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B. Traven - Die Rebellion der Gehenkten (1936)
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NEUNTES KAPITEL

Eine volle Woche lang hatte Celso täglich eine oder zwei Stunden geopfert, um Candido zu helfen, auf vier Tonnen zu kommen.
»Du musst nicht so viel für mich tun, companero«, sagte Candido häufig. »Du verlierst deine Zeit und sie peitschen dich, und alles nur meinetwegen.«
»Kümmere dich nur darum nicht, Bruder. Wir sind ja aus demselben Stamm. Sind wir nicht?«
»Gewiss. Wir sind Nachbarn und sind beide Chamulas.«
»Siehst du. Das ist ein Grund: weil wir Kameraden sind. Aber vielleicht habe ich noch einen anderen Grund.«
Candido lachte und stellte seine Axt hin. Er zündete sich eine Zigarre an. Dann lachte er wieder.
»Brauchst nicht zu fragen, Bruder, Hermanito. Ich kann dir sagen, sie hat keinen Mann. Letzte Nacht haben wir darüber gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie dich gut leiden kann. Was willst du denn weiter? Du weißt ja recht gut, dass so etwas unter uns nicht von heut auf morgen geht. Aber sie kann dich gut leiden, die Modesta.«
»Der Name gefällt mir so gut.« Celso sah vor sich hin. »Ich kann mir keinen schöneren Namen denken.«
»Das hast du mir nun schon ein paar Mal gesagt. Und ehe du es mir das erste Mal sagtest, da wusste ich schon, was mit dir los ist. Du bist mir gut willkommen, und ich bin sicher, du bist mehr als gut der Modesta willkommen.«
Candido nahm seine Axt wieder auf und ging an seine Arbeit.
Am Abend, nachdem er gegessen hatte, wickelte sich Celso ein paar Zigarren, schob sie in die Hemdtasche und kletterte zum Fluss hinunter. Er setzte sich in das Wasser und steckte nur den Kopf heraus, um rauchen zu können. Im Wasser saß er, damit die Zecken, die sich ihm in die Haut gebohrt hatten und die zu klein waren, um sie einzeln auszupicken, absterben sollten. Das Wasser kühlte gleichzeitig die glühenden Moskitostiche und die Bisse der großen Pferdefliegen, die er von der Tagesarbeit her am Körper fühlte. Sie waren besonders gefräßig in der Regenzeit, und, was schlimmer war, in tausendfach größerer Zahl vorhanden als während anderer Zeiten. Das Rauchen der Zigarre, während er im Wasser steckte, schützte ihn gegen die Moskitos, die hier am Flussufer in dichten Schwärmen summten und die den Abend ebenso liebten wie der Mensch, über den sie herfielen.
Celso war nicht der einzige, der im Fluss saß, um sich zu erholen. Zu beiden Seiten hockten die Burschen, allein oder in Gruppen.
Kaum hatte er fünf Minuten hier zugebracht, als sich Martin Trinidad neben ihm ins Wasser setzte.
»He, Celso«, sagte er, »gib mir deine Zigarre zum Anzünden.«
»Warum zündest du sie nicht an, ehe du ins Wasser gehst?«
»Sie ging mir aus.«
»Wo kommst du denn her?«
»Du bist der einzige hier, Celso, dem ich es sage. Von Pachuca komme ich. Wo die Silbergruben sind. Ich war da Schullehrer.«
»Schullehrer? Und jetzt hier in der Monteria?« »Habe mein Maul zu weit aufgemacht. Oder richtiger, ich habe da unter den Bergleuten, meist Väter der jungen, die ich in der Schule hatte, die Wahrheit verbreitet.«
»Was für eine Wahrheit?« fragte Celso misstrauisch.
»Die Wahrheit über den Diktator, und dass kein Mensch, so sehr er sich auch einbilde, der Lenker und Führer eines Volkes zu sein, das Recht habe, die Meinung, die Rede, den Willen der
Menschen zu unterdrücken. Denn jeder Mensch hat das Recht, zu sagen, was er denkt; und jeder Mensch hat die Pflicht, alle anderen Menschen darüber zu unterrichten, dass sie schlecht und zu ihrem eigenen Nachteil regiert werden, wenn er weiß, wo das Übel zu suchen ist und wie es abgeändert werden kann.
Auch wenn der Mensch irrt oder unrecht hat, so soll ihm dennoch das Recht bleiben zu sagen, was er denkt, und wie er sich denkt dass es besser gemacht werden könnte.«
»Das hast du dort in Pachuca den Bergleuten gesagt?« Celso sah ihn von der Seite an. Aber es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Sprechenden genau zu erkennen.
»Ich habe ihnen auch noch mehr gesagt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht zu den Minen gehen und nicht arbeiten sollten, damit die Minenbesitzer nichts verdienen. Sie sollten verlangen, dass man ihnen mehr Lohn zahle und dass ihnen erlaubt werde, Syndikate zu bilden, um ihre Forderungen als Gruppen zu erkämpfen, weil einer allein nichts tun könne.«
»Und was haben die Mineros gesagt, als du ihnen das klarmachtest?
»Sie sind nicht zur Arbeit gegangen. Dann kamen Soldaten und haben zehn totgeschossen. Und dann haben die Mineros wieder gearbeitet, weil sie keine Syndikate hatten, die alle Mineros hätten zusammenfassen können.«
»Dich haben sie aber nicht totgeschossen? Das ist merkwürdig, denkst du nicht auch?« Celso war erneut misstrauisch geworden.
»Nein, mich haben sie nicht erschossen. Sie haben mich in die Kaserne geschleppt, weil ein Minero so lange gepeitscht wurde, bis er sagte, wer ihnen solche Gedanken in den Kopf gesetzt habe. Da haben sie mich in die Kaserne geschleppt: und gesagt, dass ich es nicht so gut haben solle, erschossen zu werden wie die zehn Mineros, die das nicht besser wüssten und nur verführt worden seien von mir.
Drei Tage lang haben sie mich gequält und gepeitscht und gefoltert. Wenn der eine Sergeant müde war, kam ein anderer und fiel über mich her. Morgen bei Tag werde ich dir die tausend Narben zeigen, die ich über und über an meinem Körper habe. Ich sollte auch immer »Viva, Don Porfirio!« schreien.
Das habe ich nicht getan, weil ich den Casiquen hasse und ihm den Tod wünsche. »Abajo, Perfirio!« habe ich geschrieen, wenn ich nur das Maul aufmachen konnte und »Que muere el Tirano! Abajo los Aristocratas!« habe ich geschrieen und »Viva la Revolucion de los Proletarios!« Immer, wenn ich so schrie, spuckten sie mir ins Maul oder hieben mir ihre Peitschen rüber.«
Celso fragte: »Und dann bist du ausgerückt?«
»Nein,   wie   konnte   ich   ausrücken   mit   all   meinen zerschlagenen Gliedern? Sie haben mich mit vielleicht hundert anderen    Männern    und    Jungen,    Lehrern,    Studenten, Fabrikarbeitern und Bauern in die Eisenbahn geladen. Dann kamen wir alle in das Konzentrationslager nach Yucatan, wo wir auf den Henequen-Plantagen arbeiten und  Straßen bauen mussten. Vierzig Mann vor den schweren Straßenwalzen, die kaum zwanzig Pferde durch den Schlamm geschleppt hätten, und dann wurde auf uns losgepeitscht unter der offenen Sonne, zehnmal heißer als hier unter dem Grün im Dschungel. Jeden Tag waren zehn tot. Starben rascher als Fliegen.«
»Und wie bist du denn aus dem Konzentrations-Camp in Yucatan entkommen?« fragte Celso.
»Wir schlugen eines Tages vier von der Polizei tot, es waren alles nur Rotzjungen und Hosenschitter. Und als wir sie totgeschlagen hatten, da rannten wir wie die Teufel. Dreißig von uns.
Die andern hatten zuviel Angst und liefen nicht mit uns. Von den dreißig wurde eine Anzahl wieder gefangen, einige wurden von den hinter uns herreitenden Rurales erschossen. Andere ertranken, als wir einen Fluss durchschwammen. Aber wir drei,
Juan Mendez, Lucio Ortiz und ich, wir waren klug genug, uns von der Masse loszumachen und auf eigenen Wegen zu gehen. Wir kamen nach Campeche und dann endlich jener Gegend nahe, wo du her bist. Dort trafen wir Don Gabriel, den Enganchador, der uns wie ein Schutzengel erschien und uns mit in die Monteria nahm. Hier sucht uns niemand.«
Celso lachte unterdrückt. »Das ist ein guter Witz, den du da machst, companero. Hier sucht euch niemand. Gewiss nicht! Wer sind denn die beiden, die mit dir kamen?«
»Juan Mendez war Sergeant bei der Infanterie in Merida. Nun ist er Deserteur.«
»Warum Deserteur?«
»Ein Hauptmann war betrunken und kam nachts in die Kaserne. Juan hatte einen jüngeren Bruder in derselben Kompanie, diente im ersten Jahr. Er war auf Stallwache bei den Mules der Maschinengewehrabteilung.
Der Hauptmann hatte im Stall nichts zu suchen. Er kam rein, torkelte herum und schimpfte. Dann glitschte er aus über nasse Mule-Äpfel und fiel in den Schitt. Er rief die Wache herbei, den Bruder des Juan, backpfeifte ihn und zerrte ihn zu einem gefüllten Wassereimer. Dort steckte er dem Jungen den Kopf so lange ins Wasser, bis der arme Junge tot war. Der Hauptmann kam vor das Kriegsgericht. Alles, was ihm geschah, war, dass er als Strafe einen Monat Gehalt verlor. Als er zwei Tage später an einer Stalltür vorüberkam, sprang Juan Mendez auf ihn los und schrie: »Du hast meinen Lieblingsbruder ermordet. Da dich das Gericht nicht bestraft hat werde ich dich bestrafen, damit wieder Gerechtigkeit auf Erden ist.« Und ehe sich der Hauptmann wehren konnte, hatte ihm Juan Mendez die Kehle durchgeschnitten. Lucio war Cabo, Unter-Offizier, im selben Bataillon, und ein dicker Freund des Juan Mendez, weil beide zusammen als Freiwillige in das Regiment eingetreten waren und beide durch Gutes und Böses immer miteinander gingen.
Lucio ließ ihn nicht im Dreck, als Juan sich auf den Weg machen musste. Er sagte: Ich hätte den Capitan so gut abgemurkst wie du, wenn ich dazu Gelegenheit gehabt hätte. Darum bin ich genau so schuldig wie du, und ich gehe mit dir. So sind sie beide zusammen desertiert wie sie zusammen eingetreten waren. Unzertrennlich wie Jesus und das Kreuz. Ich traf sie in Tabasco, und als wir fanden, dass wir dieselben Ideen hatten, beschlossen wir, zusammen zu reisen.«
»Warum erzählst du mir denn das alles? Was geht mich denn das an?«
»Einfach. Es geht dich ebensoviel an wie uns. Das ist es, warum ich dir das alles erzähle. Ich weiß, dass du dieselben Gedanken hast wie wir. Und ich denke, dass wir nicht so weit mehr davon entfernt sind.«
»Entfernt von was?«
»Von dem Tage, wo wir aufräumen werden. Wo wir einmal damit anfangen werden zu henken und damit aufhören, gehenkt zu werden. Denke nicht, dass ich allein in Pachuca war. Und was mir an Kenntnis fehlte, das gewann ich in Yucatan. Ich weiß auch recht gut, obgleich alle Zeitungen das abstreiten, dass es im Norden schon flammt und brennt und dass El Caudillo, der alte Knacker, der sich Retter und Schutzherr der Nation nennt, die Hosen bis an die Strippen voll hat. Er wagt sich gar nicht mehr auf die Gasse, ohne dass er mit einem halben Hundert besonderer Leibgardisten umgeben ist.
Wer weiß, ob nicht schon jetzt, wo wir hier darüber reden, der Unersetzliche, wie er sich nennt, abgesetzt ist und sich unterm Bett verkrochen hat. Je grausamer so ein Tyrann ist, desto mehr ist er ein jämmerlicher Angsthase, wenn er einmal einen Genickstoß wegbekommt. Ich habe Bücher gelesen, eine Menge Bücher, Celso, das kannst du mir glauben. Und ich habe viel über Revolutionen und Aufstände gelesen. Es ist immer dasselbe.  Tyrannei währt eine Zeitlang,  immer nur eine begrenzte Zeitlang; und wenn sie sich am brutalsten gebärdet, dann ist sie ihrem Sturz am nächsten.«
»Schade, Martin, dass ich nicht lesen kann«, sagte Celso. »Ich kann nur gerade meinen Namen schreiben, und das schlecht genug.«
»Vielleicht kann ich dir und noch ein paar Muchachos helfen, lesen und schreiben zu lernen.«
»Gewiss könntest du das. Und wie gern ich das wohl möchte, das kann ich dir nicht sagen. Man fühlt sich so dumm in der Welt, wenn man nicht lesen und schreiben kann.«
»Aber ich will dir noch etwas ganz Neues sagen, Celso, etwas, das ich nur ganz allein weiß und niemand sonst.«
Celso versuchte wieder, die Gesichtszüge seines Nachbarn, neben ihm im Fluss sitzend, zu erforschen. Es war jedoch zu dunkel. Er zog heftig an seiner Zigarre, die aufleuchtete und einen raschen Schein auf das Gesicht Martins warf. Martin sah sich um, ob etwa ein anderer Bursche zu nahe sei und hören konnte, was er sagen wolle.
Er rückte näher an Celso heran: »Was die da oben in der Oficina über den Unglücksfall des Don Acacio sagen, ist gelogen.«
»Was meinst du, gelogen?«
»Die Geschichte ist eine andere. Sie wollen nur nicht, dass wir die Wahrheit wissen. Sie haben entsetzliche Furcht, dass wir das nachmachen könnten.«
»Was nachmachen? Rede schon los. Es hört uns niemand, und wenn einer hört, schlage ich ihm eins ins Maul, dass er es für eine Woche nicht aufmachen kann. «
Pascasio und Urbano flohen, das weißt du. Aber was du nicht weist, ist, dass Pascasio, als er eingefangen werden sollte, den La Mecha mit einem Stein erschlug, und dass dann El Faldon ihn niederschoss, weil Pascasio mit einem Revolver auf ihn losging.
