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B. Traven - Die Rebellion der Gehenkten (1936)
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VIERZEHNTES KAPITEL

Jeden Tag waren neue Gruppen aus den fernsten Monterias angekommen, und täglich kamen weitere an. Manche der Gruppen bestanden nur aus fünf Mann, andere sogar nur aus zwei. Einige dieser Gruppen langten in völlig verwildertem Zustand an. Schon lange vorher waren sie von ihrer Monteria geflohen, konnten aber nicht heimkehren, weil sie dann auf den bekannten Pfaden durch den Dschungel hätten zurückwandern müssen. Hier wären sie abgefangen worden. Denn selbst wenn sie nicht von Capataces, die hinter ihnen hergeschickt wurden, aufgegriffen worden wären, so konnte es doch geschehen, dass sie Händler trafen oder Karawanen oder neue Arbeitertrupps. Und wer immer sie traf, würde gemeldet haben, auf welchem Wege sie gesehen worden waren. Wenn es ihnen glückte, in ihr Dorf oder in ihre Finca zurückzugelangen, so waren sie sicher, wieder ausgeliefert zu werden.
Alles das wissend, teils aus eigener Erfahrung, teils aus den Erzählungen derer, die Fluchtversuche unternommen hatten und wieder zurückgebracht worden waren, gaben viele Flüchtlinge den Gedanken auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie flohen von der Monteria, um grausamen Strafen zu entgehen, und hielten sich von den Wegen und Pfaden fern. Sie führten ein freies Banditenleben in den Tiefen des Dschungels. Sie wohnten in Höhlen, bauten sich winzige Hütten auf dem Erdboden oder in dem Geäst der Bäume, oder sie übernachteten wie Tiere im Dickicht. Sie lebten von dem Fleisch der Tiere, die sie mit Steinen oder Lanzen erjagten. Ging es ihnen zu hart und benötigten sie Dinge, wie Lunte oder Stahl zum Feuerzünden oder Salz oder Kaffee, dann brachen sie des Nachts in Oficinas ein und stahlen, was sie brauchten. Häufig wurden dafür Muchachos der Monterias elendiglich verprügelt, weil man sie beschuldigte, die Spitzbuben gewesen zu sein. War es zu schwierig,  in  Oficinas,  Bungalows,  Küchen  oder Hütten einzubrechen, dann bemühten sie sich, arbeitende Muchachos im Dschungel zu treffen, um von denen zu erhalten, was sie benötigten, entweder im Guten oder im Bösen. Meist wurde ihnen freiwillig gegeben, was ihnen fehlte, vorausgesetzt dass die angeredeten Burschen selber das hatten, was die Wilden, oder Los Salvajes, wie sie genannt wurden, brauchten.
Wurden der Salvajes zu viele, dann vereinigten die Monterias, in deren Bezirken die wild lebenden Flüchtlinge hausten, ein halbes Dutzend Capataces, und die Salvajes wurden gejagt wie wilde Tiere.
Sie wurden nicht gefangen, auch wenn die Monterias notwendig jeden Mann hätten brauchen können, sondern sie wurden wie wilde Tiere von dem ersten Jäger erschossen, der sie sah. Und um sie leichter jagen und aufstöbern zu können, nahmen die Jäger ganze Rudel von Hunden mit sich, wenn sie auszogen, um den Dschungel wieder mal zu reinigen.
Es war den Konzessionären der Monterias nicht so sehr darum zu tun, die gelegentlichen Diebstähle zu bestrafen oder zu verhindern. Der Grund war ein anderer. Blieben diese wilden Flüchtlinge unbelästigt und wurde nicht innerhalb gewisser Zeiträume eine neue Jagd auf sie veranstaltet, dann bestand Gefahr, dass die Muchachos der Monterias das Leben als Salvajes der harten Arbeit und der grausamen Behandlung in den Monterias vorzogen, die Monterias ohne Leute und die großen, unverrechneten Schuldkonten unerledigt ließen. Genau dieselben Gründe waren es hier wie in zivilisierten Ländern, wo die Regierungen es verhindern, wenn nötig mit militärischer Gewalt, dass etwa arbeitslose Proleten unbebautes und brachliegendes Land ergreifen, sich auf diesem Lande sesshaft machen und hier ihr Leben nach eigenem Gutdünken unter eigener Regierung führen. Die Idee könnte zu viele Nachahmer finden, und die Industrie würde ohne ein Heer Arbeitsloser sein, das immer willig ist, zu den Bedingungen zu arbeiten, die ihnen auferlegt werden. Es wäre auch keine Diktatur möglich, wenn jeder Mensch unabhängig von den Brosamen leben könnte, die ihm die Regierung verspricht und anbietet, falls er willens ist, diese Regierung dafür zu beweihräuchern und anzubeten.
Diese Salvajes, diese verwilderten Deserteure, hatten freilich kaum irgendwelche Zukunft. Es mochte gelingen, dass sie vielleicht ein oder zwei Jahre wild lebten und dann abermals versuchten, entweder heimzukehren, wo sie hofften, dass man sie und ihre Schulden vergessen hatte, oder eine andere Gegend zu erreichen, wo sie unbekannt waren und vielleicht unbelästigt in irgendeiner Form hätten arbeiten können. Aber ob sie in einer Monteria arbeiteten oder in einer Kaffeepflanzung oder auf einer Finca, schließlich war es doch dasselbe Los. Wohin sie auch kamen, sie waren versklavt, unterjocht, unfrei und hatten auch nicht ein Wort mitzubestimmen, wenn ihre Arbeit und der Lohn dafür festgelegt wurde.
Selten, oder man darf sagen, wohl so ziemlich niemals, hatte jedoch einer der Wilden auch nur die kleinste Möglichkeit, sein Glück außerhalb des Dschungels zu versuchen. Er lebte nicht lange genug dazu. Das Leben im Dschungel, ohne Behausung und ewig auf der Flucht, ist um vieles härter als das der Monteria-Arbeiter. Wurden sie nicht vom Fieber gepackt und weggerafft, dann waren es Tiger oder Löwen oder wilde Schweine oder eine Schlange oder ein Reptil, die sich dieses armseligen Lebens erbarmten. Es war meist eine wirkliche Erbarmung des Himmels, wenn der Wilde rasch von diesem Leben befreit wurde. Er mochte sich ein Bein brechen, und dann war er schon verloren. Es arbeitete wohl nicht ein Muchacho in den Monterias, der nicht wusste oder sich wenigstens vorzustellen vermochte, was es bedeutete, auf eigene Rechnung im Dschungel zu leben. Diese Furcht der Muchachos vor den Schrecken des Dschungels war die Rettung der Monterias. Wäre das wilde Leben ein Vergnügen, dann würden die Monterias auch nicht einen Mann behalten, nicht unter den Bedingungen, wie sie waren.
Nur die verwegensten und tapfersten Muchachos wagten es, einer grausamen Strafe dadurch zu entgehen, dass sie in die Wildnis gingen.
Unter den vielen Gruppen, die sich mit dem großen Haufen der Rebellen vereinigten, die Mehrzahl von ihnen durch Boten herbeigeholt, andere von selbst gekommen, nachdem ihre Herren und Capataces ermordet worden waren, entweder von ihnen oder von den Muchachos benachbarter Monterias, befand sich auch ein Dutzend jener Salvajes.
Durch ihre früheren Arbeitskameraden, mit denen sie gelegentliche Verbindung hatten, wenn sie Salz, Chile oder sonst etwas brauchten, hörten einige von dem Aufstand. Andere fanden es merkwürdig, dass alle Muchachos aus den Distrikten abwanderten, ohne die Trozas weiter abzufahren, ohne angefangene Arbeiten zu beendigen. Vorsichtig schlichen sie sich in die Nähe einer Oficina. Hier trafen sie dann entweder Burschen an, die sich zum Abmarsch rüsteten, oder sie fanden nur die ermordeten Capataces und verstanden, was sich ereignet hatte.
Da die Monteria La Armonia, eine der größten des Staates, auf dem Hauptwege zu dem wichtigsten Strom lag, gab es für die Salvajes keine andere Möglichkeit, den abmarschierenden Muchachos zu folgen, als auf diesem Wege zu wandern. So kamen sie natürlich zur La Armonia, wo sie, ohne gefragt zu werden, wer sie seien und woher sie kämen, als Hermanos, als Brüder, willkommen geheißen und sofort als Gleichberechtigte aufgenommen wurden. Sie trafen hier immer Bekannte, ehemalige Mitarbeiter jener Monteria, der sie entflohen waren, und von ihnen wurden sie als alte Rebellen gefeiert; denn durch ihre Flucht und ihr wildes Leben hatten sie bewiesen, dass sie früher Rebellen waren als die andern alle.
Drei dieser verwilderten Muchachos, Onofre, Nabor und Isaias, waren am letzten Nachmittag vor dem Generalabmarsch in dem Hauptlager angekommen. Nachdem sie Bekannte und
Stammesgenossen begrüßt hatten, schlenderten sie auf dem Platze der Ciudad herum, hoffend, noch mehr alte Freunde zu finden.
Bei diesem Herumschlendern kamen sie an den Hütten vorbei, wo sich die Artesanos unter Bewachung befanden. Sie hockten sich hier zu den wachhabenden Muchachos hin, die ihnen Zigarren gaben.
»Warum bewacht ihr denn diese Spitzel und Denunzianten?« fragte Nabor.
»Damit sie nicht ausrücken und sich wegschleichen und vielleicht zu einer Finca kommen und dort melden, was hier los ist.«
»Wer hat denn das angeordnet?« »El Profesor.«
»Ihr seid die rechten Ochsen!« sagte darauf Nabor. »Wenn ich hier auf Wache wäre, dann würde ich nicht lange bewachen, das sollst du nun auch wissen. Diese Sorte bewachst du am besten und am sichersten in einer ganz anderen Weise, aber so, dass sie kein Unheil mehr anrichten können.«
Isaias war aufgestanden und dichter an die eine der Hütten gegangen. Die Türen der Hütten waren offen. Und mehrere der Handwerker hockten außerhalb zwischen den Hütten auf dem Boden und spielten Karten. Andere lagen lang ausgestreckt und schnarchten. Wieder andere hatten ihre Köpfe im Schoße ihrer Frauen, die ihnen die Läuse absuchten. An verschiedenen Feuern kochten die Frauen das Essen für den Abend.
