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Albert Daudistel – Das Opfer (1925)
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Erster Teil

1.

Eduard trug seit gestern die ersten langen Hosen. Morgen früh sollte er ins Leben gehen — zur Grube! Freudig gelobte er seiner Mutter, sie in ihren alten Tagen treulich zu pflegen. Die Mutter seufzte.
Auf der Treppe polterte es lebhaft. Eduard öffnete. Und jubelnd sprang sein Jugendkamerad, der Heinrich, in die Stube. „Eduard, ich hab was Feines gefunden! Komm mal her!" Heinrich zog ein zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche und ging der Dämmerung wegen zum Ofen, aus dessen Aschfall rötlicher Feuerschein strahlte.
„G'n Abend, Frau Frank, ich hatt Sie gar nicht gesehen!" Mit diesem entschuldigenden Gruß kniete sich Heinrich vor die Ofentür und las: „Seelustige schulentlassene Knaben finden Stellung als Schiffsjunge auf erstklassigen Segel- und Dampfschiffen. Späteres Steuermannsexamen berechtigt zum einjährigen Dienst bei der kaiserlichen Marine. Seegemäße Ausrüstung kostenlos. Näheres bei Harry Miller, Hamburg, Vorsetzen hundertachtundsechzig a. — Eduard, ich werd Seemann! — Kommst du mit in die weite Welt? Heut Abend noch schreib ich nach Hamburg!"
Fragend schaute Eduard nach seiner Mutter. Sie aber schwieg. Eduard und Heinrich setzten sich auf den Fußboden. Es wurde dunkel. Begeistert sannen die beiden Jungen in die Zukunft.

Durch die Straße schwirrte Aufregung. Frauen jammerten. Und Kinder weinten.
Frau Frank schreckte auf. Sie zündete das Licht an. Heinrich und Eduard schauten horchend. Da wurde die Stubentür aufgerissen. Und herein stürzte mit schmerzverzerrtem Gesicht und flehend gerungenen Händen die Mutter des Heinrich. „Der Vater... Der Vater ist verunglückt!" Ohnmächtig fiel sie zu Boden.
Heinrich schrie: „Mutter!"

Eduard war aus der Stube gestürmt und suchte Hilfe. Bald traten zwei Nachbarn mit aufgekrempelten Hemdsärmeln ein, nahmen den erschütterten Heinrich von der Mutter und rafften sie auf das Bett. Mittlerweile füllte sich die Stube mit rußig aussehenden Bergleuten. Frauen standen gedrängt in der Tür und redeten Heinrich Trost ein oder tupften sich mit ihren Schürzen die Augen. „Lasst mich doch rein!"
Durch den Türspalt zwängte sich Eduard. Seinen Kleidern entströmte die kalte Luft der Straße. Ihm folgte der Arzt.
Scheu wichen alle zur Seite. Der Doktor befühlte den Puls der Ohnmächtigen. Die Wanduhr raschelte. Kaum war ihr letzter Schlag verklungen, da ließ der Arzt die Hand der Liegenden fallen, griff nach seinem Hut und sagte, dass die Frau Hölzel gleich abgeholt würde — sie sei tot.

Der Ofen stand kalt. Die Tote war fortgetragen worden. Heinrich und seine beiden Schwestern schliefen endlich erschöpft. Frau Frank löschte das Licht. Die Märznacht toste.

Das Hufgeklapper der Pferde und das Holpern der Wagen wurde lauter. Fabriksirenen schrieen. Der Tag begann. Achthundert Meter tief senkten die Förderkörbe der Zechen Menschen in die Erde. Frau Frank weckte ihren Eduard. Eindringlich flüsterte sie, dass er den Tag über bei Heinrich und dessen Schwestern bleiben müsse und dass er der Frau Pfisterer, die bald käme, behilflich sein solle. Dann warf sie sich ihr Wolltuch über die Schultern, schaute noch mal nach den schlummernden Waisen und ging. Eine Stunde später stand sie in einer Waschküche, im Dampfdunst kaum sichtbar, bei ihrer Arbeit.

Frau Pfisterer war in der Hölzelschen Stube mit Reinemachen beschäftigt. Heinrich und seine Schwestern saßen mit Eduard am Tisch und tranken Kaffee. Da kam der Pfarrer in die Stube. „Guten Morgen! — Na, meine Kinder, schmeckt's? Das ist recht. Und du, mein Junge... ?" Er reichte seine fleischige Hand dem Heinrich. Heinrich ergriff sie mürrisch. Dann wandte der Geistliche sein volles Gesicht lächelnd nach Frieda und streckte beide Arme nach ihr. „Komm mal zu mir, du kleines Ding!" Die fünfjährige Frieda aber floh zu ihrer Schwester und schrie: „Mutter!" Da schaute der Pfarrer nach der Frau Pfisterer und sagte ihr, dass die drei Kinder bald in ein Waisenhaus kämen. Er nahm eine Prise.
Während er sich die gerötete Nase rieb, griff er nach der Tür. „Seid brav, denn euer Vater und eure Mutter sind im Himmel und sehen ständig auf euch herab!" Der Seelsorger verließ das Haus.

„Waisenhaus!" Schrecken starrte aus Heinrichs Augen. Um zu trösten, griff Frau Pfisterer nach der verstaubten Bibel auf dem Schrank und las vor. Die zehnjährige Else fand Trost. Die kleine Frieda vergaß sich im Blicken nach der Alten mit der Hornbrille und nach Heinrich, der den Kopf verbittert auf die Fäuste stützte und so wie die lauschende Else den Eindruck der Aufmerksamkeit machte.
Auch der Nachmittag verlief ruhig. Als es anfing zu dunkeln, sammelte Frau Pfisterer ihre Schützlinge um den warmen Ofen und erzählte:
„Es war, als Gott auf Erden wohnte, da glich die Welt noch einem Paradies, und alle Menschen waren Engel, da fand einer der Engel ein noch nie gesehenes Metall, das wie die Sonne glänzte... Alle Engel begehrten sehr nach dem seltenen Fund. Der Besitzer aber jenes blinkenden Metalls gab nur etwas davon her, wenn er die Flügel der anderen dafür bekam. Die begierig Gewordenen tauschten. Folge war, dass sie nicht mehr Engeln glichen, sondern Teufeln... Darum verließ Gott die Erde. In der Welt wurde es nun kalt. Denn vor Gottes Zorn verfinsterte sich die Sonne. Da jammerten die Menschen und forderten ihre Flügel zurück. Der Kluge aber machte sie glauben, dass Gott ihre Flügel versteckt hätte und sie zur Strafe danach suchen müssten. Eifrig suchten sie die Erde ab. Aber vergebens. Da gab ihnen jener kluge Erzengel viele Werkzeuge aus Stein und sagte, Gott habe sie gegeben, damit sie auch unter der Erde nach ihren Flügeln suchen könnten. Nun fingen die Betrogenen an zu scharren, bis sie auf harte Felsen stießen. Und da bekamen sie schwere Werkzeuge aus Bronze und Eisen. Mit diesen gruben sie Tag und Nacht. Auch hatten sie sich schon große Winden und Förderkörbe gemacht, wie sie die Zechen haben. Und so gerieten sie viele hundert Meter unter die Erde. Unaufhörlich wühlten sie. Da fanden sie tief unten in der Erde schwarze Brocken. Bald merkten die Menschen, dass diese brannten und heizten. Deshalb suchten sie nur mehr nach Kohle — so hießen die schwarzen Brocken. Dabei vergaßen sie ganz, warum sie eigentlich angefangen hatten zu graben. Die Arbeit war schwer, und viele Menschen starben. Darum fingen sie an zu murren. Der Kluge aber sagte ihnen nun zum Trost, Gott habe versprochen, dass jeder, der suche, bis er sterbe, dann zum Lohn wieder ins Paradies komme. Hoffnungsfroh gruben sie weiter. Jener Kluge aber lachte die Betrogenen aus. Denn er spielte mit seinem glänzenden Metall im Paradies auf Erden und wärmte seinen Leib am Feuer der Kohlen, ohne sich zu plagen!"
Noch lange klang die monotone Stimme der alten Frau mit dem Summen des Kaffeekessels und mit dem Knistern des Feuers in harmonischem Akkord. Deshalb traf auch Frau Frank, als sie von ihrer Arbeit kam, die Kinder in beruhigter Stimmung. Nachdem Abendbrot gegessen war, ging Eduard mit seiner Mutter nach Hause. Frau Pfisterer blieb bei den Waisen.

Auf Zeche Hammerfest" sollte in dieser Nacht die Bergung der Verunglückten beendet werden. Möbelwagen, gefüllt mit roh gezimmerten Särgen, rollten an. Eifrig wurden zerfetzte und verkohlte Bergmannsleichen und einzelne Gliedmaßen eingesargt. Endlich war der Stapelplatz geräumt, und die Möbelwagen rumpelten schwer durch die schlafende Stadt zum Friedhof. Zechensirenen schrieen Leid wach. Mütter und Kinder eilten vor das Direktionsgebäude. Leutselig lächelte der dicke Kommerzienrat von oben. „Beruhigen Sie sich! In der vergangenen Nacht ist alles geborgen worden!" Schmerz zerstreute sich. Dann holperten Wagen, beladen mit frischem Grubenholz, in die Zeche.

Drei Tage nach der Grubenexplosion bewegte sich ein endloser Trauerzug unter den Klängen des Totenmarsches durch die Straßen. Neben Eduard, seiner Mutter und Frau Pfisterer ging ein Matrose der Kriegsmarine: der älteste Sohn der Familie Hölzel.
Heinrich war geflüchtet.
Else und Frieda befanden sich bereits im Zuge nach B., wo ein Waisenhaus sie aufnehmen sollte.

Müde und zermürbt waren die Schwestern in Begleitung einer Nonne am Eingangsportal der Anstalt angelangt. Die Klosterfrau zog an einem baumelnden Kreuz. Im Schloss knackte es. Sie traten ein. Links und rechts standen lebensgroße Heiligenstatuen. Else und Frieda schauten andächtig.
Und gerade als die erste Erde von der Schaufel des Totengräbers auf den Sarg der Mutter fiel, erschreckte die Kinder der schwere Schlag der Waisenhaustür.
Hatten die offenen Gräber der Eltern den Bergmannskindern als dunkler Eingang in bange Ungewissheit entgegengegähnt, so war es doch die Liebe mitfühlender Menschen, die die jungen Seelen stützte. Jetzt aber tappten sie hilflos zwischen steinernen Heiligen.
In einer Uniform rauer brauner Kleider, beschuht mit schweren Holzpantoffeln, das Taschentuch an die Brust geheftet und kahl geschoren, standen sich Else und Frieda für lange Zeit zum letzten Mal im Büro der Vorsteherin gegenüber. Bald war an der großen schwarzen Wandtafel an zwei verschiedenen Stellen um je eine Nummer die Zahl geändert. Dann führten Nonnen die Geschwister voneinander.

Das letzte Gebet des Tages war geplappert. Schwester Walpurgis und ihre Assistentin Cordula löschten die Lichter und verließen den Schlafsaal.
Räuspern. Schleichen. Dann Kichern!
Nackt, mit geil gestreckten Beinen, sich an den Brüsten spielend oder zu zweien aufeinander liegend, gewahrte Else die vorher so andächtig gewesenen Mädchen. Doch die letzten Eindrücke ihres jungen Lebens und besonders die fremde zeremonielle Abwicklung der ersten Stunden in diesem Hause verursachten, dass sie auch diesen Anblick als das „Neue" aufnahm.
Erschöpft durch physische und seelische Mühseligkeiten schlief sie ein.
Erschreckt wachte sie auf. Ein heißer Mädchenleib drängte sich an sie und stotterte erregt: „Von, von wo bist du?"
Während Else erzählte, fühlte sie, wie die fiebernden Hände des fremden Mädchens ihre Arme streichelten und auch ihre Beine. Und immer tiefer kroch die Unbekannte unter die Zudecke. Plötzlich spürte Else einen unbekannten stechenden Schmerz... Sie schrie.
Kampf entstand!
Schlüssel rasselten!
Dann strampelndes Huschen.
Schwester Walpurgis und ihre Assistentin betraten den Schlafsaal und eilten in die Gänge zwischen den Betten. Die Nachbarin der Else stand mit blutig zerkratztem Gesicht vor der Schwester Walpurgis und erzählte, dass die Neue zu ihr ins Bett gewollt habe, und als sie aber sich dagegen gewehrt habe, hätte Else sie gekratzt. Else wurde abgeführt. Und bald lag sie, von Rutenhieben blutend, nackt im Keller. Ekel und Angst vor den fremden Menschen erfüllte das Kinderherz. Schmerz jammerte nach Erbarmen. Ihre Hilferufe verhallten aber ungehört in dem hohlen Gewölbe. Verzweifelt sank Else in den dunklen Dunst der Wände.
Langsam wurde es hell. Zitternd richtete sie ihre leidvollen Augen zum hochgelegenen Kellerfenster. Sie gierten in das graue Licht des aufbrechenden Tages.


2.

Seit ein paar Stunden hatte es angefangen aufzubrisen mit Regenböen von Südwest. Mit zwei Reffen im Mars und mit halbgegeiter Fock stampfte der Segler „Bella" mit nordöstlichem Kurs, von der Westküste Südamerikas kommend, im berüchtigten Golf von Biskaya.
Das Barometer fiel stark. Der Atlantiksturm begann. Am Handruder stand Heinrich, neben ihm, bedächtig den Wolkenzug und die aufkommende See beobachtend, ebenfalls in Ölzeug und Südwester, der Kapitän. „Der Wind dreht sich nach Westen und wird auf Nordost enden!" Noch ehe Heinrich zum Erwidern kam, riss ihm eine unverhofft einsetzende Böe das Wort von der Zunge, und beide Seeleute standen bis an den Hals im eisigen Wasser einer von achtern über das Deck brandenden Woge.
Nachdem sich beide aufgerafft haben, brummte der Kapitän: »Weck die Freiwache zum Segelreffen!" Heinrich schob sich im hin und her rauschenden Wasser nach dem Mannschaftsraum und rief die trotz allem Toben der Naturgewalten schlafenden Seeleute.
Bald schwirrte vom Großmast her das Kommando: „Fock fest! — Vor- und Marssegel dicht reffen!" Die „Bella" schlingerte nun derart, dass die Rahenden fast die Schaumkämme der Wogen berührten. Aber mit zusammengebissenen Zähnen enterten die Seeleute hoch in den Mast und arbeiteten zäh, bis sie das Segel dem zerrenden Sturm entrissen und festgemacht hatten. Dann enterten die Seeleute nieder.
In der nun angebrochenen Nacht lag die „Bella", sich nicht mehr wo wild bäumend, nur ab und zu eine See übernehmend, hart beim Wind. Vier Tage trieb der Segler willenlos, von der aufgewühlten See herumgeworfen, in dem gefährlichen Golf von Biskaya, bis dann endlich das Wetter abflaute und es wieder hieß: „Segel setzen!" Endlich, eine Woche später, lief die „Bella" nach zweijähriger wilder Fahrt, mit Salpeter beladen, in ihren Heimathafen Hamburg ein.