Urbano hat das alles der Frau des Kochs erzählt, als er hier saß und warten musste, damit ihn Don Acacio auspeitschen konnte. Und was dann Urbano tat, als Don Acacio hier runterkam, das habe ich gesehen und niemand sonst. Als sich Don Acacio nicht vorsah, sprang Urbano auf ihn los, knebelte ihn an jenen Baum da drüben fest und stach ihm beide Augen aus, mit einem Dorn.«
»Du, ist das sicher?«
»Ich habe es gesehen von hier oben, als ich kam, meine Axt in der, Bodega umzutauschen. Und nachdem das geschehen war, hat sich der Urbano einen großen Stein in die Hose gebunden und ist in den Fluss gegangen, wo er sofort ertrank. Das wissen sie oben nicht. Die denken, er ist aufs neue geflohen und zwei sind hinter ihm her. Don Acacio ist wie verrückt geworden, weil er keine Augen mehr hatte, und hat sich dann selbst totgeschossen.«
»Hast du das auch gesehen?«
»Nein, aber Epifanio, der Junge, der in der Oficina und in den Bungalows Dienst tut, hat es gesehen, durch einen Spalt nicht wie sich Don Acacio totschoss, aber er lief gleich, als er den Schuss hörte, zu dem Spalt und sah Don Acacio vor dem Bett kauern mit dem Revolver in der Hand. Dann brachen sie die Tür durch, weil er die Tür mit einem Balken festgemacht hatte.«
Celso pfiff einige Male. Dann sagte er: »Das ist lustig. Das gefällt mir.«
»Ist noch nicht alles, was ich weiß.« Martin rückte noch dichter heran und sprach nun ganz leise weiter. »Die da oben denken, dass Urbano dem Don Acacio den Revolver und Gürtel mit den Patronen abgenommen hat und damit geflohen ist. So ist das nicht. Urbano hat den Revolver rausgezogen und hingeworfen. Aber er hat ihn liegenlassen, weil er sicher nicht wusste, wie er ihn gebrauchen könnte. Er war zu dumm. Als Urbano in den Fluss gegangen war, bin ich runtergesaust habe den Revolver aufgehoben und dem Don Acacio, der ja nicht mehr sehen konnte, den Gürtel mit den Patronen abgenommen.«
»Du hast den Revolver?« fragte Celso aufgeregt und heiser.
»Ja, ich habe ihn und die Patronen dazu. Alles eingegraben. Weißt du, Celso, mit diesem Revolver können wir, du, ich, Juan Mendez und Luzio Ortiz, viel machen.«
»Wissen die beiden, dass du den Revolver hast?«
»Kein Wort. Du bist der erste, dem ich es sage. Wir könnten nun entwischen.« »Das könnten wir recht gut. Aber ich habe hundertmal darüber nachgedacht. Würde mir nichts helfen, wenn ich wegrenne. Würde auch dir nichts helfen. Wir müssen alle wegrennen, alle am selben Tage, und alle müssen wir schwören, uns nie mehr zurücktreiben zu lassen und lieber zu sterben, als wieder hier herzukommen. Am besten wäre es, alle hier, die keine Obreros sind, zu erschlagen. Wenn wir sie leben lassen, dann wird nichts geändert. Dann bleibt alles beim alten, und eines Tages haben sie uns alle wieder fest. Nur eine ganze und richtige Sache hilft. Der einzelne kann nichts ändern und nichts machen. Wir müssen das alle machen, und zugleich, oder gar nicht. Ich hätte hundertmal weglaufen können, allein, oder mit Andres, Santiago, Fidel und Matias, alle die richtigen. Aber wir haben uns immer wieder gesagt dass wir mit allen Monterias ein Ende machen müssen, alles zerstören, alles niederbrennen, alle Patrones und Capataces erschlagen, sonst hat es keinen Zweck. Wenn wir allein gehen, dann würden wir später nur traurig sein, dass wir alle die Muchachos, die Schwachen, und die Kleinen, und die Dummen, hier in ihrem Elend zurückgelassen haben. Wir sind die Starken, du und ich und Andres und dein Juan und dein Lucio. Wir müssen den anderen helfen, die nicht so stark sind. Mit Hilfe der Schwachen und Ängstlichen und Furchtsamen und Gehorsamen können sich die Patrones wieder aufrichten, und wenn sie sich wieder aufgerichtet haben, können sie dann auch wieder uns, die wir uns so stark glaubten, aufs neue beherrschen, und schlimmer als zuvor.«
»Bist viel klüger, als ich gedacht habe, Celso.«
»Denke nicht, dass ich das alles ganz allein ausgedacht habe. Ich bin kräftig, aber mit dem Ausdenken geht es schwierig. Das haben wir alle zusammen so ausgedacht, der Andres, der Pedro, der Santiago und alle die, die mehr von der Welt gesehen haben als nur ihr Dorf und die Finca, wo sie geboren wurden. Und nun kommst du noch dazu, ein Schullehrer und zwei Soldaten, die ebenso denken wie wir. Ihr habt uns gefehlt. jetzt müssen wir nur darüber nachdenken, wie das anfangen und wann. Schade, dass Urbano sich ertränkt hat. Verflucht noch mal, der war ein richtiger Rebell, einer, wie wir sie brauchen. Das hat bis jetzt keiner von uns gewagt, sich an einen Patron heranzumachen und ihm die Augen rauszubohren. Ich weiß nicht, ob ich den Mut dazu aufgebracht hätte. Aber vielleicht doch. Kommt darauf an, ob du genau den Punkt erreicht hast, wo du dir sagst, das war alles, was ich gerade noch ertragen konnte, jetzt aber ist es um einen Hieb zu viel geworden, und nun gehe ich drauf los, ganz gleich, was es mich kostet, nur um endlich ein Ende zu machen.«
Martin Trinidad kaute den Rest seiner Zigarre auf, spuckte ihn aus und erhob sich ächzend aus dem Wasser.
Celso steckte seinen Kopf tief in das Wasser, sprudelte laut, spuckte um sich herum, wischte sich das triefende Wasser aus dem langen Haar und aus dem Gesicht, stand auf, reckte sich, streckte die Arme weit von sich, ließ sie wieder fallen, strampelte noch einige Male im Wasser herum, dann ging er auf das sandige Ufer los. »Ganz schwammig von dem langen Sitzen im Wasser. Aber ich bin sicher, keine einzige Zecke ist mehr am Leben; alle Moskitostiche abgekühlt, und was von der letzten Henkung an Striemen übrig blieb, ist wieder zugewachsen.«
Als beide die Böschung hinaufstrauchelten, flüsterte Martin Trinidad: »Du sagst natürlich niemand etwas von dem, was ich dir erzählt habe, Celso, nicht einmal Andres. Ich habe Juan und Lucio auch nichts erzählt. Nur du weißt es. Lass alle Muchachos hierherum glauben, dass wir drei Landstreicher oder Sträflinge sind, oder was sie sonst denken mögen. Ich wollte nur, dass du wissen sollst, was mit uns los ist und dass wir genau dasselbe denken und wollen, was ihr denkt und wollt. Ihr geht eure Wege und wir unsere, und wir kennen uns nicht. Und wenn es losgeht, weißt du, dass ich die Rückendeckung halte, wenn du die Front hast, und ich die Front nehme, wenn du die Rückendeckung innehast. Und wenn wir drei, Juan, Lucio und ich, so tun, als ob wir die Seite der Patrones nehmen, dann wisse, dass ich die Rückendeckung halte und die Falle aufstelle. Vielleicht dauert es zwei Monate, vielleicht sechs. Aber ich weiß, es wird keine zwölf dauern. Draußen im Lande glimmt es, und überall lecken schon die ersten Flammen hoch. Das war das Wichtigste, was ich dir sagen wollte.
Der Kriegsschrei heißt: Tierra y Libertad! Erde und Freiheit! Oder auch: Abajo la dictadura! Zur Hölle mit der Diktatur!«
»Nicht so laut, Manito,« sagte Celso leise. »Nicht so laut jetzt. Jetzt noch nicht. Doch wenn wir erst einmal aus vollen Kehlen Libertad schreien, dann darf kein einziger Mann uns fehlen.«
Und ebenso leise erwiderte Martin Trinidad: »Wir brauchen nicht Fahnen und keine Standarten. Was wir nur brauchen, ist Mark in den Schwarten. Tierra y Libertad!«
»Tierra y Libertad!« antwortete Celso als Gute-Nacht-Gruß.
Es war am nächsten Abend, als Don Felix zur Hütte der Leute kam. Die Hütte bestand nur aus einem Palmendach, auf Stämmen errichtet. Tische und Bänke hatte dieser Speisesaal nicht. Die Arbeiter hockten auf der Erde und hatten ihre Kaffeekännchen und Essnäpfe zwischen den gekreuzten Beinen stehen. Dass die Obreros, die Arbeiter, vielleicht besser auf Bänken und an Tischen sitzen würden, darüber nachzudenken verschwendeten   die   Patrones   keine Zeit. Wäre ein Zeitungsmann durch Unglück hierher verschlagen worden, was freilich in tausend Jahren nicht vorkam, und hätte er diesen Speisesaal gesehen, in dem die Indianer aßen, die all das schöne Mahagoniholz liefern, das in den Salons und in den Konferenzsälen der Banken so guten Eindruck macht, und würde der Zeitungsmann sich darüber gewundert haben, dass so herrliches Mahagoniholz in Beziehung stehen könnte mit dem Jammer und dem Elend der Männer, die es erzeugten, so würde Don Severo gesagt haben, was alle anderen Caoba-Produzenten vor ihm gesagt hatten: Die? Die verlausten Indianer? Diese Dreckschweine, die so stinken? Die wollen das so haben. Die sind daran gewöhnt, von der nackten Erde zu fressen wie die Schweine. Und Wände braucht der Speisesaal erst recht nicht, weil die Ventilation besser ist, wenn keine Wände da sind.«
Don Felix blickte sich unter den Leuten um und sagte endlich: »Du, Candido, und du, Tomas, und du, Castulo, und du und du«, dabei auf mehrere Burschen deutend, »ihr macht euch auf, jetzt gleich, und rüber auf die andere Seite des Flusses, wo ihr, zwei Meilen abwärts, morgen früh in der neuen Region zu arbeiten beginnt. Hurtig mit eurem Fraß, und eure Packen genommen! Die Canoeführer können euretwegen nicht die ganze Nacht aufbleiben.«
Die aufgerufenen Muchachos schluckten ihr Essen hastig hinunter und trotteten hinüber zu den Schlafhütten, ihre Packen zu ordnen und sich für die Überfahrt zu rüsten.
Candido schickte seine beiden Jungen auf die Suche nach den Schweinen, die hier im Camp frei herumliefen und sich ihr Futter selbst suchen mussten. Don Felix hatte bereits mehrere Male erwähnt, dass er die Schweine, eines nach dem andern, für sich schlachten lassen würde, weil sie sich auf seinem Gelände gemästet hätten und darum sein Eigentum wären.
Modesta half ihrem Bruder, die Packen zu schnüren.
Don Felix schlenderte zur Hütte, wo sich Candido und Modesta befanden.
»He, du, Muchacha!« rief er das Mädchen an, warum bleibst du denn nicht hier im Hauptcamp? Kannst bei mir im Hause arbeiten. Drüben im neuen Campo ist alles Wildnis. Tiger und große Schlangen. Noch nicht eine Hütte gebaut. Müsst heute und morgen im Freien schlafen, oder wenigstens jetzt, noch in der Nacht, Dächer bauen, denn es wird sicher wieder stark regnen. Du bleibst besser hier, Mädchen.«
»Muchas gracias, Patroncito«, antwortete Modesta höflich, »yo prefiero quedar con mi hermanito, ich möchte doch lieber bei meinem Bruder bleiben. Vielen Dank.«
»Wie du willst, Muchacha. Ich wollte dir nur etwas Besseres anbieten. Wenn du dir das morgen überlegst, magst du kommen. Aber lange warte ich nicht.« Don Felix ging zurück zum Bungalow. Als er am Koch vorüberkam, sagte er übel gelaunt. »Wenn man den Drecksäuen etwas Gutes anbietet, dann wollen sie es nicht; sie ziehen vor, in ihrem Schitt zu leben. Nichts Besseres gewöhnt.«
»Es cierto«, bestätigte der Koch, »so ist es.« Er hatte gelernt, dass man es am leichtesten in der Welt hat, wenn man dem, der die Macht besitzt, in allen Dingen recht gibt. Dann kann man nie einen Fehler machen, und man hat immer sein Brot. Er wurde auch nie gehenkt und nie gepeitscht, bekam nur gelegentlich eine saftige Backpfeife von Don Felix aufgeklebt, die er aber hinnahm, als wäre sie eine Freundschaftsgeste.
Celso kam von seiner Arbeit zum Speisesaal. Er sah sich um. Als er Candido nicht fand, ging er in dessen Schlafhütte.
»So, ihr seid vom Patron rübergeschickt, auf die andere Seite?« »Ja«, antwortete Candido müde. »Was können wir dagegen tun.«
»Es ist verflucht wild da drüben. Alles neu. Nichts gereinigt. Werdet die erste Nacht im dicken Gebüsch liegen müssen. Zieht nur die Moskitonetze gut über euch zu. Warte, Modesta, ich werde das zuschnüren.«
Die beiden Jungen brachten die Schweine herbei, die entsetzlich lärmten, weil sie glaubten, ihre Stunde sei nun gekommen, Schinken und geröstete Schwarten zu liefern.
»Ich werde euch rüberhelfen«, sagte Celso.
»Das wird sehr spät für dich werden«, erwiderte Candido. Aber er war doch froh, dass er diese Hilfe bekam.
»Vielleicht komme ich nach der Flößung auch rüber in das neue Camp«, meinte Celso. »Würdest du das nicht gern sehen, wenn ich wieder mit dir im selben Camp wäre? Es war doch so schön hier, wo wir uns beinahe jeden Tag sehen konnten.«
»Gewiss wäre es gut, wenn wir im selben Camp sein könnten. Denkst du nicht auch, Hermanita?« fragte Candido seine Schwester.
Modesta sagte nichts.
Celso nahm sich ein Herz. »Du würdest doch ganz gern sehen, wenn ich auch drüben wäre?«
»Ja. Sehr gern.« Sie sagte es kurz und beugte sich tief über den Packen, in dem sie ihr Kattunkleid, sorgfältig zusammengelegt, in diesem Augenblick tief unter andere Sachen schob, um es trocken zu halten, wenn es während der Überfahrt regnen sollte.
»Das wollte ich hören, Modesta«, sagte Celso und lachte.
Die erste Ladung von Leuten war am andern Ufer angelangt. Und die beiden Canoes, mit denen jene Burschen hinübergebracht worden waren, kamen zurück. Den Fluss abwärts ging es rasch, aber die Canoes wieder stromaufwärts zu bringen, dauerte lange, denn der Fluss befand sich im steten Schwellen und rannte verteufelt rasch und heftig.
Die Canoes, oder wie die Muchachos sie nannten, Cayucos, waren lange, ausgehöhlte Baumstämme, nichts weiter. Nur der Cayuquero, der Canoemann, stand, während alle übrigen, die sich im Canoe befanden, auf dem Boden des Stammes hockten. Der Cayuco schaukelte seitlich unsicher genug, weil er ja die Form als Stamm behalten hatte. Der Cayuquero musste ein sehr geübter und gewandter Bursche sein, ein solch primitives Fahrzeug über einen rasch dahinfließenden und angeschwollenen Strom zu bringen, ohne dass es sich um sich selber rollte und alles, was darin war, ins Wasser schüttete.