Während Isaias über die Gruppen hinsah, tat er plötzlich einen Ausruf: »Chicos, kommt einmal her. Wen habe ich denn hier?«
Seine beiden Genossen standen auf und kamen heran.
»Verflucht«, sagte Onofre überrascht, »das sind ja unsere Hähnchen, El Poncho und La Ficha.«
»Das sind sie, schön und mollig. Wer hätte das gedacht?«
Die Muchachos, die hier Wache hielten, kamen neugierig näher. »Kennt ihr die beiden?«
»Kennen wir die, Manitos, meine Brüderchen?« Onofre wiederholte das höhnisch. »Und ob wir die kennen. Das sind die gemeinsten, niederträchtigsten und schäbigsten Folterknechte, die es je in der ganzen Christenheit gegeben hat. Die beiden sind es, die uns zu Salvajes machten. Die sind es, die uns drei in die Selva jagten. Diese brutalen Bestien. Die sind keine Menschen, sage ich euch, Manitos. Die sind nicht einmal Tiger. Tiger haben mehr Erbarmen und Mitleid als diese beiden.«
Isaias rief: »Hei, Poncho, und du, Ficha, wie gefällt es euch hier?«
Die angerufenen Leute, die auf dem Boden hockten und mit einigen anderen Karten spielten, blickten auf. Als sie die drei Muchachos erkannten, erbleichten sie und ließen die Karten, die sie in der Hand hielten, fallen.
»Es geht euch gut hier?« rief Onofre. »Sitzt hier mit euren Weibern und euren Bastarden und habt ein fettes Leben.«
»Ist nicht so fett, Muchachos«, erwiderte darauf El Poncho mit dünner Stimme, während er ein dürres Lächeln versuchte.
»Ich glaubte, Muchachos, ihr wäret längst daheim, auf eurer Milpa und verheiratet« sagte La Ficha.
Auch er versuchte, ein zappelndes Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen zu lassen. Aber es war nicht gesund genug, um die Blässe seines Gesichtes aufzufrischen.
Die drei Muchachos kehrten sich um und gingen mit den wachhabenden Burschen weiter zurück in der Richtung auf das große Camp zu, jedoch nicht weiter, als den Wachleuten erlaubt war.
»Seit wann sind denn die beiden Capataces hier in La Armonia?« fragte Isaias. »Wie   kann   ich   das   wissen?'   antwortete   einer   der
Wachhabenden. »Ich bin nicht von der La Armonia, ich bin von El Palo Quemado. Sind die Capataces?« »Die brutalsten und gemeinsten unter den Himmeln Gottes.«
»Wir haben alle Capataces erschlagen. Hier in der La Armonia auch. Aber die waren hier nicht als Capataces. Die waren hier als Arrieros. Sonst wären sie nicht Gefangene«, sagte ein anderer.
»Das ist ja eine gottverdammte Wirtschaft. Was sind das hier für Muchachos? Sind alte Weiber und keine Rebellen. Ha! Da kommen wir nicht weit mit. Rebellen brauchen wir, keine alten Heulfuntzen. Folterknechte fett machen und auch noch bewachen, damit sie nicht von Tigern weggeschleppt werden. Das ist mir auch eine Sache, verflucht noch mal.«
Nabor wandte sich an die Muchachos, die hier auf Wache standen... Wann geht ihr denn zu eurem Abendessen, Camaradas?«
»Sollten wir jetzt haben. Hungrig sind wir genug. Aber wir warten auf die Ablösung.«
»Oder auf den Satan«, sagte darauf Isaias lachend. »Wer, zur Hölle, weiß, wann eure Ablösung kommt. In vier Wochen. Wir sind die Ablösung, wir drei. Los, schiebt ab und schüttet euch euren Bauch voll, bis er aufplatzt. Habt lange genug gehungert.«
Die wachhabenden Muchachos nahmen das Angebot mit Jubel auf. »Wir sind krumm und schief von dem Herumhocken und dummen Glotzen, was die Spione machen, und wie sie sich besaufen und herumfucken mit ihren fetten Weibern, und Kartenspielen um Bohnen und Tabakblätter.«
»Was brauchen die überhaupt Tabak und Karten und Branntwein?« antwortete Nabor. »Hat einer von den Hunden uns je ein Blatt Tabak gegeben oder euch vielleicht?«
»Uns? Nicht einer. Angeschrieen haben sie uns, wenn sie uns nur sahen, und verklatscht, wo sie konnten und gelogen. Das kann ich euch sagen, wenn ich hier etwas zu melden hätte, machte ich kurzen Schnitt mit der ganzen Lumpengesellschaft, genau wie mit den Patrones und den Capataces. Aber wir kommandieren hier ja nicht. Und wenn El Profesor, der Andrucho und der Celso das so haben wollen, gut, uns ist es recht.«
Darauf sagte Isaias: »Dann geht schon los, damit euch da drüben nicht alles weggefressen wird. Die haben Antilope und zwei junge Wildschweinchen. Eilt euch nicht mit dem Wiederkommen. Wir sind gute Wachen. Das könnt ihr drüben im Camp berichten. Wir lassen hier keinen entwischen. Wir nicht. Um zehn wollen wir Ablösung haben, erzähle das dem General.«
»Bueno, asi lo hago«, sagte einer der abziehenden Muchachos. Ich werde dem General melden, dass ihr auf Wache seid. Es ist überhaupt ganz gleichgültig, wer hier auf Wache ist. Und es ist auch dem General gleichgültig. Ich werde die Ablösung für euch selbst aussuchen und um zehn herschicken.«
»Lasst uns eure Machetes hier, Camaradas.«
»Sicher. Nehmt sie. Wir nehmen neue aus der Bodega. Ihr seid heute erst hier zugekommen?«
»Ja. Für die letzten sechs Monate waren wir wild. Wir nahmen unsere Machetes mit uns, als wir wild gingen. Aber das ist eine lange Zeit her. Ein Machete zerbrach, ein anderer versank im Sumpf und wir konnten ihn nicht fischen, und den dritten mussten wir liegen lassen, als eines Tages Capataces mit Hunden hinter uns her waren und wir nicht Zeit hatten, zu unserm Feuer zurückzurennen und den Machete zu holen. Wir hätten von den Muchachos Machetes stehlen können, wenn sie vor den Bäumen waren; aber dann mussten die Muchachos dafür bezahlen. Und ehe wir dazu kamen, uns neue aus einer Bodega zu holen, da war schon alles vorbei.«
»Hier bei uns kriegt ihr alles, was ihr braucht, Muchachos. Ihr habt nur zu sagen, was euch fehlt. Hier nehmt auch noch unsern Tabak, wir gehen zur Tienda. Ist voll von Tabak und allem, was gut ist.«
Die Ablösung kam wie versprochen gegen zehn Uhr. Sie fanden die drei Burschen um ein Feuerchen hocken.
»Die sind heute aber merkwürdig still«, sagte einer der neuen Wache. »Sonst wenn wir kamen, dann schrieen und johlten sie, so besoffen waren sie immer. Wisst ihr, die haben eine Menge Flaschen und sogar Fässchen mit Aguardiente versteckt und vergraben, und daran besaufen sie sich, auch die Weiber und Kinder. El Profesor sagte, wir sollten ihnen diesen versteckten Aguardiente ruhig lassen, damit sie sich daran dumm und blöde saufen können. Und es wäre so sehr schade, sagte er auch, dass wir ihnen keine Marihuana für ihren Tabak geben könnten, damit sie sich gegenseitig abschlachten, wenn sie genug rauchen.«
»Habt nur keine Sorgen«, erwiderte Isaias. »Die haben ihr Hektoliter Aguardiente heute weg. Die sind alle so besoffen, dass sie nicht einmal mehr winseln, so dick voll gepumpt sind sie. Ihr habt eine gute Wache. Könnt schlafen wie faule Dormilones. Rennen euch nicht weg. Gute Nacht!«
»Buenas Noches, Camaradas!«
Ehe der Morgen graute, hatten die Wachen noch dreimal in der Nacht gewechselt. Es waren immer andere Muchachos. Einer der Burschen ging gewöhnlich eine neue Wache suchen, ohne sich lange darum zu kümmern, wer die Ablösenden waren. Solange abgelöst und gewechselt wurde, war es gut.
Ihre einzige Verpflichtung war, die Hütten der gefangenen Artesanos nicht ohne Bewachung zu lassen.
Dazu brauchten sie keinen General und keine Befehle, um die Wache da zu haben, wo sie bestimmt war. Sie regelten das unter sich. Wer von den wachhabenden Muchachos eine neue Ablösung  suchte,  fand  sie  bei  der  ersten  Gruppe  der
Schlafenden, zu der er kam und dort sagte, dass abgelöst werden müsse.
Als es dann Tag zu werden begann, sagte einer der neu ablösen. den Muchachos: »Verflucht, die müssen gestern Abend aber alle stinkbesoffen gewesen sein. Keiner rührt sich.«
Er ging dichter zur ersten Hütte und blinzelte durch die Staketen.
»Hei, Muchachos, kommt einmal hierher. Das sieht da drinnen sehr lieblich aus. Der Aguardiente, den die gestern gesoffen haben, war rot wie Tinte.«
»Nicht einer muckt mehr. Auch die Bastardbrut ist dahin«, sagte ein anderer, der hinzugekommen war.
»Lasst einmal die anderen Hütten ansehen.«
In den anderen Hütten lagen die Leute gleichfalls alle in roter Tinte oder in Tomatentunke oder was es sonst sein mochte. Ein Muchacho ging hinüber zu dem großen Camp, wo die Muchachos bereits alle auf waren und an ihren Feuern kochten.
El General, El Profesor, El Coronel, Celso, Andres, Matias, Fidel, Santiago, Cirilo, Pedro, Valentin, Sixto und noch einige der führenden Muchachos saßen in einer Gruppe und hielten ihren letzten großen Kriegsrat vor dem Abmarsch der ersten Compania, die sich gegen acht Uhr in Marsch setzen sollte.
