineinträufelung ins linke Auge!" Darauf verließen die Ärzte den Saal der Klinik. Die Schwester sank auf einen Stuhl und bedeckte mit den Händen ihr Gesicht.
Heinrich hatte sein Frühstück eingenommen und saß in Unterhaltung mit den Posten. Die Krankenpflegerin trat ein. Lächelnd neigte sie den Kopf nach den Matrosen und grüßte leise im Vorbeigehen. Auf Heinrichs Nachttisch stellte sie ein Fläschchen ab, füllte die Cocainspntze und schritt mit einem erzwungenen „Bitte!" auf Heinrich zu. Heinrich setzte sich auf den Stuhl und lehnte den Kopf hintenüber. Mit zitternder Hand spreizte sie seine Augenlider. Er hörte sie atmen. Ihm war es, als hörte er ihr Herz erregt klopfen. Fragend schaute er hoch in die Augen der Schwester. Sie erblasste. Die beiden Matrosen standen wie Pfähle im Wasser. Vollständig verdattert träufelte sie Heinrich das Cocain ins Auge. Und eilte fort.
„Habt ihr das beobachtet?"
„Ja, Hein! Die hat ein Auge für dich. Bloß schad, dass du Gefangener bist. Kürzlich fragte sie, ob wir wüssten, was du für ein Landsmann seist. Und als wir ihr sagten, du wärst ein Bochumer, machte sie eine Miene, als ob sie uns backpfeifen wollte!"
„Ich natürlich", bekräftigte der andere Matrose, „hätte ihr am liebsten auf jeden Backen gleich zwei... aufdrücken mögen, so kess sah sie aus, als ich wiederholte: Ja, ja, Fräulein, Hein ist aus Bochum!'"
Die Posten verließen die Gefangenenstube. Heinrich sann über diese merkwürdige Krankenschwester nach. Von draußen rief einer: „Hein, komm runter in die Klinik!" Nach einer halben Stunde war Heinrich wieder mal „behandelt" worden. Und um die Zeit zu vertreiben, half er dem Dienstpersonal die Etage scheuern. Denn jede Lektüre musste er meiden. Nach dem Etagescheuern vergaß er ganz, dass er überhaupt Gefangener war. Zumal ihn die Dienstmädchen alles fühlen ließen, bloß seine traurige Lage nicht.
8.
Der Tag war um. Auf dem dämmerigen Korridor vor der Gefangenenstube lustwandelte Heinrich mit einer Zigarette. Sein voller gewordenes Gesicht strahlte zufrieden. Die Posten, vom langweiligen Herumstehen ermüdet, lagen auf dem Ohr und „nahmen ein Auge voll". Heinrich lächelte. Denn hier in der „Spatzenetage" war Friede!
Unbemerkt war es schon dunkel geworden. Aber ohne zu sehen und zu hören, verlängerte der Heinrich seine Korridorpromenade. Er sann. Diese Stille zerriss plötzlich eine weibliche Stimme: „Sie, Militärgefangener!"
Heinrich stand. In dem Dunkel sah er jene sonderbare Krankenschwester. Sie kam auf ihn zu. Heinrich wandte sich. Denn dieses Weib, das ihn Verachtung fühlen ließ, verachtete er. Sie aber bat ihn: „Möchten Sie mir helfen ein paar Betten überziehen?" Es sind unerwartet Verwundete gemeldet worden!" Stumm sah Heinrich in das von Dunkelheit verschleierte Gesicht der Schwester. Er spürte einen heißen Druck an seiner Hand. „Aber bitte, kommen Sie doch!" Heinrich folgte schweigsam in ein Krankenzimmer, in dem sechs Betten unüberzogen standen. „Nur diese?"
„Nein, nebenan sind auch noch welche!"
„Ich mache alles in Ordnung, und dann lasse ich Ihnen durch den Posten Bescheid bringen!"
Kleinlaut wies die Schwester nach der Bettwäsche. Dann drückte sie ihr Taschentuch ins Gesicht und eilte aus dem Zimmer. Heinrich schaute ihr nach. Er hörte sie schluchzen. Nachdenklich schüttelte er den Kopf.
Kaum war er mit seiner Arbeit fertig, da öffnete sich die Tür der Krankenstube. Mit bebenden Lippen und nassglänzenden Augen stürzte die Krankenschwester in den hell erleuchteten Raum und — umarmte ihn. Er spürte ihr heißes und tränennasses Gesicht an seiner Wange. Erschüttert schluchzte sie:
„Heinrich, verzeih mir, weil ich dich so verächtlich behandelt habe!"
Er begriff nicht. Vielmehr glaubte er, sie sei eine hochgradige Hysterische. Wieder hörte er sie ein paar Worte schluchzen... Heinrich staunte: „Was!" und hielt ihr tränennasses Gesicht vor sich hin. „Du bist Else? — Meine Schwester?"
Nachdem er sie beruhigt hatte, seufzte sie: „Heinrich, Heinrich, wie konntest du dich bloß so vergessen und jetzt, wo das Vaterland blutet, ihm in den Rücken fallen? Lass um Gottes willen niemand wissen, dass wir Geschwister sind! Ich müsste mich ja vor meinem Mann und vor aller Welt schämen!" Heinrich lächelte hämisch. „Bei Gelegenheit spreche ich mich mit dir aus. Jetzt aber muss ich gehen. Denn es könnte jemand was... merken!" Er ging.
Wenn auch die Annehmlichkeiten in der Augenklinik die Seele Heinrichs erfreuten, so vermochten doch all diese ihm heimlich zuteil gewordenen Sympathien nicht, seine revolutionären Gedanken abzukühlen. Im Gegenteil! Nun, wo er seine Schwester neben sich fühlte, reizte ihn das Verlangen, durch sie Verbindung mit dem revolutionären Zirkel in Wilhelmshaven herzustellen. Dass sie aber dabei „immer völlig im dunkeln bleiben musste", das hatte er klar aus ihrem Vorwurf ersehen. Er nahm sich nunmehr erst vor, mal zu prüfen, was bei seiner Schwester stärker sei, ihre patriotische Gesinnung oder ihre Liebe zu ihm. Darum behandelte er sie einfach als — die Rotkreuzschwester: Ihre gelegentlichen freundlichen Blicke oder Worte ließ er außer acht. Da merkte er, dass er einen ganz empfindlichen Nerv seiner Schwester reizte.