Candido, Modesta, die beiden Jungen und Celso warteten am Ufer auf das Zurückkommen des Cayuco, mit dem sie über den Fluss gebracht werden sollten. Die Packen lagen neben ihnen, und die Jungen hielten die Schweine an Lassos fest. Candido und auch Celso, jeder hatte seine Arbeitslaterne brennen, um dem zurückkehrenden Cayuquero die Stelle am Ufer zu zeigen, wo er zu landen habe.
Die Laternen, offene Petroleumfunzeln, rauchten heftig und gaben nur ganz wenig Licht. Es war Vollmond. Aber er kam nicht durch die dicken Wolken. Jetzt rieselte es auch noch in dünnen Strähnen. Kaum zwei Schritte weit konnten die Wartenden vor sich sehen.
Der erste Cayuquero kam plötzlich mit seinem wackeligen Baum aus dem Fluss hervorgeschossen, unerwartet wie ein Geist.
Candido sprang hinein und rief Celso und den Jungen zu, die Packen herüberzuwerfen.
Da kommandierte der Cayuquero: »Ihr geht nicht in diesen Cayuco. Ihr fahrt mit Felipe, der gleich kommt. Er ist dicht hinter mir. Er ist zwar mächtig angepfeffert und ziemlich schief auf den Beinen, aber er fährt den Cayuco rüber im Schlaf und mit beiden Augen zugebunden. Viel besser als ich. Ich habe hier zwei andere Muchachos zu fahren und muss mein Canoe auch noch voll packen mit Äxten, mit verfluchtem Geschirr, mit Schleifsteinen, und was weiß ich, was mir El Faldon noch sonst alles aufladet. Ola, da kommt ja Felipe schon angesaust wie der Satan hinterm Pfaffen.«
Felipe war bei weitem mehr angesoffen, als Celso nach der Rede des ersten Cayuqueros vermutet hatte. Er torkelte im Canoe herum, bald nach rechts, bald nach links, und konnte es nicht einmal dann ruhig halten, als der Schnabel bereits im Sande steckte.
»Por Dios!« rief er. »Was für ein gottverfluchtes Wetter! Oben nass und unten nass und keinen Faden trocken.« Er hatte einen kleinen Jungen mit sich, dessen Aufgabe es war, beim Anlegen aus dem Cayuco zu springen und es auf den Sand zu ziehen. »Renne rauf und bringe mir die Flasche«, rief er ihm zu. »Ich muss mir einen heftigen einschwenken, oder ich erfriere hier.«
»Du willst uns doch nicht etwa, besoffen wie du bist, rüberfahren?« fragte Celso. »Du kannst ja nicht mal auf den Beinen stehen.«
»Wer ist besoffen? Und du, ein dreckiger Chamula, willst auch noch einem alten Cayuquero sagen, dass er besoffen ist? Besoffen, ich? Wer fährt denn hier Cayucos, du oder ich?«
Candido nahm allen seinen Mut zusammen. Er sagte zu Celso: »Warte hier, ich gehe zum Patron und frage ihn, ob wir nicht mit dem andern Cayuco fahren dürfen.«
»Ihr fahrt mit dem Cayuco, den ich für euch bestimmt habe«, herrschte Don Felix Candido an, als er demütig an der Tür des Bungalow stand und erklärte, Felipe sei so besoffen, dass er sich kaum auf den Füßen halten könne.«Wer gibt denn hier Befehle, Chamula?«
»Usted, Patroncito!« »Hab nur keine Angst, der Felipe kann noch so besoffen sein, er ist der beste Cayuquero, den wir hier haben. Der andere, Pablo, säuft nicht so sehr; aber er kennt den Rio nicht halb so gut wie Felipe.«
»Patroncito, mit Ihrer Erlaubnis, können wir nicht morgen früh übersetzen?« Candido versuchte es noch einmal, die Fahrt mit Felipe zu vermeiden.
»Geht nicht. Verlieren wir einen halben Tag Arbeit. Du fährst jetzt und Schluss damit. Pablo hat die Geschirre und Äxte und andere Muchachos rüber zu bringen. Wozu schleppst du denn ein ganzes Dorf mit dir herum? Das ist es ja eben, dass ich für dich einen ganzen Cayuco allein gebrauche. Los jetzt und raus! Ich bin morgen früh drüben. Komm her, hier, nimm einen tüchtigen Schluck.«
Candido nahm das Glas und kippte es hinunter. Es tat ihm wohl im Magen. Er sagte: »Gracias!« Dann: »Con su permiso!« und ging. »Nichts zu machen, Celso«, sagte er, als er am Ufer ankam.
»Wusste ich vorher. Setz dich hinten rein. Alles schwimmt hier drin herum. Die Jungen haben geschöpft, aber wie soll es trocken werden, wenn es ewig regnet.« Celso hatte alles Gepäck im Cayuco verstaut. Modesta saß in der Mitte, die Jungen ihr nahe. Sie hielten die Schweine an den Lassos fest.
Modesta hielt den Packen, der ihr Kleid und ihre paar Stückchen Wäsche enthielt, auf ihrem Schoß.
Candido stieg ein, kletterte über die Packen und Schweine hinweg und hockte sich hinten auf den Boden des Stammes. Er hielt seine Laterne hoch. Nahe seinen Füßen stand Felipe, die lange Ruderstange in der Hand haltend. Er war übelgelaunt, einmal, weil der Junge mit der Flasche hingefallen war und von dem Viertel, das drin war, beinah die Hälfte verschüttet hatte, und zum andern, weil das Verladen ihm zu lange dauerte. Es war die letzte Fahrt für heute, und er wollte sie schnell zu Ende haben. Bei jedem Packen, den Celso einlud, und bei jedem Schwein, das in den Cayuco kam, grölte er, dass er nicht darum Cayuquero sei, um Schweine zu fahren, und was das überhaupt für eine Wirtschaft sei, dass ein Obrero hier seine ganze Familie, Schweine, Kühe, Hühner, Kinder und Weiber mit sich schleppe.
Celso gab dem Cayuco-Jungen seine Laterne. »Spring du nur schon hinein, ich werde abstoßen. Für dich ist es zu schwer mit der Ladung.«
Celso stemmte sich mit seinen Schultern gegen den Cayuco und schob ihn, auf dem nassen Sand hingleitend, in das Wasser. Felipe schlang seinen Arm um die lange Stange, setzte an, und während Celso mit einem Satz in den Cayuco sprang, flitschte das primitive Fahrzeug hinaus in die gurgelnde Finsternis.
Felipe brauchte nur hier und da ein wenig mit der Stange in den Grund zu spießen, um den Cayuco in der Mitte des Stromes zu halten.
Plötzlich jedoch und augenscheinlich ohne zwingenden Grund stieß er den Cayuco mitten in die heftigste Strömung, so dass er dahinschoß gleich einem Motorrennboot. Die gewöhnliche Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde; er gedachte offenbar zu beweisen, dass man die Fahrt auch gut in zehn Minuten machen könne.
Aber das Canoe war viel schneller, als dass er mit seiner schweren Stange den Bug in der Längsströmung hätte halten können. Die rasende Fahrt währte nur drei Minuten, da schoss der Bug, gegen Geröll anprallend, herum. Dicht zur Seite des flachen Gerölls war die Strömung eingeengt durch die steinige Stromschnelle, doppelt so heftig als vor dem Geröll. Und so, während der Stern des langen Canoes, das Hinterteil, noch über das Geröll schrammte, stieß die heftige Strömung, die am Rande des Gerölls mit doppelter Kraft dahinschoß, den Bug rascher herum, als die flache Bank dem Stern zu folgen gestattete.
Mit einer ungemein geschickten Bewegung der Stange vermochte Felipe den Stern von der Geröllbank abzuheben. Aber er tat es, infolge seiner Trunkenheit in seinem Urteil getrübt mit mehr Kraft als nötig war. Darum schoss der Stern um die Hälfte weiter nach links, als gut war, um ihn in dieselbe Richtung zu bringen, die der Bug, vom Strom erfasst bereits angenommen hatte.
Felipe, als erfahrener Cayuquero, sah voraus, was nun unvermeidlich folgen musste. Sofort warf er die Stange hinüber nach Backbord, um den Stern wieder in die Strömung zu bringen. Aber er erreichte den Boden eine Viertelsekunde zu spät. Der Stern kam nicht rechtzeitig herum; die heftig fallende Strömung schlug hoch gegen die Breitseite des Canoes und füllte das Fahrzeug bis an den Rand mit Wasser. Felipe, nicht fest auf den Beinen, schwankte und fiel über Bord. Unglücklicherweise stieß das quirlende Canoe nun auch noch gegen einen mächtigen Urwaldbaum, der sich kreuz und quer im Fluss tummelte, und kugelte nun herum.
Felipe konnte zwar schwimmen. Aber er war lediglich auf sich bedacht. Schrie: »A la orilla! Zum Ufer!«
Candido, Celso, Modesta, die Jungen und die Schweine, alle schrieen, und alle strampelten im Wasser. Die dicke Finsternis ließ nicht genau erkennen, wo das Ufer war. Aber sowohl Candido als auch Celso hatten, als ihre Laternen noch schwelten, bemerkt, dass sie näher dem rechten als dem linken Ufer waren.
Als Candido seinen Mund genügend über Wasser bringen konnte, rief er seine Jungen. Der Kleinste antwortete ihm dicht an seiner Seite, und Candido konnte ihn am Hemd fassen.
Celso rief nach Modesta und Candido. Er haschte Modesta an ihrem Rock, und zerrte sie hinter sich her, Candido zurufend: »A la derecha! Zum rechten Ufer!«
Die Gegend, wo Candido und Celso her waren, bot wenig Gelegenheit, um schwimmen zu lernen.
Es gab dort weder Seen noch tiefe Flüsse. Aber ein Indianer, stets sehr leicht gekleidet, wenn er in tiefes Wasser fällt, plätschert sich heraus wie die Hunde es tun, denen er diese Art des Schwimmens abgelernt hat.
Sie erreichten das Ufer, jeder freilich an einer anderen Stelle. Durch lautes Rufen fanden sie sich zusammen. Auch Felipe kam endlich an. Da er nun so ziemlich nüchtern geworden war, verstand er nicht wie das geschehen konnte.
»Bei der Heiligen Jungfrau«, rief er immer wieder aus, »das ist mir in meinem ganzen Leben nicht geschehen. Ich habe zwar hin und wieder einmal einen gottverfluchten Cayuco umgeschmissen, aber das war an den langen Fällen, niemals hier. Der Teufel muss dahinter gesteckt haben. Oder einer von euch gottverdammten Chamulas hat mir etwas Böses angehext.«
Sie waren nun alle versammelt. Selbst die vier Schweine waren hier, alle noch ihren Lasso an dem Hinterbein nachschleifend. Auch das Hündchen, das Candido von seinem Dorfe her gefolgt war, bellte herum und schüttelte sich vergnügt das Wasser aus dem Pelz.
Freilich, die Packen waren verloren.
Modesta, ihren Wollrock auswringend, sah sich plötzlich um und fragte: Celso, hast du Angelito bei dir? Unsern kleinen Angelo?« »No, ich habe ihn nicht hier. Ist er denn nicht bei Candido?«
Candido antwortete aufgeregt: »Ich glaubte, er ist mir dir, Modesta, oder mit Celso.«
Sofort begannen sie alle zu schreien: »Angelito! Angelito! Donde estas? Wo bist du? Angelito!«
Vom Fluss her kam nur das Gurgeln und Quirlen des sich überstolpernden Wassers.
Als Felipe nicht zurückkehrte zum Camp, wusste Don Felix, dass etwas geschehen sein musste. Er sandte am frühen Morgen Pablo mit dem Cayuco aus. Pablo fand die Schiffbrüchigen am Ufer, lud sie auf und brachte sie zum neuen Camp, wo einige Muchachos bereits begonnen hatten, neue Hütten zu errichten.
Celso fuhr mit Pablo zurück zum Hauptcamp, wo ihn Don Felix empfing.
»Was hattest denn du da drüben zu suchen? Nun kommst du an, einen halben Tag verloren. Dich habe ich nicht in das neue
Camp geschickt.«
»Ich half Candido, seiner Packen wegen, Patroncito, weil er die Familie hat.«
»Und hier hast du deine Arbeit und die wird nicht gemacht. Candido ist doch groß genug, allein die paar Schritte in das neue Camp zu gehen.«
»Er hat auch noch seinen kleinen Jungen verloren«, sagte Celso.
»Hätte er besser aufpassen sollen. Und überhaupt, niemand hat ihm angeordnet, seine Kinder hierher mitzubringen. Sind zu nichts zu gebrauchen. Los, an deine Arbeit! Und du machst deine vier Tonnen wie gewöhnlich. Wenn du spazieren fährst -dafür bezahle ich nicht. Ich bezahle nur, was du schaffst. Und was du zu schaffen hast, das sind vier Tonnen.«
»Si, Patroncito.«
Don Felix setzte sich nieder zum Frühstück und sagte zu den beiden Capataces, die mit am Tische saßen. »Da war ich doch wieder einmal im Recht, dass ich Pablo mit den Geschirren und den Äxten rübergeschickt habe. Wäre es der versoffene Coyote, der Felipe, gewesen, dann lägen unsere Geschirre und Äxte jetzt im Fluss. Hundertfünfzig Pesos. Das hätte uns gerade noch gefehlt. Wo ist denn das versoffene Schwein, der Felipe?«
Einer der Capataces antwortete ihm: »Der ist mit Pablo losgefahren, seinen Cayuco zu fischen.«
»Da werden sie drei Wochen fischen, und dann werden sie ihn immer noch nicht geangelt haben.«
Candido arbeitete, aß, legte sich zum Schlaf nieder, stand auf, ging an seine Arbeit aß, legte sich abermals nieder, stand wieder auf, fällte seine Bäume, kam zu den Hütten, hockte sich nieder und stierte vor sich hin.
Er sprach kaum.
Jeden Morgen und jeden Abend ging er zum Ufer hinunter und blickte den strömenden Wassern nach, die seinen Angelito hinweggeschwemmt hatten. Und immer, wenn er von der Arbeit zurückkam, sah er sich in der Hütte um und sah Modesta an, ohne zu sprechen. Modesta wusste, was er zu finden hoffte, wenn immer er in die Hütte trat, müde und ausgegeben von der harten Arbeit.
Vier Tage vergingen so. Da sagte er am Abend leise zu Modesta: »Schwesterchen, am Ufer ist Pablos Cayuco angelegt. Wenn es tiefe Nacht ist, werden wir fahren.«
»Wohin fahren, Bruder?« fragte sie in einem Tone, als ob sie an der Gesundheit seiner Sinne zweifelte.