Der Muchacho meldete, was er in den Hütten der Artesanos gesehen hatte. »Bist du sicher?« fragte El Profesor. »Ganz sicher. Keiner rührt sich oder muckt auch nur.«
»Gracias por Dios!« sagte darauf Celso, »Gott im Himmel sei Dank, dass diese lausige Krabbelei da endlich zu Ende gekommen ist.«
»Es war vielleicht nicht nötig.« Andres setzte ein hilfloses Gesicht auf, als er das sagte. »Die konnten uns nichts schaden. Hätten gut leben können.«
»Rede keine grüne Canela«, rief Matias. »Weg damit. Wozu ist das Pack nütze? Chinches. Wanzen.«
»Richtig, Manito«, setzte Santiago hinzu. »Brauchen wir sie nicht mehr bewachen und füttern. Ist mir die ganze Zeit immer unbequem im Rücken gewesen, wenn ich daran dachte, dass wir die hinter uns zurücklassen wie eine Herde von Spionen.«
El Profesor hob seine Hand auf und machte eine halbe Bewegung durch die Luft. »Was reden wir da lange herum? Sie sind zertreten wie Wanzen, und wie sie es verdienten mit ihrer ganzen Brut.«
Er sah sich um und sagte zu Fidel. Du, nimm dir ein Dutzend Muchachos und steckt die Hütten alle in Brand. Seht zu, dass alles gut abbrennt, sonst stinkt es hier schon um Mittag wie die Pest. Wenn alles niedergebrannt ist, schüttet Erde drauf.«
La Compania primera, die erste Kompanie, war um acht Uhr morgens nicht fertig zum Abmarsch.
Natürlich nicht. In jenen fernen Gegenden ist nie eine Karawane zu der Stunde abmarschfertig, die am Tage vorher festgesetzt wurde. Das ist nicht Schuld der Leute, die für den Abmarsch verantwortlich sind, sondern es sind hundert Umstände und Bedingungen und Vorfälle, die alle und jegliche Pläne beeinflussen.
Es wird, sagen wir, geplant, dass die Karawane zehn Mules braucht. Die zehn Mules sind am Abend vor dem Abmarsch alle da. Am Morgen fehlen drei, die ausgebrochen sind, denn es gibt keine Zäune und keine Mauern. Und wenn man die Tiere anbindet, können sie sich ihr Futter nicht suchen und können sich nicht verteidigen, falls Tiger oder Löwen herankommen. Alle Packsättel sind am Abend vorher marschfähig. Aber in der Nacht fressen Ratten einige Riemen durch, oder herumstreifende hungrige Esel zupfen die Polsterungen der Sättel auf und fressen das hineingestopfte dürre Gras heraus. Die Arrieros und Treiber sind am Abend vorher alle gesund und kräftig. In der Nacht wird einer von einem Skorpion in den Fuß gestochen oder von einer Schlange gebissen oder vom Fieber angefallen. Am Abend vorher war das Camp trocken und der Himmel sternenklar. In der Nacht gibt es einen tropischen Wolkenbruch. Alles ist überschwemmt, Reisepacken und Kisten und Sättel fortgeschwemmt, die Pfade in der Nähe unwägbar für wenigstens einen halben Tag, vorausgesetzt, es erfolgen nicht zwei oder drei neue und noch heftigere Chubascos, begleitet von Hurricanen, die Bäume abknicken wie Zahnstocher. Wird dann am Morgen gepackt, so stellt sich heraus, dass die Packen umgeordnet werden müssen, weil dem einen Tier ein weniger schwerer Packen aufgeladen werden muss, als ursprünglich geplant war, und weil ein anderes Tier darauf besteht, zuletzt beladen zu werden und nicht zuerst, wie die Arrieros am Abend vorher beschlossen hatten.
So sind es hundert Dinge, die auf Marschpläne Einfluss ausüben. Jeder Hanswurst kann hunderttausend Rekruten auf einem Platz zu bestimmter Viertelstunde aufmarschieren lassen; denn vor seinem Auftreten im Zirkus sind von Nichthanswürsten gute Straßen, gute Telegraphen, gute Bahnen gebaut worden, deren er sich bedienen kann. Derselbe Obergeneralissimus würde in jenen Regionen keine zweihundert gutgedrillte Mannschaften von einem Camp zum andern zu führen vermögen mit der gestellten Aufgabe, zwischen sechs Uhr früh und sechs Uhr abends an einem bestimmten Platze zu erscheinen. In den meisten Fällen würde er seine lieben Schwierigkeiten haben, wenn ihm ein Zeitumfang von drei Tagen gegeben ist, um noch als pünktlich zu gelten.
Am Abend vorher war im Kriegsrat beschlossen worden, dass jede Compania einen Tag später abmarschieren sollte als die vorausgehende. Den großen Haufen auf einmal und zu gleicher Zeit durch den Dschungel zu führen, war selbst in der Trockenzeit nicht zu leisten. Nun, inmitten der Regenperiode, würde   es   von   Unheil   gewesen   sein,   den   Marsch   in geschlossenem und aufeinander gedrängtem Haufen zu unternehmen.
Es waren inzwischen mehr als fünfhundert Leute geworden, die den Trupp bildeten. Dazu kamen etwa hundert Mules, Pferde und Esel. Außer den Tieren, die zur La Armonia gehörten, waren noch alle jene hinzugekommen, die Don Acacio aus seinen beiden Monterias gebracht hatte. Auch die Muchachos aus den zahlreichen anderen Monterias hatten in den meisten Fällen Packtiere mitgeführt.
Die Ochsen wurden zurückgelassen. Sie fanden hier Weiden in genügender Menge, und sollten sie sich eines Tages entscheiden, zu ihren heimatlichen Fincas, von denen sie aufgekauft worden waren, heimzukehren, so würden sie den Weg allein finden; denn sie waren ja auf demselben Weg hergetrieben worden.
Freilich wurde die Zahl jeden Tag geringer. Denn jeden Tag wurden zwei oder drei geschlachtet.
Einmal brauchten die Muchachos Fleisch hier, und dann sollten auch große Fleischvorräte auf den Weg mitgenommen werden. Das Fleisch wurde in Streifen geschnitten, gesalzen, mit grünem Chile abgerieben und getrocknet und hielt sich so lange Zeit auf dem Marsche.
Der Haufen musste in kleinen Trupps von nur etwa fünfzig oder sechzig Mann und nicht mehr als fünfzehn, wenn möglich weniger Packtieren marschieren. Nur die erste Compania hatte achtzig Mannschaften und zwanzig Tiere. Sie übernahm die Aufgabe, jeden Paraje zu erweitern und Chocitas zum übernachten zu bauen. Die Parajes waren meist nur kleine Plätze, eingezwängt im dichten Dschungel oder zwischen einem Fluss und einem steilen Berg, oder in einer schluchtähnlichen Gasse im Dickicht. Für die Karawanen der Händler genügten die kleinen Plätze, nicht aber für die Transporte größerer Massen von Leuten. Freilich waren die Parajes zuweilen gelichtet worden, wenn die Agenten hundert oder hundertfünfzig angeworbene Burschen gleich in einem Zuge zu den Monterias brachten.
Aber diese Parajes wuchsen sechs Wochen später wieder völlig zu und wurden von dichtem, stachligem Gestrüpp überwuchert.
Auch brauchten die Tiere Futter. Und hundert oder hundertzwanzig hungrige Packtiere auf einmal an einem Paraje zu füttern, hatte seine Schwierigkeiten. In der Regenzeit freilich wuchs das Grün ungemein rasch nach, und in vierundzwanzig Stunden, bis die nächste Compania nachgerückt kam, war ein gutes Teil Grün schon nachgewachsen. Man brauchte nur wenig tiefer in den Dschungel hineinschlagen, um neues Laub heranzuschaffen oder futterreiches Gebüsch aufzulichten.
Dies waren unbedeutende Schwierigkeiten. Was aber die Aufteilung des Haufens in zahlreiche Marschtage unbedingt nötig machte, war der aufgeweichte und versumpfte Boden. Das erste Hundert des Haufens kam noch gerade durch. Aber das zweite Hundert sank bereits unheilvoll tief in den Schlamm ein, den die vorausmarschierenden Leute und Tiere mit ihren Füßen und Hufe n verursacht hatten. Das dritte Hundert blieb dann völlig im Sumpf stecken. Wurden jedoch die Trupps klein gehalten, so konnte die Erde in den vierundzwanzig Stunden nachsacken und sich um ein gut Teil festigen. Es regnete zwar unaufhörlich nach, aber an vielen Strecken, die nicht eben waren, vermochte das Wasser abzulaufen, was nicht geschehen konnte, wenn ohne Unterbrechung Massen von Menschen und Tieren den Boden zerweichten. Nach diesem Plan wäre die erste Compania bereits zehn Tage voraus gewesen, wenn die letzte noch in der Monteria lagerte.
An der ersten Siedlung am Ausgang des großen Dschungels sollte jede Gruppe warten, bis alle dort angekommen seien, um sich hier wieder zu einem Haufen zu sammeln. Es war freilich notwendig zu verhüten, dass jemand von jener Siedlung einen
Bericht nach den großen Fincas am Wege nach Hucutsin oder Achlumal brachte und die Rurales oder die Federaltruppen in den nächsten Garnisonen von dem Anmarsch der Rebellen unterrichtete. Früher oder später war es ja nicht zu vermeiden. Aber in ihren Plänen wünschten die Muchachos, wenigstens entweder Hucutsin oder Achlumal zu erreichen, ehe das erste Zusammentreffen mit dem Militär erfolge.
Maultierkarawanen marschieren gewöhnlich, je nach der Jahreszeit und je nach dem Gelände, während einer Jornada vier bis neun Leguas, das sind sechzehn bis sechsunddreißig Kilometer. Neun Leguas galt als eine gewaltige Jornada. Sie war nur in der Trockenzeit möglich, und nur mit einer Karawane, die auf dem Rückmarsch war und leer ging. Die übliche Jornada war im Durchschnitt sechs bis sieben Leguas und das bedeutete eine sehr gute Leistung.