Aber Heinrich blieb unnachsichtlich in seinem Entschluss. Sogar Geschenke, die sie ihm heimlich zustecken wollte, lehnte er ab. Schon fing sie an, ihre ursprüngliche Missachtung gegen den Bruder zu bereuen, zumal sie beiseite stehend zusehen musste, wie er sich von Tag zu Tag ungebundener mit den Ärzten unterhielt. Und besonders traf er ihr Herz damit, dass er dem weiblichen Dienstpersonal mit ausgesuchten Liebenswürdigkeiten begegnete. Eines Abends kam sie denn auch zu ihm in die Gefangenenstube und drang in ihn: „Hein, vergiss doch meine unüberlegten Worte! Verzeihe mir! Ich bin doch deine Schwester!" Heinrich antwortete ihr trocken: „Ja, aber lass deine ehrlose Meinung über mich fallen!" Rasch hielt sie ihm den Mund zu. Er ließ sie gewähren. Freudig griff sie nach seiner Hand. Er aber schaute ernst in ihr strahlendes Gesicht und mahnte sie sehr, sie solle die anderen nicht merken lassen, dass sie Geschwister seien.
Plötzlich klopfte in der Nacht Heinrich den Posten und bat, sie sollten die Schwester holen, welche Nachtdienst habe. Sofort lief ein Posten nach unten und kam bald mit der Operationsschwester zurück. Heinrich klagte über Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Forschend betastete die Krankenschwester seine Stirn.
„Ich muss mal Ihre Temperatur messen! Einen Augenblick!" Sie eilte aus der Gefangenenstube.
Bald traf sie mit dem Thermometer ein. Mitleidig schaute der Posten. Die Schwester aber stand vor Heinrichs Bett, presste die Lippen und schnickte kräftig das Thermometer. Nachdem sie Heinrich „gemessen" hatte, ging sie auf den Fußspitzen zu dem Posten und flüsterte: „Sie können gehen! Ich bleibe bei dem Patienten!" Sie lächelte. „Und wenn Sie eine Glocke hören, klopfen Sie mir bitte! Ja? Danke schön!"
Die Schwester setzte sich auf den Stuhl neben Heinrichs Bett und fragte in sichtlicher Gespanntheit: „Armer Hein, wie ging es dir denn, nachdem uns der Tod unserer Eltern überrascht hatte?"
Heinrich erzählte und erzählte. Die Leidenschaft seiner Worte riss seine Schwester in ein Leben voll Kampf. Gebannt von der sich vor ihr abwickelnden Tragik starrte sie auf den Boden. Rücksichtslos riss Heinrich längst vernarbte Wunden auf. Schauer durchrieselten das Weib. Aus Heinrichs Worten klangen schwere Anklagen. „... Und nun kam der Krieg!" Da ließ er den Schatten Tausender blindgeschossener und zerfetzter Soldaten, wimmernder Waisen und jammernder Mütter auf sie fallen. Endlose Massengräber wühlte er auf...
Die Schwester erblasste. Unerbittlich schüttelte Heinrich all das geflossene Blut über die Bebende. „Warum schreit ihr Rotkreuzschwestern nicht entsetzt ins Land: ,Haltet endlich ein mit dem namenlosen Verbrechen!'?"... Sie fror.
Dumpf klangen seine Worte weiter. „Aber ein Häufchen Matrosen unternahm, das Massenmorden zu beenden. Und ich bekam fünfzehn Jahre... "
Erregt schilderte er die Strafvollstreckung. „Weiß denn niemand im Reich von dem grauenvollen Elend der Militärgefangenen? Rechnen wir nicht mehr zu den Menschen?" Aus dem Gesicht des Weibes presste sich Qual. Hasserfüllt knirschte er: „Ich kann von Glück sagen, dass es mir gelungen ist, mich aus diesem Morast herauszuarbeiten! Hoffentlich gelingt mir mein... Aber dann . . ." Seine Schwester war erschüttert.
Heinrich fragte: „Else, schämst du dich immer noch, meine Schwester zu sein?" Kraft- und sprachlos fiel sie an des Bruders Brust. Heinrich aber hob ihr Gesicht empor, schaute ihr in die verschwommenen Augen und riss sie mit herzlicher Freundlichkeit aus dem geschilderten Grauen. „So, Else, nun zu dir! Komm, erzähle."
Die Kraft, welche aus Heinrich strömte, hatte ihr die Worte des Professors „Schade um den Kerl" verständlich gemacht. Voll Bewunderung und Bangen schaute sie zu ihrem Bruder empor. Und begann seufzend: „Der plötzliche Tod unserer Eltern hat uns Geschwister voneinander gerissen. Richard und dich sah ich am Beerdigungstage unserer Eltern zum letzten Mal. Die Friedel kam mit mir ins Waisenhaus. In der großen Anstalt trennte man uns. Und ich kam nicht eher wieder mit ihr zusammen als am Tage meiner Entlassung. Sie war groß und hübsch geworden. Und kannte mich nicht mehr!" Weinkrampf würgte sie. „Ich darf, ich darf nicht daran denken... " Tröstend half ihr Heinrich über ihren Schmerz. „Ja, Else, und dann?" Sie atmete auf und wischte sich die Augen. „Ich kam in den Haushalt eines Apothekers im Siegerland, dessen Frau gestorben war und der drei Kinder hatte. Ich wurde dort gut behandelt. In jener Zeit dachte ich oft an dich und Friedel. Gern hätte ich gewusst, wo du stecktest! Um es zu erfahren, wandte ich mich schließlich an den Pfarrer in unserer Heimat. Von ihm erhielt ich aber die Antwort, dass man nicht wisse, wo du seiest. Desto öfter schrieb ich dann an Friedel. Auf einmal blieben meine Briefe an sie unbeantwortet. Darüber erkundigte ich mich bei der Waisenhausleitung. Ich erhielt die Auskunft, sie wäre zu einem Gasthofbesitzer in Unna in Westfalen als Pflegetochter gekommen. Gleich schrieb ich nach dort und bekam Antwort. Damals hätte ich sie bald beneidet. Denn sie zählte in ihren Briefen lauter Freuden und neue Kleider auf. Aber heute weiß ich mehr!" Die Schwester betonte gereizt: „Es ist ja ungeheuerlich, ein Waisenkind so zu missbrauchen!" „Ich verstehe dich nicht, Else!"