»Ich kann hier nicht mehr bleiben. Sie haben meinen kleinen Angelino ermordet. Wir gehen zurück. Ich habe Heimweh, Modesta. Nach meinem Feld, meinem Mais, meinem Hause, das ich baute. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss heim.« Er sagte es, als habe er es in den vergangenen Tagen tausendmal zu sich gesagt, ewig wiederholend, ohne je den Gedanken zu ändern.
»Nehmen wir die Schweine mit, Bruder?«
»Freilich. Was denkst du dir, Hermanita? Wie kann ich denn die Schweinchen hier zurücklassen? Die haben auch Heimweh, wie das Hündchen. Auch du hast Heimweh, ich weiß es.«
»Und Celso?« fragte sie.
»Celso weiß, wo ich daheim bin, und wo er dich findet. Er hat mir gesagt, aber ich sollte es dir nicht wiedererzählen, dass, wenn das Mädchen, das ihm versprochen war, einen anderen Mann genommen hat wie er glaubt, dass er dann gern möchte, dass du ihn nimmst. Er kommt uns nach, Schwesterchen.«
»Sie werden uns wieder einfangen.«
»Vielleicht«, sagte Candido. »Aber ich kann hier nicht bleiben. Ich muss gehen. Und wenn sie mich fangen, ich werde immer wieder gehen, immer wieder. Ich kann nicht mehr hier bleiben. Hier haben sie meinen Angelino ermordet, meinen
Erstgeborenen.«
»Er fiel ins Wasser, Bruder.«
»Ja. Aber es war nicht der Wille der Madre Santisima. Es war der Wille des Patrons, dieses Teufels. Warum ließ er uns nicht am Tage fahren? Warum ließ er uns nicht mit Pablo fahren? Weil er die Jungen hasste und sie töten wollte. Ich weiß es. Er hat mir hundertmal gesagt dass sie arbeiten sollten oder sonst kein Recht hätten, hier mit mir zu sein, die Kinder der Marcelina, die vom Doktor ermordet wurde, weil ich nicht gleich das Geld hatte.«
»Wie du befiehlst Bruder. Wir gehen.«
»Warte, bis alle Muchachos schlafen. Treibe mit Pedrito die Schweine schon jetzt hinunter. Die Muchachos denken, dass wir ihnen nur Wasser geben wollen.«
In derselben Nacht fuhren Candido, Modesta, der kleine Pedro, die Schweine und das Hündchen ab.
Es hatte die beiden letzten Tage nur wenig geregnet. Der Fluss war gesunken und seine Strömung leicht. Später in der Nacht kam der abnehmende Mond herauf. Wolken zogen nur vereinzelt über den Himmel hin, und es war Licht auf dem Flusse. Die Stange zum Lenken des Cayucos hatte Pablo mit sich hinauf in die Hütte genommen, in der er mit dem Capataz und dem Koch schlief. Candido wusste, dass er mit der ungelenken Stange das Canoe nicht hätte führen können. In langer Übung musste das gelernt sein. Er hatte darum am Nachmittag drei kurze Pfähle zugehackt, von denen der eine breit und schwartig war, um wie ein Paddel gebraucht zu werden. Die Pfähle, nur acht Fuß lang und nicht, sehr dick, waren leicht zu handhaben in der Weise, wie er sich das gedacht hatte. Er ging mit dem Cayuco nicht weit in den Strom hinaus, sondern hielt sich dicht an den Ufern, wo er mit den kurzen Pfählen immer Grund fand und das Canoe führen konnte, wie er es sich gedacht hatte.
Mit wenig Mühe glitten sie den Flug hinunter. Viertelstundenlang beleuchtete der Mond ihren Weg; an beiden Ufern bauten sich die dichten, dunklen Wände des Dschungels auf. Von den Ufern her kam das Singen und Zirpen, das die Nacht belebte. Pedrito schlief mit dem Kopf im Schoß der Modesta.
Gegen ihren Rücken drängte sich der warme Körper eines der Schweine.
»Bruder«, sagte Modesta halblaut zu Candido, »wie lange werden wir mit dem Cayuco reisen?«
»Ich weiß das selbst nicht, Schwesterchen. Weiter unten am Fluss kommen die hohen Fälle. Da müssen wir beide den Cayuco aus dem Wasser zerren und an den Fällen vorbeischleppen. Dann kommen wieder Fälle, wo wir der Felsen wegen den Cayuco nicht schleppen können. Von dort müssen wir wandern nach Sonnenuntergang zu, um heimzukommen. Alles das hat mir ein Muchacho erklärt, der den Fluss kennt, weil er im vorigen Jahr mit den Flößern gearbeitet hat.«
»Weißt du, Bruder, was ich nicht verstehe? Wenn das so leicht ist mit einem Cayuco zu entfliehen, warum bleiben die Muchachos alle in der Monteria?«
»Weil sie keinen Cayuco haben, oder weil sie Furcht vor dem Fluss haben, oder weil sie glauben, sie können kein Canoe fahren.«
»Vielleicht ist das so, Bruder«, sagte Modesta. Aber was sie wirklich dachte, sagte sie nicht.
Am Morgen rief Don Felix El Chapapote und El Guapo: »Schluckt euren Kaffee runter, und dann etwas Feuer dahinter! Ihr geht rüber in Las Champas, in das neue Camp. Nehmt die Gäule mit. Reitet die Region ab, kreuzt die Stämme an und zählt sie mir aus, wie viel wir da drüben haben. So ungefähr. Felipe fährt euch rüber.«
Die Aufseher nahmen ihre Sättel und Packen und luden sie in den Cayuco. El Guapo nahm seine Schrotkanone mit sich, denn er sagte, es gäbe im neuen Camp sicher etwas Gutes zu jagen, weil da nie geschlagen worden sei. So lange die Muchachos nicht tief im Dschungel drin seien, und mit ihrem Jagen und Schreien alle Antilopen und Tabalis verscheuchten, sei da eine gute Beute, die sie wohl brauchen könnten, denn das Futter finge an, gottverflucht knapp und langweilig zu werden, weil der gottverdammte Heide von einem Türken mit seinem faulen Kramladen nicht durchkomme. Er, der Türke, werde vielleicht auch ein paar alte Schrullen mitbringen. Wenn sie auch verhurt seien, so sei es doch etwas Neues.
Es waren vergnügliche Erzählungen, mit denen sich beide unterhielten, als sie in dem Cayuco hinfuhren. Ihre Pferde, abgesattelt, schwammen an langen Lassos gehalten hinterher, an jeder Seite des Cayucos eines.
Einige fünfzig Meter vom Landeplatz des neuen Campo entfernt, sahen sie Pablo hin und her schwirren, schimpfend und mit den Armen um sich fuchtelnd. »Mein Cayuco ist gestohlen! Verflucht, wer hat meinen Cayuco gestohlen? Wenn ich den Hund kriege, ich schlage ihn zu Brei. Mein Cayuco ist fort.«
Felipe stieß sein Canoe in den Sand und sagte: »Du hast ihn nicht raufgezogen, deinen Cayuco, und er ist in der Nacht fortgeschwemmt. Deine Schuld!«
»Meine Schuld? Rede keinen Unsinn, wenn du nichts weißt. Hier siehst du, wo es in der Nacht festlag. Kannst es im Sande sehen. Das Wasser ist niedrig, wie kann denn das gottverfluchte Stück von einem verhurten Cayuco allein fortschwimmen.« Darauf, sich an die beiden Capataces wendend, rief er: »Und, verflucht noch mal, ich weiß auch, wer es hat. Der Chamula, der hier ist mit seiner ganzen verlausten Familie und dazu auch noch eine Herde Schweine hat, der ist damit abgefahren.«
»Rede keinen Kehricht«, erwiderte El Chapapote. »Wie kann denn der Chamula mit deinem dreckigen Cayuco absausen. Er weiß ja nicht einmal, wie Wasser inwendig aussieht.«
»So, wenn du das besser weißt, dann suche dir doch einmal den Chamula und seine Mula. Wo sind sie denn? Hier im Campo sind sie nicht, und nicht vor den Bäumen. Auch der Junge ist nicht da, auch nicht seine Schweine. Hat alles mitgenommen. Suche ihn dir nur. Wenn du ihn am Kragen hast, wirst du auch meinen Cayuco nahebei sehen.«
Die beiden Capataces kletterten am Ufer hoch, ihre Pferde nach sich zerrend. Oben trafen sie El Faldon. »Richtig!« sagte der. »Der Chamula ist abgereist, mit dem Dampfschiff. Und ohne gültige Fahrkarten. Glaube es oder glaube es nicht. Aber er ist fort. Und ihr kommt gerade zur Zeit, ihn zu holen.«
»Da bleibt uns also nichts anderes übrig.« El Chapapote stieß seinen Genossen an. »Was sagst du, Guapo? Hinter ihnen her! Wir können später die Bäume auszählen gehen. Wollen erst was in den Magen keilen. Ist der elende Hundefraß nun fertig, oder wann?«
»Heben wir erst einmal einen, damit die Bohnen besser geschmiert sind.« El Faldon zog eine Flasche hervor, und alle nippten einen guten Lutscher, um den schönen Morgen zu feiern.
»Du kommst hinter uns her mit deinem Cayuco, Felipe«, sagte El Chapapote. »Ich und El Guapo, wir reiten am rechten Ufer runter.«
»So geht das nicht«, meinte Felipe. »Mit dem Cayuco holen wir sie nie ein. Die sind eine ganze Nacht voraus. Mein Cayuco ist doch kein Kanonenboot. Ihr reitet viel schneller, als ich mit dem Cayuco folgen kann. Der Fluss macht lange und unzählige Windungen. Alle diese Windungen könnt ihr leicht abschneiden und kommt dem Chamula weit voraus. Er versteht gar nicht, mit dem Cayuco umzugehen. Das Ding rennt ihm sicher alle zehn Minuten auf einer Geröllbank oder an flachen Stellen im Sande fest. Und überhaupt, ich kann mit meinem Cayuco gar nicht den
Fluss runterfahren. Ich muss zurück zu Felixchen. Er will den Fluss rauf rudern, sich die Abschwemmen ansehen.«
Das war richtig. Don Felix hatte Felipe den Befehl gegeben, mit dem Cayuco sofort zurückzukommen.
Aber in einem solchen Falle, wenn Flüchtlinge eingeholt werden sollten, hätte Felipe schon einmal gegen den Befehl handeln können. Sein wirklicher Grund, nicht mit dem Cayuco zu fahren, war, dass er fürchtete, Candido im Fluss zu treffen, während die Capataces zu weit waren, ihm beizustehen.
Candido, wie jeder andere Flüchtling, würde nicht zögern, ihn zu erschlagen, um nicht gefangen zu werden.
Für die Flucht des Candido war es günstig gewesen, dass in den letzten drei Tagen kein Regen gefallen war. Dadurch war der Fluss weniger reißend und weniger tief. In einem reißenden Fluss wäre Candido, unerfahren im Lenken eines Cayucos wie er war, nicht weit gekommen. Aber so günstig wie das Fehlen des Regens für Candido war, so günstig war es nun auch für seine Verfolger.
Hätte es in dieser Woche so schwer und anhaltend geregnet, wie es gewöhnlich in dieser Zeit geschah, dann wären alle Pfade im Dschungel versumpft gewesen. Die Pferde wären an vielen Stellen nicht nur bis zu den Knien, sondern gleich bis zum Sattel eingesunken; lange Strecken hätten die Verfolger zu Fuß gehen und die Tiere nachziehen müssen, weil das Gewicht auf dem Rücken der Pferde sie zu tief in den Schlamm sinken ließ und sie sich nicht herausarbeiten konnten. Weite Umwege wären nötig gewesen, um den überschwemmten Ufern und den weiten Sümpfen nahe des Flusses auszuweichen. Die Hälfte der Windungen des Flusses hätten nicht abgeschnitten werden können.
Nun aber war der Boden, wenn auch nicht frei vom Morast, doch an seiner Oberfläche genügend verkrustet, so dass die beiden Capataces auf langen Strecken ziemlich rasch dahinreiten konnten. Sie wussten, wo Candido den allgemeinen Pfad früher oder später erreichen musste, um die Seen und Sümpfe zu umgehen und die Furten in den Flüssen aufzusuchen. Die Verfolger brauchten an diesen Einmündungsstellen in den Reisepfad der Karawanen nur zu warten, bis er ankam. Alles das waren Dinge, die Candido nicht kannte. Und alle diese Dinge waren es, die eine Flucht aus den Monterias so hoffnungslos machten.
Es fehlten noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang, als El Guapo sagte: »Hier ist ein Bach und ein schattiger Baum und hier könnten wir von der erhöhten Böschung den Fluss übersehen. Lag uns hier eine halbe Stunde rasten, unsern Posol anrühren und eine Zigarre drehen.«
»Ist auch gut für die Caballos«, erwiderte El Chapapote. »Die Pferde müssen mal zu Atem kommen.«
El Chapapote hatte den Necknamen Pech deshalb, weil die Haut seines Gesichtes und seines Körpers große schmutzige, wie graues Pech aussehende Flecken aufwies, wodurch sich seine Herkunft aus den Küstengebieten am Pazifischen Ozean im südlichen Mexiko verriet.
Beide rührten noch mit dem Zeigefinger den Posol in den Fruchtschalen um, als plötzlich El Guapo, den Fluss hinaufblickend, ausrief: »Caray, ya viene la Familia Santa! Da kommt ja die Heilige Familie auf dem Ozeandampfer angefahren!«
In der Tat, der Cayuco kam langsam den Fluss heruntergeglitten; der Bug, unsicher geleitet, schwänzelte im Wasser hin und her, als wäre der Steuermann nicht sicher, wohin er mit seinem Schifflein zu fahren wünsche.
Candido, Modesta und der Junge saßen auf dem Boden des Fahrzeuges. Nur wenig mehr als Kopf und Hals der drei lugten über dem steilen Rand des Cayucos hervor.
El Chapapote und El Guapo setzten ihre Schalen auf den
Boden, vorsichtig genug, dass ihnen vom Inhalt nichts verloren gehe. El Guapo nahm die Schrotbüchse vom Sattel. El Chapapote zerrte seinen Revolver aus dem Halfter und spannte den Hahn. Aus irgendeinem Grunde wieherte eines der beiden Pferde, das mit den Füßen im Bach stand, der hier in den Fluss einmündete.
Im selben Augenblick bemerkten die Insassen des Cayucos die beiden Capataces. Candido wollte nun rasch den Cayuco herumreißen und zum gegenüberliegenden Ufer lenken. Aber die Rinne des Flusses, vertieft durch den einmündenden Bach, lag näher dem Ufer, wo die beiden Reiter standen.
Noch ehe das Canoe in gleicher Höhe mit den Verfolgern war, schrie El Guapo: »Bring den Cayuco hier heran, Chamula, oder ich schieße!«
Ob Candido es versuchte und ihm das Steuern nicht glückte, oder ob die Strömung es ihm nicht erlaubte, konnten die Verfolger nicht wissen: das Canoe kam nicht näher, sondern glitt weiter in den Fluss hinaus.