Die erste Compania schaffte am ersten Tage nur drei Leguas. Und als die Muchachos am ersten Paraje anlangten, wussten sie, was sie getan hatten, so ermüdet und ausgepumpt waren sie. Da war kaum ein Schritt gewesen, bei dem sie nicht bis nahe an die Knie im Morast wateten.
Die folgenden Trupps, einen Weg vorfindend, der von den vorausmarschierenden aufgeweicht war, waren nicht in der Lage, denselben Paraje während einer Jornada zu erreichen. El General hatte angeordnet, dass jede Compania unter allen Umständen während ihrer Jornada den Paraje zu erreichen habe, den die erste gebaut hatte.
Als aber nun erkannt wurde, dass die folgenden Gruppen auf keinen Fall das zu leisten vermochten, was die erste, auf frischem Wege, leichter tun konnte, ordnete El General für die erste Compania an, dass sie stets nur eine Jornada von etwa drei Stunden tun solle, ganz gleich, wie weit sie während der drei Stunden komme oder wie wenig sie in dieser Zeit zu marschieren vermöge. Natürlich konnten diese drei Stunden nicht auf die Minute genau festgelegt werden, weil der Paraje stets davon abhing, ob Trinkwasser in der Nähe war, ferner Bäume, die Futterlaub für die Tiere trugen und endlich auch genügend Platz für Lagerung. Denn wenn nach drei Stunden Marsch ein Platz erreicht wurde, wo zur Rechten ein Fluss, zur Linken eine Felswand und der Pfad nur gerade breit genug war, dass auf ihm Mann hinter Mann und Mule hinter Mule in indianischer Marschformation marschieren konnte, so eignete sich der Platz nicht für den Bau eines Paraje; es musste entweder eine halbe oder eine ganze Stunde länger marschiert werden, oder die Compania kehrte um und ging zurück zu einem Platz, an dem sie bereits vorbeimarschiert war, der sich aber besser für einen Paraje eignete, ohne die Jornada zu lang werden zu lassen.
Es stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass die Verteilung der Lagerplätze nicht nach Weglänge, sondern nach Zeit eine sehr kluge Idee gewesen war. Einmal gewann die erste Gruppe genügend viel Zeit, gute Chozas zum Übernachten zu bauen, und zum anderen wurden ihre Leute und ihre Tiere nicht übermüdet. Diese Vorteile gewann freilich nur die erste Compania. Aber der Erfolg des Unternehmens wurde gerade durch diese Anordnung verbürgt, vielleicht überhaupt nur möglich gemacht.
Für den ersten Trupp waren drei Stunden Marschzeit ohne Rücksicht auf die erzielte Weglänge wenig.
Aber für jede folgende Gruppe setzten sich die drei Stunden Marschzeit der führenden Compania in Weglänge um; denn jede folgende hatte den gebauten Paraje zu erreichen. Drei Stunden waren so wenig, dass, wie schwierig und sumpfig auch immer der Weg sein mochte, der gebaute Paraje immer während einer Jornada erreicht werden konnte. Freilich wurden die drei Stunden Wegzeit der ersten Compania bereits vier für die zweite, um dieselbe Strecke machen zu können. Immerhin brauchte die letzte Gruppe acht bis neun Stunden, um in einer Jornada zum nächsten Paraje zu gelangen. Jedoch auch die Jornadas   der   gewöhnlichen   Händlerkarawanen   währten gewöhnlich acht bis zehn Stunden, eine Zeit, in der sie freilich größere Wegstrecken zurücklegen konnten als die marschierenden Rebellen.
Jeder fünfte Tag war Ruhetag. An jedem fünften Tage blieb jeder Trupp einen vollen Tag in jenem Paraje lagern, wo er sich am Abend vorher eingefunden hatte. Das gab Menschen und Tieren Zeit, sich zu erholen; und das gab dem Wege Zeit etwas zu versacken und fester zu werden.
Dieser Ruhetag wurde in anderer, sehr vorteilhafter Weise ausgenützt. Jede Compania sandte zwei Muchachos zur vorausmarschierenden und zwei zu der nachfolgenden, um Nachrichten zu empfangen und Nachrichten zu senden. Auf diese Weise blieben alle Gruppen in steter Verbindung, sowohl mit der ersteren als auch mit der letzten und alle übrigen miteinander. Der größte Heerführer hätte es nicht besser machen können, als dieser ungeschulte Generalstab, an dessen Spitze ein Sergeant stand, der Mühe hatte, eine Meldung auszuschreiben, weil er im Schreiben wenig gewandt war. Aber als Offiziere hatte er Leute wie El Profesor, und hatte Leute wie Celso, Andres, Santiago und Matias, indianische Burschen, die zwar nicht gelehrt, aber in Herz und Seele Rebellen waren. Sie wussten genau, wohin sie steuern wollten, und sie steuerten, ohne mit irgendwem, der ihnen in den Weg kommen sollte, zu handeln oder zu verhandeln. »Erde und Freiheit!« Dieses Programm war so einfach, so richtig, so unverfälscht, dass El Profesor keine stundenlangen Reden zu halten brauchte, um die Muchachos von der Weisheit dieser Forderung zu überzeugen.
Der Weg, den der Haufen zog, kreuzte nicht nur zahlreiche Flüsse, die jetzt während der Regenzeit teils reißend waren, teils ihre Ufer nach beiden Seiten hin weit überschwemmten, sondern er zog sich auch noch an den Ufern zahlreicher Seen entlang, die in jenen Regionen so häufig sind.
Mehrere dieser großen Seen hatten hohe, felsige Ufer, und der Pfad führte über jene hohen Ufer, die verhältnismäßig trocken waren, weil das Wasser der Wolkenbrüche von diesen Höhen rasch ablief und die tropische Sonne, sobald sie hervorbrach, einen solchen Weg in einer Stunde trocknete.
Viele der Seen vermochte man vom Wege aus nur durch die Stämme der Bäume zu erkennen, so tief lagen sie. Aber an einigen Seen ging der Pfad dicht am Ufer des Sees entlang, und der Weg lag während der Trockenzeit nur einen Viertelmeter höher als das Ufer. Die Ufer dieser Seen waren meist tief verschilft, und es war oft schwierig, gutes Wasser zum Kochen und Trinken aus dem See zu bekommen, weil man tief in den verschilften Schlamm waten musste, ehe man an das eigentliche Wasser kam. Diese Art von Seen am Marschwege waren es, die alles kluge Planen des Generalstabes dem Scheitern nahe bringen konnten.
Am sechsten Marschtage erreichte die erste Compania den ersten dieser Seen. Es war El Lago Santa Lucina.
El General kroch durch tiefen Morast zu einigen Burschen, die weit voranmarschiert waren und als Vortrupp galten. Celso und Santiago waren unter ihnen.
»Sieht verflucht böse aus hier herum«, sagte El General.
»Wem erzählst du das?' erwiderte Celso lachend, der bis zu den Hüften im Sumpf steckte.
»Hier kommt unser Revolutionsmarsch zu seinem ersten Stand.«
»Und zu seinem ersten Kampf«, fügte Santiago hinzu, der einige Schritte hinter Celso im Schlamme steckte und sich anstrengte, auf irgendeine neu entdeckte Art sich an seinem eigenen Haarwuschel herauszuzerren.
»Wahrscheinlich stecken wir hier eine volle Woche«, sagte El General, sich das überlaufene Ufer betrachtend. Er war nicht so dicht herangekommen, um gleichfalls zu versinken. Als das erste Mule herankam, kletterte er ihm auf den Rücken, um einen besseren und weiteren Überblick zu erhalten.
Was er sah, entlockte ihm einen neuen Satz: »Es kann auch sein, dass wir hier drei Monate bleiben, bis sich die Wasser verlaufen haben.«
Celso watete mit Mühe zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, um auf festeren Boden zu gelangen. Es glückte ihm und den übrigen Burschen des Vortrupps.
El General sandte sofort Meldung, dass der Trupp für eine Weile halten solle und da, wo jeder stünde. Vom ersten Mann einer Compania bis zum letzten derselben war oft ein Abstand von einem halben Kilometer.
Die Muchachos begannen, die Gegend zu untersuchen und zu erforschen, die weiter vom Ufer entfernt lag, um herauszufinden, ob sich nicht ein neuer Weg bahnen lasse, der den See weit umginge.
Der erste Bericht, der nach zwei Stunden anlangte, ergab, dass auf wenigstens fünf Kilometer weit zur Seite hin Sumpf und Schlamm sei.