Kurz warf die Schwester dazwischen: „Später... , Hein!" Dann sprach sie gezwungen weiter: „Wieder blieb Antwort auf meine Briefe an sie aus. Ich bat zum zweiten Mal das Waisenhaus um Auskunft und erhielt den Bescheid, Friedel sei entwischt, niemand wisse, wohin! — Das war ein harter Schlag für mich. Mein ganzes Leid vergrub ich nun in meiner Arbeit. Durch meine Hingabe an die Apothekerfamilie verschwand der Unterschied zwischen Herr und Dienstbote immer mehr. Allgemein sah man in mir die Hausfrau. Und der junge Apothekergehilfe, der bei uns wohnte und aß... Wir verlobten uns!" Über der Schwester Gesicht huschte ein Lächeln.
„Ja, ja! Weiter, Else!" „Mit dem Lauf der Zeit wurde das lebendige Haus leer. Ein Junge war Offizier geworden, der Jüngste studierte Medizin, die Tochter hatte geheiratet. Jedes jagte sein Glück. Schließlich, als der Herr des Hauses starb, zog ich mit meinem Mann nach Berlin, wo er Stellung in der Apotheke eines Krankenhauses nahm. Und da heiratete ich!"
„Hast du niemals wieder von Friedel Nachricht bekommen?"
„Doch! Das will ich jetzt erzählen: Ich mochte ungefähr sechs Jahre aus dem Waisenhaus gewesen sein, da schrieb mir Friedel wieder, und zwar von Hamburg. Meine Adresse hatte sie durch die Waisenhausleitung erfahren. Ihr Brief ließ mich merken, dass es ihr sehr schlecht ging. Sofort sandte ich an die Adresse, welche sie mir in dem Brief angegeben hatte, Antwort — und Geld zur Reise nach Berlin. Aber sie kam nicht und auch keine Antwort. Ich bangte. Mehrere Wochen waren um, da erhielt ich meinen Brief mit dem Geld zurück mit dem Vermerk: Ohne Angabe der Adresse verzogen! Schlimme Ahnung drückte mich gänzlich nieder. Als mich mein Mann nach meinem Kummer fragte, schüttete ich ihm mein Herz aus. Darauf bat er um Friedeis Brief. Er las ihn und gab ihn mir mit der Bemerkung zurück, dass dieser Brief, wenn man die Poststempel vergleiche, von Hamburg bis zu uns acht Wochen unterwegs gewesen war. Ach, die Zeit verging. Und die Gedanken an Friedel wurden blasser. Da kam auf einmal Nachricht von ihr. Sie war in Bremerhaven. Aber, Hein, diesen Brief musst du hören!" Die Schwester zog ein beschriebenes Blatt aus ihrem Busen. Heinrichs Gesicht krampfte sich. „Was? Die Friedel wurde eine Hure?"
„Pst! Ich fuhr sofort zu ihr. Und, und... " Lange hatte die Schwester von der Friedel erzählt.
„Ja!" seufzte Else. „Als der Krieg ausbrach, gab ich die Hoffnung, dich wieder zu sehen, auf. Um so mehr fesselte mich aber nun die Friedel. Sie hatte doch noch Glück und heiratete einen Steward vom Norddeutschen Lloyd. Während des Krieges ist ihr Mann, der auf S. M. S. ,Blücher' diente, gefallen. Sie zog dann nach hier!" Heinrich staunte.
„Ja, Hein, ich bin gespannt, was sie für Augen macht, wenn sie dich wieder sieht!"
„Else, Friedel kennt mich nicht!"
„Gott, sie freut sich, dessen bin ich gewiss. Denn sie sprach schon oft davon, mal ihre Geschwister beisammen zu sehen. Aber wenn sie zu dir kommt, Hein, das musst du mir versprechen, lass nichts merken, dass du über ihre Vergangenheit unterrichtet bist."
Heinrich kam plötzlich mit der Frage: „Else, wolltest du mir nicht noch etwas über Friedel erläutern?"
Die Schwester zwang sich: „Es ist... Ihr Pflegevater hat sie damals mit zwölf fahren... Und als sie schwanger war und der Kerl sie dennoch nicht in Ruhe ließ, lief sie davon. Irgendwo gebar sie. Aber, Gott sei Dank, kam ihr Kind tot zur Well," Heinrich schaute verbissen vor sich hin.
Die Krankenschwester klagte: „Ja, Hein, Friedel ist zu bedauern. Lieblos ward sie im Waisenhaus erzogen. Und als sie in die Welt kam und allenthalben angelacht und ihr schöngetan wurde, da fasste sie Zutrauen. Und... "
„Na", ermunterte Heinrich, „die Hauptsache ist, dass es ihr nun gut geht."
Jetzt erst berührte der Heinrich seinen geheimen Wunsch... Ohne Bedenken willigte die gerührte Schwester ein. „Also, ich schreibe deiner Freundin sofort, du seiest hier, sie solle mich besuchen, dann würde ich sie zu dir führen. Wie war noch ihre Adresse?" Heinrich diktierte und sie schrieb: Mignon Röhring, Bremerhaven, Lloydstraße 42. Allmählich fing es an zu tagen. Heinrich richtete noch die Frage an seine Schwester, wo ihr Mann sich befinde.
„Der ist in einem Kriegslazarett im Osten als Apotheker!" Die Schwester wünschte dem Heinrich angenehme Ruhe und ging.
Was Heinrich wollte, das hatte er unauffällig erreicht. Deshalb schlief er auch bald fest.
Als er erwachte, standen Morgenkaffee und Mittagessen längst kalt geworden auf dem Tisch. Der visitegehende Arzt hatte ihn nicht geweckt, weil seine Schwester berichtete, der Gefangene habe während der Nacht Fieber gehabt, er läge noch unter der Wirkung eines Schlafpulvers…
9.