Zwischen Händlern und Dienstleuten, zwischen Runnern von Freuden- und Boardinghäusern drängte sich die Besatzung der „Bella" zur Abmusterungsstelle. Bald hatten die Segelschiffmatrosen ihren schweren Verdienst für die zweijährige Reise in den Taschen, und bald, nachdem sie sich neu eingekleidet hatten, wurden sie umschwärmt von lächelnden Straßendirnen. Der Abend kam.
Im „Atlantik-Haus" setzten, von Trommelwirbel begleitet, auf einen Paukenschlag Trompeten, Geigen und Ziehharmonikas ein. Und lärmend jauchzten, von lustvollen Gefühlen und von Whisky beseelt, die landfrohen Seeleute mit den weinfrohen Halbnackten.
Immer mehr briste die Lust auf. Immer leidenschaftlicher raste die Radaukapelle.
Der „Atlantiksturm" fing an.
Heinrich hatte bereits Windstärke neun! Bedächtig balancierend schob er sich nach dem „Rosenlogis". Wollüstig brüllte er unter die Seebräute. Eben setzten die Ziehharmonikas melancholisch wie eine Orgel ein, dann schneller und schneller werdend, bis die Kapelle wieder raste. Draußen dröhnte der Fußboden unterm Two-step. Schreiendes Lachen gellte. Die ans Schlingern gewöhnten Seeleute stampften mit von Wollust geblähten Segeln.
Komm!" Heinrich ging mit der „Bella" nach oben.
Lustig pfiff der „Sturm" und riss die Takelage. Auf der obersten Rah lag Heinrich übergebeugt, die Füße fest gesträubt, und arbeitete sich zäh das „zerrende Segel" Zoll um Zoll unter den Bauch, bis er es so ganz dem „Sturm" entrissen und festgemacht hatte. Dann enterte er nieder. Und die „Bella" lag, sich nicht mehr wild bäumend, neben Heinrich, „Backe an Backe".
Acht Tage trieb der „Segler" willenlos, von aufgewühlter Leidenschaft herumgeworfen, bis er sich eines Morgens verblüfft im Rinnstein wieder fand. „Ein echter Seemann!" spottete ein Passant. Scham half dem Heinrich auf die Beine. Und ausgebeutete Taschen schrieen: „Segel setzen!"
Ein paar Tage später durchkreuzte Heinrich wieder im vollen Orkan auf einem Dampfer den berüchtigten Golf von Biskaya.


3.

Im Wartesaal des Hamburger Hauptbahnhofes erster und zweiter Klasse saß seit vielen Stunden ein elegant gekleidetes junges Mädchen. Unruhig lugten ihre Augen. Nervös drückte sie ihr Taschentuch. Denn der Zeiger der Uhr rückte immer weiter.
Der letzte Zug war abgefahren.
Die Kellner stellten die Stühle auf die Tische. Mühsam erhob sich das Mädchen und verließ seufzend den Saal. Dann ging sie fröstelnd, verfolgt von lockenden Männern, stundenlang in der großen Halle hin und her.
Qualvoll pendelten ihre Gedanken zwischen Verzagen und Hoffen.
Endlich gähnte der Morgen. In der Halle dröhnte Leben. Der Wartesaal wurde geöffnet. Sie trat wieder ein. Kaffeeduft steigerte ihren Hunger. Sie zitterte.
Entschlossen griff sie nach ihren flimmernden Ohrringen, nahm sie ab und winkte einem Kellner. Sie flüsterte mit ihm und reichte ihm endlich ihren Schmuck. Er prüfte und gestikulierte zögernd. Dennoch aber griff er in die Tasche und zählte ihr den zustande gekommenen Preis vor. Bald schlürfte sie gierig heißen Kaffee. Und aß. Es war acht Uhr.
Getrieben von der Furcht vor den kalten und ruhelosen Nächten, flüchtete sie in die Stadt, um Erwerb zu erhaschen. Abgehetzt, aber ohne Erfolg, stand sie mittags am Kai des Hafens, wo die Dampfjollen Hafenarbeiter und Seeleute absetzten. Plötzlich tauchte in ihr die Frage nach ihren Geschwistern auf. Lange stand sie am Kai und sann... Wehmütig wandte sie sich und irrte wieder in die Stadt. Allmählich kam der Abend. Regen fiel.
Einige Tage später kauerte die junge Unglückliche in zerknüllter Garderobe, von Not und Elend gebleicht, im Wartesaal dritter und vierter Klasse. Ihr Suchen nach Erwerb war umsonst gewesen. Hunger, Müdigkeit und Kälte erwürgten ihre Energie. In ihren Augen brannte Angst, Verzweiflung und Flehen. Endlich wurde sie freundlich angesprochen. Und bald verließ sie in Begleitung eines Herrn den Bahnhof. Hotel. Reichliches Essen. Belebender Wein. Dafür erhielt sie am folgenden Abend den Befehl zur „Promenade" am Alsterbecken. Zwei Wochen vergingen. Es schneite. Und immer noch bestrich sie den Jungfernstieg. Endlich ruhte sie auf der Holzpritsche eines Polizeiarrestes zwischen gedrückten Dirnen, die dann, dem Sittenkommissar und Arzt vorgeführt, sich in ihr Los fügten und zur Zerstreuung die neuesten Schlager summten.

Aus den braunen Betten der Polizeistation im Krankenhaus schauten schwarzumränderte, trübe Augen. Der Chefarzt, die Assistenten und die Wärterin traten in die qualvolle
Stille.
„Wie war hier das Präparat?" fragte der Stationsarzt am Bett einer Patientin mit einem Mundverband.
„Drei plus Spirochäten!"
„Behandlung!"
So schritten die Ärzte von Bett zu Bett. Immer wieder klang es: „Behandlung!"
Glatte, blütenweiße oder gelblich verwelkte Gesichter, umwallt von üppigem Haar oder spärlich mit silbergrauen Strähnen behangen, folgten mit Spannung der Visite, die vor dem Bett eines kaum sechzehnjährigen Mädchens stehen geblieben: Frieda Hölzel...
„Behandlung!"

Sechs Märtyrertische standen in Abständen nebeneinander, beschienen von der Frühlingssonne, die durch das Glasdach den Äther und widerlich süßen Dunst in glitzernde Stäubchen auflöste. In der Nähe des Operationstisches standen große und kleine Flaschen mit dem Porträt des Todes auf dem Bauch. Daneben waren große Sezierplatten mit Zangen, Scheren, Nadeln und Stangen, die, an einem Ende im Halbkreis gebogen, aussahen wie Feuerhaken. Dicht neben den Schlachtbänken auf dem Terrazzoboden standen weißemaillierte Eimer.
Rastloser Betrieb setzte ein. Über die Tische gebeugt, arbeiteten gummibehandschuht mit exakten Handgriffen schweigsam die Ärzte an festgeschnallten Frauenleibern. Schwestern nahmen Instrumente ab und reichten zu. Die Gequälten schrieen. Und ihre Hände krallten sich um die Tischkanten. Eiter quoll. Blut spritzte. Der Raum ward Folterkammer. Unentwegt klang es: „Höllenstein, bitte!"
Das Schreien wurde Stöhnen. Dann wurden die nur noch Röchelnden in den Krankensaal getragen. „Die nächsten!"
Schnell entleerten die Schwestern die vollen Eimer.
Sechs Wochen später, nachdem Frieda gesund war und die ihr wegen gewerbsmäßiger Unzucht zudiktierten vierzehn Tage Gefängnis verbüßt hatte und in die Kontrollliste für Prostituierte eingetragen war, wurde sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Hoffnung trieb sie an eine Adresse, die ihr eine Dirne im Krankenhaus bekannt gegeben hatte. Und am selbigen Abend schon saß sie im Zug nach Bremerhaven. Ihr Gesicht schien zufrieden; denn sie fuhr aus ihrem Elend. Es war Nacht. Doch jetzt quälte sie nichts mehr. Sie war am Ziel! An einem marmorumfaßten Portal klingelte sie. Die Tür öffnete sich. Frieda trat ein.
Weiche Teppiche. Süßer Duft. Prunkvoll gemalte Wände. Überall große Spiegel. Magischer Lichtschein hing über märchenhafter Ausstattung. Dumpfe Stille herrschte in dem Bordell.
Bald saß Frieda im luxuriösen Marmorbad. Und bald stand sie frisch und duftig in rotseidenen Pumphöschen und weitärmeliger, ausgeschnittener Bluse, aus der ihr voller Busen weiß zur Lust lockte.
Frieda atmete auf, als sie ihr Zimmer mit dem Himmelbett betrat. Erleichtert zündete sie sich vor dem Spiegel eine Zigarette an, sog und lachte glücklich, bis der Rauch sie allmählich wie eine Wolke einhüllte. Da löschte sie plötzlich weinend das Licht...


4.

Vom funkelnden Mailänder Himmel leuchtete der Mond nach kauernden Heimatlosen auf der breiten Treppe des Domes. Zwei Karabinieri auf der untersten Stufe nickten stumm. Schritte hallten. „Morgen ist großes Treffen in der ,Weinkirche'!" Die Stadtgendarmen erhoben sich aus der wachenden Ruhe und setzten sich behäbig in Bewegung. Um die Domecke bogen zwei Deutsche, der eine mit langem Vollbart, der junge mit englischer Mütze. „Buona sera, signori!" Freundlich tönte die Frage der Schutzleute: „Sind Sie Ausländer, meine Herren?" Als ob Sterne am Marmor des Kirchenpalastes anklängen, so erschallte die freundliche Antwort: „Siamo internationali, signori!" Dann bot jener mit dem Schlapphut Zigaretten an. Sein Gefährte Heinrich fragte nach der Via arena, und mit gedämpften Worten begleiteten die Karabinieri die Fremden bis zur Grenze ihres Wachreviers.

Via arena Nummer 34, das Logierhaus der Globetrotter, ein kleines Häuschen, das sich altersschwach an starken Eisenträgern stützte. Philipp, der Ältere, stellte sich mit dem Rücken an die Eingangstür und schlug mit Fäusten und Füßen Lärm. Von drinnen knurrte es: „Porco di Christo! Wer schlägt so spät in der Nacht an meine Tür?" Philipp brummte: „Mach auf, Olle!" Die Tür öffnete sich. Und ein altes, verwahrlostes Weib fragte mit Männerstimme: „Wer seid Ihr?"
„Bist du blind geworden, Mama Rosa?" „Oh — il Philippo! Wo kommt Ihr her so spät?" Während die beiden Freunde eintraten, begrüßte die Alte auch Heinrich und deutete nach oben. „Es sind noch Schlafplätze frei. Buona notte!"
Sie ging in ihre Kammer. Philipp und sein Freund stolperten die abgetretene steile Treppe hoch. Und bald schnarchten sie mit den anderen um die Wette.