»War vorauszusehen«, meinte Celso, »denn wäre das nicht so, dann hätten die Pataches und Karawanen, die hier in den letzten Jahren vorüberzogen, längst einen neuen Weg gesucht.«
»Wohl richtig«, meinte El General. »Aber irgendwo muss ein anderer Weg zu finden sein. Weit hinter jenem Höhenzug. Ein solcher Weg wird freilich einen Umweg von zwei oder drei Tagen bedeuten; darum wird ihn auch ein Arriero nie gesucht haben. Wer will drei Tage verlieren auf einem solchen Marsch? Für uns natürlich ist das eine andere Sache. Wir können den Umweg machen. Wir kommen schon noch zur Zeit. Die Fincas und die Dörfer und die Erde, die wir haben wollen, und die Freiheit um die wir kämpfen, laufen uns nicht weg.«
El Profesor war herangekommen. »Ob die Erde fortläuft, ist vielleicht nicht so fraglich. Aber Freiheit kann euch allen fortlaufen, wenn ihr nicht zur Hand seid. Wir, die wir Erde und Freiheit haben wollen, müssen nicht nur zu rechter Zeit ankommen, sondern auch noch alle zu gleicher Zeit. In Massen müssen wir ankommen. Sonst unterliegen wir. Wir können nur als Masse und in der Masse und mit der Masse gewinnen, weil wir nur als Masse etwas wert sind. Nehmt hier irgendeinen Mann heraus, dich, Celso, oder dich, Santiago: euch fehlt der geschulte Kopf, das kluge Hirn, um für euch allein etwas zu gewinnen. Jeder gewöhnliche Schreiber in irgendeinem Cabildo oder in einer Tienda ist euch überlegen, der nimmt euch den letzten Centavo aus der Tasche und die letzte Krume Erde weg, weil er geschulter ist als ihr. Einer von denen, die einen klugen Kopf haben, ist mehr wert als hundert von euch Dummen, die ihr nichts gelernt habt, nicht schreiben und nicht rechnen könnt, und darum immer belogen, immer betrogen werdet, weil ihr jedem aufs Wort glaubt der euch etwas vorredet. Aber in der Masse zählt ihr. In der Masse habt ihr tausend Köpfe und zweitausend starke Arme, und in der Masse seid ihr allen überlegen. Und darum ist es, dass ich sage, die Freiheit kann auch weglaufen, wenn wir nicht alle zusammen in einer großen Masse und alle zu gleicher Zeit kommen. Gegen zehn Millionen Ameisen ist auch der stärkste Löwe machtlos, da lässt er den jungen Ochsen, den er sich schnappte, wieder laufen. Ihr seid die Ameisen, und die Patrones sind die Löwen.«
»Gut geredet Profesor«, sagte El General. »Aber was gerade jetzt wichtiger ist, das ist, einen neuen Weg zu suchen. Zurück zur Monteria zu gehen und dort zwei oder drei Monate zu warten, bis hier der Weg ausgetrocknet ist, hat keinen Wert.«
»Richtig. Das hat keinen Wert. Wir bleiben am Marschieren. Dann können wir auch nicht verrosten. Und wer weiß, was drinnen im Lande jetzt los ist. Vielleicht kommen wir gerade zur rechten Zeit, alle Lässigen und Faulen unter den Peones aufzurütteln. Wenn sie unsern Zug sehen, unsern Mut und unsere Waffen, dann kommen sie auf ihre Füße. Also los, weitermarschiert!«
Es war fürwahr harte Arbeit, einen neuen Weg durch den versumpften Dschungel zu schlagen. Der neue Weg bog mehr als sechs Kilometer seitlich vorn See Santa Lucina hinweg, tief in den unberührten Dschungel hinein. Dann zog er sich mühselig über ein durchbrochenes, felsiges Gelände hinweg, steil einige dreihundert Meter hinauf und dann wieder hinab. Darauf wurde nach Nordwesten zu der Hauptweg wieder aufgesucht, den der Trupp unter unendlichen Mühen spät am Abend auch erreichte.
Dieser Umweg um das sumpfige Gelände des überschwemmten großen Sees hatte so viel Zeit verbraucht, dass die zweite Gruppe aufkam und an diesem Abend mit der ersten gemeinsames Lager unterhielt. Damit die beiden Companias sich wieder trennen konnten, um die beschlossene Marschordnung aufrechtzuerhalten, sah sich der erste Trupp am nächsten Tage gezwungen, anstatt drei Stunden sechs Stunden zu marschieren. Die ersten drei Stunden marschierten beide gemeinsam.
Als sich dann ein geeigneter Rastplatz fand, blieb die zweite Compania hier, während die erste drei Stunden weitermarschierte.
Der Umweg um den See Santa Lucina war nicht der einzige Umweg, der neu geschaffen werden musste. An drei Flüssen konnte der Übergang auf dem üblichen Karawanenweg nicht erfolgen. Neue Furten mussten gesucht werden. Und es kam ein sehr kleiner See, der mehr Mühe verursachte als die großen. Es war La Lagunita. Hier konnte, der felsigen Berge, einiger Flussläufe und zweier anderer Seen wegen, kein Umweg gesucht werden, der weniger als dreißig Kilometer Marsch erfordert haben würde. Es blieb nichts anderes übrig, als den Weg dicht an La Lagunita vorbei in der Weise mit Stämmen zu pflastern, gleich den Callejones im Dschungel, auf denen die Trozas entlang geschleift werden. Aber der Sumpf verschluckte die nebeneinander aufgereihte Stämme so rasch, dass jede nachfolgende Compania diese Brücken erneut bauen musste.
Der Marsch bis zur ersten Siedlung an der äußeren Grenze des großen Dschungels hatte achtundzwanzig Muchachos, vier Mädchen und drei Kindern das Leben gekostet. Einige waren im Sumpf versunken und erstickt, andere waren bei den zahlreichen Flussübergängen ertrunken, andere von reißenden Strömungen fortgerissen und gegen Steine und Stämme geschmettert worden, wieder andere waren mit abbrechenden Pfaden in Schluchten gestürzt oder von Felsbrocken zermalmt worden, die sich lösten und auf den marschierenden Haufen schlugen. Es gab ein Dutzend zerbrochene Beine und Arme. Ein halbes Hundert aufgeschlagene Schädel gab es, und ein weiteres halbes Hundert von Muchachos schleppte sich dahin, vom Fieber gepeitscht, mit verschrumpften, matten Augen, grünlichgelben Gesichtern und faustgroßen, grauen Höhlen in den Backen. Sechs der Gefallenen waren vielleicht einer nach dem andern in verschiedenen Nächten von Tigern oder Löwen geschnappt worden. Immer, des Nachts, wenn infolge des Regens die Feuer verlöscht waren, oder die Burschen sich in der Dunkelheit zu weit von dem Kern des Lagers entfernten. Es war freilich nicht gewiss, ob die Tiger sie geholt hatten. Niemand hatte es gesehen. Aber sie waren am Morgen verschwunden, und, vom Regen halb verwischt, wurden mehrere Male die Spuren der mächtigen Tatzen eines Tigre Real nicht weit vom Lager entdeckt.
Ein Drittel der Packtiere war verloren gegangen. Die Ursachen waren dieselben wie bei den Muchachos, und zwar so ziemlich in einem gleichen Verhältnis in den verschiedenen Arten der Ursachen. Die Tiere erkrankten zwar nicht am Fieber, jedoch an Kolik. Das war der einzige Unterschied. Und die Hälfte, trotz aller Vorsicht, hatte Wunden auf dem Rücken, in denen fingerlange Maden sich wanden. Andere trugen böse Wunden an den Beinen, verursacht von glasscharfen Felskanten oder gebissen von Schlangen oder Tigretes.
Trotz dieser Verluste, trotz aller Krankheiten, trotz der Müdigkeit   und    Erschlaffung    aller,    war    der    Trupp zuversichtlicher Stimmung. Es herrschte Fröhlichkeit nicht nur in verschiedenen Kochgemeinschaften, sondern in jeder Compania. Ganz gleich, wie hart auch der Weg während des Tages gewesen sein mochte, ganz gleich, wie traurig hier und da der Verlust eines Kameraden auch von dem einen oder anderen gefühlt wurde, am Abend im Lager schien alles vergessen zu sein. Die Toten waren begraben, und man ließ sie begraben sein. Es ging lustig zu in jedem Lager einer jeden Gruppe.
Alle waren so voller Glauben, dass sie auf dem Marsch zu ihrem Gelobten Lande, zu Freiheit und Erde seien, dass sich auch nicht einer von ihnen erinnern konnte, je in seinem ganzen Leben so fröhlich und so voller Hoffnung gewesen zu sein, wie jetzt auf diesem Marsche.
Alle hatten während der letzten Monate und Jahre in der Monteria gelebt ohne irgendwelche Hoffnung auf auch nur die kleinste Änderung ihrer Lage, hatten dahingelebt und dahingedämmert, abgestumpft gegen alles, was den Menschen vom Tier unterscheidet, und waren nur dann froh, wenn sie am Abend nicht gepeitscht oder gehenkt wurden und man sie in Ruhe ließ. Dankbar waren sie bis zu kriechender Unterwürfigkeit eines völlig gebrochenen Hundes wenn ihnen der Patron oder der Capataz mit breitgezogenem Maule sagte: »Nun gut, ich werde dir diesmal deine Prügel schenken; knie nieder und küss mir die Hand!«
Und nun endlich kamen sie zur ersten Siedlung. Hinter sich den Dschungel und die Monterias mit ihren Grauen und Schrecken. Vor ihnen ihre Dörfer, Väter und Mütter. Vor ihnen Freiheit und Erde.
Vor ihnen: »Tierra fibre para todos, tierra sin amos y sin capataces! Freie Erde für alle, Erde ohne Herren und ohne Peitscher!«
Es wurde ihnen so wohl ums Herz, sie hätten weinen können, als El Profesor den ganzen Haufen um sich versammelte und sagte: »Oiga, Muchachos, selbst wenn wir verlieren sollten, selbst wenn wir alle von den Kugeln der Rurales und Federales niederkartätscht werden sollten, selbst wenn keiner von uns Freiheit und Erde je gewinnen sollte: Dass wir die Monterias überwältigten, dass wir den Marsch für uns taten, dass wir heute nach eigenem Willen und als freie Männer hier sind, ledig aller Leibeigenschaft, das allein ist unser Leben und das Leben eines jeden einzelnen von uns wert gewesen. Einmal frei gewesen zu sein, war es auch nur für drei Monate, ist mehr wert denn hundert Jahre Leben als gehorsamer Knecht. Wenn wir jetzt fallen, fallen wir nicht länger mehr als Peones, als Gehenkte und Gepeitschte, wenn wir jetzt fallen, dann fallen wir als freie Bürger der Erde, als freie Rebellen, als wahre Soldaten der Revolution.«
»Si, si, profesor. Es la verdad!« schrieen die Hunderte versammelter Muchachos. »Somos libres y luchamos por la libertad!«
»Richtig! Muchachos, richtig gesagt!« rief El Profesor von dem Ast des Baumes herunter, auf dem er saß, um einen weiten Überblick über die versammelten Muchachos zu haben. »Wir sind frei. Aber wir sind nicht nur frei für uns allein. Als Freie haben wir eine Aufgabe zu erfüllen. Als Freie sind wir Kämpfer für die Freiheit aller, die heute noch unfrei sind, für alle Bauern und Arbeiter, und alle vereinigt für den gleichen Freiheitskampf.«
»Viva la libertad! Viva El Profesor! Arriba la lucha por la Tierra y Libertad!« Die Muchachos schrieen es in voller Begeisterung.