El Guapo schoss seinen Schrot ab. Er hatte den Schuss vor den Bug richten wollen, als Warnungsschuss. Aber der größere Teil der Ladung traf den Cayuco.
Pedrito winselte gleich darauf kläglich, dass er getroffen sei. Er stand halb auf und ließ den linken Arm gleich einer Flosse herunterhängen.
Nun schoss auch El Chapapote seinen Revolver ab, und El Guapo schob eine neue Patrone mit schwerem Löwenschrot in den Lauf. Er richtete die Flinte wieder auf den Cayuco und rief: »Komm heran, Chamula, oder ich schieße euch alle in Fetzen!«
El Guapo lief die paar Schritte der Böschung hinunter und stand mit den Füßen weit im Wasser, den gespannten Revolver auf den Cayuco richtend.
Der blutende Arm seines Jungen nahm Candido allen Mut einen letzten verzweifelten Versuch zu machen, seine Fahrt fortzusetzen. Er rief: »Vengo. No mas balazos, Jefecitos, per la Virgencita! Ich komme schon. Keine Schüsse mehr, um der Heiligen Jungfrau willen!«
Es gelang ihm, den Cayuco auf eine Sandbank im Fluss zu lenken, wo sich das Fahrzeug festrannte.
Er stieg aus, hob den Jungen heraus, und dann kam er, mit dem Jungen auf dem Arm, gefolgt von Modesta, bis an die Hüften im Wasser watend, auf das Ufer zu. Seine vier Schweine trippelten grunzend hinter ihm her, und am Ufer angelangt, pflügten ihre Schnauzen sofort den Boden auf, während das Bastardhündchen, nachdem es sich das Wasser aus dem Fell geschüttelt hatte, fröhlich und spielend um die Gruppe herumsprang.
»Nicht nur ausrücken wolltest du, Chamula, du hast auch noch den Cayuco stehlen wollen!« gellte Den Felix den Candido an, als er zur Verurteilung vor ihn gebracht wurde. Don Felix hatte befohlen, dass Candido, sein Junge, seine Schwester und alles, was er habe, zum Hauptcamp gebracht werden sollten, damit er einmal selbst an einem Beispiel zeigen könne, wie Kontraktbrüchige zu bestrafen seien.
»Das wird nun schon hier eine ständige Gewohnheit, das Ausrücken und dann noch Widersetzen«, brüllte er erbost auf Candido los, der demütig vor ihm stand. »Rebellion und Meuterei hier in der Monteria? Ist das so?« schrie er.
Nahe bei ihm standen vier Capataces. Aus den Hütten kamen die Handwerker hervor, und in den Türen der Branntweinschenken standen Burschen und Weiber. Aber niemand wagte sich heran.
»Und du, mein Hürchen, du wolltest mir auch entwischen?« Den Felix trat näher an Modesta heran, ihr Kinn hochreißend. »Du entgehst mir nun nicht mehr. Ich brauche etwas Junges und Grünes.«
»Perdonemos, Patroncito, per Dies Santo!« flehte Candido.
»Vergib uns, Väterchen, wir werden es gewiss nicht wieder tun. Ich hatte so viele Heimweh, meines lieben Jungen wegen, der tot im Fluss ist, wo er sich gerettet haben mag. Aber ich fand ihn nicht. Vergib uns, liebes Väterchen!«
Pedrito, der Junge, seinen Arm mit einem Fetzen verbunden, den sich Modesta abgerissen hatte, begann zu weinen, als er seinen Vater zum Herrn flehen hörte. Er kniete nieder und hob seine Hände hoch, sie flach gegeneinander pressend, so wie er von seiner Mutter gelernt hatte, in der Kirche vor dem Muttergottesbilde zu beten. »Vergib uns, liebes süßes Herrchen, wir werden es gewiss und wahrhaftig nie wieder tun. Wir waren nur so sehr traurig, meines armen Brüderchens willen.« Er verwirrte sich in den Worten, und sprach teils in seinem heimatlichen Tsotsil, und teils in einem ungelenken Spanisch.
»Halt deine Fresse, Chamaco!« sagte Den Felix und hieb ihm mit der Peitsche, die er bis jetzt mit der rechten Hand in die Hüfte gestemmt gehalten hatte, quer über das Gesicht so heftig, dass sich über das Gesicht ein dicker Blutstreifen bildete.
Candido, seinen Kopf schüttelnd, als könne er einen auf ihn zueilenden Schrecken nicht erfassen, kniete und hob seine Hände betend auf, wie es Pedrito getan hatte. Er dachte nicht mehr an sich. Er dachte nur daran, seinen Jungen zu schützen.
Nun sank auch Modesta auf die Knie. Sie neigte ihren Kopf tief und bewegte in der Höhe ihrer Stirn die lang und flach aufeinander gepressten Hände auf und nieder, als bete sie, ohne laut zu sprechen, mit aller Inbrunst vor der Figur eines Heiligen. Endlich schien sie Worte gefunden zu haben; denn sie begann zu murmeln: »Misericordia, Patroncito!« Sie sprach aber so leise, dass wohl nur Candido es vernahm.
Sie war barfuss und hatte sonst nichts an ihrem Körper, als einen heimgewebten Rock aus schwarzer roher Wolle. Ihre Beine waren nackt bis zu den Knien hinauf, und ihre Anne bis über die Ellenbogen.
Aber sie kauerte jetzt so in sich zusammen, in ihrer Demut und in ihrem Flehen und Erbarmen, dass nur ihr Kopf mit dem langen und zerzausten schwarzen Haar aus dem zerlöcherten Wollhaufen vorlugte.
»Auch noch Vergebung wollt ihr, ihr verlausten Drecksäue?« rief Don Felix und riss Candido einen heftigen Hieb über, der ihn aber nur auf den tiefgebeugten Rücken traf.
Candido nahm es hin, ohne zu zucken. Er erwartete die weiteren Schläge.
»Jeden Tag Meuterei hier, jeden Tag Rebellion!« Don Felix brüllte sich in Wut. Er versetzte Candido einen zweiten heftigen Hieb. »Frecher alle Tage. Rebellenlieder hinter mir hersingen in der Nacht. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Noch bin ich der Herr hier. Und ich bleibe es auch, wenn ich dabei verrecken und meinen eigenen Schitt fressen muss. Ich bin der Herr. Und euch verlausten Schweinen werde ich beibringen, ob ihr hier weglaufen könnt wann es euch gefällt. Mir läuft keiner mehr weg, das schwöre ich euch bei Todes Los Santos.«
Er sah sich um und suchte unter den Capataces: »He, Gusano!«
»A sus ordenes, Jefe!« El Gusano kam mit langem Schritt angesprungen.
»Zieh dein Messer!«
El Gusano trug in einer rohledernen Scheide an seinem Gürtel ein starkes Weidmesser. Mit einem Ruck hatte er es in der Hand.
»Schneide dem Hund von einem Chamula die Ohren ab!« kommandierte er.
Forschend und zögernd sah El Gusano Don Felix ins Gesicht.
»Hörst du denn nicht du Coyote, wenn ich dir etwas befehle, oder soll ich dich zuerst vornehmen!«
Don Felix warf seine Hand mit der Peitsche hoch in die Luft. El Gusano sprang auf Candido los und gleich darauf schleuderte er dessen Ohren mit einer Geste des Ekels weit von sich.
Candido, immer noch auf den Knien und tief gebückt, wehrte sich nicht. Als ihm das dicke Blut am Halse hinunter lief, bewegte er nur den Kopf, um zu vermeiden, dass er das Blut schlucke.
»Warum frisst du denn deine eigene Jauche nicht?« rief Don Felix.
Er stieß Candido heftig mit dem Fuße, so dass der auf seinen Knien umkippte. Langsam richtete er sich wieder auf und versuchte, ein Stück zurückzukriechen.
»Gusano!« rief Don Felix wieder. »Wo bist du denn?«
»Aqui, Jefe, a sus ordenes.« El Gusano kam näher und trat an die Seite seines Herrn.
»Kannst wohl dein Messer nicht schnell genug wieder einstecken?« fuhr ihn Don Felix an.
»Auch, dem Jungen die Ohren runter!« kommandierte er kurz. »Ich will doch sehen, ob ich hier nicht wieder Ordnung und Ruhe in das Camp bringen kann. Vorwärts, los, schneide dem Bastard seine langen Löffel runter, zum Andenken.«
Wie ein Tiger sprang da Candido auf und presste seinen Jungen in die Arme.
»Gehst du Dreckhund auf deine Knie runter«, heulte Don Felix, »oder soll ich dem Jungen auch noch die Nase abschneiden und die Finger abhacken lassen. Das wird wohl endlich einmal helfen.«
Candido hielt seinen Jungen noch immer umschlungen. »Patroncito, Jefecito, por la Santisima, nicht meinem Jungen, schneiden Sie mir Nase und Hände ab, nicht meinem kleinen Jungen.«
»Deine Hände? Das würde dir gefallen? Dich hinsetzen und andere arbeiten lassen? Deine Krallen brauche ich, aber nicht die Ohren deines Hurensohnes. Los, Gusano, oder weiß Gott im
Himmel, ich lasse dir deine Lappen auch noch runterfetzen!«
El Gusano stieß Candido mit aller Macht seine Stiefel in den Magen, so dass der Indianer hinstürzte und seinen Jungen für eine Sekunde losließ. El Gusano griff mit langer Hand zu und erwischte den Jungen beim Arm.
Mit einem Satz war Modesta auf, packte den Jungen und davonrennend zerrte sie ihn hinter sich her.
Aber El Pulpo, einer der brutalsten unter den Capataces, hatte hinter ihrem Rücken gestanden. Er riss ihr den Jungen aus ihren Händen und stieß ihn El Gusano zu, so dass er lang zu seinen Füßen hinstolperte. Im Augenblick war Modesta auf dem Jungen, ihn in seiner ganzen Länge überdeckend.
Don Felix bückte sich, packte brutal ihren Nacken und riss sie zu sich empor.
»Hab' nur keine Angst, mein wildes Hürchen, dir schneide ich keine Ohren und keine Nase ab. Die gefallen mir zu gut. Kommst zu mir, mein Hürchen.«
»Alles, Patroncito, alles, was Sie wollen. Ich bin zu Ihren Diensten. Ganz zu Ihren Diensten, Patroncito. Aber nicht den armen Jungen. Nicht den armen, kleinen Jungen.« Sie fiel auf ihre Knie und umklammerte Don Felix.
»Früher hättest du das sagen sollen, Hürchen. Es ist nun zu spät. Und was ich von dir will, nehme ich mir auch ohne dein Angebot.«
Modesta sah sich um, als sie Don Felix sagen hörte, dass es nun zu spät sei. Auf den Knien kroch sie hin zu dem Jungen, hob ihren Wollrock auf, dass ihr Leib nackt wurde bis zu den Hüften und stillte das Blut, das Pedrito über die Backen strömte.
»Und so«, schrie Don Felix nun so laut dass es weit über das ganze große Feld der Oficinas schallte, »und so geht es in Zukunft einem jeden hier, der zu fliehen versucht oder zu meutern, oder nachts Rebellenlieder singt und freche Reden spuckt. Ich bin der Herr hier, und ich bleibe der Herr, und hier wird gearbeitet und nichts als gearbeitet. Dazu seid ihr da. Zum Arbeiten und zu nichts anderem. Das Huren, Saufen und Kommandieren kann ich allein besorgen. Dazu brauche ich von niemandem irgendwelche Hilfe. Vergesst das nicht!«
Er zog sich den Patronengurt um ein Loch fester um den Bauch, rückte das Halfter mit dem Automatic einen Strich weiter vor, näher zu seiner rechten Hand, und ging mit langsamen und zufriedenen Schritten zum Bungalow, sich auf dem Wege eine Zigarette anzündend, während er vor sich hinträllerte.
Am Abend rief er den Koch. »Du kennst doch den Chamula, den mit den abgeschnittenen Ohren, der ausrücken wollte und einen Cayuco stahl. Sagst ihm, er hat kein Recht mehr an den vier Schweinen. Die Schweine werden in der nächsten Woche geschlachtet, um die Kosten zu zahlen, die mir sein Einfangen verursacht hat. Was braucht er Schweine? Ist selber Schwein
genug.«
»Dann kann ich Ihnen endlich einmal was Gutes vorsetzen, Patron«, erwiderte der Koch lachend.
»Komm her, da nimm dir einen guten Schluck.« Don Felix schob ihm die Flasche zu.
»Mil gracias, Patron. Sie sind zu gütig, wirklich sehr gütig. Tausend Dank.«
Candido war wieder zum neuen Camp geschickt worden. Modesta jedoch und der Junge mussten auf Befehl des Don Felix im Centralcamp zurückbleiben. Don Felix erklärte es damit, dass die Schwester Candido zur Flucht verführe. Wenn sie nicht bei ihm sei, laufe er nicht weg, sondern komme erst hier zum Haupt-Camp zurück, um sie zu holen. Er ordnete nun an, Modesta habe dem Koch zu helfen.
Ferner wurde sie beauftragt, den Bungalow, in dem Don Felix hauste, täglich zu säubern. Für alle diese Arbeit sollte Modesta zwei Reales täglich erhalten und das Essen, weil hier niemand zu leben und zu essen erlaubt werde, der nicht arbeite. Auch der Junge sei nun groß genug, um als Ochsenjunge angelernt zu werden und sich seinen Fraß zu verdienen. »Er wird ja nun rascher lernen«, fügte Don Felix hinzu, »und besser lernen, weil er nun besser hören kann, seit ihm die Ohren aufgeklappt worden sind. Er soll überhaupt froh sein, dass ihn nun niemand mehr daran zerren kann.«
Celso arbeitete vor den Bäumen. Die Region, wo er mit noch acht anderen Schlägern schaffte, war etwa eine und eine halbe Stunde Weges von den Oficinas entfernt. Die Länge dieses Weges nahm zuviel von ihrer Zeit fort. Darum hatten die Burschen hier notdürftig kleine Hüttchen errichtet, wo sie schliefen, und von wo sie nun zweimal in der Woche zum Haupt-Camp gingen, um sich neuen Proviant zu holen, Äxte auszutauschen oder sie neu aufzuschleifen.
Die schweren Septemberregen standen nahe bevor.