Der Nachmittag lachte, als die beiden Freunde endlich unbekümmert ihre Toilette vor der großen Erkerscheibe des „Cafes Gambrinus" unter der „Galleria Vittorio Emanuele III." beendet hatten und sich dann durch das wogende Korsoleben drängten. Kaum waren sie in die Via Monfort eingeschwenkt, da deutete der bärtige Philipp nach einer Kirche unten in der Straße. „Dort steht sie, die ,Chiesa di Santa Maria'! Aus jenem göttlichen Schafstall machte Napoleon I. einen Pferdestall. Aber wir, wir haben sie ausgemistet und sie zu einem Tempel für die Welt hergerichtet, in dem nicht gemuckt und gelispelt, sondern frei und laut aus vollem Herzen das Leben gefeiert wird. Und darum nennen wir dieses ehemalige Gotteshaus einfach die ,Weinkirche'!"
Beide waren angekommen. Philipp öffnete die große Tür, und im Sonnenschein, der wie ein Teppich auf den Steinplatten lag, folgte ihm Heinrich. Laut dröhnte das Zuschlagen der Tür. Dann rumpelte und klirrte es... „Kreuzdonnerundhimmelkeil!" fluchte der alte Philipp, welcher, vom Tageslicht geblendet, wider den Tresen gerannt war und dabei Flaschen und Gläser zu Boden gestreift hatte.
„Hallo, ,Krachphilipp'! — Servus, alter Tramp!" schrie einer aus dem Düstern. Einsetzendes Gelächter gab Mandolinen, Gitarren und Ziehharmonikas das Zeichen zum Anfangen, und lustiger Strudel zog den fluchenden Krachphilipp und den Heinrich in die ungebundene Freude internationaler Globetrotter.
Allmählich waren dem Heinrich in dem Kirchendunkel die Augen aufgegangen. Wo einst Betstühle waren, standen jetzt braunpolierte Tische aus Eichenholz. Oben im Gewölbe klebte noch hie und da ein Stück vom alten Himmel. Die gemalten Sterne waren ganz verblichen. Die Engel hinten über dem Allerheiligsten, in dem dickbauchige Fässer Trost und Labsal „per Tutti" goren, schauten verdorrt wie Mumien. Aber Gesang, Weingeruch und Pastaciataduft belebten alles. Begeistert erschallte ein italienisches Volkslied. Und gepackt von freiheitlicher Leidenschaft, stimmte auch Heinrich ein: „... stretti, stretti, nell' estasi d'amor!
La spagnola s'amar cosi:
Bocca, bocca la nott el di... "
„Bravo!" — „Cameriere! Fünf Fiaschi ,Christustränen', aber presto!" — „Noch zwei Liter di Mastiaca!" schrie ein anderer. Und bald dröhnte es wie trotziges Fluchen hoch im Gewölbe: „Saluti! Prost!" Dann klirrten die Gläser wie Engellachen.
Wieder drang Sonne in die düstere Kirche. Blutrot und goldgelb funkelten die Gläser. Die Fröhlichen schauten nach der Tür.
Ein Greis mit langem grauem Bart in verwitterten Kleidern tappte barfuss in stolzer Haltung näher. Wie vom Hund gebissen, schnellte der knorrige Krachphilipp hoch. „Der ,silberne Gustav'! Servus, altes Gerippe!" „Servus! Servus! Servus!" knallte es durcheinander. Begeistert wurde der Alte mit Fragen befeuert. Die „Christustränen" leckten von den Tischen.
„Cameriere! Noch fünf di Ricinado und fünf di Samos, presto, presto!"
Ergriffen schüttelte der silbergraue Greis jedem die Hand und ließ sich neben dem Krachphilipp nieder. Der stand auf, befahl einzuschenken und erhob sein Glas zu Ehren seines siebzigjährigen Freundes.
Gustav erwiderte. Seine weißen Augenbrauen stellten sich wie Stacheln. Er ballte die welken Fäuste. Seine altersgeschwächte Stimme bannte. Plötzlich schlug er mit der knöchernen Rechten auf den Tisch. Die Linke erhob er herausfordernd und schrie: „Evviva la liberta!" — Heinrich war erschüttert. Einem solchen Gottesdienst hatte er noch nie beigewohnt. Während die Unterhaltung gesellig wurde, fragte er seinen Reisegefährten, was dies alles für Leute seien und wie es komme, dass diese aus allen Nationen und Rassen Zusammengewürfelten sich so gut kennen und so einmütig seien. Philipp deutete nach dem „silbernen Gustav". „Schau dir diesen Kerl an. Muss man sich nicht über die Feuerkraft, die ihn beseelt, wundern? Und dennoch hat seine Seele einen Bruch!"
Heinrich schaute zweifelnd.
„Ja, so ist's: Wie jeder Mensch, so hat auch dieser Kerl eine Beule im Herzen. Nur lässt er sie nicht merken. Selbst in seiner Trunkenheit schaut er nur listig hinter dem Schleier seines Geheimnisses hervor. Hein! — Dich will ich's wissen lassen, was er mir mal einst verriet. Aber... !" Der Krachphilipp erzählte dem Heinrich, dass der „silberne Gustav" Privatdozent einer deutschen Universität gewesen war, dass er ein armes betrogenes Mädchen, die Tochter seiner Hauswirtin, vor Schwangerschaft gehütet hatte und so mit dem Strafgesetz in Konflikt geriet und verfolgt wurde.
„Die Wogen seines damaligen Schicksals setzten ihn hier unter dem Schutz des lachenden Himmels ab. Seit jener Zeit irrte er, verachtet und unstet, umher. Sein Geist aber dehnte sich in dem engen Zusammenleben mit der Natur. Auf seinen Wanderungen im Orient, in Asien, in Palästina und in Nordafrika sammelte er einen großen Sprachschatz. In späteren Jahren liefen seine Reisen über den ganzen Erdball. Er vereinigte dabei die Ausgestoßenen zu einer Gesellschaft, von der du hier einen kleinen Teil siehst. Was uns alle fest zusammenhält, ist unser Trotz gegen unser Schicksal!" Philipp trank sein Glas leer und sagte: „Siehst du, Freund, alle, die hier in der ,Weinkirche' sitzen, und viele lausende, zerstreut in aller Welt, sind seine Apostel. Überall, sei es in den Wüsten Bessarabiens oder in den Rosengärten des Libanon oder in den Schluchten der Pyrenäen oder auf den verwahrlosten Straßen Griechenlands, oder sei es, wo es wolle, da mahnen wir zur Menschlichkeit und predigen Mut zum Leben. Und überall schallt, wie hier, trotzig unsere Parole: ,Es lebe die Freiheit!' Dabei scheren wir uns nicht um Gott und Teufel. Die mögen uns beide gern haben!" Krachphilipp hatte geendet. Die Fiaschi waren geleert. Während Heinrich noch verdaute, was ihm sein Freund erzählt hatte, schallte der Ruf: „Hallo, der ,Stelzfuß'!"
„Na, Stelzfuß, dir ist's wohl im Sudan wieder mal eingefallen, dass es im nordischen Mailand auch ganz warm zugeht!" rief der „Yankee", ein verkrachter amerikanischer Getreidehändler. Zum Antworten kam der einbeinige Wüstenwanderer nicht, denn schon zappelte er in tosender Brandung freudigen Wiedersehens.
Schenkburschen schleppten Wein an. Prosits knallten. Dann erschollen freudiger Gesang und Musik.
Lustig begannen die internationalen Vagabunden auf den Steinplatten der „Weinkirche" zu tanzen. Einmal mit Gesang einer englischen Volksweise, dann abwechselnd mit italienischen, deutschen und französischen. In diesem Trubel landete eine Reisegesellschaft à la „Cook & Sohn". Staunen gruppierte sich mit langen Gesichtern, im Baedeker nachschlagend, um das hosenzerrissene, barfüßige alte und junge Leben. Dazwischen echote der rußige Boden der Kochtöpfe auf den Rücken der tanzenden Weltenbummler, wenn dieser allzu zärtlich die in Verwunderung starrenden Nasen entzückter Damen berührte. Fluchend wirbelte der Krachphilipp im Arm des „silbernen Gustav". „Platz da! Sakrament!" Immer mehr drängten die Sensationsreisenden auf die tollende Freiheit ein... , bis schließlich nach einer kleinen Pause der „silberne Gustav" mit großem Kompliment zwischen dem Vater und der Schwiegertochter die Kommerzienrätin in den neu beginnenden Wirbel hineinzog. Stelzfuß ergriff die Tochter, und der Philipp packte den Bankier, und so versah sich kühn jeder Vagabund mit einem Partner oder einer Partnerin. Und bald drehte sich die ganze Welt in der „Weinkirche". Arme und Reiche, Elegante und Zerlumpte, alle tanzten, lachten — und tranken aus einem Fass das Wunderserum „Lacrimae Christi"!

Langsam schwoll die Feier ab. Noch einmal sprach der „silberne Gustav". Grimmig, aber mitreißend. Und alle fielen begeistert ein: „Menschen, seid froh!"
Einer nach dem andern verließ die „Weinkirche". Philipp zeigte seinem Freund Heinrich die Stadt. Schließlich gingen sie durch einen Seitengang in das Innere des Mailänder Doms.
Auch eine Kirche.
Modernder Duft. Mystische Dämmerung.
Schüchternes Murmeln verfing sich im hohen Gewölbe.
Starre Heilige, leblose Engel.
Versteckter Schmerz.
Philipp und Heinrich verließen die Stätte des verstaubten Prunkes durch das Hauptportal.
Auf der breiten Treppe lagen Krüppel, hungernde Greise, zerlumpte Frauen und verwahrloste Kinder, aus dem Dom Menschlichkeit erwartend. Alle wollten Brot. Philipp und Heinrich gaben ihre gebettelten Soldi. „Lazzaroni!"


5.

Seit Heinrich sein Schiff, mit dem er von Hamburg nach Savona gekommen war, verlassen hatte, seit ihn der Krachphilipp durch die „Weinkirche" auf jene Straße gebracht hatte, welche zu den mächtigsten Denkmälern menschlichen Schaffens führt, atmete er neues Leben.
Florenz hatte er passiert. Unter gewaltigen Eindrücken wanderte er nun mit einem neuen Reisekumpan, einem alten Holländer, durch die wilden Narzissen und Veilchen der römischen Campagna. Wolkenlos wie der Himmel, so war sein Gemüt. Während sein Reisegefährte schweigsam, ab und zu über den „öden, endlosen Weg" murrend, vor sich hin tappte, schwärmte Heinrich in Begeisterung. Denn Rom war in Sicht! Langsam neigte sich der Tag. Rom spornte an. Und endlich hinkten Heinrich und sein Freund ermattet im Schatten der Häuser und Paläste. Hoffnungsvoll fingen sie an zu betteln. Überall taube Ohren! — Schließlich erhielten sie die Adresse des „Albergo di Tempio di Chato". Römische Freude pulsierte in den Todmüden. Beschleunigten Schrittes zwangen sie sich durch das dunkle Labyrinth der heiligen Stadt. Bald waren beide vor einer runden, düsteren Ruine angelangt. Müde bis zum Zusammenbrechen zeigte Heinrich einem Passanten die Adresse. Dieser stutzte, fasste sich aber sofort, und während er flüchtig die beiden Fremden von unten herauf musterte, wies er lächelnd hinüber zum Kolosseum: „La, signori, la!" Scheu schlich Heinrich mit seinem Kameraden durch eins der vielen unverschlossenen Tore in dem ausgehöhlten Felsen.
Grauenhafte Stille.
Katzen huschen.
Heinrich steht gebannt in der kiesbestreuten Ellipse altrömischer Zeit, unter dem pompösen Marmorgerüst der Kaiserloge. Flüsternd, als knisterten längst verbrannte Märtyrerpfähle, als knirschte noch mal der Kies unter den Füßen sich zur Schau gegenseitig zerfleischender Sklaven, erzählt Heinrichs Freund die Geschichte des „Katzentempels", des einstigen römischen Volkstheaters. — Heinrich misst das Ungeheure des Trichters, in dem das Brüllen blutdürstiger Bestien und das Todeswimmern der vielen Menschen unheimlich dröhnten. Er sieht all die vielen Stufen und Plätze ringsum, bis oben voll besetzt von wollüstig lächelnden Zuschauern... Er spürt in seinem Ergriffensein den Dreizack in seinem Körper. Er spürt die Flammen des Scheiterhaufens. Erschüttert flüstert Heinrich: „Warum? Wa-rum?"
Der alte Holländer wandte die Augen zum ruhig glitzernden Nachthimmel. Und schwieg. Heinrich sank erschauert auf den Kies. Sein Freund legte sich neben ihn. Irgendwo im Kolosseum ertönten Mandolinen und Stimmen sich heimlich Liebender. Und bald träumte Heinrich von Rom...

Klarheit des Tages drang zwischen das alte Gemäuer. Sonnenschein fiel auf die gekauert liegenden Wanderer. Sie erwachten. Noch schmerzten die Glieder. Aber Hunger und Frost quäken Heinrich und seinen Freund zur Klosterpforte. Mönchisch reichte der Kapuziner eine Schüssel Minestra. Der Bauch war gefüllt. Sankt Peter lockte.
Auch Heinrich staunte in dem gewaltigen Kirchenraum. »Wie schön... " Dann stiegen sie zur Kuppel. Lange las Heinrich an den getünchten Wänden der Sankt-Peters-Kuppel in stiller Feier die in den Kalk gekritzelten Inschriften: »Heilige Jungfrau, bitt für mich... " Oder: „Auf unserer Hochzeitsreise, Joseph und Maria 1890." Und über dem Kopf eines mit Kohle gemalten gekreuzigten Christus leuchtete in Rot: „Los vom Kreuz! Lebe!" Eine Inschrift verschmierte die andere. Heinrich entzifferte unter einem frisch übertünchten Fleck: „Heiliges Rom! — Verruchter Schein!" Bald verließ er mit seinem Reisegefährten die heilige Peterskirche und — das heilige Rom.

Neapel! Das neue Verlangen — lechzender Weltdurst! „Noch siebzig Kilometer!"
Schon winkt der Vesuv. Vollbrüstig schnaufend wälzt sich das Tyrrhenische Meer. Zu Heinrichs Verwunderung jauchzt der mürrische Holländer: „Welt! — Raus aus modrigem Gemäuer! — Natur belebt — befreit!" Alle Mühseligkeiten überwindend, wandern beide am Strand südwärts. Sehnsüchtig eilen ihre Blicke voraus.
Die Sonne sinkt. Die Nacht frisst Meile um Meile. Der Tag strahlt wieder. Heinrichs Kumpan atmet auf. „Die letzte Kurve... "
Da — überwältigend — der blaue Golf! Der Vesuv! Zu seinen Füßen das ersehnte Napoli! Die Müdigkeit weicht der Freude in der „Osteria della rondinella", dem Treffpunkt der internationalen Vagabunden. Ein Lärm, als brumme, als zische, als spektakle der Vesuv. Überschäumen des Lebensmutes. Wein — und schnatternde Schwarzäugige: der Himmel auf Erden! „Saluti amici! Prost Angelina! — Prost tutti!" Mandolinen spielen. Begeistert entladen sich die freiheitlichen Gemüter: „O dolce Napoli, suolo beato... "
Lind breitet sich die Nacht über Frohsinn und Heiterkeit. Wein- und glückstrunken liegt Heinrich, weich umarmt von neapolitanischer Gastfreundschaft. Groß, voll scheint der Mond. Heinrich lächelt im Schlaf. Und dumpf grollt der Vesuv über der Stadt.
Zwei Wochen später stieg Heinrich mit seinem Reisefreund sinnend in den Trümmern von Pompeji und Herculanum umher. War es der Abschied vom gastfreundlichen Neapel, oder bedrückte das Grab menschlicher Kraft die Gemüter der Wanderer?
Heinrich ließ sich auf einer umgefallenen Steinsäule nieder und schaute versonnen zurück: Vor ihm aus dem Schutt stieg sein vergangenes Leben... Jetzt erst verstand er das Stöhnen des Meeres und das Grollen in der uralten Hofburg geheimer Feuerkräfte. — In sich versunken murmelte er: „Arme Menschen! — Jämmerliches Rom!" — Wieder sah er den Vesuv qualmen, aber anstelle Neapels war es die Heimatstadt Solingen. Hochöfen und riesige Fabrikschlote verdunkelten die Sonne. Er hörte Stampfen, Fauchen und Rattern. Neapolitanische Heiterkeit war verschwunden. Zorn, Hass, Unzufriedenheit, Murren dröhnten aus dem mächtigen Schlund. Die Erde zitterte. Freiheit entfesselte sich. Der Vesuv barst. Feuerfontänen schossen sprühend ins All. Blutige Lava zischte! Heinrich erschauerte. Er wandte den Blick zum Vesuv. — Imposant sah er die schwarze Rauchsäule und herrlicher als je zuvor Neapel.

Seelenvergnügt trotteten die beiden Vagabunden den Strand entlang. Im Schatten der Orangenhaine von Salerno rasteten sie. Kräftig blähte Heinrich seine Lunge in dem paradiesischen Duft. „L'Italia e il giardino dell' Europa!"
Hans, sein holländischer Freund, sang als Antwort jenes alte deutsche Soldatenlied: „Was nützet mir ein schöner Garten, wenn andere drin spazierengehn... "
Sanft wiegten sich die Äste der Orangenbäume, und fern rauschte die See.
Das Lied war verklungen. Lange noch unterhielten sich die beiden Wanderer. Bis schließlich Heinrich aufstand. „Wir sind arme Vagabunden, aber unser ist die Welt! Wir sind freie Patenkinder des Vesuv!"

Barfuss, sonnverbrannt und äußerlich total verwahrlost kamen Heinrich und sein Freund aus dem felsigen Kalabrien.
In Reggio bezahlten sie mit ihren zusammengebettelten Soldi das Dampferbillett für die Überfahrt nach Sizilien.
Messina — Schmerzenskind der paradiesischen Insel! Perle des Südens.
Versteckt in einer engen Häuserschlucht lag der Treffpunkt — freies Leben. Dabei aber waltete hier ein seltsamer Ernst. Denn hier forderte der Drang nach vorwärts die verwegensten Entschlüsse...

Heinrich und der Holländer hatten als nächstes Reiseziel Ägypten gewählt. Abends, nachdem beide von ihren Kollegen, die hier gegenseitige Erfahrungen und Erlebnisse austauschten, Rat und Auskunft wegen der Überfahrt nach Alexandria oder nach Port Said erhalten hatten, begaben beide sich nach dem Hafen. Sie enterten am Tau, mit dem der deutsche Dampfer „Kehre wieder" festgemacht war, hoch und krochen in ein Rettungsboot an Deck.
Frisch strich die Morgenbrise über die blaue See. Fest stampfte der Dampfer „Kehre wieder" östlich. Heinrich lufte aus dem Versteck und winkte lächelnd zurück. „Leb wohl, Sizilien!"