An diesem Tage war die letzte Compania hier angelangt, und die kleine Armee war vollständig.
Freunde und Arbeitskameraden, die in verschiedenen Gruppen marschiert waren, fanden sich wieder, hockten an gemeinsamem Feuer und erzählten sich ihre Erlebnisse des
Marsches.
Es ging lustig zu. Viele musizierten auf Mundharmonikas, andere auf einfachen Fiedeln und Gitarren. Es wurde gesungen. Jämmerlich genug war das Singen. Aber es war ihr eigenes Singen, und darum gefiel es ihnen. Es wurde getanzt, gelacht, gelärmt. Das Gefühl, den Dschungel mit seinen Schrecken, Anstrengungen, Sümpfen, Morästen und seinen grausigen Nächten hinter sich zu haben, löste in allen einen Taumel der Freude aus. Es war ihre Erholung von dem harten Marsch und den nassen Nächten.
Der Dschungel als Ganzes war hier bei dieser Siedlung zu Ende. Seine Ausläufer freilich ragten noch tagereisenweit ins Land hinein. Die Wege wurden nur merklich besser, an einigen Stellen jedoch waren sie ebenso schlecht wie im Dschungel. Der Regen dauerte noch an, vielleicht noch Wochen; aber er begann nun, leichter zu werden. Schon in den letzten Tagen auf dem Marsche war der Regen weniger häufig gewesen. Es gab sogar schon einmal drei Tage ohne Regen. Dafür mochte er freilich morgen oder noch in dieser Nacht mit einem schweren Wolkenbruch neu anfangen und eine weitere Periode von zwei oder drei Wochen einleiten.
Aber der Dschungel war verlassen. Auf einem Marsch von fünfzehn Kilometern konnte man nun schon zwei oder drei Hütten, eine Siedlung oder einen Rancho antreffen. Dann nach weiteren fünfzehn Kilometern kam man bereits zu den ersten größeren Fincas. Dann abermals etwa fünfzig oder sechzig Kilometer mehr, und die ersten kleinen vorgeschobenen Städtchen, wie Hucutsin und Achlumal, wurden erreicht.
Von hier an traf man kleine Pataches, kleine Mulekarawanen, auf den Wegen, sowie Gruppen von indianischen Kleinbauern, die ihre Waren zu Markte brachten. Bis zu jenen kleinen Städtchen, und noch darüber hinaus, befanden sich zwar hin und wieder immer noch Strecken von Dschungel, weite Gelände mit Busch  und  große  Wälder,   durch  die  man  halbe  Tage marschierte. Aber der Dschungel als Ganzes, als ein Tag und Nacht drohendes Ungeheuer war zu Ende.
Jetzt begannen schon die Felder mit Mais und Bohnen, hier und da verstohlen eingeschoben und eingebettet in den Urwald und in den Busch. Und je weiter der Marsch ging, um so häufiger wurden sie, bis sie sich in den Fincas so weit ausdehnten, wie man mit den Augen sehen konnte.
El Requemado, die Siedlung hier am Eingang des Dschungels, hatte etwa dreißig Jahre früher als Monteria begonnen. Nachdem alle Caoba geschlagen war und, wie in allen übrigen Monterias, auch nicht ein einziges neues Bäumchen gepflanzt worden war, obgleich die Konzessionen das ausdrücklich bestimmten, hatte ein Freund des Jefe Politico die Monteria für einige hundert Pesos von der Regierung erworben, einige indianische Familien hergelockt, um hier als Peones zu arbeiten, einen Mayordomo eingesetzt und diese ehemalige Monteria in einen Rancho umgewandelt. Dieser Rancho war armselig und brachte seinem Besitzer, der nie herkam, sondern in Jovel lebte und dort einen kleinen Kramladen unterhielt, so gut wie nichts ein, vielleicht hundert Pesos im Jahr. Der Mayordomo erhielt keinen Lohn, sondern machte sich bezahlt durch den Verkauf von Lebensmitteln an die Karawanen und an Caobaleute, wenn sie auf ihrem Marsch in die Monterias hier vorbeikamen und für eine Nacht rasteten.
Don Chucho, der gegenwärtige Mayordomo, bekam einen fürchterlichen Schrecken, als die erste Compania angerückt kam und in der Nähe des Ranchos zu lagern begann. Er versuchte einige der Muchachos zu fragen, ob die Monterias geschlossen haben oder ob sie entlassen seien und warum sie Mules und Pferde der Monterias mit sich führten, ohne von Capataces begleitet zu sein. Die Antworten, die er erhielt, waren dürftig und verworren. Aber er war vorsichtig genug, nicht zu eingehend zu forschen, warum die Muchachos auf dem Marsch seien. Schließlich beruhigte er sich damit, dass es ihn ja wirklich im Grunde gar nichts anginge, warum sie die Monterias verlassen hätten.
Als dann aber mit jedem folgenden Tage eine weitere Compania angerückt kam und keine der früher angelangten abmarschierte, sondern das Lager immer größer wurde, beschloss er, einen seiner Peones mit Nachricht zu einer der nächsten Fincas zu senden. Seine Frau jedoch riet ihm von diesem Vorhaben ab. »Dir ist bis jetzt nichts gestohlen worden, Chucho. Die Muchachos bezahlen, was sie kaufen. Wenn es auch nicht viel ist, was sie kaufen, es ist immerhin etwas. Und wenn die Muchachos etwas unter sich abgemacht haben, was geht's uns an. Kommt es raus, dass du einen Mann zu den Fincas geschickt und die Muchachos an die Rurales verraten hast, dann geht es uns allen trübe hier. Das weißt du recht gut. Lass darum die Finger davon.«
Don Chucho sah ein, dass seine Frau wieder einmal recht hatte. Das schmerzte ihn mehr als die Nähe eines so großen Lagers von Indianern, die auf dem Marsch waren und, was das Unangenehmste war, Waffen mit sich führten. Wo die Muchachos die Revolver, Jagdgewehre und Schrotbüchsen herhatten, ahnte er wohl. Aber er war weise genug, sich das nicht laut einzugestehen, weil er fürchtete, vor Schreck tot umzufallen, wenn er sich klar ausdenken würde, was in den Tiefen des Dschungels und in den Monterias geschehen sein mochte.
Der entscheidende Grund jedoch, warum Don Chucho keine Nachricht abschickte, war ein kluger und wahrhaft strategischer. Er sagte zu seiner Frau ganz richtig: »Wenn die Rurales von dem Anmarsch dieser Masse meuternder Muchachos unterrichtet werden, dann kommen die Rurales nicht hierher, sondern bleiben nahe den Fincas und Domänen und kleinen Städten, wo sie den Haufen erwarten und ihm dort eine Schlacht liefern. Die Muchachos verlieren die Schlacht und fliehen zurück, um sich im Dschungel zu verstecken, bis sie sich einzeln zu ihren Dörfern schleichen können. Wenn sie zurückgetrieben werden, dann müssen sie an dieser Siedlung wieder vorüberkommen; denn der Dschungel ist ihre einzige Rettung, von dort aus haben sie keinen Angriff zu befürchten. Kommen sie zurück, ein geschlagener Haufen, besiegt und gedemütigt, hungrig, verärgert, erbost und verzweifelt, so bleibt von dieser Siedlung kein Halm, kein Schwein, keine Ziege, kein Huhn übrig. Aber was das Schlimmste ist, ich werde erschlagen wie ein kranker Hund und du auch, und wer weiß, was sie sonst noch mit dir machen. Denn sie würden inzwischen erfahren haben, dass ich sie an die Rurales verriet.«
Don Chucho erkannte die Sachlage gut. Das musste sogar seine Frau anerkennen. »Du bist viel klüger, als ich je gedacht habe, Chucho«, sagte sie mit einiger Bewunderung in ihrer Stimme.
Worauf er antwortete: »Gut, dass du das endlich einmal einsiehst, Vieja, wer von uns beiden das größte Hirn im Schädel hat. Es ist selten, dass du die Weisheit deines Mannes zu schätzen weißt.«
»Schade, dass du so selten deine Weisheit offenbarst.« Sie winkte ihn ins Haus, das genauer bezeichnet, nur eine Lehmhütte war. Als er drin war, sagte sie: »Es ist besser, du lässt dich nicht so viel draußen herum sehen.«
So sehr dicht bei der Siedlung war das Lager freilich nicht. Dazu wäre in dem kleinen Rancho nicht genügend Platz gewesen; denn es war nur gerade soviel Dschungel gelichtet, dass Platz für die Hütten der Peones war sowie für die Maisfelder und Bohnenäcker. Jedoch weiter hin, auf dem Wege zu den Fincas, etwa einen Kilometer entfernt von dem Rancho, war eine Lichtung am Ufer eines Flusses, dichtbewachsen mit gratigem Dschungelgras und hohem Schilf. Und es war auf dieser Lichtung,  wo El  General  den Haufen zu lagern angeordnet hatte.
Diese Lichtung hatte den strategischen Vorteil, dass von dem Rancho kaum jemand zu den Fincas gehen konnte oder umgekehrt ohne an dem Lager vorüberkommen zu müssen; denn hier war die einzige Furt über den Fluss, der jetzt infolge des Regens hoch war und wahrscheinlich nur gekreuzt werden konnte, wenn ein langer Umweg, der Tage dauern mochte, unternommen wurde. Diesen Umweg zu finden und zu erforschen, konnte allein eine volle Woche an Zeit gebrauchen.
Es gab also genügend Gründe, warum der Generalstab des Rebellentrupps keinen Angriff von den Rurales oder den Federalsoldaten zu erwarten brauchte. Auf keinen Fall hier, auch nicht innerhalb der nächsten sechs Tage. Keine noch so tapferen Polizeimannschaften des Diktators würden bis hierher kommen, um den Trupp abzuschlachten. Der Dschungel war noch zu dick und zu dicht hier draußen.