Sentimentalität hatte Heinrich verlernt. Kräftiger als je belebte ihn nun seine durch die barbarische Strafe entfachte Begeisterung für die Revolution. Das war gerade in der Zeit, wo aus den deutschen Heeresberichten zu ersehen war, dass der Offensivgeist erlahmte, wo der deutsche Munitionsminister, General Gröner, den durch kneifenden Hunger unwillig gewordenen Rüstungsarbeitern zurief: „Ein Hundsfott ist der, der jetzt streikt!", wo bereits die Glocken von den Kirchtürmen für die Munitionsfabriken heruntergeholt wurden, wo sogar in den Kriegslazaretten schon Ersatzstoffe für Heilung kriegsgeschädigter Soldaten Anwendung fanden, wo jeder Invalide bis zum Greis unter die Arbeit der Kriegsindustrie gezwungen wurde, wo das arbeitende und blutende Volk vom Säugling bis zum Schwerverwundeten hungerte, wo wegen der Massenverluste an der Front sogar die Zuchthäuser nach Ersatztruppen durchwühlt wurden, wo Schleichhändler und Lebensmittelschieber, im Gegensatz zu dem schwergeprüften Volk, besser als je zuvor schlemmten und mit ihren Kumpanen aus Aktiengesellschaften dem Reich Riesenvorschüsse unter dem Namen „Kriegsanleihe" gaben, damit die Hochkonjunktur der Ausbeutung erhalten blieb. Wo endlich sich die Sozialisten aller Länder zu einer Friedenskonferenz in Stockholm aufrafften. Wie ein hungriger Löwe in seinem Käfig, so lief jetzt Heinrich ungeduldig in der Gefangenenstube hin und her, auf die Ankunft seiner Freundin Mignon aus Bremerhaven wartend. Denn durch sie hoffte er direkte Verbindung mit dem revolutionären Zirkel in Wilhelmshaven zustande zu bringen.
Am folgenden Sonntag ertönte die elektrische Schelle der Eingangstür zur Universitäts-Augenklinik, was an Feier- und Festtagen nur in außergewöhnlichen Fällen vorkam. Die Operationsschwester, welche an diesem Tag Dienst hatte, ging in sichtlicher Gespanntheit nach der Pforte und öffnete. In flatterndem Sommerkostüm stand eine reizende junge Dame vor ihr, in deren heiterem Gesicht die dunklen Augen glänzten. „Guten Tag, ist Schwester Else anwesend?" Die Krankenpflegerin geriet schnell aus ihrem Staunen. Nachdem sie die junge Dame gebeten hatte einzutreten, gab sie sich als Schwester Else zu erkennen.
Keuchend kam Heinrichs Schwester die Treppe herauf und gab dem Posten zu wissen, dass sie „den Gefangenen im Auftrag" nach unten holen solle. Mit gleichgültiger Miene schloss der Matrose die Tür der Gefangenenstube auf. Sie trat ein. Heinrich lag angekleidet auf dem Bett und schlief. Freudig klopfte sie ihm auf die Schultet. Er aber rührte sich nicht. Sie rüttelte ihn und sagte lachend dabei: „Mein Gott, wie kann man nur am hellen Tag so fest schlafen?" Darauf knurrte der Schlafende und drehte sich um. Die Else aber rüttelte ihn gehörig. Er öffnete die Augen.
„Hein! Die Mignon ist da!" Zack! Und schon stand Heinrich vor dem Bett und strich sich die Haare zurecht. Beide hatten die Gefangenenstube verlassen. An der Treppe bat Heinrich seine Schwester: „Wart ein' Moment!" Er ging zu den Posten und flüsterte mit ihnen. Aus seiner Geste war zu schließen, dass er den beiden Matrosen etwas erklärte. Die Posten nickten verständnisvoll. Endlich brach Heinrich ab. „Nur der Vorsicht halber, falls Kontrolle kommen sollte!" Dann ging er seiner Schwester nach. Hinter ihm folgte freudig der Posten.
Auf dem unteren Korridor ging die Schwester mit dem Heinrich in einen Seitenflügel und führte ihn nach dem Zimmer geradeaus. Kaum dass Heinrich angeklopft hatte, öffnete er auch schon die Tür. Mignon schnellte von ihrem Sessel und eilte, vor Freude sprachlos, wie ein Kind auf ihn zu.
Seine Schwester räusperte sich bei diesem Anblick und stammelte: „Entschuldigt, ich gehe mal nach der Küche!" Und gerade als sie das Zimmer verließ und die Tür zumachte, schlüpften ihr noch Mignons erste Worte ins Ohr: „Armer Hein!" Die Innigkeit dieser Begrüßung musste in Heinrichs Schwester gezündet haben. Denn ihr Gesicht errötete.
Mit einer Freundlichkeit, die Heinrich auffiel, brachte sie bald Kaffee und Kuchen. Und in herzlicher Weise bat sie die Mignon, zuzugreifen. Dann nahm sie Platz und beteiligte sich an den Erzählungen ihrer Gäste.
Langsam ging die Sonne unter. Mignon und Heinrichs Schwester unterhielten sich in einem fort. Heinrich verhielt sich scheinbar lauschend. Aber mit der zunehmenden Dämmerung wurde sein Gesicht immer ernster. Und heimlich sammelte sich über der Traulichkeit, die das „verbotene Kaffeekränzchen" umwob, der Rauch von Zigaretten zu einer dicken Wolke. Plötzlich ertönte die Glocke des Hauseingangs. Wie elektrisiert sprang Heinrichs Schwester auf. Auch er. Doch bevor seine Schwester das Zimmer verließ, bat sie ihn dazubleiben. Denn sie wollte erst mal durch das Fenster schauen, wer geklingelt habe. Dann ging sie. Gleich darauf kam sie atemlos erregt zurück. „Friedel ist's!" Und verschwand wieder.
Mignon legte ihren Arm um Heinrichs Nacken, lehnte müde den Kopf an seine Brust und drückte nervös seine Hand. In diese dämmerige Stille ließ der Regulator über ihnen gleichmäßig seine harten Schläge fallen. Verlegen fragte Mignon vor sich hin: „Heinrich, ich bin erstaunt über diese Rotkreuzschwester. Wie kommt es, dass sie alles für dich tut? Ist sie verliebt?"
„Kannst du schweigen, Mignon?"
„Ob ich... Haha!" Heinrich erklärte: „Sie ist meine Schwester!"