6.

Nach sechstägiger Fahrt ließ die „Kehre wieder" auf Reede vor Alexandria Anker fallen. Heinrich und sein Freund standen an Deck und verabschiedeten sich von den Matrosen und Heizern, von denen sie kameradschaftlich behandelt worden waren und von denen sie auch Kleidungsstücke bekommen hatten. Glücklich sprangen die beiden Vagabunden in das Fährboot, mit dem sie an Land fuhren. Inmitten der internationalen Lebewelt auf der Promenade des Anglais schlenderten in lebhafter Unterhaltung die beiden Ägyptenwanderer nach einer Strandbank, auf der sich ein Araber lauste Beide nahmen ihre Hände aus den Taschen. Sofort raffte der Pharaonensohn seine Lumpen auf und lief. Heinrich und Hans wischten die weißlackierte Liegebank ab und ließen sich gemächlich nieder. Über ihnen fächelten, von leichter Seebrise bewegt, die Palmenzweige. Lange genossen sie die Kühle und Ruhe, bis dann das Leben auf der Promenade allmählich verebbte. Dann begaben sie sich nach der Rue de la concorde, wo das Trefflokal war.

Im Mondschein vor der Stadt scharrten sich dunkle Gestalten in den warmen Wüstensand. Und schließlich lagen viele Körper, die Köpfe zur Seite geneigt, friedlich schlummernd. Nur Heinrich Hölzel wachte. Begeistert beschaute er die Bijouterie des ägyptischen Nachthimmels. Schwermut bedrückte auf einmal sein Gehirn. Endlich schlossen sich doch seine Augen.
Warme Sandkörnchen prickelten auf seiner Haut. Er spürte Streicheln — seine Geschwister!
Summen drang an sein Ohr. Der Schlummernde lächelte.
Sehnsüchtig verklingendem Singen lauschend, öffnete der Schlafende den Mund. Dann kam das Summen näher... Er wollte sich erheben. Doch schwer lag es auf ihm. Es riss an seinen Gliedern. Das Summen ward Zischen. Sein Gesicht verzerrte sich. Mit schreckhaftem Ruck schnellten seine Hände aus dem Sand und griffen in die kalte Luft. Heinrich erwachte. Erschreckt sprang er auf. Totenstille. Vor ihm war nur der Schatten der Stadt, sonst alles Wüste...
Moskitos schwirrten.
Wieder grub er sich ein und breitete seine Jacke über den Kopf. Und hell lachte der Mond auf den nun von warmer Liebe Träumenden.

Schlaf und Moskitos waren geflüchtet. Die Sonne stach. Heinrich und der Holländer krochen aus dem Naturbett. Während sie den Sand aus ihren Kleidern schüttelten, tauchten ringsum aus den Wüstenwellen weiße, braune und schwarze Gesichter. Die Vagabunden verließen das „Grand Hotel international". Es war früh acht Uhr.
Nachdem Heinrich und Hans am Strand gebadet hatten, gingen sie durch die hitzestinkenden Straßen des arabischen Village zum Lokal der internationalen Globetrotter. Fünf Wanderer der verschiedensten Nationen hatten sich eingefunden und berieten über die Reise nach Kairo. Heinrich und Hans tranken Mokka, dazu aßen sie Schafkäse.
Das „Krokodil", ein Weltenbummler deutscher Nationalität, der das Niltal bis hoch in den Sudan schon oft durchwandert hatte, berichtete in italienisch über das Merkwürdigste Ägyptens. Die jüngeren Vagabunden lauschten mit Interesse.
„Freunde, die Geschichte dieses Landes greift bis zum Jahre dreitausendvierhundert vor Christus zurück. Moderne Grabungen förderten Funde aus jener Zeit zutage, die Zeugnis für die hochentwickelte Kultur des alten Ägypten sind. Es wurden Halsketten aus Gold und Edelsteinen und Stühle und Betten mit Tierfüßen aus geschnitztem Elfenbein und Skulpturen geborgen. Von vorhandenen Bildern und figürlichen Darstellungen ist zu ersehen, dass damals schon Bier und Wein bereitet und Flachs und Wolle verarbeitet wurden. Uralte Überlieferungen des priesterlichen Geschichtsschreibers Herodot sagen, dass ein Höhepunkt dieser Kultur schon in die Zeit des ersten historischen Königs Menes fällt, der die Stadt Memphis schuf, von welcher aus er das Land regierte. Also bestanden im vierten Jahrtausend vor Christus schon festentwickelte staatlich-gesellschaftliche Zustände."
Heinrich unterbrach den alten Vagabunden mit der Frage, warum sich die früheste Kultur gerade im Niltal entwickelt habe.
„Ja", fuhr das „Krokodil" fort, „die Ursache ist der schwarze Schlamm, welchen der Nil in den Regenmonaten September bis Januar weit über seine Ufer hinaus in dem Wüsteneiland absetzt. Die Fruchtbarkeit des Chemi war es, welche die Menschen zum Zusammenschluss zwang. Distriktsweise bearbeiteten sie den Boden und so das ganze Land. Aus dieser Zeit, wo Menschengeist anfing, stammt die Religion! Die Ägypter verehrten besonders die großen kosmischen Gewalten, zum Beispiel die Sonne und den Mond, aber auch den Frühling und den Nil. Jener erste König Menes ließ zu Ehren des Sonnengottes Ra einen prächtigen Tempel in der Stadt Memphis erbauen. Der Zweck dieser phantastisch grotesken, sinnlich roh dargestellten Symbole universaler Gewalt war ursprünglich nicht auf Sittlichkeit gerichtet! Freunde! Der Ursprung der Religion ist aus persönlicher Besorgnis im Kampf mit den mächtigen Naturgewalten entstanden. Und diese Furcht ist seit Menschengedenken zur Ausbeutung der dummen Masse missbraucht worden. Schon in frühesten Zeiten waren nur die Gebildeten in dieses theologische Geheimnis eingeweiht! Darum war es den Söhnen des Herrschers Menes leicht, sich Söhne des Sonnengottes Ra zu nennen! Allmählich könnt ihr euch am Maßstab des Geschilderten einen Begriff machen, wie ungeheuer die Ausbeutung der Untertanen damals war. Im dunklen Selbsterhaltungstrieb unterwarfen sich Millionen Kräfte einer einzigen menschlichen! Und bald genossen die ,Söhne des großen Gottes' demütige Hingabe, reichliche Opfer und kultische Dienste! Davon zeugen die kolossalen Denkmäler bei Gizeh: die Pyramiden!"
Das „Krokodil", welches bis jetzt leidenschaftslos gesprochen, holte Luft und schrie: „Hunderttausend Menschen fraß ein einziges dieser mystischen Königsgräber! Was fragten die schweren Steinblöcke dieser mächtigen Königsmonumente nach Blut und Leben! — Na, Ihr werdet sie ja sehen!"
Der alte Vagabund setzte sich. Die jüngeren Wanderer schauten ergriffen. Heinrich murmelte: „Das ist Ägypten? — Kultur und Religion?"
Wie von Stacheln gestochen sprang das „Krokodil" auf und rief: „Das ist unsere heutige Zeit!"
Erschreckt kam der arabische Wirt in die Gaststube und fragte, ob man ihn gerufen hätte.
„Ja!" erscholl es „bring Wein!"
Dann feierte die internationale Armut die letzten Stunden ihres Aufenthaltes in Alexandria.


7.

Der Tag hatte sich geneigt. Ein Trupp von sieben Vagabunden verließ Alexandria in südlicher Richtung.
Die Libysche Wüste! — Zwei Tage schon tappten sie, von vollglutiger Sonne bespiegelt, über die heißen Sandwellen. Nur langsam kamen sie vorwärts. Schweiß biss in die Augen. Keiner sprach. Ihre Kraft dörrte.
Wieder rasteten sie und stellten ihre Stöcke so zusammen, dass die darüber gehängten Jacken Schutz vor der Afrikasonne boten. Alle lagen mit gestreckten Gliedern, die Zunge in den Schatten hängend, erschlafft. Die dunstgeblähten Lungen arbeiteten kurzatmig. Die Besinnung schwand. Die Nacht erbarmte sich.
Heinrich erwachte, als das „Krokodil", der Führer der Vagabundenkarawane, die Jacken von den Stöcken nahm und sie auf die Liegenden warf. „Hein, wie ist's dir?"
„Mir?" — Er stand auf und schaute fröstelnd. Bis zum Dunkel der Horizontes flimmerte das sternenbesetzte Firmament. Endlich antwortete er: „Warum haben wir geschlafen?" Der Wüstenkenner rüttelte sofort die übrigen wach. Heinrich half allen Mut zureden. Wie Seekranke ließen sich die Erschöpften aufhelfen und sanken wieder in den Sand. Heinrich feuerte einen Pistolenschuss in die weite Nacht. „Auf! — Seid Ihr denn verrückt!" Die Liegenden gierten nach Labung. Unausgesetzt schrie Heinrich ihnen Mut zu. Das „Krokodil" entkernte einige Datteln. Gieriges Schmatzen. Bald war das Wüstenfieber ziemlich überstanden. Zu zweien nebeneinander tappte die armselige Karawane weiter und verschwand hinter einem Wüstenberg.

Der neue Tag glühte. Lautlos schleppte sich der schmachtende Trupp vorwärts.
Die letzte Nahrung wurde verteilt. Wasser, ein Schluck für jeden, sollte bis zum Äußersten aufbewahrt werden. Der Schatten fiel senkrecht! Immer schwerer stiegen die matten Menschen im weichen Sand. Heinrich legte seine Hand über die Augen und spähte von einer Wüstenwelle aus in die zermürbende Schwüle. Qual dunstete die Wüste.
Schon fing einer an, irre zu reden. Das „Krokodil" gab ihm schnell ein paar Tropfen des brühwarm gewordenen Wassers. Als hätte der Schmachtende Blütenduft geatmet, so seufzte er auf.
Da — ein heiserer Schrei! Ein anderer stürzte zusammen. Schweiß und Schaum entstellten sein Gesicht. Wie wahnsinnig schlug und trat er um sich. Immer mehr, als wollte er der brennenden Sonne entgehen, wühlte sich sein Körper in den Sand. In schmachtender Fieberphantasie rang er um sein Leben. Plötzlich blieb er regungslos auf dem Rücken liegen. Unbarmherzig sog die glühende Sonne an seinen gedörrten Lippen. Während das „Krokodil" ihn beschattete, schiffte Heinrich in seine Mütze und wusch dem Bewusstlosen das versandete Gesicht ab. Die anderen hatten wieder ihr primitives Zelt aufgeschlagen und lagen matt.

Das „Krokodil" hatte die gefährliche Situation längst erkannt. Er flüsterte, über eine Landkarte gebeugt, mit Heinrich. Heinrich nickte zustimmend. Dann befahlen sie ihren Kameraden, ruhig liegenzubleiben, und erklärten, sie wollten die nahe liegende Oase Bir Hooken suchen, um Hilfe oder Wasser zu holen. »Wasser! — Wasser!" Leben atmete auf.
Heinrich und das „Krokodil" tappten in der Bruthitze voraus. Die anderen schliefen ein.
Beide mochten ungefähr zwei bis acht Stunden forciert gewandert sein, als sie plötzlich Schnaufen und Pusten vernahmen. Sie blieben stehen und horchten.
Beduinen! „Wirf dich nieder. Hein!" Schnell unterrichtete das „Krokodil" den Freund, wie er sich verhalten müsse. Die Wüstenbanditen sprengten in einer Entfernung von fünfzig Metern vorbei. Der alte Vagabund sprang auf. Die Beduinen hatten ihn bemerkt und rissen ihre Gewehre hoch. Das „Krokodil" aber schlug seine Arme kreuzweise über die Brust. Heinrich ahmte nach. Mit letzter Kraft schrieen beide ihr: „Salam... "
Zwei Araber sprengten heran. Im Nu waren sie aus dem Sattel, koppelten ihre unruhig schnaufenden Pferde zusammen und umarmten in islamischer Begrüßungsart die beiden Vagabunden. Das „Krokodil", das die Eigenart und die Sprache der Wüstenvölker kannte, hatte gleich das Vertrauen derselben. Sofort berichtete er, dass hinter seinem Rücken fünf Freunde am Verschmachten seien.
„Allah akbar!" Mit diesem Ausruf schwang sich der eine Beduine auf seinen Sattel. Während Heinrich die Pferde los- i band, half der andere Araber dem „Krokodil" zu sich aufs Pferd. Dann schrie er: „Nach Westen!", riss seinen Hengst herum und stob in Richtung nach der Oase.

Der zurückgebliebene Beduine half Heinrich auf. Ein Ruck seines ungeduldigen Pferdes, und die langgestreiften Tücher des Arabers flatterten in der windstillen Schwüle. Wegweiser waren die Fußspuren im Sand. Noch eine Sandwelle! Da hatten sie die Schmachtenden erreicht. Unverständliche Worte murmelte der Wüstensohn nach den Hilflosen. Noch bevor sein Pferd stand, sprang er aus dem Sattel, riss den Wasserschlauch an sich und eilte auf zwei zu, denen dickes Blut aus Mund und Nase quoll.
Stöhnen.
Heinrich schrie auf die Kameraden ein: „Haltet aus, ihr bekommt Wasser!"
Helles Auflachen, dann Röcheln. Die Kehlen waren ledern. Wahnsinnig begannen sie zu krächzen. Kraftlos griffen die ringenden Hände in die heiße Luft. Geschrumpfte Zungen lechzten.
Heinrich besprengte die Stirn seiner Kameraden. Der Araber führte den Wasserschlauch in den Mund eines Blutenden. Erlöstes Lächeln glitt über zwei verdorrte Gesichter. Dann verschwammen ihre Augen. Verschmachtet!
Der Beduine warf sich auf die Knie und neigte sein Haupt gen Osten. „Allah il Allah!"

Der zweite Araber und das „Krokodil" waren eingetroffen. Ihnen folgte eine kleine Expedition mit zwei Kamelen. Hilfebeflissen zerschnitten die Muselmanen Melonen und reichten den dreien, welche noch lebten, die safttriefenden Stücke. Dann banden sie den Ermatteten nasse Tücher um die Stirn und hoben sie auf die Kamele.
Während die drei Überlebenden allmählich erfrischt aufzuatmen begannen, scharrten Heinrich und der alte Vagabund die Gräber für ihre Freunde. Als sie begraben waren, warfen sich die Beduinen noch einmal in Ehrfurcht vor dem Wüstentod nieder. Und bald tappte die kleine Karawane mit den Geretteten der Oase Bir Hooken zu.