Maschinengewehre hatten hier keinen Wert, und selbst die vortrefflichen Karabiner reichten in diesem Gelände nicht weit. Hier konnte nichts von alledem verwendet werden, was Soldaten auf Exerzierplätzen und Kasernenhöfen und während der Manöver so schwer gelernt hatten. Hier waren die Muchachos, die barfuss liefen, die den Dschungel kannten, immer und jedes Mal im Vorteil gegenüber regulären Soldaten. Hier ging es Mann gegen Mann und ohne Erbarmen und ohne Gnade. Hier waren Knüppel, Machetes, Messer, Steine und die harten Fäuste der Hacheros von größerem Kriegswert als die schönsten Karabiner. Das alles wussten natürlich auch die Offiziere der Landpolizei und der Soldaten recht gut. Und deshalb waren die Muchachos, selbst wenn die Rurales Nachricht von der Rebellion erhalten haben sollten, hier, wo sie jetzt lagerten, vor jedem Angriff sicher.
In dem Kriegsrat der Muchachos wurde nicht um irgendwelche Programmpunkte geredet, nicht darum, welche Ansicht die revolutionärste sei und welche als Verrat angesehen werden müsse, sondern der Streit ging darum, welche der Companias von nun an, wo er ernst zu werden begann, an der Spitze marschieren sollte. Die erste Compania hatte die ruhmvolle Aussicht, bis auf den letzten Mann niedergemäht zu werden, sobald die Rurales ein Maschinengewehr auf den Boden brachten.
Glücklicherweise waren die Muchachos nicht verdummt worden von Artikelschreibern und Versammlungsrednern. Sie waren nüchtern und praktisch. Es war ihnen nicht darum zu tun, Ruhm zu gewinnen. Sie hatten keinen anderen Gedanken als den Rurales und Federales die schönen neuen Karabiner, Revolver und Maschinengewehre abzunehmen. Alle besaßen einen guten natürlichen Instinkt, der sie lehrte: Wenn du Waffen hast und dein Gegner hat keine, dann gewinnst du die Revolution oder die Rebellion oder wie du das nennst; denn in seiner letzten Form handelt es sich bei allen wahren Revolutionen nicht um mehr Lohn, nicht um Aufteilung allen Besitzes, nicht um Privilegien, sondern um unverbrämte und unverkleidete Gerechtigkeit.
Der Sinn ihrer Rebellion bestand für die Muchachos vorläufig in nichts anderem als darin, nicht mehr geknechtet, nicht mehr geprügelt, nicht mehr versklavt zu werden. Seit seiner Kindheit hatte jeder einzelne von ihnen erfahren und gesehen, dass immer derjenige, der einen Revolver auf dem Hintern trägt oder einen Karabiner umgehängt hat, den Indianer knechten, ausbeuten, prügeln und ihm befehlen darf; und weil er, der indianische Arbeiter, eben keinen Revolver hat, darum muss er gehorchen und sich alles, was ihm angetan wird, gefallen lassen, und wenn er das Maul auftut, um ein Wort dagegen zu sagen, wird ihm der Revolverkolben auf das Maul geschlagen und der Karabinerkolben in den Magen gestoßen.
So war es ganz natürlich, dass für die Muchachos der Besitz der Waffen gleichbedeutend wurde mit dem Sieg der Rebellion. Allen ihren Gegnern die Waffen abzunehmen, bedeutete für sie, die Ergebnisse der Revolution für alle kommenden Zeiten und Ereignisse zu sichern.
Die Gruppe, die an der Spitze marschierte, würde das erste Zusammentreffen haben mit denen, die vorzügliche Waffen besaßen. Dass von jener ersten Gruppe wahrscheinlich dreiviertel niederkartätscht werden würden, war einem jeden der Muchachos völlig klar. Aber ein Viertel würde wahrscheinlich überleben. Und dieses Viertel hatte Anrecht auf alle Waffen, die gewonnen wurden. So wie jeder Mensch anderswo, der ein Lotterielos kauft, hofft, den großen Preis zu gewinnen, so hoffte jeder einzelne hier, zu dem überlebenden Viertel zu gehören und sich unter den gewonnenen Waffen die auszusuchen, die ihm am besten gefielen.
Den langen Reden und Streitigkeiten darum, welche Compania von jetzt an den ersten Stoßtrupp bilden sollte, machten El General und Celso plötzlich ein rasches Ende.
El General schrie mit einem Male: »Gottverfluchtes Gesindel, seid ihr denn eine Horde von alten Weibern und Heulfunzen, so lange hier herumzuquasseln? Wir waren die erste Compania, und wir bleiben die erste Compania. Schluss und Ruhe nun!«
Weil diese kurze und entscheidende Ansprache an die Armee dem Celso noch nicht deutlich genug schien, stand er auf und rief. »Gottverdammte Hurensöhne, wer nicht einverstanden ist mit dem, was euch El General eben gesagt hat, kriegt eins in die Fresse. Verstanden? Wir sind in der Rebellion. Und in einer Rebellion wird nicht geredet, sondern gekämpft. Ihr kommt alle dran. Nur keine Sorge. In sechs Tagen ist sowieso und auf alle Fälle die Hälfte von euch allen nicht mehr am Leben.«
»Viva! Bravo!« riefen die Muchachos. Und mehrere schrieen:«Richtig, Celso, aber die andere Hälfte hat die Gewehre und die Patronen. Tierra y Libertad! »
Inzwischen waren die indianischen Männer, die als Peones in der Siedlung lebten, hierher ins Lager gekommen. Sie kannten einige der Muchachos von früher her. Es war Nacht. Am Tage hatten sie sich nicht hergewagt aus Furcht vor dem Mayordomo des Ranchos.
Zaghaft kamen sie heran, weil sie nicht recht wussten, wie der Trupp sie aufnehmen würde. Sie gehörten ja nicht zu ihnen, hatten bis jetzt und während der Tage des Aufmarsches der vielen Companias nichts getan, sich das Vertrauen oder die Freundschaft der rebellischen Muchachos zu verdienen. Es wäre durchaus natürlich gewesen, dass man sie für Spione ansah, die nicht herkamen, Genossen im allgemeinen Kampf zu finden, sondern die sich hierher schlichen, um die Pläne der Rebellen zu erforschen, sie dann ihrem Mayordomo mitzuteilen oder sich gar einen Peso zu verdienen und die Rebellen an die Rurales oder an den nächsten Domänenbesitzer zu verraten.
Aber durch die Burschen, die sie von früher kannten, weil sie aus denselben Dörfern stammten und derselben Nation angehörten, hatten sie zwar nicht viel, aber doch einiges erfahren. Sie wussten, dass die Muchachos sich in Meuterei befanden, dass sie die Monterias gründlich reingefegt hatten und nun auf dem Marsch waren, um auch in den Fincas einmal ebenso gründlich aufzuräumen.
Weil sie das wussten, kamen sie gleich auf den Kern der Sache, sobald sie einmal im Lager waren.
Sie fragten nach dem Capitan, und man nannte ihnen El Profesor und El General. Sie gingen zu dem Feuer, wo der Generalstab hockte und, ihre Hüte höflich abnehmend, sagten sie: »Jefe, was tun denn wir hier, willst du uns das nicht sagen?«
»Ich bin euer Jefe nicht Hombres«, antwortete EI Profesor. »Es gibt keine Jefes mehr und auch keine Patrones. Ich bin euer Camarada. Und wenn ihr Peones seid hier auf diesem dreckigen Ranchito, dann seid ihr willkommen, und ihr seid unsere Camaradas. Tierra y Libertad! Erde und Freiheit für alle, ohne Capataces und Patrones!«
»Camaradas, das ist es ja, was auch wir wollen. Ein
Stückchen Erde, das uns gehört, und Freiheit, damit wir das Stückchen Erde in Frieden bebauen können ohne Prügel der Mayordomos, und dass wir miteinander reden und beraten dürfen, was wir wollen, und wir nicht aufs Maul geschlagen werden.
Das ist alles. Und wenn wir das haben, sind wir zufrieden und machen deine Rebellion mit.«
»Gut, wenn ihr das wollt, dann seid ihr Camaradas buenos, treue Genossen. Wir brauchen mehr Kämpfer, denn es werden genug niedergeschossen werden. Dann kommt nur gleich hier mit uns. Morgen früh marschieren wir.«
»Mira, Jefecito, sieh mal hier«, begann der Wortführer.
»Verflucht noch mal, habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht Jefe zu mir sagen, oder ich haue dir mächtig eins in deine Fratze.«
»Perdone me, Camarada. Mira. Sieh hier. Ich habe da eine kleine Milpa, ein Stückchen Feld, und da habe ich den Mais schon gepflanzt. Wenn ich mit euch gehe, dann kann ich den Mais nicht einernten. Und ich habe drei kleine Schweinchen. Was mache ich mit denen?«
»Du willst doch Erde haben und Freiheit?«
»Sicher will ich das haben. Aber, sieh hier, Camarada, und da habe ich auch eine Frau. Die ist nun gerade jetzt kräftig dick. Es wird wohl nur noch drei Wochen dauern, sagt die Madrona, die ihr dann helfen wird, wenn es soweit ist. Da kann ich nun meine Frau nicht allein lassen.«
»Gut dann bleibst du eben hier. Und besser, ihr bleibt alle hier auf eurem Rancho, lasst euch weiter verprügeln und weiter die Fressen breitschlagen, wenn ihr sie aufmacht.«
»Wir würden das alles freilich gern ändern. Den Rancho könnten wir gut für uns gebrauchen. Wir haben jeder hier, kannst uns alle fragen, nur gerade ein kleines Fleckchen, wo wir unsern Mais pflanzen und unsere Bohnen. Dafür, dass wir das Fleckchen haben, müssen wir jeden Monat drei Wochen für den Rancho arbeiten, ohne dass uns der Mayordomo auch nur einen kleinen Centavito zahlt.«
»Habt ihr jeder einen Machete?« Nun nahm El General die weitere Unterredung auf.