„Ist's möglich?"
„Natürlich! Und die Dame auch, die sie eben einlässt!"
Mignons Verwunderung wurde laut. Er aber mahnte: „Ich will sehen, ob du dich beherrschen kannst!" Heinrichs Freundin lachte selbstbewusst.
„Du, Mignon... "
„Was ist, Hein?"
„Den Auftrag für den Matrosen Albin Köbis auf dem ,Prinzregenten Luitpold', den erledigst du aber sofort!"
„Sobald ich in Bremerhaven bin, schreibe ich ihm, dass er mich baldigst besuchen soll. Meinen Brief an ihn stecke ich in dein Kuvert. Wenn er bei mir ist, sage ich ihm, dass du hier bist. Er soll unverzüglich dafür sorgen, dass jemand zu dir kommt. Ist's recht so?"
„Aber unter keinen Umständen mehr schreiben als, er solle dich besuchen. Denn Wilhelmshaven liegt unter scharfer Briefzensur. Auch mache dir nicht die Mühe, selbst nach Wilhelmshaven zu fahren. Das wäre zwecklos, weil kein Mensch von außerhalb, der nicht einen Pass von der dortigen Kommandantur in Händen hat, die Stadt betreten darf! Kapiert?"
„Jawohl", scherzte Mignon. Draußen hörte man Schritte und freundliches Sprechen.
„Also, Mignon... "
Die Zimmertür öffnete sich, und mit einem „Guten Abend!" trat Friedel in die dämmerige Stube. Hinter ihr folgte die Rotkreuzschwester und schaltete das Licht ein. Musternd blickten Friedeis Augen aus dem freundlich eingestellten Gesicht. Heinrich ging ihr entgegen und begrüßte sie, obwohl er das Gezwungene bereits ihrerseits fühlte. Die Zeit war merklich vorgeschritten. Er hatte es fertig gebracht, Friedel durch unbefangene Fragen in die scherzhaften Erzählungen seiner Freundin hereinzuziehen. Ihre Kühle, mit welcher sie in die Stube eintrat, war getaut. Ihr ganzes Wesen floss mit Mignons Lustigkeit.
Die Rotkreuzschwester hatte den Tisch gedeckt und ging, um das Abendessen aus der Küche zu holen. Unerwartet richtete Friedel an ihren Bruder die Worte: „Hein, nach dem, was mir Else mitteilte, musst du unbedingt weg von hier ... " Heinrich und Mignon schauten fragend. „Ich verstehe dich nicht, Friedel!"
„Ich meine, du solltest klug sein und entweichen. Denn so eine günstige Gelegenheit wird dir nie wieder geboten."
Ernsthaft kam Mignon dazwischen: „Warum zögerst du noch, Hein? Weg von hier, und das so schnell wie möglich!"
Friedel bekräftigte die Worte seiner Freundin. „Hein, verlass dich auf mich!"
Wieder drang Mignon auf ihn ein: „Dass ich alles aufbiete, damit du weg- und sicher unterkommst, das weißt du! Also entschließe dich doch!"
Die aufrichtige Liebe der beiden rührte ihn. Ergriffen stand er auf. „Kinder! Was denkt ihr, wie es der Else erginge, wenn ich eines Tages von hier verschwunden wäre?" Dann fragte er noch mal eindringlich: „Habt ihr mal daran
gedacht?"
Und während beide still vor sich hin sahen und Mignon nervös an ihrem Ring spielte, sprach er hohl: „Sie käme wegen mir ins Zuchthaus!" Mignon schüttelte sich. Erdrückende Stille war eingetreten.
„Aber!" ermunterte Heinrich, „ich werde die Karre anders schieben. Nur keine Überstürzung, meine Damen!" Die Krankenpflegerin kam mit dem Abendessen.
Plötzlich fragte Heinrich: „Sakrament! Else, hast du nach dem Posten draußen gesehen?" „Längst besorgt."
Es war schon spät in der Nacht, als Mignon und Friedel sich verabschiedeten. Wohltuend legte sich Zufriedenheit auf Heinrich. Denn der Stein war ins Rollen gebracht.
10.
Es war ein schöner Abend. Heinrich schaute aus seinem Fenster und sann. Die Tür der Gefangenenstube wurde geöffnet. Erst als jemand über die Türschwelle stolperte, drehte Heinrich das Licht an.
Zwei Matrosen, einer von S. M. S. „Prinzregent Luitpold", der andere von S. M. S. „Friedrich der Große" stürmten auf ihn ein. „Hallo, Hein! Servus!" Wie die Taue an Bord, so fest ergriffen sie seine Hände und schüttelten sie. Dabei weiteten sich die Züge ihrer glattrasierten, wettergebräunten Gesichter, dass sie in Begeisterung glitzerten. Ein Strudel besorgter Fragen zog Heinrich in tiefe Rührung. Kein Wort brachte er heraus. Endlich kam er zur Fassung. „Was, ihr seid schon hier?" Groß schaute er in die seeklaren Augen seiner beiden Freunde.
Der Posten hatte zwei Stühle angeschleppt und entfernte sich grinsend. Die Seeleute warfen ihre Mützen auf den Tisch, rückten die Stühle nebeneinander und setzten sich. Heinrich löschte das Licht und nahm vor ihnen Platz. „So! Abgeblendet ist's besser!"
Der vom „Prinzregenten Luitpold" bot Zigaretten an und reichte Feuer. Dann fragte er gedämpft: „Wie sind die Posten, Hein?"
„Treue Jungs! Heizer von der alten ,Emden'."
Heinrich zog kräftig an seiner Zigarette. Und versicherte: „Uns stört keiner, dafür sorgen die schon! Wie lange bleibt ihr hier?"
„Voraussichtlich morgen laufen die Wilhelmshavener Schiffe nach der ,Bucht'!"
„Aa-h!" Hein staunte, „eure Pötte liegen hier?"
„Mein Prahm liegt hier draußen an Boje elf, der ,dicke Fritz' schwoit an Boje acht!"
„Donnerkiel! Das hat ja fein geklappt! Sagt mir, wie war das möglich, so schnell möglich geworden?"