Es wurde ungemein heiß und drückend. In dem dichten Dschungel, wo Celso und seine Genossen jetzt arbeiteten, war die Luft feucht, schwer und erstickend. Je näher es gegen Mittag ging, um so schwerer war es für die Leute, sich aufrecht zu halten und dabei noch hart zu arbeiten. In den offenen Prärien ist die Regenzeit die schönste und erfrischendste Jahreszeit. Im Dschungel jedoch, je länger die Regenzeit datiert, und je näher die Periode von drei bis vier Wochen heranrückt in der innerhalb vierundzwanzig Stunden sechsmal ein Wassersturz herniederschießt, der den Boden mit zwei oder drei Fuß Wasser bedeckt, wird das Dasein zu einer Höllenqual. Die Qual ist schon groß genug, wenn man unter einem Dach und mit offenen Türen an allen vier Wänden, sich in einer Hängematte schaukeln und vor sich hindösen kann. Wenn aber der Mensch, selbst wenn er Indianer ist, und auch wenn er als Indianer an den Dschungel gewöhnt sein sollte, während dieser Wochen im Dschungel hart zu arbeiten hat, dann ist die Qual seines Daseins um das Vielfache vergrößert.
Jedoch damit sind die Qualen nicht erschöpft. Je tiefer sich die Natur in der Regenzeit befindet, um so zeugungskräftiger werden alle diejenigen Reptilien und Insekten, für die die Regenzeit das Auferstehungsfest bedeutet. Moskitos schwärmen und stechen im Dschungel das ganze Jahr hindurch.
Sie scheinen nie zu sterben oder zu vergehen. Jetzt aber, in der Regenzeit, kommen sie nicht in Schwärmen, sondern in Heerzügen.
Darum hatten die Leute es sich zur Gewohnheit gemacht, vor dem Morgengrauen, wenn sie auf ihre Arbeitsplätze zogen, nur Kaffee zu trinken und einige Tortillas dazu zu essen, während sie ein längeres Mahl um die Mittagszeit einnahmen. Dadurch vermieden sie ihre harte Arbeit in den unerträglichsten Stunden des Tages.
In dem Campecito, das die Muchachos, um es zu bezeichnen, El Palo Caido genannt hatten, weil hier ein mächtiger Urwaldriese vom Blitz gefällt worden war, hockten auf einer trockenen Stelle vor einem kleinen Feuerchen Celso, Martin Trinidad, Juan Mendez, Lucio Ortiz, Casimiro, Paciano, Encarnacion und Roman. Sie alle waren Hacheros, Fäller. Zwei saßen dicht am Feuer und wirtschafteten mit den Kaffeekännchen und den Näpfen herum, in denen sie Reis und Bohnen anwärmten. Die übrigen hockten in der Nähe, einige rauchend und andere lang ausgestreckt schlafend, auf das Essen wartend.
Es war Celso am Morgen gelungen, mit einem Stein eine gutausgewachsene Iguana zu erjagen.
Lucio hatte sie abgehäutet, und sie kochte nun über dem Feuer, um das magere Mahl zu bereichern.
Celso lag auf allen vieren ausgestreckt, den Kopf auf einem dicken, frisch geschlagenen Stamm ruhend, einige Schritte vom Feuer weg, und schnarchte mit tiefem Wohlbehagen.
Mit einem plötzlichen Ruck fuhr er hoch, richtete sich halb auf, sah sich um und rief den Muchachos zu: »Da ruft mich jemand. Wer ist denn das?«
Paciano sah ihn an, blickte sich um, und sagte: »Da hat niemand dich gerufen. Ich hab' nichts gehört. Du träumst, Junge. Wer wird dich denn hier rufen? El Pasta, das Teiggesicht, war vor einer Stunde hier, um Bäume anzukreuzen. Der kommt vor dem Abend nicht wieder. Wenn er überhaupt kommt. Hast geträumt.«
»Kannst noch eine halbe Stunde weiterschnarchen.« sagte Lucio lachend, die nackte Eidechse am Stock wendend. »Die Iguana duftet bereits, aber sie scheint noch etwas zu ledern, denke ich. Werde dich rufen, wenn es so weit ist.«
Celso war nicht zufrieden gestellt. Misstrauisch nach allen Seiten in das tiefe, saftige Grün des Dschungels blickend, sah er sich wiederholt um. »Ich wette, ich habe jemand meinen Namen rufen hören. Verflucht, ich habe es ganz deutlich gehört, als wäre es hier dicht bei meinem Ohr gewesen.«
Er sah sich noch einmal um, rückte den Stamm bequemer zu sich, legte sich wieder aufs Ohr und versuchte, erneut einzuschlafen.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, da fuhr er abermals hoch und sprang auf seine Füße. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt, mich hat wieder jemand gerufen. Celso! Celso! Celso, wo bist du? Ich bin doch nicht verblödet. Und ich glaube, es war eine Frau, die mich rief.«
Lucio und. Paciano lachten nun laut heraus. »Eine Mujer. Seht doch einer an. Er hört eine Mujer seinen Namen rufen. Wirst eine brauchen. Darum hörst du nun schon die Weiber dich im Schlafe rufen. Warum gehst du denn nicht zur Tia? Kannst dann wieder schlafen und hörst keine Weiberrufe, wenn du schläfst.«
Celso blieb stehen, nahm seine Zigarre auf, die er neben den
Stamm hingelegt hatte, ging zum Feuer, zündete sie an, tat ein paar Züge, trat vom Feuer zurück und ging einige Schritte in das Grün hinein.
Plötzlich nahm er die Zigarre aus dem Mund und lauschte. »Aber Muchachos, da habe ich es nun ganz deutlich gehört. Es ist eine Frau, die meinen Namen ruft.«
Paciano reckte sich aus seiner hockenden Lage auf und sagte: »Du, Celso, ich glaube, ich habe es jetzt auch gehört. Da ruft jemand. Und ich glaube wahrhaftig, es ist wirklich eine Muchacha. Da! Da ist es wieder.«
Auch Paciano sprang nun auf seine Füße.
»Es musste von da drüben kommen, da hinter dem Dickicht her«, sagte Celso, wieder angestrengt lauschend. »Komm, lass uns da mal hintraben.«
Beide, Celso und Paciano, liefen in die Richtung, von der sie gemeint hatten, dass von dort her die Rufe gekommen seien. Mit kräftigen, weit ausholenden Armen ruderten sie sich durch das dichte Untergebüsch.
Wohl nur hundert Schritte hatten sie getan, als sie beide stutzten. Deutlich, nun ganz dicht in ihrer Nähe, hörten sie die Stimme eines Mädchens: »Donde estas? Celso! Celso!«
»Aqui, aqui estoy!« rief Celso, seine Hände hohl um den Mund haltend und in die Richtung hinschreiend, aus der die Rufe kamen.
Dann liefen beide, so rasch, wie es das Dickicht nur irgend erlaubte, auf die Stimme zu.
Sie waren nicht weit gelangt, als sich das Grün vor ihnen öffnete, und Modesta vor ihnen stand, mit beiden Armen sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnend.
»Modesta!« rief Celso erstaunt aus. »Was ist dir geschehen?«
Modesta verschwand sofort bis an den Hals im Grün, als sie Celso und Paciano nahe vor sich sah.
»No tengo vestido«, rief sie ängstlich. »Ich habe kein Kleid an. Ich habe nur grüne Zweige umgebunden mit einer Liane.«
Celso zog sich den Fetzen Hemd herunter, den er am Leibe hatte, und den er nur gebrauchte, wenn er rastete, weil ihn der Fetzen gegen Moskitostiche schützte. Er warf Modesta den Fetzen zu. Es war nicht viel von einem Hemd, aber es reichte aus, Modesta so weit zu bedecken, dass sie sich hervorwagen konnte.
»Gib mir auch deinen Fetzen, Pachi«, sagte Celso zu seinem Genossen, und ohne lange darauf zu warten, zog er es ihm nach hinten über den Nacken weg. Was Paciano sein Hemd nannte, war freilich nur halb so viel, als was Celso besaß.
Celso geleitete Modesta zu dem Platz, wo die Muchachos rasteten und auf das Essen warteten.
»Seit wann irrst du hier in der Selva herum, Modesta?« fragte er, als sich das Mädchen niedergehockt hatte.
»Lange Zeit. Mucho tiempo. Ich wusste nicht, wo ich dich finden konnte, Celso. Ich sah einen Muchacho nahe einer Gasse für die Trozas, und der sagte mir, er denke, dass du am Palo Caido arbeitest. Aber er wusste nicht, wo dieser Campecito sei. Er gab mir nur so ungefähr eine Richtung.«
»Sage doch nur endlich, was dir geschehen ist? Ist Candido abermals geflohen? Oder was ist es?«
»Heute morgen, es war noch sehr früh, da rief mich Don Felix aus der Küche, wo ich geschlafen hatte, und wo ich nun dem Koch und dessen Frau bei der Arbeit helfen sollte.« Modesta wusste nicht recht, wie und wo mit ihrer Geschichte zu beginnen.
»Hat dich der Koch hinweggetrieben?« fragte Celso.
»Nein, nicht der Koch. Der war gut zu mir und hat mir zwei schöne Matten gegeben, auf denen ich schlafen konnte, weil ich keine hatte; unsere sind ja alle in das Wasser gefallen.«
»Dann die Frau des Kochs?«
»Nein. Auch nicht. Ich muss mir das überlegen, wie es war. El Patroncito rief mich, ich solle kommen und sein Bett ordnen. Als ich dann kam, da packte er mich und warf mich über das Bett. Ich wehrte mich und zerkratzte ihm das Gesicht. Und da lag auf der Erde eine Flasche. Mit meiner rechten Hand, die er nicht festhalten konnte, weil er eine Hand an meinem Halse hatte und eine an meinen Beinen, konnte ich die Flasche packen, und als er sich mit einem Ruck auf meine Beine pressen wollte, da holte ich mit der Flasche aus und schlug sie ihm auf den Kopf. Da ließ er mich los; ich rutschte unter ihm fort und war raus zur Tür. Aber meinen Rock konnte ich nicht mitnehmen, weil er so alt war, dass er mitten durchriss, und der Patroncito mit seinem Knie auf einem Stück meines Rockes saß. Ich hatte nur noch ein Stückchen Hemd an, auch ganz zerrissen und sehr kurz. Aber ich lief doch davon.«
»Der hat doch zwei Weiber, der Patroncito«, sagte Roman.
»Die waren nicht da. Und als ich rannte, da kam er hinter mir her und stand unterm Dach und schrie: >Bleib stehen, ich schieße! <« Ich blieb aber nicht stehen; da schoss er zweimal oder dreimal. Ich warf mich hin. Er traf mich nicht. Dann hörte ich ihn kommen, und ich sprang auf. Und dann schrie er: >Ich kriege dich, Hure. Dann binde ich dich auf dem Bett fest. Du wirst mich nicht mehr kratzen. Und wenn ich mich ausgehurt habe mit dir, schneide ich dir nicht die Ohren ab, sondern die Nase, por la Santisima.<« »Das tut er«, sagte Juan Mendez.
»Ich blieb stehen und bekam sehr Angst. Ich wollte umkehren und zu ihm gehen, damit er mir nicht die Nase abschneiden sollte. Aber er ging auf die Choza zu, wo die Capataces wohnen, und rief El Gusano, dass er mich fangen solle. Aber El Gusano war bei den Pferden. Und dann rief er hinter mir her: >Nicht nur die Nase schneide ich dir ab, du Bruja, ich lasse dich auch noch nackt hier an den Baum binden, für drei Tage und drei Nächte, hier mitten auf dem Platz. Du wagst nie wieder, mich mit der Flasche zu schlagen. <« Da kam der Koch aus seiner Jacalito; er sagte zu mir: »Muchacha, corre, renne und renne, was du nur kannst. Lass dich nur ja nicht kriegen!« Ich fragte ihn rasch, wohin ich rennen könnte. Da sagte er, das sei ganz gleich, es sei besser für mich, dass mich die Tiger fressen, denn dass mich Felixchen fresse. Und so bin ich denn hierher gerannt.«
Die Muchachos sagten nichts darauf.
»Celso, du wirst mir helfen, wirst du nicht?« fragte Modesta, als sie bemerkte, dass keiner der Burschen wusste, was nun getan werden könnte.
»Wir können sie verstecken«, riet Encarnacion.
»Du bist dumm. Wohin können wir sie denn verstecken?« erwiderte Lucio.
»Du, Celso«, sagte plötzlich mit unterdrückter Stimme Roman, »da kommt El Gusano durch das Dickicht geritten. Ich glaube, er hat uns schon gesehen.«
»Celso!« rief da Modesta, die gehört hatte, was Roman sagte, mit höchster Angst aus, »Celso, beschütze mich. Hilf mir!«
Sie wartete nicht auf die erbetene Hilfe. Mit einem Satz war sie auf und lief gehetzt auf die andere Seite, in das dichte Gestrüpp hinein.
El Gusano war nun nahe gekommen und konnte gerade noch das Mädchen entwischen sehen, das zurückzubringen er von Don Felix ausgeschickt worden war.
Des dichten, ineinander verwachsenen Gestrüpps wegen gelang es ihm nicht, rasch hinterher zureiten. Aber er folgte ihr dennoch. Die Muchachos sprangen auf, um zu sehen, ob er sie fangen könne. Modesta lief in ihrer Angst so hastig davon, dass sie in dem Gestrüpp stolperte und sich verfing. Im Augenblick war El Gusano auf dem Pferde neben ihr und packte sie bei den Haaren.
»Stehen bleibst du. Ich werde dich festbinden, dass du uns nicht noch mal wegrennst.« Er rollte den Lasso ab und band ihn um den Körper des Mädchens. Modesta, nun völlig erschöpft, gab jeden Widerstand auf.
El Gusano zerrte sie hinter sich her und kam zu den Burschen. Hier hielt er sein Pferd für eine Weile an, zog Tabak hervor, drehte sich eine Zigarette und sagte zu Celso, der seinem Pferde am nächsten stand: »Feuer!«
Celso reichte ihm einen glimmenden Zweig hinauf.
El Gusano puffte wohlgefällig ein paar Wolken aus. »Was habt ihr denn da am Stecken braten?« fragte er.
»Iguana, Jefe«, antwortete Lucio.
»Schweine! Wie kann denn ein Christ Iguana fressen, ohne sich vor Ekel zu kotzen. Säue, die ihr seid.« Er puffte wieder einige Schwaden von Rauch aus, verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, deutete mit dem Kopf nach hinten, wo er Modesta am Lasso hielt und sagte, die Zähne weit vorschiebend: »Gutes Fressen für Felixchen heute Abend. Besser als Iguana. Und wenn er sie runtergearbeitet hat und sie rausfegt, werde ich sie vornehmen. Er hat mir schon versprochen - das, was er übrigläßt. Wird noch genug dran sein. Nehme sie auch ohne Nase.«
Er lachte dröhnend. Nun kitzelte er die Seiten des Pferdes und das Pferd setzte an, um abzumarschieren. El Gusano zog heftig am Lasso, um das Mädchen aufzumuntern; er tat es absichtlich in einer Weise, als ob er ein Kalb hinter sich herzöge.