Heinrich und sein Freund Hans reisten mit der Beduinenkarawane, die von Benghasi kam und die Oasen der Libyschen Wüste aufsuchte, um mit den Scheichs der Nomadenstämme Waffen und Schmuck gegen Elfenbein und Pferde einzutauschen, bis zu den uralten Ruinen der oberägyptischen Hauptstadt Theben. Dort schlossen die beiden Vagabunden sich einer nilabwärts wandernden Fremdenexpedition an. Heinrich, der von der Reisegesellschaft einen Platz auf dem letzten Kamel der Karawane zugewiesen bekommen hatte, fühlte sich im Schatten der Sänfte und in der Unterhaltung mit einer jungen Deutschen wie ehemals an Bord. Freundlichkeit, die ihm in dieser grellgelben Hitze zuteil ward, durchschnitt die träge Schwüle wie der Bug eines Schiffes die endlose See. Die junge Deutsche lehnte sich bequem zurück, rauchte und erzählte von Ägypten.
Heinrich spürte die arbeitenden Muskeln des Tieres. Er lauschte. In seinem Innern hallte die Stimme des „Krokodils"... Die Karawane streifte die verwitterten Denkmäler der ersten Königsstadt Memphis. Die Deutsche wies mit ihrer Zigarette nach den Ruinen. „Dort stand der herrliche Tempel des mächtigen Sonnengottes Ra!" Heinrich schaute auf. Mit runzligem, verbissenem Antlitz starrte die verfallene Pracht. Heinrich murmelte: „Dort grinst Verfall über Kultur!" Beide saßen stumm.
Memphis wich immer mehr. Die junge Deutsche rückte näher an Heinrich und reichte ihm Feuer. Das Tier stolperte. Heinrich lächelte verliebt. Sie war nicht zimperlich.
Langsam schlängelte die Karawane vorwärts. Die gelbe Öde ward blau. Wunderbar wirkte der Nachthimmel. Die junge Deutsche schaute ergriffen. Denn da standen sie, protzig: die Königsgräber von Gizeh. Die Chufupyramide! Zweihundert Meter lang. Hundertdreißig Meter türmten sich die gewaltigen Steinblöcke aus der Wüste. Jubel toste. Vollbackig lachte der ägyptische Mond. Heinrichs Augen funkelten. Denn Sklavenblut schrie: Über hunderttausend Arbeiter fraß dieser einzige Koloss! Ellen reichte ihm die Hand. Und zwei Menschen begriffen sich da im Schatten der lauernd liegenden Sphinx.


8.

Heinrich und Hans wohnten seit einigen Tagen in einem arabischen Logierhaus in Kairo. Mit wichtiger Miene empfing der Besitzer den Heinrich, der eben von der Straße in die Gaststube trat, und reichte ihm einen Brief. Gleichzeitig forderte er ihn auf, nach oben zu folgen. Heinrich aber las
bereits. Schroff raunte er dem aufdringlicher werdenden Araber zu: „Verrückter Kerl, warte!" Heinrichs Kopf sank immer mehr.
. Halte, was du versprochen. Leb wohl. Wiedersehen.
Ellen Werner, Gouvernante
Genf, poste restante!"
Wirsch wandte sich Heinrich an den Araber. „Was ist los, Alter?" Der Wirt winkte ihm. Heinrich schob Ellens Abschiedszeilen in die Tasche und folgte die Treppe hinauf. Wie vom Schlage getroffen blieb er in der geöffneten Zimmertür stehen. Hans, sein Freund, saß trotz der Bruthitze, in wollene Decken gehüllt, am geheizten Kamin! Aus seinem gelben Gesicht schauten die matten Augen wirr. Hans zitterte am ganzen Körper. Frost schüttelte ihn.
„Frierst du, Hans?" Besorgt schaute Heinrich nach dem Araber. Der Alte verstand und flüsterte: „Il febre gialla!" Dann reichte er dem Heinrich eine Haschischzigarette und deutete nach dem Kranken. „Die einzige Linderung!" Hans, der erst ablehnte, spürte aber bald die wohltuende Wirkung der Zigarette. Der Araber stieß Heinrich unauffällig, und beide verließen den Raum. Draußen redete er eindringlich auf Heinrich ein, dass er sofort zum Generalkonsul laufen und für seinen Freund eintreten solle, damit ihm ärztliche Hilfe zuteil werde. Auch möge er erwirken, dass dem Hans baldigst nach der Heimat geholfen würde.
Heinrich lief. Kurz nachdem er das Generalkonsulat betreten hatte, kam er in höchster Erregung auf die Straße zurück. Wut flammte aus ihm. „Verdammte Banditen! — Ihr nennt euch Menschen? Satane!" Heinrich schrie maßlos und drohte in das geöffnete Portal. Plötzlich sprangen aus dem Innern des Palastes vier Kawassen (Araber, die als Konsulatspolizisten angestellt sind). Heinrich packte einen der Knechte blitzschnell, warf ihn zu Boden und entriss ihm die Waffe. Wie tollwütig stürzte er sich auf den nächsten und schlug ihn mit dem Revolver nieder. Die anderen beiden flohen ins Gebäude. Ein Schuss krachte aus dem Portal. Heinrich rannte ihnen nach. Im Laufen entsicherte er seine Waffe. Und drinnen krachten Schüsse auf Schüsse.

Durch glutheißen Wüstendunst keuchte die Eisenbahn von Kairo nach Alexandria. Ungeduld brannte in Heinrich. Endlich sank die Sonne. Die blendende Öde lag seeblau. Sehnsucht... schwärmte durch diese Nacht: Heinrichs Gedanken badeten in frischen Vorsätzen. Die Kühle tat ihm wohl. Er nickte ein.
Ununterbrochen hastete der Zug. Heinrichs Gedanken jagten der Liebe, dem Leben nach.
Der Zug stoppte! Schreck schrie Trauer wach. Aus dem Dunkel tauchte das Plateau von Gizeh. Das Grab des Freundes quoll aus dem Sand. Aber am Horizont nickte Ellen... Heinrich lächelte versunken.
Da — die Sphinx sprang auf und folgte in mächtigen Sätzen. Heinrich stierte gehetzt voraus. Und der Zug raste! Heinrich keuchte.
Auf Heinrichs Stirn perlte Schweiß. Der Weg wurde steil.
Ein Felsen!
Verzweifelt rang der Verfolgte. Aber kalt schüttelte ihn die glatte Wand ab. Er krampfte sich. „Licht! Licht!"
Kampf ums Leben.
Der Zug stolperte. Ein Ruck! Die Erschütterung warf seinen Körper... Die Höhe war erklommen. Erleichtert stieg Heinrich in das morgengoldige Alexandria.
Sein Weg führte ihn zum Strand. Längst war die Promenade des Anglais von leichtlebigem Lärm geräumt. Heinrich suchte jene Bank auf, wo er und sein Freund hoffnungsfroh die erste ägyptische Rast gemacht hatten. Immer noch wedelte die Palme. Hilfesuchend glitten seine Blicke über das weite Meer. Er knirschte: „Heute Nacht... Und wenn der Teufel auf Stelzfüßen mich verfolgt — ich muss hinüber!"
Der Abend kam. Heinrich begab sich an den Kai. Weit draußen auf See blinkte sein Ziel... Entschluss. Sprung! Allmählich verrauschte sein Ächzen im Murmeln
der See.


9.

Drei Jahre waren wieder vergangen.
Auf der Passagierpier im Hafen von Genua platzten aus einer Gruppe Seeleute, die gerade von Bord des englischen Dampfers „Urania" kamen, grobkameradschaftliche Redensarten. Vor einer Stunde erst waren sie von Ostasien eingelaufen. Nun standen sie gereinigt und unterhielten sich. Endlich lichtete sich die muntere Gruppe im Weitergehen, und herzhaft lachte ein wettergebräuntes Gesicht: Der Heinrich Hölzel!

Bald war die „Urania"-Besatzung vor dem Boardinghaus mit der Citybar angelangt.
„Rin!"
Südländische junge Weiber bespritzten die Liebesdurstigen mit Schnaps, Bier und Wein. Tropenheiße Seeleute brüllten vor Lebensfreude. Immer wiederholte es: „Ei was nützt denn dem Seemann sein Geld... !" Alle lachten und lärmten. Über diesem Klamauk saß Heinrich in seinem Zimmer am offenen Fenster und rauchte. Sein Blick lag sinnend auf dem stilliegenden Hafen. Seine Gedanken glitten in die Kaschemme. Er sah sich selbst: wild, ausgelassen — jämmerlich im Rinnstein ... Er erkannte sein ganzes Irren, sein Suchen... Er sah Ellen.
„Schluss! — Fahr zur See, wer Lust hat; ich scheide aus!" Und wie ein wohltuendes Wundpflaster spürte er an seinem Herzen die Brieftasche mit der schweren Heuer seiner letzten Seefahrt.
„Geld, Geld, nur Geld!" schrie es aus seinem Innern.
Heinrichs Ehrgeiz, der ihn zum tüchtigen Seemann gemacht, der ihn aber in blindem Drange in widerliches Leben trieb, schwoll! Heinrich fühlte, wie willenlos er sich der Ausbeutung durch andere unterworfen hatte. Vernunft war erwacht! Sonne lachte. Heinrichs Plan lag klar — mit begeistert pochendem Herzen sprang er in die neue Geschäftigkeit.

Sein Weg führte ihn zum „Grand Hotel Miramare". „Gern, Sie müssen nur den Kram regelmäßig abholen." „Selbstverständlich!"
Der Portier wandte sich lachend. „Ich wünsche Ihnen viel Glück mit dem Zeug!"
Heinrich nahm zwei schwere Stöße Zeitungen der letzten Tage in den Strick und schob ab.

Deutscher Passagierdampfer „Cincinnati".
„Zei-tun-gän! Zei-tun-gän! Zei-tun-gän!"
„Es brennt", das hätte nicht besser gewirkt! Wild stürmten sie auf ihn ein. „The Herald!" — „The Times!" Dazwischen schrie es: „Mir die ,Frankfurter'!" — „Die ,Vossische', bitte!" Wie gierige Straußenhälse strecken sich Hände nach dem Heinrich.
„Erst Money!" Er nahm's ab.
Finger haschten nach den gereichten Zeitungen. Immer wieder nahm er erst das Geld, reichte seine Ware und griff nach der nächsten Hand...
Plötzlich keilte sich der Betrieb fest. Heinrich fragte dumm: „Wie viel gaben Sie mir?"
Heftiger als zuvor setzte das internationale Geschnatter ein: „Zum Donnerwetter, das ,Hamburger Fremdenblatt'!" — „Ich will auf meine fünf Lire den Rest!" „Nachher! Nachher!"
Der bunte Zeitungsrummel hastete wild weiter. Ihre Proteste überschrieen die Käufer selbst. Ein wüster Knäuel entstand. Heinrich ergriff den Rest seiner Zeitungen und verschwand im Matrosenlogis. Dort gab er ihn gratis ab. Dafür wurde er zum Mittagessen eingeladen.
Der Dampfer brummte. Schnell zündete Heinrich seine kurze Pip an. Dann jumpte er gemütlich das Fallreep hinunter. Und aus seinem freudigen Gesicht las man in allen Sprachen: Ausverkauft!

Die Jagd begann. Eilenden Schrittes verließ er den Hafen. Bald stand er wieder im „Grand Hotel Miramare". „Na", der Portier grinste. „Ich glaubte, Sie würden heute Ihre Knochen im Bündel gepackt tragen. Aber ich sehe ... ! Im übrigen, wie ist das Geschäft ausgefallen?"
Heinrich erzählte, wie automatisch sich sein Zeitungsladen an Bord der „Cincinnati" geleert hatte. Dass aber des Öfteren Missgriffe vorgekommen seien. So zum Beispiel hätte er einem Amerikaner, der ihm den „Herald" bezahlte, die „Welt am Montag" und einem Deutschen, der die „Kölnische" verlangte, hätte er aus Versehen das „Echo de Paris" gegeben...
Schon längst schüttelte Lachkrampf den dicken Portier. Schließlich bekam er doch wieder Luft und schluchzte: „Geh bloß nicht mehr an Bord! Die fressen dich auf!"
„I wo!" erwiderte Heinrich. „Die Gesellschaft raufte sich ja um den alten Kram. Jedenfalls hab ich ein Bombengeschäft gemacht. Abgesehen von den verschiedenen falschen Münzen, die mir auch so stillschweigend in die Hand gedrückt wurden, sind's fünfundachtzig Lire!"
Während Heinrich wieder zwei Stöße gelesener Zeitungen zusammenschnürte, spöttelte er: „Portier, die haben jetzt wenigstens für die Überfahrt nach New York genügend Unterhaltungsstoff!" Dann nahm er die frische Ladung über die Schulter. Und ging.
Passagierdampfer „Berlin". „Zeitun-gän! Zei-tun-gän! Zei-tun-gän!"
Vorm Schiff zählte Heinrich seine Einnahme.
„Fünfundachtzig und neunzig sind hundertfünfundsiebzig!" Er murmelte selbstgefällig: „Gut, gut!"
Plötzlich prasselte von der Reling des Promenadendecks maßloses Geschimpfe.
Die Schiffsschrauben begannen sich zu bewegen. Und lachend wünschte Heinrich seiner ausreisenden Kundschaft: „Glückliche Fahrt!"


10.

Mit den Erfolgen der ersten Wochen schaffte sich Heinrich eine feste Unterlage: Er übernahm Zeitungsagenturen und errichtete einen Buchhandel. Zugleich sicherte er sein Unternehmen vor Konkurrenz durch Erwerbung des Alleinverkaufsrechts im Genueser Hafen.
Der „Weltbuchhandel H. Hölzel" blühte. Heinrich engagierte fünf Vertriebsleute und nahm sich einen Vertreter zur Seite.
Gewinn schrie zur Hast. Heinrich baute Erfolg auf Erfolg. Neue Chance reizte seine Sucht nach Besitz. Die internationale Saison in Venedig begann. Heinrich gab die Leitung seines Geschäfts ab und bestieg den Zug nach der Lagunenstadt.
Venezia! Vor Heinrichs Augen gaukelte und gondelte freudiges Leben. Gewinnhungrig langte er auf der Piazza di San Marco an.
Goldglänzendes Mosaik winkte in düsteren Nischen.
Heinrich folgte in mystische Dompracht.
Ehrfurchtsvoll flüsterten abgetretene Betstühle Menschenleid.
Wunder der Kunst lockte tiefer in die stickige Sphäre.
Palastprunk starrte auf bang kriechende Demut.
Blendender Marmor hauchte Schauder.
Wasser seufzte!
Strohgelbe Lichtstreifen stachen in himmelsuchende Auen _ Ponte di sospiri!
Heinrich tastete an klitschigen Wänden tiefer.
Zackiges Gewölbe grinste Totenschädel.
Aus finstrem Moder schreien Zerfleischte.
Folterkammer, du Fundament der Kirche und des Palastes!
Schauer trieb den Heinrich aus dem Grauen.
Wirr schaute er zum Himmel. Da lachten das Kreuz und die Krone in der Sonne.
Wunder der Schönheit!
Heinrich fror.
Um Markuskirche, Palast und Staatsgefängnis flatterten Tauben. Die Menge wog in Seidenschieiern. Hoffnung beseelte Heinrich. Düster schaute der Dom auf die bröckelnde Pracht. Der Tag neigte sich. Kandelaber blitzten auf. Unverständlich knurrten die engen Gassen. Aufbrausender Akkord der Kurkapelle rief die internationale Lebewelt. Venezianische Muse erwachte. — Rote Barkenlämpchen, Mandolinen und weinfrohe Augen zitterten im Mondschein.
Heinrich eilte längs stinkender Kanäle. Laut erzählten die alten Paläste von ihrer Jugend...
Plötzlich verschwand Heinrich in der kaum zwei Schritt breiten Häuserschlucht der Calle di Convento und ging auf die „Osteria del Bue", den Treffpunkt internationaler Globetrotter, zu. Er öffnete die Tür der in feuchtem Gestank verborgenen Höhle. Freude unverhofften Wiedersehens flammte. Geblendet zwinkerte die Nacht... Alles ging auf in Entzücken — in Geschäft!