Nun erzählte der von „Friedrich dem Großen": „Am vergangenen Montag stand ich in Wilhelmshaven als ,Posten vorm Schiff. Da kam einer von der ,Nassau'-Besatzung zu mir und hat gefragt, ob ich ihm sagen könne, in welcher Division der Matrose Max Reichpietsch sei. Als ich ihm sagte, das wär ich selbst, gab er mir einen verschlossenen, aber unfrankierten Brief. Während er mir erzählte, von wem er diesen Auftrag bekam, betrachtete ich die Handschrift der Adresse auf dem Kuvert. Da ist mir ein Licht aufgegangen. Ich hab erkannt, dass die Handschrift auf dem Briefumschlag die deine war. Ich hab dem ,Nassauer' gesagt, er soll gleich nach dem Südhafen laufen und dem Matrosen Albin Köbes an Bord des ,Prinzregenten', zweite Division, sagen, dass er sofort zu mir kommen solle. Noch am selben Abend, nachdem ein Kamerad meine Wache übernommen hatte, haute ich mit dem Fährboot nach Eckwarden ab. Dann fuhr ich über Nordenham nach Blexen. Von da aus ließ ich mich über die Weser setzen, und um zwölf Uhr nachts war ich bei Mignon!" Der Matrose zog seine Zigarette in Glut. „Allen Respekt vor dem Mädel! Als sie hörte, ich sei da, ließ sie alles stehen und liegen und lud mich ein. Sie gab mir erst zu essen und zu trinken. Dann sagte sie mir, wo du bist und dass sie am Sonntag bei dir war, dass sie den Brief an mich dem ,Nassauer' gegeben hatte, der noch damit am selben Tage nach Wilhelmshaven gefahren ist!" Der Matrose warf seine Zigarette weg. „Hein! Ich bekam Hochachtung vor dem Mädel. Sie hat geheult und gelacht vor Freude. Und bat mich, wir sollen doch sorgen, dass wir dich zur Flucht bewegen können. Ich versprach's ihr, damit sie Ruhe gab. Dann reiste ich zurück. Mittags war ich wieder an Bord. Max lief sofort von Schiff zu Schiff und ließ eine Versammlung der Vertrauensleute einberufen. Und des Abends in unserem Lokal, das hättest du miterleben sollen! Als ich den Nichtsahnenden auf einmal Nachricht von dir gegeben hatte, da brüllte die ganze Bande los. Mich traf die alte Treue derart, dass ich mich einen Moment nach achtern verholen musste. Alle lassen dich grüßen. Und nun unsere Anträge!" Heinrichs Zigarette glich in der Dunkelheit einer glimmenden Lunte. Unheimliche Stille legte sich auf alle drei. Heinrich rückte sich zurecht und sprach: „Also, zur Sache!" Da berichtete der Matrose vom „Prinzregenten Luitpold":
„Hein! Als du auf Festung kamst, hast du zweierlei in Wilhelmshaven zurückgelassen: den revolutionären Zirkel und den Gedanken der Rache! Unsere Mitglieder überall, an Bord wie an Land, sprachen unter den Seeleuten von dir und von dem, was du eigentlich wolltest. Und sie waren erbittert über die ungeheure Strafe. Da haben wir den Hass gegen die Vorgesetzten entfacht. Und die haben ihn geschürt, aber zünftig! Der blödsinnige Dienst in der Flotte: Tag wie Nacht mit hungrigem Magen auf Kriegswache, und das noch auf Reede, und der Saufraß, mit dem die uns abfüttern, ist jedem, aber auch jedem zum Ekel geworden. Die Vaterländer sind ja verrückt! Stinken aus der Mannschaftskombüse die Steckrüben, dann riechen aus der Offiziersküche die Braten und die Zwiebelsaucen! Wir kriegen das verschimmelte Brot in Scheiben vorgeschnitten wie die Kinder. Aber die Offiziere fressen Semmeln und Weißbrot, soviel sie wollen! Beschwert sich von uns einer darüber, dann wird er eingesperrt! Knurrt man über den Hampelmanndienst, dann droht man uns mit dem Paragraphen der Aufwiegelung! Heimaturlaub kriegen wir bloß alle Jubeljahre einmal! Garnisonsurlaub gibt's nur bis elf Uhr! Da muss doch der Teufel rinhauen in den Bruch! Was meint denn die verrückt gewordene Gesellschaft eigentlich von uns? Sind wir vielleicht alte Weiber, die nicht mehr können! Oder, verdammt, sind wir Kulis!" „Albin, nicht so laut!" mahnte Heinrich. „Es ist doch wahr, wie diese Bande mit uns verfährt!"
Der Matrose hatte seinem Groll Luft gemacht und zündete sich eine Zigarette an. Im Schein des Streichholzes zuckten seine Backenmuskeln. Seine Augen flimmerten wild. Zähneknirschend flüsterte er: „Aber wartet! Wir werden euch schon kriegen, ihr Burschen, ihr großmäuligen!" Verbissen berichtete er: „Wir setzen demnächst wieder zur Aktion an. Dieses Mal aber muss die Aktion klappen. Wir scheuen vor nichts zurück! Und wenn die ganze Flotte mit Wilhelmshaven zu Scheiße wird, das ist uns wurscht! Das Volk entfesseln wir! Das haben wir uns geschworen!"
Plötzlich fragte er ruhig: „Hein, was meinst du? Der revolutionäre Zirkel will deinen Rat haben!" „Hm — wie steht's mit eurer Organisation? Wie ist euer
Plan?"
Nun ergriff der Matrose vom Linienschiff „Friedrich der Große" das Wort: „Die Zustände, wie sie jetzt auf unsern Schiffen herrschen, drängen uns mit Gewalt, zum Schlag gegen unsre Tyrannen auszuholen. Denn säumen wir noch lang, dann ist unsere Sache verloren, weil die Kameraden in ihrem Zorn keine, überhaupt keine Disziplin mehr anerkennen!"
Heinrich fragte: „Hat sich der revolutionäre Zirkel, seitdem ich in Gefangenschaft bin, ordentlich vergrößert?" „Selbstverständlich! Wir haben dann erst recht immer mehr neue Kameraden geworben, obwohl wir uns sehr in acht nehmen mussten. Und heute haben wir nicht nur einen Vertrauensmann wie einst, sondern durchschnittlich zehn auf jedem Großkampfschiff. Dazu kommen die Kreuzer mit der gleichen Zahl, die Minensuch-, die Vorposten-, die Torpedoboot- und die U-Boot-Flottillen. Dann folgen noch die Landformationen mit etwa fünfhundert Vertrauensleuten im gesamten!"