Modesta, der jener Ruck am Lasso unerwartet gekommen war, stürzte hin. El Gusano zog abermals an und heftiger als vorher. Sie richtete sich halb auf. Als sie auf die Knie gekommen war, sah sie Celso an. Ihre Augen waren nicht anklagend. Sie wusste wohl, dass Celso, wie ihr Bruder, wie alle Menschen hier, ebenso hilflos waren wie sie. Aber Celso sah in ihren Augen eine dumpfe Traurigkeit, die ihn mehr erregte, als Anklage oder Verachtung es je hätten tun können.
Verwirrt blickte er hinweg von ihr. Aber da trafen seine
Augen die Gesichter seiner Genossen, die schweigend dastanden und starr auf ihn sahen. Martin Trinidad kniff die Augen zusammen und gleichzeitig die Lippen, während er einen schnaufenden Atemzug durch die Nase tat, die sich ihm zuzupressen schien.
Alles das währte nur zwei oder drei Sekunden. Celso schluckte hörbar. Dann duckte er sich wie zu einem mächtigen Sprung ausholend, und während er sich wieder aufrichtete, stieß er einen so schrill gellenden Schrei aus, dass das Pferd des El Gusano hochsprang und losfegte, als habe es einen Tiger hinter sich. Aber es setzte mit den Vorderhufen in eine morastige Stelle. Es versuchte, noch immer in Angst, sich herauszuzerren, wurde aber an seiner Freiheit gehindert durch den Lasso, an den Modesta geknüpft war und der, als Modesta gefallen war, unter den Stamm gerutscht war, auf dem Celso geruht hatte, als er schnarchte.
El Gusano hatte das Pferd sofort wieder in der Gewalt. Er riss es heftig am Zügel hoch. Das Pferd bäumte und wendete sich, um von dem Morastloch, in das es gestolpert war, fortzukommen und einen anderen Weg zu nehmen.
Als es sich wendete und El Gusano alle seine Gedanken auf das Tier gerichtet hielt, sprang Celso an dessen Seite hoch und umklammerte mit beiden Armen den Leib des Reiters, der, von der Last des Burschen nach unten gezogen, aus dem Sattel glitt.
Kaum hatte er den Boden berührt, als Celso auf ihm war und ihn mit den Fäusten ins Gesicht hieb.
El Gusano schüttelte sich und versuchte, mit seinen Stiefeln hochzukommen, um sie Celso in den Magen zu stoßen. Aber ehe er die Füße hochbekam, fiel Celso zur Seite, ohne sein Opfer, das er jetzt bei der Kehle hatte, loszulassen. Beide balgten sich nun auf dem Boden und kollerten bald auf die eine, bald auf die andere Seite.
El Gusano war blau im Gesicht vor Wut. »Lass mich los, du
Hund!« ächzte er, die Worte mehr in sich hineinschluckend, als sie ausstoßend.
Celso suchte mit einer Hand auf dem Boden herum, irgend etwas zu finden, das er als Waffe gebrauchen konnte. Juan verstand, was Celso wollte. Er ergriff einen dicken Ast, und mit einem heftigen Hieb schlug er damit El Gusano über den Kopf. Die Hände des Capataz wurden unsicher und begannen, nach einem Halt suchend, in der Luft herumzufegen. Juan aber verlor keine Zeit. Er hob den Ast wieder hoch und ließ ihn abermals auf den Kopf des El Gusano niedersausen. Und dann folgten die Hiebe so rasch und so heftig, dass, als Celso sein Opfer endlich losließ und wegsprang, der Schädel des El Gusano in Stücke zertrümmert war.
»Ich habe es dir ja lange genug gesungen, Gusano«, sagte Celso, sich nun völlig aufrichtend und ausreckend. »Hundertmal habe ich es dir gesungen. Ich halte, was ich sage. Und ich tue, was ich singe.« Mit breiter Hand wischte er sich über das Gesicht, Schweiß und Blut herunterwischend.
Dann wandte er sich, ging auf Modesta zu, knotete sie los und fragte sie weich und leise: »Hast du dich verletzt, Modesta?«
»Nein«, sagte sie, dicht bei ihm, »ich bin nicht verletzt. Es bluten mir nur die Beine und Füße vom Gestrüpp. Aber ich habe so große Angst, Celso.«
»Fürchte dich nicht mehr, Modesta. Jetzt können wir nicht mehr zurück. Von nun an müssen wir immer weiter vorwärts gehen. Jetzt räumen wir auf, hier und überall. He, Muchachos, was sagt ihr?« fragte er laut die Burschen.
»Überall!« rief Roman.
»Auch auf den Fincas? Auch die Peons?« fragte Paciano, der von einer Finca, einer Domäne, in die Monteria verkauft worden war.
»Auch die Peons«, bestätigte Martin Trinidad. Dann rief er laut aus: »Tierra y Libertad!«
Und mit einem einzigen Schrei antworteten alle Muchachos: »Tierra y Libertad!«
Celso stieß den Körper des El Gusano mit dem Fuß um, so dass er auf dem Gesicht lag. Er bückte sich nieder und schnallte ihm die Facha, den Gurt mit den Patronen ab, an dem der Revolver hing.
»Martin«, rief er, »du hast ja schon einen Revolver und Patronen. Nun habe ich auch einen. Komm her und zeig mir, wie er schießt und wie man ihn ladet.«
»Das lehre ich dich in fünf Minuten.«
»Wir müssen den Hund nun wohl eingraben«, riet Roman.
»Nichts wird hier eingegraben!« rief Juan Mendez. »Lasst die Schweine das Aas fressen.« Dann wandte er sich an Martin: »He, wirst du den Gaul reiten oder ich?«
»Du bist ein Sergeant und du reitest ihn. Haben wir erst einmal auch die andern Pferde und Mules, dann können wir alle reiten.«
»He, her mit euch, alle!« rief nun Celso. »Wir wollen mal überdenken und besprechen, was nun zu tun ist.«
Die Muchachos hockten sich in einen Kreis, wie sie es zu tun gewöhnt waren, wenn sie daheim in ihren Dörfern oder auf einer Finca oder auf dem Hofe der Hütte eines befreundeten Stammesmitgliedes zusammenkamen, um ihre Angelegenheiten zu besprechen.
Celso ergriff gleich das Wort: »Nun hat es angefangen. Jetzt können wir nicht mehr zurück. Der henkt uns alle, schneidet uns allen die Ohren ab, wegen Meuterei. Seit der Cacho so schön von dem Urbano abgeleuchtet wurde, sind sie alle verrückt geworden. Die Wahrheit ist, Muchachos, die haben jetzt eine ganz verfluchte Angst im Ursch. Und weil sie solche Angst haben, schlagen sie nun rechts und links aus und werden so brutal, dass sie nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Wollt ihr alle eure Ohren abgeschnitten haben? Und vielleicht auch noch eure Nasen? Oder gar die Finger? Und dann auch noch gehenkt werden?« »Das brauchst du Esel uns doch nicht zu fragen«, lachte Lucio. Alle Muchachos fielen in das Lachen ein.
Auch Celso lachte, als er weitersprach. »Das weiß ich. Aber wollt ihr alle heimgehen? Zu euren Frauen, euren Vätern, euren Feldern?«
»Ja, das wollen wir!« riefen die meisten Burschen aus.
Da schrie Martin Trinidad, aufspringend und die Arme in die Luft flitzend: »Nein, ihr Ochsen, das wollt ihr nicht. Und das sollt ihr nicht. Eher schieße ich jeden einzelnen von euch über den Haufen. Und auch dich noch, Celso. Brauchst mich nicht so anzustieren, weil ich das sage. Huren könnt ihr später. Und eure Felder gehen euch nicht verloren. Niemand von uns geht heim. Niemand von euch. Und niemand von allen, die hier in den Monterias heulen und wehklagen. Niemand geht heim, solange ich auf meinen beiden Beinen stehen kann. Wir gehen jetzt auf die Fincas los, erschlagen die Finqueros und die Mayordomos. Und wir erschlagen die Rurales und die Federales, die uns in den Weg kommen. Jetzt räumen wir auf. Alle Peons müssen frei werden. Alle und alle. Und alle sollen sie ihr Land haben, das sie in Frieden und für sich selbst bebauen können. Tierra y Libertad! Erde und Freiheit.«
»Bravo!« schrieen Celso und Paciano zugleich aus. Und »Bravo, Martin, du sagst, was wir denken!« schrieen begeistert die übrigen Burschen aufspringend.
»Dann auf, Muchachos!« rief Martin Trinidad. »Lasst das Feuer nicht erlöschen. Viva la Rebelion! Viva los Rebeldes!«
»Viva la Rebelion!« und »Que viven todos los rebeldes!« riefen die Muchachos.
Sie ergriffen ihre Äxte und Machetes und gedachten sofort loszuziehen auf die Administracion zu, um aufzuräumen.
»Halt, halt, Muchachos!« sagte da Celso mit lauter Stimme. »Erst lasst uns hier noch ein paar Minuten darüber reden, was wir tun und wie wir es tun. Wenn wir jetzt alle so wild auf die Oficinas losrennen, machen wir mit denen, die da sind, ein rasches Ende. Aber in allen Winkeln der Selva sind Capataces bei den Muchachos, die nichts von uns wissen. Die Capataces können sich versammeln und von hinten auf uns loskommen. Die alle haben Pistolen und Pferde und reiten hinüber zu den anderen Monterias und holen Hilfe. So geht das nicht. Da können wir nicht gewinnen, sondern wir werden alle erschlagen. Das nützt uns nichts. Wenn wir Land und Freiheit haben wollen, müssen wir leben und die andern erschlagen.«
Martin Trinidad rief: »Oiga, Muchachos, hört, der Celso hat recht. Lasst uns wieder hinsetzen und beraten. Was wir hier jetzt gut beraten, brauchen wir später nicht mit Reue zu beklagen. Sage, Celso, wie du dir das denkst.«
Celso schlug vor, dass alle Burschen sofort zu den Boyeros gehen sollten, die nahebei am Arroyo Mono Trozas schleppten. »Da sind unsere besten Jungen mit den besten Herzen und Seelen, da ist Andres, da ist Fidel, der diesem Aas hier einmal eins in die Fresse gehauen hat, da ist Santiago, der sich weder vor dem Teufel noch vor dem Felix fürchtet, da ist Matias, der nur auf die Gelegenheit wartet, El Doblado die Kehle abzuschneiden, weil er ihm seine Muchacha so gemein verführte, und da sind Cirilo, Pedro, Sixto, Procoro. Mit diesen Boyeros zusammen brauchen wir niemanden zu fürchten. Mit denen können wir den ganzen Dschungel erobern und alle Fincas. Wären alle Hacheros, die wir hier in den Monterias haben, wie die Boyeros, Jungens, Jungens, da könnten wir das ganze Land für uns erobern, und kein Tyrann könnte uns daran hindern.«
»Dann los zu den Boyeros!« kommandierte Martin Trinidad. »Du, Juan, kletterst auf den Gaul und galoppierst voraus, und wenn du einen Boyero triffst, die sind ja alle zerstreut, dann schicke ihn zum Tumbo des Arroyo Mono.«
»Und wenn ich einen Capataz auf dem Wege antreffe, und er mich hier auf dem Pferde sieht, was sage ich dann?« fragte Juan.
»Da sagst du, dass dich der Patron schickt, und du solltest Andres und Santiago suchen, die sollten zur Administracion kommen.«
»Was denn nicht noch?« rief Celso. »Auch noch Entschuldigungen machen? Hier, nimm den Revolver. Halte ihn vor dir am Sattelknopf, und wenn dir ein Capataz begegnet und dich anhält, knipse ab. Los, voran, Juan! In einer halben Stunde sind wir drüben am Arroyo.«
Als die Burschen am Arroyo Mono ankamen, warteten bereits die Boyeros und deren Jungen, die Gananes. Die Jungen benahmen sich ängstlich. Sie wirtschafteten an den Ochsen und den Geschirren herum, denn sollte nun ein Capataz erscheinen, konnten sie den Eindruck erwecken, dass sie unschuldig seien. Sie fürchteten die Hiebe, die sie erhalten würden, wenn die Sache, die sie nur halb verstanden, fehlschlagen sollte.
Ohne die Jungen zu rechnen, waren hier jetzt mehr als zwanzig Muchachos beieinander. Aber in jeder Viertelstunde kam ein Ochsenzug mit einer neuen Troza zum Tumbo, und der neuankommende Boyero wurde unterrichtet von dem, was sich inzwischen ereignet hatte.
Es wurde beschlossen, zur Administracion zu marschieren; jedoch einen genügend weiten Umweg zu machen, um auf dem Wege so viele Arbeitsfelder zu besuchen wie nur möglich, damit alle Schläger und Boyeros, die angetroffen wurden, sich dem Zuge anschließen konnten.
Die Schläger trugen als Waffen ihre Äxte, einige außerdem noch Machetes. Die Boyeros hatten nur Machetes. Aber sie nahmen noch die eisernen Haken, die sie von den Zugketten lösten, mit sich, um auch allen den Burschen, die sonst nichts hatten, ein Stück Waffe in die Hand zu geben.
»Das ist nur für den Anfang«, tröstete Juan Mendez die Muchachos. »Für den Anfang genügen sogar Knüppel, Steine und Schleudern. Wenn es erst einmal losseht, dann machen wir es, wie die Campesinos und die Peons in Morelos es machten, als sie das erste Mal auf die Zuckerplantagen und die Zuckerfabriken losgingen. Sie lachten sich eins, wenn die Rurales und die Federaltruppen kamen.«
»Warum denn lachten sie?« fragte Cirilo.
»Du bist mir auch ein Urschhinker, das bist du, so dumm zu fragen. Je mehr Soldaten auf sie loskamen, desto mehr Waffen bekamen sie. Denn jeder Soldat und jeder Landjäger und jeder Polizist hat doch einen Karabiner, jeder Offizier auch noch einen Revolver. Einfach, du erschlägst den Soldaten und den Polizisten, und dann nimmst du ihm seinen Karabiner oder seinen Revolver ab. Und natürlich auch alle Patronen, die er hat, und die Stiefel und überhaupt alles, was er auf dem Ursch trägt. Es ist doch sehr einfach. Auf diese Art wird Rebellion gemacht und auf diese Art werden die Rebellen bewaffnet.«
»Haben die Campesinos von Morelos die Revolution denn gewonnen?« fragte Santiago.
»Natürlich nicht. Damals nicht«, antwortete nun Martin Trinidad an Stelle des Juan Mendez. »Aber sie haben den ersten Sturm geläutet. Sie und die Campesinos von Tlaxcala, geführt von Juan Cuamatzi, dem Indianer. Jetzt wissen alle Peons und alle Bauern, dass es gemacht werden kann und dass Tyrannei und Diktatur verwundbar und besiegbar sind. Wartet nur, das nächstemal gewinnen auch die Peons von Morelos und auch die von Tlaxcala erst recht.«
»Wer weiß«, sagte Juan Mendez, »ob sie nicht in dieser Stunde, wo wir hier stehen und uns noch alles überlegen, vielleicht schon den ganzen Staat Morelos in hellem Aufruhr haben. Wir hören ja nicht was draußen im Lande geschieht.«
»Und zur Hölle noch mal, was ist denn hier für eine
Versammlung?« schrie da erbost El Doblado, der in diesem Augenblick mit El Tornillo hier zum Tumbo geritten kam.