Im venezianischen Lokal der Weltenbummler hatte den Heinrich die Anwesenheit des „silbernen Gustav" überrascht. Mehr aber freute Heinrich sich, als er endlich den welterfahrenen, unverwüstlichen Greis für seine Geschäftsidee gewonnen hatte. Noch in selbiger Nacht nahm der Alte eine Auslese unter seinen Kollegen vor. Am folgenden Tag lief Heinrich mit seinen abgewanderten Freunden verschiedenster Nationalitäten von einem Trödler zum andern. Dann zum Barbier. Und schließlich ins Badehaus. Während sich dort der große Wechsel des Äußeren an den Vagabunden vollzog, überstolperte Heinrich Brücke auf Brücke, sprang für eine kurze Strecke auf eine zufällig abfahrende Dampfjolle, fragte nach diesem und jenem Geschäft, kaufte und kaufte, rammte alte Weiber, fluchte hastig, kreuzte schwer schleppend das lachende „nva degli schiavoni" und landete endlich, bepackt wie ein Weihnachtsmann, in seinen Räumen.
Die Vorbereitungen für morgen waren getroffen. Die Nacht verlief im „Bue".

Der Morgen war heiter. Heinrich stand in sonniger Erwartung auf der Piazza. Der Dom glänzte. Tauben flatterten. Die Uhr schlug zehn. Neun Gentlemen kamen auf die Piazza. Zwei schleppten an einem kleinen Sack. Der „silberne Gustav" trug eine Chrysantheme im Knopfloch. Heinrich erhob die Hand. „Ici, Messieurs!" Neugierige sammelten sich an. Da ließ Heinrich Maiskörner auf sie prasseln. Photoapparate wurden aufgestellt. Gurrend komplimentierten die Tauben. Mit allen erdenklichen Tricks und sprachfarbigen Anerbieten stießen die kultivierten Globetrotter staunender Fremdenwelt vor den Kopf. Der Rummel sollte beginnen. Pfiffig raunte der „silberne Gustav" dem Heinrich ein paar Worte zu und deutete nach dem Dom. Ein Wink! — Und die schussfertigen Apparate rückten an.
Herrisch, wie daheim bei den Dienstboten, stand eine jener alten Sanatoriumhexen vor dem Duomo di San Marco, kritisch nippend an der kunstvollen Fassade. Hochwichtig bröckelte sie, genau nach Baedekervorschrift, Stück für Stück von dem Prachtbau und gab es gut durchgekaut unter sattem Schmatzen an ihre umstehenden Lieben. Plötzlich verschluckte sie das letzte Wort und warf sich, den aufgeschlagenen Baedeker weit ab haltend, in Positur. War es ein Druckfehler in ihrem „Führer durch Venedig"? Roch sie etwa angebrannten Braten? Oder verglich sie die Schönheit des Doms mit der ihres Buches? Überdies gleichgültig, schüttete ihr Heinrich eine Handvoll Mais auf den Hut. Der „silberne Gustav" hielt ihr das Musteralbum vor. „Aber natürlich, Madame, Sie möchten auch gern ein solch reizendes Andenken mit nach Hause nehmen? Ja, ja, natürlich!"
Im Nu lärmten Heinrichs Requisiteure: „Attention, messieurs et mes dames, s'il vous plait!" Das Gedränge wurde sensationslustig. Wie ein Kind, das in den Schmutz gefallen, so stand die kritische Dame und verzog bissig das Gesicht. Aber die auf sie zuschwirrenden Tauben verscheuchten die Wolke von ihrer Stirn. Und Verlegenheit zog das längst in finstren Hintergrund gefallene Naive des Weibes aus Auge und Gebärde.
Das Gesicht! — Dieser Anblick! Breitbeinig, in Kniebeuge, mit offenem Mund, die Arme mit gespreizten Fingern nach der Seite gestreckt, balancierte sie unter kräftigen Lachsalven der Umstehenden ein paar Tauben auf ihrem Hut. Immer tiefer rutschte er ihr ins Gesicht. Was fragten die heiligen Tauben danach, ob es der „Gnädigen" angenehm sei. Frech wie Spatzen pickten und trampelten sie auf dem Hut herum. Endlich war sie geknipst. — Und lachte. Nachdem Heinrich die Bestellung der Bilder und gleich ein Drittel des Gesamtpreises erhalten und die Tauben der fröhlich lachenden Alten auch ein Andenken auf dem Hut hinterlassen hatten, verjagte sie Heinrich. Dann drängten die nächsten zur Aufnahme.
Die neugegründete „Internationale Photogesellschaft Komet" arbeitete mit phänomenalem Erfolg Tag und Nacht. Feste wurde gelacht und dabei feste geknipst.
Und die Tauben! —
Schließlich waren sie derart mit Mais gepfropft, dass sie nur noch schwerfällig aus den Pleureusen radgroßer Damenhüte flattern konnten.

Die Saison flaute ab. Die Dächer der Kirche und des Dogenpalastes waren weiß geworden. Satt hockten die Markustauben in den Nischen und schauten gefühlvoll auf die lebloser werdende Piazza. Bald stand die ganze Pracht im Nebel verschleiert.
Der Herbst spendete den neuen Wein: den Abschiedstrunk. Zum letzten Mal saß Heinrich mit seinen internationalen Freunden um den gedeckten Tisch im „Bue". Begeistert klangen die Gläser und die Stimmen zum gratulierenden Hochzeitstoast. Ellen Werner und Heinrich dankten ergriffen !
Beseelt von neuer Kraft, bestieg Heinrich mit Ellen den Express. Dumpf holpernd fuhr der Zug über die sechs Kilometer lange Brücke nach dem Festland. Dann aber sauste er durch die venezianische Ebene.

Federnd wiegten sich in fliegender Geschwindigkeit die langen Durchgangswagen. In die gepolsterten Ecken gelehnt, saßen sich Heinrich und Ellen gegenüber. Ellen schaute, mit ihren Gedanken lächelnd, durch die Fensterscheibe... Heinrich rauchte eine Zigarette nach der andern. Die Augen strahlten nach seinem Weib. Plötzlich errötete Ellens Gesicht. Wie mitten in fließender Unterhaltung wandte sie sich an Heinrich: „Das möchte ich so gerne wissen, Hein, wann du damals Ägypten verlassen hast und wie du alle die Jahre hindurch versuchtest, dein Versprechen einzulösen."
Heinrich sah Ellen stumm in die Augen. Seine Lippen vibrierten leicht. Ellen verstand. Aber sie wünschte, dass er ihr das alles erzähle. Sie erhob sich und nahm schmeichelnd neben ihm Platz. Heinrich spürte ihre innere Unruhe.
Während der Zug in die Nacht eilte, sah Ellen das Ringen ihres Mannes nach einem besseren Dasein. Ein Vagabund, der herzlos von Menschen und Naturgewalten in der Welt herumgestoßen wurde, genoss an den ägyptischen Pyramiden die Liebe eines verständnisvollen Weibes. Seine in Armut und Enttäuschung verkümmerte Seele gesundete durch jene herzbindende Kraft. Er erhielt inneren Halt. Die furchtbare Qual, sich gänzlich verlassen und wertlos zu fühlen, schwand.
Rohe Instinkte strebten maifrisch nach hohem Ziel... Freundschaft ward begeisterte Menschenliebe. Die Teilnahme damals an dem Los seines todkranken mittellosen Reisegenossen trieb den Heinrich in den Palast des holländischen Generalkonsuls. Dort flehte er um Hilfe für das Leben des Freundes. Aber der Üppige verachtete die Freundschaft. Darum lebte Hass in Heinrichs Seele auf. Liebe zum Freund ward Kampf! Schüsse krachten. Natürlich siegte die Übermacht. Er wurde verhaftet. Und während dieser Freund im Kerker schmachtete, fraß der „gelbe Tod" den Menschenbruder...
Ellen hatte die Augen geschlossen.
Plötzlich schrie Heinrich auf: „So hat mich diese niederträchtige Bande behandelt!" Ellen schaute erschreckt nach Heinrich. Mit zitternder Stimme erzählte er: „In jenem arabischen Gefängnis in Kairo gab man mir trotz der Hitze täglich nicht mehr als nur einen Liter Wasser zum Trinken und zum Waschen. Als Nahrung reichte man mir vier bis fünf Datteln und eine Handvoll rohen Reis. Nach achtzig Tagen ließ man mich frei mit der Eröffnung des Gouverneurs, dass ich innerhalb sechzehn Tagen Ägypten verlassen müsse, widrigenfalls ich zu einjähriger Zwangsarbeit nach dem Sudan käme. Es gelang mir, Alexandria zu erreichen. Ohne Mittel und ratlos lief ich am Kai herum. Schließlich brachte ich in Erfahrung, dass zwei Dampfer auf Reede lägen, die bis zu dem in Frage kommenden Tag Ägypten verlassen würden. Schwere Gedanken quälten mein Hirn. Endlich am Abend riss mich das ,unbedingte Muss' in die Flut!"
Schauer überrieselte Ellen.
Heinrich aber schilderte unentwegt.
Aus gischtzischenden Wellen schimmerte verkrampft im Mondschein Heinrichs Gesicht. Nach Rettung gierend, griff seine Hand aus dem Meer. Kampf um Leben tobte vor Ellens Augen. Sie lehnte sich an Heinrich. „Nur du, Ellen, warst jene Kraft, die mich drei Kilometer vom Land nach dem Dampfer rang. Lange versuchte ich wie wahnsinnig, an der Ankerboje des Schiffes hochzukommen. Aber die Dünung schmiss mich immer und immer wieder gegen die mit Miesmuscheln bespießte Tonne. Glück warf mich endlich hoch! — Am ganzen Körper zerschunden, enterte ich dann am Bojentau des Dampfers an Deck und verbarg mich in einer Windhutze. Hungernd und frierend klemmte ich in dem runden Luftschacht. Unter mir gähnte der fünfzehn Meter tiefe Heizraum. Mein blutender Körper klebte an dem kalten Blech. Ich war geborgen. Dieser Gedanke keilte sich zwischen mich und die runde Wand. Und endlich erlöste mich Ohnmacht aus aller Qual!"
Heinrich saß auf einmal innerlich verstimmt. „Ja, und dann, Hein? Du schriebst mir doch zum ersten Mal von Sydney?"
Heinrich atmete tief. „Der Dampfer begann seine Reise. Nach zwei Tagen versuchte ich, mich bemerkbar zu machen. Mich selbst aus der Röhre herauszuschaffen, in der ich wie ein Keil stak, vermochte ich nicht. Mein Körper war bereits gefühllos. Ununterbrochen schrie ich um Hilfe. Es ward dunkel über mir und lange danach wieder grau. Plötzlich drehte sich der obere Teil der Röhre. Ich verspürte einen Schmerz, als würde mir der Rumpf vom Unterkörper gewürgt. Der Tod schrie aus mir. — Ein Heizer hatte von Deck aus die Windhutze nach dem Wind drehen wollen. Mein eingezwängter Körper aber klemmte den drehbaren Teil der Luftröhre. — Ich vernahm Hämmern! Wieder verdrehten sie meinen Körper. — Ich schrie mich in Todesqual heiser. Um den Ventilator rasselten nun Ketten. Gleich darauf spürte ich einen Ruck, als reiße man mich voneinander. Und da schwebte ich auf einmal in dem hochgehievten Teil der Windhutze, und bald lag ich in dieser eisernen Zwangsjacke an Deck. Erstaunt riefen die Seeleute: ,Lebt er noch?' Ich gab Antwort. Da zerrten sie an meinen Beinen, um mich zu befreien. Es war zwecklos. So meißelten sie die Windhutze auf. Ein Knacksen und Brechen. Endlich war die Röhre offen. Am ganzen Körper blutend und steif lag ich in dieser Schale." Heinrich atmete auf. „Das war meine Rettung! —
Die englischen Kameraden pflegten mich während der Reise. Und als der Dampfer in Sydney eingelaufen war, ging ich lebensfroh wie ein Kücken, das erst aus dem Ei kroch, an Land."
Heinrich zündete sich eine Zigarette an und schloss: „Ich ließ mich anheuern und fuhr zur See. Mit meiner Heuer geizte ich. Denn ich hatte große Pläne im Kopf. Und dir wollte ich zeigen, wer Heinrich Hölzel ist!" Wie eine Schuldige schaute Ellen. Er aber lachte. „Nun aber bloß nicht traurig werden, Ellen! Du wolltest ja alles wissen!"
Längst war es hell geworden... Bald fuhr der D-Zug in die lärmende Halle ein. „Genua!"
Sonne strahlte.
Ellen und Heinrich schauten stolz in die neue Heimat.


11.