Heinrich forschte: „Und wie gedenkt ihr eure Kräfte zu
verwerten?"
„Wir haben vor, in diesem Sommer loszuschlagen. Und wir sind überzeugt, dass die anderen Kameraden in der Flotte ohne weiteres mitmachen!"
„Und wie ist euer Plan?"
„Das ist der alte!"
„Kameraden, mit dem bin ich nicht einverstanden. Wennschon, dennschon! Also hört mal zu, ich hab mir die Sache längst gut überlegt: Ihr habt von der allgemeinen Unzufriedenheit in der Flotte berichtet. Nun möchte ich wissen, ob die Kameraden der einzelnen Schiffsbesatzungen schon unter sich über die heillosen Zustände diskutierten."
„Aber natürlich! Zusammenkünfte in der Vorbatterie der Schiffe fallen gar nicht mehr auf!"
„Habt ihr darum schon daran gedacht, diese lose Masse mit der andern fest zusammenzubinden, zu organisieren?"
„Hein, wenn wir den revolutionären Zirkel verraten wollen, müssten wir dies tun, dann haben sie uns schnell beim Wickel!"
„Das ist Unsinn! Die andern müssen revolutioniert werden! Überlegt doch mal! Ihr berichtet mir von außerordentlich guter Stimmung eurer Bordkameraden! Ihr traut ihnen sogar zu, dass sie euch ohne weiteres helfen, wenn ihr aufbrecht! Also, organisiert sie!" Heinrich zündete sich eine Zigarette an und riet ihnen, gut aufzupassen. Dann begann er: „Unter den derzeitigen Verhältnissen in der Flotte ist es ratsam, wenn die augenblickliche Leitung des revolutionären Zirkels einen geheimen Aktionsausschuss aus den Reihen der Mitglieder bestimmt und dann dies in einer Vollversammlung des revolutionären Zirkels ohne Namensnennung bekannt gibt. Dieser geheime Aktionsausschuss muss die volle Verantwortung für die Mitglieder des Zirkels übernehmen. Er schafft Pläne und trifft Bestimmungen. Auch darf der Aktionsausschuss, der das Allerheiligste bildet, nur Bestimmten zugängig sein. Deshalb ist es erforderlich, dass der revolutionäre Zirkel neu organisiert wird. Und zwar folgendermaßen: Die Vertrauensleute einer Besatzung haben einen Schiffsobmann zu wählen! Die Schiffsobmänner eines Halb-Geschwaders oder einer Flottille bilden den Geschwader- oder Flottillenrat. Aus den Geschwader- oder Flottillenräten setzt sich dann der Zentralrat der revolutionären Hochseestreitkräfte zusammen. In gleicher Weise sind die Landformationen zu organisieren. Beide, der Zentralrat der revolutionären Hochseestreitkräfte wie der Zentralrat der revolutionären Landformationen, stehen in unmittelbarer Fühlung mit dem geheimen Aktionsausschuss. Sie erstatten Bericht und leiten seine Anordnungen weiter. Seid ihr so organisiert, dann beginnt ihr mit der Zusammenfassung der losen Masse. Und zwar in diesem Sinne: Die Vertrauensleute veranlassen auf ihren Schiffen oder in ihren Kasernen die Bildung eines Soldatenbundes, halten aber den revolutionären Zirkel geheim. Dieser Soldatenbund ist nicht zu radikalisieren. Er soll nur den Zweck unbedingter Solidarität ausreifen. Gelingt dieses Unternehmen, so ist er wie beim revolutionären Zirkel aufzubauen. Seine Spitzen sind allmählich mit den beiden revolutionären Zentralräten zu verbinden. Dann, wenn die Sache so weit gediehen ist, rat ich dem Aktionsausschuss, die Parole zum Angriff zu geben: Die Flotte muss anfangen. Die Mannschaften überrumpeln nachts die Offiziere und Berufssoldaten und setzen sie gefangen. Die Schiffe sammeln sich auf Reede, mit schussfertiger Breitseite auf Wilhelmshaven gerichtet. In dieser Stunde müssen sich die Landformationen erheben. Die beiden revolutionären Zentralräte schließen sich sofort mit der Leitung des Soldatenbundes zusammen und stellen sich mit ihren gesamten Kräften unter die Befehle des revolutionären Aktionsausschusses. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels übernehmen die Führung der aufgewühlten Massen und leiten den Vollzug der obersten revolutionären Instanz. Erhebt sich irgendwo militärischer Widerstand, so ist er erbarmungslos niederzuwerfen. Bestehen aber hierbei Bedenken, so sind erst Parlamentäre nach dem Stationschef mit einem Ultimatum zu entsenden, worin er aufgefordert wird, binnen einer festgesetzten Frist die gesamte Marine-Nordseestation zu übergeben, widrigenfalls ganz Wilhelmshaven unter Geschützfeuer genommen wird. Auch ist in dem Ultimatum zu erwähnen, dass für die Parlamentäre Geiseln bestimmt sind. Steht die Marine-Nordseestation vor der so vollendeten Tatsache der Revolution, dann aber gleich vor allem anderen in die ganze Welt funken: ,Die deutsche Kriegsmarine hat sich gegen den Krieg erhoben.
Alle maritime Macht ist in Händen der revolutionären deutschen Matrosen. Soldaten des In- und Auslands, fallt uns nicht in den Rücken! Helft uns! Verweigert die Befehle zum Angriff! Wählt Euch Vertrauensleute aus den eigenen Reihen! Setzt alle Offiziere gefangen! Erhebt Euch mit uns, wie ein Mann! Es lebe der Friede! Nieder mit dem Krieg! Eure Kameraden der revolutionären deutschen Kriegsmarine.' Ebenso sind durch Flugzeuge im Land Flugblätter mit demselben Text abzuwerfen. Alle im Machtbereich befindlichen Kriegsgefangenenlager sind zu leeren. Die Verteidigung muss eisern ausgebaut werden. Na, das Weitere wisst ihr ja vom letzten Mal. Habt ihr mich verstanden?"