Die Muchachos, oder bestimmt der größere Teil von ihnen, wandten sich erschreckt um. Aber sie blieben stehen und machten auch nicht die geringste Miene, zu den Ochsengespannen zu gehen und sie umzukehren, um neue Trozas heranzubringen.
»Habt ihr nicht gehört, ihre Schweine, was ich euch gefragt habe?« schrie El Doblado abermals.
»Was für eine Versammlung ist das hier? Faulenzen und ausruhen am hellen Tage, wo wir in der nächsten Woche mit dem Schwemmen anfangen sollen. Los, an die Arbeit!«
Die kleinen Jungen und zwei zaghafte Boyeros gingen auf die Ochsen zu und begannen, sich an den Gespannen zu beschäftigen.
»Hier geblieben, ihr Cobardes, ihr lausigen Angstschlucker!« rief Celso. Die paar Leute blieben auf halbem Wege unschlüssig stehen.
»Ja, was ist denn das hier?' brüllte nun El Doblado, die Peitsche, die er in der Hand hielt, fest umklammernd. Huelga? Streik? Oder gar etwa eine Meuterei, un Motin?«
»Richtig, Coyote«, schrie Santiago Rocha als Antwort, »richtig geraten, das hier ist ein Motin und ein Mitin, eine Versammlung von Rebellen, damit du Hund das auch weißt und keine falsche Meinung hast.«
El Doblado wurde blass. Er hackte in den Leib seines Pferdes und versuchte, es einige Schritte zurückzubringen. Das Pferd verstand die Bewegung nicht. Es tänzelte rechts und links vor den Muchachos herum. El Doblado wurde unsicherer. Mit weiten Augen stierte er auf die Burschen, die drohend herumstanden und offenbar auf eine Geste warteten, die ihnen das Signal zu einer Tat geben sollte.
El Tornillo, der andere Capataz, war nicht so eingedrängt zwischen den Burschen wie El Doblado.
Er hätte mit einem Satz des Pferdes aus der eingezwängten Lage heraus sein und sich davonmachen können. Aber er überlegte rasch, dass er besser daran sei, wenn er in der Nähe des El Doblado bliebe, denn seinen Companero hier allein zurückzulassen und seine eigene Haut zu retten, konnte für ihn eine unangenehme Wendung nehmen, wenn es herauskam und die übrigen Aufseher die Wahrheit erfuhren. Letzten Endes kam es auf dasselbe heraus, ob er jetzt hier geschlachtet wurde oder später von den erbosten Capataces.
Während das Pferd des El Doblado noch herumtänzelte und nicht wusste, was zu machen, bekam sein Reiter plötzlich eine panische Angst. Er wollte den Revolver ziehen, aber er hatte in der Rechten die Peitsche an einem Riemen um das Handgelenk. Dieser kleine Riemen verfing sich am Revolverkolben und El Doblado zerrte und zerrte noch mal. Da warf Matias dem Pferde einen Ast gegen die Vorderbeine. Das Pferd bäumte auf, und während es bäumte, sprang Fidel von hinten auf El Doblado zu, packte die Hand, die der am Revolver hatte, hing sich daran und riss El Doblado aus dem Sattel.
Nun sah El Tornillo, dass es sehr ernst wurde. Er riss das Pferd herum, um zu entfliehen. Aber die Bewegung war von Cirilo bemerkt worden, der einen Haken in der Hand hielt. Er schwang den Haken aus und riss das Pferd an einem Hinterbein hoch. Das Pferd schlug aus, kam mit den Beinen ins Gestrüpp, stolperte und fiel. Es richtete sich jedoch sofort wieder auf, mit El Tornillo noch immer im Sattel.
Sixto bückte sich nach einem Stein. Er fand nicht rasch genug einen. Aber er fand das Stück eines zerbrochenen Jochbalkens, sprang dicht an das Pferd heran und schmetterte den Kolben mit aller Kraft gegen die Schulter des El Tornillo. Der wandte sich, um abzuwehren oder um auszuweichen.
Da sprang ihn von der anderen Seite Pedro an, der mit einer Hand den Zügel herumriss, mit der andern Hand El Tornillo an den Leibriemen packte und mit drei kräftigen Rucken auf dem Boden hatte. Eine viertel Minute später waren beide Capataces zu Ende. Fidel, der El Doblado vorhatte, nahm einen Ast und schlug damit so lange auf dessen Gesicht los, bis es völlig unerkennbar war. Als wäre er wahnsinnig geworden, schrie er dabei unausgesetzt: »Dir gebe ich es, dir gebe ich es, du quälst keine Frau mehr, du quälst keine Frau mehr.«
Als Fidel sich endlich aufrichtete und mit einem letzten Tritt in das Gesicht des Erschlagenen seine Rache beendete, sagte Martin Trinidad: »Die Pistole und die Patronen gehören dir, Muchacho, du hast sie dir verdient.«
Dann wandte er sich zu den Burschen und, mit der einen Hand auf den Leichnam des El Tornillo, mit der andern auf den toten El Doblado deutend, rief er: Da! Da seht ihr es! So kriegt ihr eure Waffen, Muchachos! Jeder Revolver, den ihr euch auf diese Weise holt, ist zwei für euch wert. Denn er fehlt eurem Feinde und ihr habt ihn. Packt die Hunde meuchlings, wenn ihr nicht anders könnt. Packt sie von hinten oder von vorn. Wenn ihr Revolution machen wollt, dann macht Revolution, und macht sie ganz, oder sie richtet sich gegen euch selbst und zerschmettert euch.«
Pfeifend, johlend, rufend, singend, marschierte der Haufe, den geplanten Umweg durch die in der Region gelegenen Arbeitsfelder nehmend, auf die Hauptstadt der Monteria zu.
Drei Burschen ritten auf Pferden. Drei andere trugen Revolver. Zwei der Reiter ritten dem Haufen voran, und ein Reiter folgte dem Zuge als Rückendeckung.
An einen Plan, wie sie die Administracion angreifen wollten, hatte niemand gedacht.
Sie verließen sich auf die revolutionäre Tatkraft, die, wenn nicht verwässert von bleichsüchtigen Politikanten, noch nie in der Weltgeschichte einen echten Revolutionär im Stich gelassen hat. Der Haufen war auf den Umwegen zu den andern Camps inzwischen auf sechzig Mann angewachsen.
Es fehlte noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang, als sie in Hörweite der Administracion anlangten. Die zahlreichen Hunde, die sich in der Stadt herumtrieben, bellten und heulten los.
Don Felix war vor einer halben Stunde von einem Inspizierungsritt zurückgekehrt und fand in den Oficinas Don Severo vor, der gekommen war, um die letzten Einzelheiten für das Abschwemmen, mit seinem Bruder und den Capataces zu besprechen.
Als sie das heftige Bellen der Hunde hörten, sagte Don Felix: »Teufel, was ist denn da los? Hat man denn hier gar keine Ruhe, um etwas reden zu können? Die ganze Horde sollte ersäuft werden. Zu nichts nütze.«
Die Hunde gebärdeten sich lauter, und Don Felix stelzte in den Portico, nahm einen Knüppel und warf ihn dem Rudel, das der Oficina am nächsten war, zwischen die Rippen. Die Hunde heulten jämmerlich und verkrochen sich, ohne aber ihr Knurren und Bellen einzustellen.
»Wahrscheinlich kommt der Türke mit seiner Karawane an«, meinte Don Severo, als Don Felix wieder in die Oficina trat.
»Undenkbar«, sagte El Chapapote, »der würde in den Flüssen ersaufen. Die sind zu hoch angeschwollen. Wahrscheinlich haben sich Ochsen von der Weide auf den Weg gemacht und kommen hierher, der Beißfliegen wegen.«
»Kann sein«, meinte Don Felix und nahm sich einen Schluck.
»Du hast den Capataces allen gesagt, Chapapote, dass sie für heute Abend hier zur Administracion kommen sollen?« fragte Don Severo.
»Seguro, Jefe.«
Don Severo und Don Felix machten sich über die Listen her und studierten, um einen Überblick zu gewinnen, die ungefähre Zahl der Stämme, die an jeder der zahlreichen Abschwemmstellen aufgehäuft waren.
»Morgen kriegst du hier einen verflucht eleganten Schweinebraten«, sagte da Felix zu Severo.
»Wo hast du denn Schweine her?«
»Von dem Chamula, dem ich sie abgenommen habe.«
»Den mit den Jungen und dem Weibe?«
»Den meine ich. Er ist im neuen Camp. Die Muchacha ist mir heute morgen ausgebrannt. Das Luder. Ich kriege sie schon noch.«
Don Severo seufzte. »Diese Weiber, gottverfluchtes Gezücht. Was einem die für Scherereien machen. Die drei bei mir da schlagen sich jeden Tag fünfmal. Die eine hat kaum noch ein Büschel Haar übrig, so viel haben ihr die andern beiden ausgerupft. Gib die gottverdammte Flasche rüber. Hast sie die ganze Zeit am Halse und ich kann hier vertrocknen und nach Luft schnappen.«
Die Muchachos hielten in ihrem Anmarsch inne, als sie die ersten Hütten des weiten Platzes der Administracion durch die Bäume erspähen konnten. Einzelne Hunde der Ciudad, die sich besonders tapfer dünkten, kamen auf sie losgesprungen. Die Hunde, obgleich an die Leute gewöhnt, fühlten in ihrem Instinkt, dass die Burschen etwas Ungewohntes umgab.
»Wartet hier auf mich«, sagte Martin Trinidad zu den Muchachos, die ihm am nächsten standen. »Ich werde mir meine wunderschönen Automatic ausgraben und die Patronen und die eleganten Magazine. Wir werden das liebliche Ding wohl jetzt gleich brauchen.«
Nur wenige Minuten währte es, da war er zurück. Er hielt die Pistole hoch und zeigte sie stolz herum. »Ich könnte das kleine
Maschinengewehrchen küssen wie ein Frauenzimmer, so verliebt bin ich darin. Und, por Jesu Cristo y la Virgencita, ich kann nicht anders.« Er schmatzte auch wirklich den schweren Fünfundvierziger ab, als ob er ihn auffressen wollte.
»Ich möchte jetzt nur wissen, ob alle Capataces hier in der Administracion sind?« fragte Celso. »Der Koch sagte mir heute früh, dass Den Severo mit seinen Aufsehern gekommen ist. Die wollen heute und morgen hier die Pläne für das Schwemmen machen. Was denkt ihr?«
»Ich glaube nicht dass sie schon alle versammelt sind«, antwortete Andres. »Die vom neuen Camp sind sicher nicht hier.«
»Mir scheint, die kommen da unten; ich habe von der Böschung aus den Cayuco heranrudern sehen. Und wenn ich gut gesehen habe, so saßen die drei Capataces vom neuen Camp drin«, sagte Martin Trinidad und fügte hinzu: »Kannst dich nie irren, ob es Capataces sind oder Muchachos, der Hosen und Hemden wegen, die sie anhaben.«
»Vicente!« Andres rief den Jungen herbei. »Du bist flink auf den Beinen und klein und gewandt. Du schleichst dich hier ein Stück voran und passt auf, wann die Capataces ankommen; und wenn sie in den Oficinas verschwunden sind, kommst du hierher und meldest es.«
Der Junge war fort wie eine Katze, die von einem Hunde gehetzt wird. Martin Trinidad sagte. »Lasst uns Kriegsrat halten. Du, Juan, und du, Lucio, ihr habt Übung als Soldaten. Ihr nehmt euch hier zehn Muchachos, und sobald der Vicente zurückkommt mit der Nachricht, beginnt ihr, die Haupt-Oficina von der Seite des Flusses aus zu umgehen, so dass nach jener Richtung hin niemand entweichen kann.
Schießt gleich drauflos, wenn einer flüchten will, und schießt so, dass er auf dieser Erde keinen Schritt mehr macht. Wir übrigen besetzen die Mitte des Platzes vor den Oficinas. An jedem Pfad, der in den Dschungel geht, es sind nur drei, stellen sich zwei Mann auf, gut versteckt im Dickicht. Sobald ein Capataz ankommt, schnappt ihr ihn euch. Mit dem Machete drauflos. Stellt euch so, dass, wenn er entwischt, er auf die Oficina lostraben muss, wo er meint, Hilfe zu finden. Er weiß ja nicht, was hier vor sich geht. Und alle Muchachos, die jetzt zum Essen heimkommen, gleich aufgefangen, und hier auf die Mitte des Platzes geschickt, wo wir sind.«
Vicente kam angesprungen: »Die Capataces sind hier. Sie gehen jetzt gerade rüber zur Oficina.«
»Dann los mit euch!« kommandierte Martin Trinidad der kleinen Gruppe, die den Auftrag hatte, das Entweichen der Belagerten zum Fluss hin und vielleicht gar ein Fliehen mit Cayucos zu verhindern.
Die Hunde, die in der Nähe waren, hatten aufgehört zu kläffen; einige folgten dem auf Posten ziehenden Trupp.
Die Muchachos dieses Ufertrupps kletterten hier noch in Entfernung von den ersten Hütten die Böschung hinunter und gingen am Ufer entlang bis zur Höhe der Haupt-Oficina. Dort kletterten sie die Böschung wieder hinauf, sich auf eine lange Linie ausbreitend. Sie krochen bis an den oberen Rand, wo sie die Köpfe nur gerade so weit über die Böschung steckten, dass sie den Platz und die Gebäude sehen konnten. Als sie in Stellung waren, ließ Secundino den klagenden Ruf eines Coyote hören -und so geschickt, dass auf dem Platze ein paar Hunde sich verführen ließen, wie die Teufel loszuflitzen, um auf den vermeintlichen Coyote Jagd zu machen.
»Die sind auf Posten«, sagte Celso. Er sagte es ohne besondere Erregung, aber seine Augen und seine Nasenflügel bewiesen, dass ihm so gut wie allen andern hier das Herz heftig pumpte.
Was nun hier geschah, und was unter gleichen Verhältnissen überall auf Erden geschieht oder geschehen muss, kann nicht auf
Rechnung der Rebellen gesetzt werden, sondern auf Rechnung derer, die jene Verhältnisse schufen und deren Wohlergehen diese Verhältnisse günstig waren. Jeder Peitschenhieb auf einen Menschen ist ein Glockenschlag, der den Untergang der Macht ankündigt, unter der jener Peitschenhieb ausgeteilt wurde. Wehe den Gepeitschten, die Hiebe vergessen können!
Und dreimal Wehe denen, die nicht darum kämpfen, die Hiebe zu vergelten!

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