Wetteifernde Ausbeutung hetzte die Welt. Internationaler Verkehr staute Bahnhöfe, Hotels, Häfen und Freudenhäuser. Wahnsinnige Gier saugte das Mark aus der breiten Masse. Schweiß fiel im Kurs. Not stieg himmelhoch. Profit und Genuss wurden Pole, um die sich die Welt in schwindelndem Rasen drehte. Und feste schmierte die Presse!
Unglaublich gut ging Heinrichs Zeitungs- und Buchgeschäft. Wie alles, so erforderte auch dieser Betrieb mehr Kraft, immer mehr Kraft. Zu seiner Entlastung engagierte Heinrich den „silbernen Gustav" mit der ganzen venezianischen Photographengarde, die auch in Genua eingetroffen war. Die Leitung seines Betriebes vertraute er seiner Frau an.
Sucht nach Besitz war auch bei Heinrich Gier geworden. Er übernahm die Generalagentur des Reise- und Verkehrsbüros „Helvetia" für Italien. Konkurrenz schrie! Auf seinen Geschäftsreisen nützte Heinrich seine einst als Vagabund gesammelten Kenntnisse ordentlich aus. Immer gründlicher organisierte er sein Unternehmen. Überall, wo bedeutende Klöster waren, verschaffte er sich Fühlung mit den Äbten. So gelang es ihm, besonders durch Empfehlung des altbekannten deutschen Mönchs Pater Vogel in Loretto, dass ihm die berühmtesten Klöster Italiens ihre Hospize für seine Gäste billig zur Verfügung stellten. Hiermit hatte er alle Konkurrenz geschlagen. Denn wer den Nepp-Süden kannte, wusste so ein geschütztes Reisen zu schätzen. Und besonders die weniger bemittelten Kunst- und Studienreisenden, welche seine Agentur benutzten, waren in der Lage, ohne sich von Ausbeutern anekeln lassen zu müssen, unter der Obhut des Klerus angenehm und preiswert zu leben. Sie durften sogar da malen und skizzieren, wo im allgemeinen strenge Domgendarmen es verboten.
Den Erfolg seiner Organisation empfand Heinrich an immer stärker werdender Belastung der Generalagentur. Zumal seine Kundschaft auf ihren Akademien seinem Geschäft reklameschreiendes Lob zollte. Im übrigen sorgten die freundschaftlich gewordenen Verhältnisse der Studierenden zu den Klöstern für weitgehendes Entgegenkommen der Äbte.
Schon nach Ablauf eines Jahres war Heinrich Hauptteilhaber des Reise- und Verkehrsbüros „Helvetia".
Das war ein Erfolg, wuchtig und wie keiner zuvor. Aber kein Stehen bleiben und Bewundern gab es bei dem Heinrich. Vorwärts, immer weiter trieb ihn ein gewaltiger Instinkt...

Kraft tropfte in den Schoß der Mutter Erde. Junges Leben spross. Die Frühlingssonne lachte die Knospen auf.
Heinrichs Heim war wonnig geworden. Lachend hielt er seinen Sprössling, der strampelte und schrie, als hätte ihn ein Krebs in der Klemme. Heinrich küsste ihn und gab ihn Ellen. Denn die geschäftige Welt rief nach dem Vater...
Der Balkan schmatzte blutlüstern an ausgemergelten Brüsten jüdischer Arbeiterfrauen. Kinder lagen genotzüchtigt zwischen ihren ermordeten Vätern. Gier nach Profit und Genuss war dort in Tollwut ausgeartet. Die Staaten schändeten ihre Gesetze. Sie ließen Pogromen freien Lauf. Und der Mensch flüchtete vor den Menschen! Jüdisches Elend überflutete die Zivilisation der Welt. Die Ärmsten strömten aus der Heimat. Und überall wurden sie freundlich aufgenommen, wenn sie Geld oder Werte — oder schöne Weiber hatten. Auch auf Heinrichs Gemüt wirkte da der in Aussicht stehende Gewinn. Nach eingehenden Verhandlungen sandte er den „silbernen Gustav" mit gleichwertigen Kräften nach Nis in Serbien, um von dort aus die jüdische Balkanemigration zu zentralisieren. Unterdessen mietete Heinrich in Genua zwei Häuser und richtete sie als „Auswandererzentrale" ein. Dann setzte er sich mit Agenten in New York-Brooklyn in Verbindung und schloss wegen der Überfahrt jüdischer Emigranten feste Kontrakte mit zwei italienischen Reedereien. Nach drei Wochen war dies Unternehmen fix. Auch der „silberne Gustav" mit seinem Stabe hatte unter Hochdruck gearbeitet. Denn Trupp auf Trupp verelendeter Flüchtlinge traf ein.
Langbärtige Männer schleppten stinkendes Bettzeug. Und ihre schwangeren Frauen seufzten unter der Last des erbärmlichen Hausrats und der letzten Geburt. Abgehärmte Judenmädchen führten wehleidig die zerlumpten Kinder. — Hoffnungsfreudig betraten struppige Greise die „Auswandererzentrale". Da trippelte bald die verängstigt gewesene Jugend wie zu Hause. Auch die mitgebrachten Waisen fingen an zu lächeln. Die alten Mütter aber beschwichtigten mit andächtiger Miene. Immerhin: Die heillose Armut fühlte Wärme. Und alle dankten da ihrem Gott.
Aber der Heinrich lief sich die Füße wund. Wieder hatte er die Zwischendecks zweier Amerikadampfer mit jenen Heimatlosen voll gestopft. Neue Flüchtlingstransporte waren eingetroffen. Massenelend verseuchte die Räume der „Auswandererzentrale". Immer wieder verweigerte der Reedereiarzt den Erkrankten die Überfahrtsberechtigung. Allmählich waren Heinrichs Emigrantenhäuser ein Lazarett geworden. Schnell stoppte er die „Zufuhr" ab. Denn halbe Transporte waren an ihren Landungsplätzen von den Agenten der Dollarfürsten als „ausbeutungsminderwertig" abgewiesen worden und landeten, nachdem sie lange Zeit auf Heinrichs Unkosten in amerikanischen Häfen unter Quarantäne gelegen, wieder in Genua. Die italienische Staatsregierung zwang Heinrich, für das eingeführte Massenelend aufzukommen. Was seine beiden anderen Betriebe an Gewinn abwarfen, verschlang die „Auswandererzentrale". Die Massennot verstieg sich ins Grauenhafte. Unentwegt gebaren die Frauen und die Mädchen. Junge Mütter flohen ziellos und ließen die Säuglinge zurück. Andere verschacherten das letzte Hemd, dann ihren Leib. Viele wurden angesteckt. Furchtbar wütete der Jammer in der „Elendszentrale". Unermüdlich lief drum der Heinrich von einem Balkankonsulat zum anderen und schilderte die grausame Not der Flüchtlinge. Aber höflich wurde ihm geachselzuckt. „Juden? — Tut uns sehr leid, wir haben genug hilfsbedürftige Leute!" Heinrich stand vor dem Bankrott. Verzweifelt schrie er das ungeheure Elend in die Welt. Endlich schlossen sich jüdische Kapitalisten aus allen Ländern zusammen und nahmen ihm seine Unkosten und den Massenjammer ab. Er war froh...

Die Riviera öffnete ihre schlaftrunkenen Augen. In Monte Carlo und Nizza schlüpften Kasinos, Spiegel, Chaiselongues und Riesenkronleuchter aus ihren Decken. Heere fliegender Kellner und schnippischer Zimmermädchen rieben dem verkaterten Glanz die trüben Augen — und sich die Hände. Die Eingangsportale jenes Paradieses öffneten sich einladend. Und unaufhörlich rollte (waggonweise) der Profit der Fabriken und Werkstätten an, um sich hier verwerten zu lassen. Galahuren, bessere Damen, verfettete Aufsichtsräte — halt Lebemenschen — versoffen hier den Arbeiterschweiß; überreizte Ansprüche schreien in Ekstase.
Heinrich hatte durch Abgabe seiner „Elendszentrale" einen Arm freibekommen. Mit aller Kraft betrieb er daher wieder sein Reise- und Verkehrsbüro. Das Personal des neugegründeten „Ressorts für Vergnügungsreisen" (Dolmetscher, Reisebegleiter, Fremdenführer, lauter ehemalige waschechte internationale Vagabunden) arbeitete unter Leitung des „silbernen Gustav" musterhaft. „Schwerindustrieller Rührupp mit Frau, Tochter und Schwiegersohn sind von Solingen gemeldet, für zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt in San Remo, und wünschen Reisebegleiter. Fillialvermerk: penible Bedienung- Glatte Zahler!" So lautete der Befehl Heinrichs an den „silbernen Gustav". Der aber spöttelte: „Haha! Pe-ni-bel!" Dann verließ er Heinrichs Privatbüro und erteilte sofort die Ausführungsorder dem „langen Polack", einem ehemaligen Fabrikbesitzer, der durch konkurrierende Trusts Bankrott machte, aber falschen Offenbarungseid leistete, deswegen mit einjähriger Zuchthausstrafe belegt worden war und somit von der Gesellschaft ausgestoßen wurde.

Solingen.
„... sehr gut! — Aber ich erwarte absolute Befriedigung meiner Empfindungen und Wünsche! Verstehen Sie?" — „Der Weitblick meiner Firma wird Sie entzücken!" — „Schön! Hm! — Und wie ist der Reiseplan?" — „Wenn es so beliebt... "
„Hübsch! — Also übermorgen Abend sieben Uhr dreißig! Via?"
„Via Basel — Como — Milano — Genova!"
„Recht!"
„Womit kann ich gleich dienen, mein Herr?"
Der Kommerzienrat staunte lächelnd. „Mir wäre es lieb, heute Abend — na, sagen wir mal — um fünf Uhr im ,Cafe Börse'... " — „Sehr angenehm, Herr Direktor!"

„Cafe Börse" — Abend sieben Uhr!
Der „lange Polack" endete die Unterhaltung: „Ich wahre Ihre Interessen und das Vertrauen!" Auffallend freundlich verabschiedete sich endlich der Großindustrielle von seinem Reisebegleiter und ging. Der „lange Polack" biss auf das Mundstück seiner Zigarette, verzog verächtlich das Gesicht, und während auch er nach seinem Hut griff, murmelte er durch die Zähne: „Alte Sau!"

San Remo: „Eden-Palace".
Umgeben von duftigem Orangen-, Palmen- und Olivenhain, mitten in märchenhafter Flora, oben am Berg in würziger Rivieraluft stand wie hingezaubert das Hotel. Wunderbarer Ausblick auf die weite tiefblaue See. Allen erdenklichen Komfort. Und über aller Pracht waren die luxuriösen Zimmer der Familie Rührupp. „Recht, recht, recht!" die erste Anerkennung, welche der „lange Polack" von seinem Gast erntete. Auch die kritische Frau Kommerzienrätin äußerte sich herablassend zufrieden. Erwartungsvoll begab sich der Großindustrielle an das offene Fenster und betrachtete lüstern das imposante Rivierabild. Dabei spielte er nervös mit den Händen in den Hosentaschen und schmunzelte. „Hoffentlich gelingt es ihm, meine Alte zu täuschen! — Aber dann... Hm... "

Dickqualmende Fabrikschlote verpesteten die Luft der Stadt
Bochum. Zum verrußten Winterhimmel glühten lodernde Hochöfen. Schneewolken tauten zu Dreck über der Stadt. Die Betriebe pusteten langsamer. Keuchend standen sie still. Es war Heiliger Abend.
Die Mietskasernen rochen nach Tannengrün und Margarine. Teure Hampelmänner und fadenscheiniger bunter Plunder beglückte die Armen. Kirchenglocken lockten schwindsüchtig gewordene Arbeiter zum Trost. Satte Pfaffen schreien in die menschenwarme Halle: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!" Lungenzerreißender Husten mischte sich in das Echo: „Bitt für uns... " Abgezehrte schwielige Hände schlugen Kreuze. Alle flehten: „Amen!"
Der Brotschrank war leer geworden. Menschen froren in ihren Stuben. „Arbeitet euch warm, dann habt ihr zu fressen!" Hah! Wie die Betriebe wieder hasteten! — Die klappernden Maschinen überlärmten das Leid: Zwei Tage Verdienst musste eingeholt werden. Das war Weihnachten: das Fest des Volkes!

Milchig behauchte die Rivierasonne San Remo. Die üppigen Reichen hasteten in prunkvollen Kraftwagen. Endlich waren die Boulevards leer. Es war Abend vor Weihnachten. Feenhafte Salons durchwehten Parfüm und Wollust. Herren und Damen in durchsichtiger Reizwäsche stießen mit nackten Knaben an. Ausgesuchtes Damenquartett im Badeanzug ließ eine vierzehnjährige Nackttänzerin mit erhobener Schale voll Eiswasser wirbeln. „Bravo!" — „Bravissimo!" — Hurra!"
Erfrischungspause. Knaben und Mädchen peitschten die Geilen zum Roulette- und Trente-et-quarante-Tisch. Auf bloßem Knabenleib klatschten die Trümpfe. Ein betrunkenes Kind stand plötzlich breitbeinig über der rasend laufenden Scheibe ... Der abgeschleuderte Ekel zwang die Hockenden auf. Das Meckern der Salonziege beendete die Pause.
Lebendes Geflügel wurde verlost. Licht verschwand... Knaben und Mädchen lagen mit Herren und Damen beinumschlungen auf dem Teppich im Sekt. Der Schmerz überstöhnte: „Pst — stille! — Ich zahle hundert Franken mehr und... !" Mann wurde Weib. Tier wurde Mensch. Menschen wurden tierisch.
Der Weihnachtsmorgen drang in das stille Versteck... Sorgfältige Toilette! Und laut spotteten die Banken: „Aber was bedeuten ein-, zehn-, hunderttausend Emmchen! — Achttausend Arbeiter im Betrieb! — Akkordarbeit! — Das ist mehr, viel mehr!" Diese Weihnachten waren um.
Fasching von Nizza klopfte an.

Die Bank von Monte Carlo und die Freuden- und Krankenhäuser hatten „ihr" Gold... In den zitternden Händen hielt der Großindustrielle ein Telegramm und knurrte: „Unverschämtheit! — Das Gesindel verlangt schon wieder zwei Pfennig mehr Stundenlohn."
Da klingelte es.
Der Zimmerkellner trat in das Zimmer und überreichte dem Kommerzienrat ein Kuvert mit dem Aufdruck „International Ticket Office H. Hölzel, Genua". Der Briefumschlag war schnell offen. Unter dem dicken Strich auf dem weißen Bogen starrten: summa summarum 1500 Lire.
Herr Rührupp schaute verwirrt. Er fiel rücklings in den Sessel. Die Kommerzienrätin eilte herbei. „Um Gottes willen, Männchen... !"
Er zwang sich. „Die alte Herzstörung!"
Es klingelte wieder.
Die Rechnung des Juweliers: 250 000 Lire.
Verzweiflung verzerrte das verlebte Gesicht. Vorwürfe nagten im Gehirn. Da — ein Telegramm: „Schacht ,Lucie' gestern Nacht verschüttet — Kredite werden verweigert."
Schrecken warf den Schlemmer in Ohnmacht.
Der Arzt wurde gerufen. „Herzschlag!"

Allmählich erschöpfte sich die geile Saison. Die Rivierasonne fing an zu brennen. Bald lag der bespiene Luxus wieder gut verschalt. In Heinrichs Seele aber gellte mehr denn je das schreiende Klagen aus dem gärenden Schlamm der Zeit. Die Unterschiede des Lebens hatten sich vor seinen Augen ins Extreme gesteigert.


12.