Die beiden Matrosen nickten. Heinrich nahm einen Schluck Wasser und endete frisch: „In ein paar Monaten bin ich auch wieder bei euch!"
Heinrichs Freunde wollten erstaunt fragen. Er aber winkte ab und schloss: „Also, arbeitet gut vor! Hier, nehmt das Programm! Verwahrt es aber gut!" (Den Umsturzplan hatte Heinrich in der vorigen Nacht heimlich niedergeschrieben.)
Seine Kameraden fragten ihn nun noch, ob er genug zu essen bekäme und ob er sonst was benötige. Heinrich verneinte. Die Seeleute verabschiedeten sich. Heinrich gab Grüße an den revolutionären Zirkel mit und mahnte, niemand zu sagen, dass er in Kiel sei. Während die Kriegsschiffmatrosen die Treppe hinunterhuschten, wusch sich Heinrich. Dann ging er nervös, eine Zigarette rauchend, in der dämmerigen Gefangenenstube hin und her...
Seit die beiden Leiter des revolutionären Zirkels bei Heinrich gewesen, war ihm die Gefangenenstube zur Folterkammer geworden. Eines Tages aber, als ihm seine Schwester Else zu wissen gab, dass der Professor sein Krankenblatt mit der Schlussbemerkung versehen habe, er würde als „dienstunfähig" seiner Strafkompanie zugestellt, und dass ihn der Professor wegen des schweren Augenleidens zur Begnadigung empfohlen habe, da atmete der Revolutionär auf.
Aufstoßen von Gewehrkolben! — Die Tür der Gefangenenstube öffnete sich. Ein Unteroffizier mit einer Armeepistole trat ein. „Sind Sie der Marinegefangene Hölzel, Heinrich?"
„Jawohl!"
„Los, raus!"
Heinrich folgte. Else und Friedel, ebenso die bisherigen Posten und das Dienstpersonal standen paff.
Vor der Gefangenenstube empfingen den Heinrich noch drei Soldaten mit Gewehr. Der Unteroffizier befahl ihnen: „Lad'n und sichern!"
Gewehrschlösser knatterten. Ladestreifen fielen auf den Boden. Dann schrie der Transportführer auf Heinrich ein: „Bei Fluchtversuch schieß'n wir Sie auf der Stelle zusammen! Verstand'n?"
Unmerklich zupfte die Friedel den Unteroffizier am Rock, zog ihn mit listigem Lächeln zur Seite und flüsterte mit ihm.
- Das hatte geholfen. Fast kameradschaftlich fragte jetzt der Aufschneider: „Hab'n Sie alles bei sich?" Dann winkte er die Treppe hinunter. Heinrich nickte noch mal grüßend nach seinen Schwestern und nach seinen Gönnern. Und der Gefangenentransport verließ die Universitäts-Augenklinik.
11.
Heinrich war wieder im Militärgefangenenlager Lügumkloster. Aber nach kaum zwei Wochen wurde er wegen des Krankheitsberichtes des Professors der Universitäts-Augenklinik nach dem Zentralgefängnis Berlin-Tegel zurücktransportiert. Wiederholt drang dort der Stabsoffizier der Militärgefangenen-Abteilung auf ihn ein, er solle doch versuchen, Dienst zu machen, desto eher könne er auf Strafunterbrechung oder Begnadigung rechnen. Heinrich wusste besser Bescheid... Endlich wurde er in Ruhe gelassen. Tage und Wochen vergingen. Ungeduld begann ihn zu quälen.
„Der Satan soll den Kerl hol'n! Hört der denn nichts? — Marinegefangener Höl-zel!"
Heinrich ahnte. Wild stürzte er aus seiner Zelle und schrie nach der Hauszentrale: „Hier, Herr Feldwebel!"
„Los, her, marsch, marsch!"
Heinrich sah den Besen, welcher ihm als blödsinnige letzte Sehprobe in Schienbeinhöhe über den Weg gelegt. Er aber rannte mit zusammengebissenen Zähnen blindlings darauf los... Klatsch! Mit seiner ganzen Länge schlug Heinrich auf das Linoleum der Galerie. Im Nu stand er aber wieder auf. Und lief toll vor Freude nach der Hauszentrale. Zack! — „Marinegefangener Hölzel zur Stelle!"
„Sie renn' auch noch die Kirch' im Dorf rum! Was?"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
„Los, auf die Kleiderkammer, marsch, marsch!" Wie von tausend Teufeln gehetzt, stürmte Heinrich die Wendeltreppe hoch. Nun sah er aber tatsächlich nichts mehr...
Ü berglücklich nahm er in seiner Zelle seinen blauen Kulianzug aus seinem alten Zeugsack. Und lachte. „Endlich, endlich — ihr — Lumpen!"
Aus Fabrikschloten wuchs schwarzer Rauch säulengerade ins explosionsschwangere Blau. Und unter erdrückender Schwüle seufzte das Arbeitsvolk: Flüche. Von heißen Arbeitsstirnen tropfte die Qual. Die Fahnen hingen schwer und matt. Kriegsbegeisterung erlosch immer mehr.
„Es geht ums Ganze!" schreien die Generäle. Rücksichtslos kommandierte der fette Feldmarschall Hindenburg dem verzweifelt ringenden Volk: „Aushalten!"
Das deutsche Große Hauptquartier bluffte: „Unsere U-Boote blockieren England! Der Brite muss sich ergeben oder verhungern. Darum, um Gottes willen, haltet aus!"
Neues Hoffen entfachte frischen Mut: Grimmig warf sich das Arbeitsvolk in sein schweres Joch. Zäh straffte es seine Muskeln — für den baldigen Frieden.
Aber im Westen zog es sich schwarz zusammen.
Gewittersturm bestrich kühl die heißen deutschen Arbeitsund Soldatenschädel.
Es ward finster...
Wut zuckte. Der Himmel flammte grell.
Ein Krachen, Grollen und Toben! —
Der Hochsommer 1917 hatte sich entladen! — Die furchtbare Sommeschlacht war verloren. Die Revolution in Wilhelmshaven galt als verraten.
Aber Heinrich wurde mit Strafmilderung um zehn Jahre und mit bedingter Begnadigung zur II. Matrosendivision entlassen. |
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