Während in Indien der Hungertod Tausende Arbeiterfamilien fraß, barsten in den zivilisierten Ländern die Silos und die Magazine. Auf dem Weltmarkt überschrie der Dollar den Schilling, die Reichsmark alle beide, Münze die Münze: ein Land das andere.
Zermalmender Konkurrenz entstiegen politisch schwere
Krisen. Längst aber hatten die nationalen Banken gewarnt. Und Steuern waren Wehrbeitrag geworden. Dreadnoughts und Krupp repräsentierten den Nationalstolz.
Die Sommersaison in Ostende, in Skandinavien... oder auf Helgoland bekümmerte die brütende Gluthitze nicht. Das „Ressort für Vergnügungsreisen" der „International Ticket Office H. Hölzel" arbeitete hastend. Und friedlich plätscherte die Seele der Weltkonkurrenz mit ihren schlanken Lieblingen in blaukühlem Genuss.
Wieder war Heinrich von einer vierwöchigen Geschäftsreise zurückgekommen. Seine Freunde hatten ihm Geschäftsbericht erstattet und unterhielten sich über politische Angelegenheiten.
„Ja", bestätigte plötzlich Heinrich dem „silbernen Gustav". „Vergleiche ich meine Eindrücke von den modrigen Gewölben des Mittelalters mit unserer Zeit, dann muss ich es gestehen, dass die Unterdrückung und Vergewaltigung der breiten Massen heute noch schlimmer und die Ausbeutung nur raffinierter ist. Aber — was ich nicht begreifen kann, ist der Stumpfsinn, die faule Geduld, mit der sich das schaffende Volk quälen lässt!"
„Die Pfaffen, die Paffen, Hein!" rief der „lange Polack." „Das ist's ja, was mir nicht in meinen Schädel passt!" erwiderte Heinrich und betonte: „Sind die Millionen Arbeiter trotz ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit, die sie in der Produktion in der kräftigsten Weise anzuwenden verstehen, tatsächlich nicht in der Lage, sich eine eigene Weltanschauung von ihrem Leben zu bilden, sich über das Niveau einer Hammelherde zu erheben?"
Noch bevor Heinrich dazu kam, seine Gedanken weiter auszusprechen, platzte der „silberne Gustav" heraus: „Nein! — Nie und nimmer!"
Dann deutete er nach der Straße und erhob sich. „Den Unterdrückten fehlt der geistige Schliff! Diese ungeheuren Massen werden durch die Kirche um eine erhabene Religion betrogen. Sie werden von den Pfaffen in ein Labyrinth der Mystik geführt, wo ihnen ihr göttliches Bewusstsein geraubt wird. Im Verlangen aber nach dem Schönen, Wahren und Guten werfen die Armen dann ihren Mut, ihre Lebenslust, ihre Selbstachtung in den Staub. Sie nennen die Welt ein Jammertal! Und sie sehnen sich geradezu nach dem Tod, während ihre Unterdrücker, unsere Badegäste, wissen: ,Schaue den Tod, dann lebst du stärker!' Solange Rom noch Platz auf unserem Planeten einnimmt, wird die ungeheure Masse der Arbeiter erbärmlich missbraucht dahinleben, ihr jämmerlicher Zahltag wird ihr ein ,Segen' sein. Und die Kirchenbank wird ihr Sprungbrett bleiben in neue schweißsalzige Wochen, und diese sich in einem fort wiederholende Regel schützt halt das Gesetz: die Obrigkeit!"
Die altersgeschwächte Stimme des „silbernen Gustav" hatte wieder mal tiefen Eindruck gemacht. Heinrich saß, den Kopf in den Händen haltend. Einer der Anwesenden fragte halblaut: „Wie das sittenlose Gieren nach Kapital endet, interessiert mich."
„Wie Pompeji und Herculanum!" schrie Heinrich auf. Die Freunde bemerkten das Blitzen in Heinrichs Augen... Sie schüttelten ihm die Hand. Jeder ging seiner Pflicht nach.
Wieder stand Heinrich reisefertig. Geschäftliche Verpflichtungen litten ihn nicht lange bei Weib und Kind. Ungeduldig blätterte er im Kilometerheft: Genova — via Gotthard — Basel — Frankfurt — Düsseldorf. „Ein herrliches Programm!"
Unaufhörlich kurbelte der Lloydexpreßzug den Weltfilm... Kohlenstinkende Rauchfetzen erinnerten an Heimatluft. In Heinrichs Gehirn lebten jugendfröhliche Gedanken auf. Und wohltuend durchzog ihn eilende Kraft. Armverschränkt schaute er die vorbeifliegenden Stationen. Dann verhüllte langer Tunnel Heinrichs Augen...
Aber rastlos pustete die Maschine. Und endlich traf Sonnenstrahl das Herz. Heinrich erblickte den grünen Rhein. Unaufhörlich raste der D-Zug. Frankfurt — Köln — Düsseldorf. Freude begeistert den Heinrich. Da — Heimatdialekt.
Und von allen Litfasssäulen grinste der rothaarige Tünnes mit seinen Schmalzbacken.
Wie von zuckenden Sekundenzeigern gekitzelt, eilte Heinrich seinen Geschäften nach. Ein paar Tage wollte er für seine Seele erobern. Endlich die alte Heimat mit dem Friedhof!
Schwere Wolken verdunkelten die Sonne. Sturm heulte. Zechen schrieen. Am Himmel zuckte es. Donner grollte... Gewitterregen aber würzte die Luft mit frischem Erdgeruch. Heinrich atmete auf. Er verließ die Gräber seiner Eltern. Und folgte seinem seelischen Drange.

Barfuss, in buntgeflickten Hosen, bestaunten ihn, ihr Spiel vergessend, die Schulbuben, als er das holperige Pflaster der alten Löhrgasse betrat.
Heinrich, stattlich, massiv, ein ungewohnter Fremdling in dem Katzenviertel, grüßte die Buben wie alte Bekannte. Die Gassenschmutzigen wurden zutraulich. Wie springlustige Hunde trippelten sie voraus, die Nase nach Heinrich gehoben. Aber Heinrichs Blick galt nur den baufälligen geschwärzten Häuserreihen. Plötzlich blieb er stehen. Die mitgelaufenen neugierigen Buben stauten sich um ihn.
„Sag, Kleiner, wer wohnt dort oben?" Heinrich zeigte auf das erste vornüberhängende Stockwerk einer Bergmannshütte. „Da? — Da wohnt... ?" Der antwortende Junge fragte einen, der neben ihm stand: „Du, wie heißen die da oben?" Der Gefragte schaute nach dem Stockwerk wie auf das Zifferblatt einer Uhr, das er nicht kannte. Die junge Schar stockte in Verlegenheit. Beflissen zwängte sich ein krummbeiniger Knirps vor Heinrich, versteckte seine Brotstulle hinter sich und fragte ihn wichtig: „Wie die da oben heißen? Willst du's wissen?" Heinrich lachte und nickte. „Ja!" Mit einer Miene, die etwas wie Vorwurf ausdrückte, deutete der Bergmannsjunge nach dem fraglichen Stockwerk. „Die heißen doch Frank!"
„Jajaja — Frank!" beifallten die Kinder.
„Danke schön!"
Heinrich griff in die Tasche und schenkte jedem Buben eine Mark. „Gebt das eurer Mutter! — Sie soll dafür 'en Happen Fohlenfleisch fürs Stielmus kaufen! Allez!"
Von der Gasse lief Freude in elende Hütten. Heinrich betrat das Bergmannshaus.

Oben an der Treppe stand eine Arbeiterfrau, in Spannung nach dem fremden Tritt horchend. Wider alle Erwartung hob sich die große Gestalt Heinrichs vor ihr aus dem dunklen Stiegenschacht. Heinrich trat näher und grüßte erfreut. Das abgehärmte Weib geriet außer Fassung. Er fragt: „Frau Frank?"
Die Angeredete wurde bleich und nickt. Aber Heinrich reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. Die Frau schaute wirr. Heinrich half ihr aus der Befangenheit: „Ist Eduard zu Hause?"
Sie stammelte: „Er ist zur Schicht!"
Heinrichs Lächeln verflog. Er wiederholte: „Zur — Schicht?"
Plötzlich packte namenlose Freude die verwirrte Frau. Verblüffung platzte. Sie erkannte ihren Schulkameraden. Sie rief aus vollem Herzen: „Mein Gott! Sie sind Heinrich Hölzel? — Hast du dich aber gemacht!"
Erregt öffnete sie die niedere Stubentür. „Komm, tritt ein!" Heinrich beugte sein Haupt und folgte. Der Fußboden ächzte. Auf dem alten Stuhl neben dem kleinen Ofen ließ er sich nieder. Sein Kopf sank zur Brust...
Auch das Bergmannsweib saß sinnend.
Die alte Wanduhr raschelte und schlug drei harte Schläge. — Erschüttert tönte Heinrichs Stimme: „Wisst Ihr was von meinen Geschwistern?"
Eduards Frau schwieg. Heinrich starrte auf jene Stelle am Boden vor dem kleinen Ofen...
Unverhofft entrann der Frau Frank die Frage: „Hein, dir ging es wohl trotz allem... recht gut im Leben? — Weißt du, dass Eduards Mutter schon sechs Jahre tot ist?"
Heinrichs Hirn arbeitete fieberhaft. Er hörte nicht. Erinnerungen nagten in ihm. Sein Gesicht zuckte im Schmerz. Mitleidig schaute die Bergmannsfrau. Und schwere Stille schlich sich in das Stübchen.
Dennoch ist er zur Grube... Er wurde also doch Bergmann?" murmelte Heinrich vor sich hin. Eduards Frau seufzte und antwortete...
In Heinrichs Kopf hämmerte es.
Achthundert Meter hatte der Förderkorb Menschen in den dunklen Rachen der Erde gesenkt. Gebückt tastete sich Eduard mit einem Hauer an der schleimigen Wand im Stollen zur Arbeitsstätte. Blaurot hauchte es aus dem Grabesdunkel nach der Grubenlampe. Eine Stunde Wegs waren beide Bergleute vom Förderkorb entfernt. Vor einer Verzimmerung machten sie halt.
Im Stübchen raschelte die alte Wanduhr... Gequält warf Frau Frank die unbeantwortet gebliebene Frage zwischen ihre Erzählung. Endlich schaute Heinrich auf. Er seufzte.

Wie dröhnende Schläge wirkte seine Antwort und riss der Jugendkameradin die irrtümliche Meinung über sein Leben weg.
Absperrende Planken waren entfernt. „Und wie geht's euch? — Ist Eduard immer noch so lustig?"
Frau Frank antwortete mit gebrochener Stimme. Der „tote Stollen" gähnte Grauen... Eduard und der Hauer zwängten sich in das drohende Grab. Aus dem gärenden Schlamm quirlte das Gemurmel verschütteter Väter. Heinrich lauschte gebannt und versank in seine Gedanken...
„Warum muss dieses verlotterte und verfluchte Flöz wieder in Arbeit genommen werden, trotzdem oben die Halden prassvoll sind? Eduard, was meinst du?"
Frau Frank versagte die Stimme. Sie wischte sich die Augen. Heinrich merkte das nicht. Sein Blick lag auf jeder Stelle auf dem Fußboden vor dem kleinen Ofen ...
Wieder flüsterte es aus dem Erdrachen: „Soviel ich weiß, haben die neuen Aktionäre im Sinn, über kurzem einen neuen Schacht anzulegen, und — ich nehme an — da muss dieser verdammte, aber protzige Stollen herhalten! — Pass auf, wenn wir erst mal hier Luft gemacht haben und der Direktor die fette Kohle bekribbelt hat, dann ist in dieser verlassenen Ecke wieder Hochbetrieb!" Scharfer Stahl bohrte. Schwerer Staub stieg. Funken sprühten. Ab und zu zischte es. Anstrengung trieb den beiden Bergleuten im „toten Stollen" die Augen aus den Höhlen. Endlich steckten die Patronen dem „schwarzen Satan" im Leibe. Eduard und der Hauer atmeten auf. Langsam kroch der bläuliche Funken. Es roch nach Gas. Es blitzte. Die finstere Luft stieß. Die Erde hüpfte und stand wieder. — Heinrich zitterte. Unaufhörlich kotzte die Wand Tonnen schwarzglänzenden Gesteins... Frau Frank hatte geendet.
Wie schwerer Alp lag es auf Heinrichs Seele. Hilflos schaute er nach den leidvollen Augen des Weibes. Frau Frank aber erhob sich, fasste Heinrichs Hand und schüttelte sie. „Und nun freue ich mich, Hein, dass du so ganz ungeahnt unser Gast wurdest! — Eduard wird staunen — wenn er kommt... "
Es war Abend geworden. Auf der Treppe stolperte es schwer. Heinrich zündete sich eine Zigarette an.

War das Eduard, der Jugendfreund? Heinrich vermochte es nicht zu glauben. Und doch: Das ewige Einerlei von schwerer Arbeit und erdrückender Not hatte es wirklich fertig gebracht, das einst aufgeweckte Menschenkind Eduard zu verkümmern. Geradezu erschreckt vernahm Heinrich die Antwort Eduards: „Uns ging es immer so, dass wir Brot im Hause hatten. Hein! Ich danke Gott, dass er mich gesund erhält, damit ich schaffen kann!" Heinrich fragte erschüttert: „Eduard, denkt ihr Bergleute alle so?"
Die sehnigen Muskeln des Bergmanns erröteten. Heinrich begriff. „Ja, ja, ihr seht nicht in eurem Loch in der Erde die Exzesse des Reichtums an der Oberfläche. Und während der paar Stunden, die ihr im Sonnenschein seid, halten euch ausgebreitete Christusarme den undurchdringlichen Schleier vor die Augen!"
Lange saßen diese beiden Bergmannskinder beisammen. Bis endlich die späte Nachtstunde den Eduard erschlaffen ließ. Heinrich ging nicht in sein Hotel. Er streckte sich auf Eduards altem Sofa aus. Und bald erlebte er nochmals das grausige Einst...
Der Sonntagmorgen war trüb. Der politische Himmel hatte sich verfinstert. Heinrich erledigte schleunigst das Nötige zur Abreise in der kommenden Nacht. Dann begab er sich in das Gasthaus „Zum Grubengaul". Misstrauisch und prüfend trafen ihn da die Blicke. Aber bald saßen eng verbunden einstige Jugendkameraden, lauter Bergleute, um den reichen Freund.
Heinrich erzählte. Andächtig lauschten alle.
Draußen läuteten die Kirchenglocken, unaufhörlich...
Feier? — Ein Moment heiliger Stille schwebte durch die Wirtsbude. Plötzlich erschallte inbrünstig die Stimme des Heinrich. Und all die Bergleute sangen auf einmal wie einen Kirchenchoral:

Wer schafft das Gold zutage?
Wer hämmert Erz und Stein?
Wer webet Tuch und Seide?
Wer bauet Korn und Wein?
Wer gibt den Reichen all ihr Brot?
Und lebt dabei in bittrer Not?

In maßloser Begeisterung überschrieen die von der Kohle zerfressenen Kehlen das auf der Straße einsetzende „Deutschland, Deutschland über alles" mit dem Refrain des Arbeiterliedes: „Das sind die Arbeitsmänner, das Proletariat!"
Kaum war das Arbeiterlied verklungen, da stürzte einer von draußen in die Wirtsstube: „Der Krieg! Der Krieg ist ausgebrochen!"
Und gerade als alle hinauseilen wollten, drangen Schutzleute ein und verhafteten den Heinrich.

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