»Freilich, Camarada, haben wir jeder einen Machete.«
»Gut dann. Wenn du eine neue Milpa aus dem Dschungel lichtest und dir ist ein Busch im Wege, was machst du denn
da?«
»Ich wetze meinen Machete und schlage den Busch kurz und klein.«
»Richtig, Amigo. Und wenn du Erde und Freiheit auf dem Ranchito haben willst, wo du jetzt arbeitest, schlecht behandelt wirst, und keinen kleinen Centavito verdienst, wer ist dir dann da im Wege?«
»Das weißt du doch, Camarada. Da ist Don Chucho, der Mayordemo.«
»So, der ist euch im Wege in eurem Verlangen nach Erde und Freiheit?«
»Das habe ich gesagt, und das weißt du ja auch.« »Ihr habt doch alle Machetes?«
»Freilich haben wir Machetes. Hier Florencio und Marcos, die haben sogar zwei.« »Und gut zu wetzen versteht ihr eure Machetes auch?«
»Sehr gut. Wir machen das ja jeden Morgen zwei Stunden vor Sonnenaufgang, weil wir alle mit gewetzten Machetes lange vor der Sonne beim Mayordomo antreten müssen.«
»Dann nehmt nur eure Machetes auf, wetzt sie gut und räumt alles das weg, was euch im Wege ist, wenn ihr den Rancho haben wollt.«
Als die Peones gegangen waren, rief El General den Capitan einer jeden Gruppe herbei, um die Befehle für den nächsten Tag auszugeben.
Es war beschlossen worden, dass von nun an alle Gruppen näher zusammenbleiben sollten, weil an einem der nächsten drei Tage wahrscheinlich die ersten Zusammenstöße erfolgen würden. Die erste Compania, geführt von El General, seinem Generalstabschef Celso und El Profesor, marschierte voran als Stoßtrupp. Eine halbe Stunde Marschzeit darauf folgte die zweite und dritte Compania. Darauf, abermals mit einer halben Stunde Marschzeit dazwischen, folgte die vierte und fünfte. Die sechste, siebente und achte bildeten die Rückendeckung, bei der dreiviertel aller Mules und Pferde geführt wurden und sich die Reserven der Verpflegung befanden.
Jeder Muchacho trug außerdem seinen gewöhnlichen Packen wie auch sonst, wenn er marschierte.
Die Frauen und Kinder, die im Trupp waren, gingen in den Companias, in denen ihre Männer und Väter marschierten. Einige Frauen, darunter Modesta, marschierten im Stoßtrupp; sie trugen ihre Packen so gut wie die Männer.
Was die Muchachos tun würden und wie sie sich benehmen sollten, wenn sie die Fincas und die Dörfer erreichten, das berieten sie nicht. Es kam ihnen nicht einmal der Gedanke, dass sie beraten müssten, was zu geschehen habe, wenn die Rurales und die Federales endlich besiegt sein sollten.
Ohne es zu wissen, und lediglich wieder einmal nur ihrem Instinkt als Unterdrückte folgend, handelten sie durchaus richtig. Es hat keinen Wert, tagelang und wochenlang zu beraten und sich in Sitzungen herumzuschlagen, was man tun müsse, wenn die Revolution gewonnen ist, der Gegner am Boden liegt und sich nicht mehr rühren kann. Gewinne die Revolution, vernichte deine Gegner, und wenn du das getan hast, dann berate darüber, was nun zu geschehen hat!
»Du verkaufst ja auch nicht das Fell des Tigers, ehe du den
Tiger geschossen hast und er nicht mehr weglaufen kann«, sagte El Profesor, als Andres riet, sie sollten einen Plan machen, wie die Finca aufzuteilen wäre, wo er geboren worden war und wo seine Eltern als Peones arbeiteten.
»Aber es ist doch vielleicht gut, sich schon vorher nach jemandem umzusehen, der vielleicht das Fell kaufen möchte, damit man nicht so lange mit dem Fell herumlaufen muss.«
»Weißt du, Andrucho«, belehrte ihn El Profesor, »lass nur die Käufer von Fellen sich vorläufig um sich selbst kümmern. Wenn du die Felle erst einmal sicher hast, dann kommen die Käufer schon, und dann ist es Zeit, über den Preis und die Zahlungsweise zu sprechen.«
Es war noch tiefe Nacht, etwa drei Uhr morgens, als El General die Mannschaften der ersten Compania aufrief, sich marschbereit zu halten. Die übrigen hatten je eine halbe Stunde mehr Zeit für den Abmarsch.
Vier Tage lang war wenig Regen gewesen. Jetzt aber, kurz nach Mitternacht, hatte es wieder heftig zu regnen begonnen. Freilich waren es nun nicht mehr die schweren Ströme, die aus den Wolken schossen. Aber es war doch ein guter, kräftiger Regen, der innerhalb von zwei Stunden nicht nur das ganze Lager aufweichte, sondern auch alle die kleinen, rasch aufgebauten Palmhäuserchen zusammensinken ließ. Der ganze Trupp war in der Stunde, als El General das Marschsignal für die erste Compania gab, so durchnässt, als wäre er durch einen Fluss gewatet. Es kostete Mühe und Geduld, die Feuer in Gang zu bringen und sie am Brennen zu erhalten. Die Muchachos trockneten ihre nassen Lumpen, kochten sich Kaffee und wärmten Bohnen und Reis an.
Gegen vier Uhr ließ der Regen nach und El General gab den Befehl für die erste Compania, zu marschieren.
Die Muchachos nahmen gerade ihre Packen auf, um sich in Marsch zu setzen, als die Peones, die am Abend im Lager gewesen waren, herbeikamen und nach dem General fragten.
»Habt ihr euch nun überlegt, mit uns zu marschieren?' fragte El General.
»No, Camarada«, erwiderte der Wortführer. »Das ist nun nicht mehr nötig. Wir haben jetzt, was wir wollen. Wir haben Tierra y Libertad. Der Ranchito ist nun unser. Wir teilen ihn heute auf unter uns.«
»Und der Mayordomo hat euch den Ranchito gegeben?«
»Ja. Freilich, als wir ihm sagten, dass wir den Ranchito seit Jahren bebaut hätten und dass darum der Ranchito nun uns gehören müsse, weil wir ihn geschaffen und aus dem Dschungel herausgelichtet haben, da sagte Don Chucho, der Mayordomo, das habe er sich schon denken können. Die verdammten, verlausten und verdreckten Meuterer aus der Monterias hätten uns aufgehetzt, sagte er, und wenn wir nicht das Maul hielten, dann werde er jedem von uns hundert überziehen, sobald die verfluchten, stinkigen und dreckigen Aufwiegler aus den Monterias erst einmal von hier fortgezogen seien.«
»Und was habt ihr darauf gesagt?«
»Wir haben sehr wenig gesagt; denn wir hatten schon am Abend noch unsere Machetes gewetzt. Als wir nun näher auf Don Chucho loskamen, feuerte er seinen Revolver los, gleich darauf waren Calixto und Simeon erschossen, und drei andere wälzten sich herum, weil sie ein Stück Blei in die Gedärme gekriegt hatten.«
»Und da habt ihr Angst bekommen und seid weggelaufen?«
»No, Camarada. Da sind wir nicht weggelaufen, sondern wir haben daran gedacht, dass man mit einem guten Machete arbeiten muss, wenn man eine Milpa aus dem Dschungel lichten will. Wir haben dann gleich Don Chucho und Dona Amalia eingegraben, damit sie am Morgen niemand sehen sollte.
Natürlich, ehe wir Don Chucho eingruben, haben wir ihm den
Revolver abgenommen und auch die Jagdflinte, die er hatte. Wir können sie ganz gut für uns gebrauchen. Sein Haus wollen wir nicht. Das ist voll von Ratten. Und nun wirst du wohl verstehen, Camarada Jefecito, dass wir nicht mit euch zu marschieren brauchen. Wir haben, was wir wollen, und mehr wollen wir nicht. Tierra y Libertad, sin mayordomos y sin patrones. Wir sind jetzt die Patrones hier. Aber wenn ihr noch einige Tage hier lagern wollt, Muchachos, wir geben euch gern die Erlaubnis.«
»Das ist schon gut, Amigos«, sagte El General. »Wir marschieren heute früh noch alle ab und niemand stört euch hier in eurer Verteilung der Erde und in eurer Arbeit. Aber wenn die Rurales hier herkommen sollten und euch fragen: Wo ist Euer Mayordomo Don Chucho? Was sagt ihr da?«
»Wir sagen, Don Chucho und Dona Amalia hatten Furcht und sind in den Dschungel geflohen. Mehr wissen wir nicht. Und wenn die Rurales damit nicht zufrieden sind, dann wetzen wir wieder unsere Machetes, und wir haben ja auch einen Revolver und die Schrotflinte. überhaupt kommen jetzt keine Rurales mehr, Jefecito. Ihr besiegt sie alle und auch die Federales. Und wir werden nun gehen, denn wir haben ein fettes Schwein geschlachtet, das Dona Amalia so gut gepflegt hatte. Wir haben nun frisches Fleisch zum Braten, das ist jetzt gerade fertig zum Essen. Aber für euch ist es zu wenig, darum können wir euch nicht einladen, mit uns zu essen. Adios, Camarada Jefe y adios a todos los capitanes y muchisimas gracias. Habt alle einen guten und fröhlichen Marsch.«
El Profesor rief Andres heran und sagte zu ihm leise: »Hast du gut aufgemerkt, Andrucho? Das ist praktische Revolution. Sie laden uns nicht einmal zum Frühstück ein.«
»Was meinst du mit praktischer Revolution, Profesor?« fragte Andres.
»Besitz und Eigentum sind fester begründet als zuvor hier in dieser Nachbarschaft. Es hat sich nur der Name des Besitzers geändert. Und ich kann dir sagen, Camarada, morgen oder übermorgen werden sich die neuen Besitzer hier mit ihren Machetes gegenseitig zerfleischen, eben des neuen Besitzes wegen, bis einer oder keiner übrig bleibt sich des neuen Besitzes zu erfreuen. Wer den Revolver gewann, wird der neue Patron werden, und wer die Schrotflinte hat, der neue Mayordomo. Und die noch übrig bleiben, werden wieder Peones sein.«
»Dann hatte doch die Revolution hier keinen Zweck.«
»Hier nicht. Bei diesen Leuten ist die Revolution zu leicht gewesen und zu rasch gegangen. Das tut Revolutionären niemals gut. Sie wechselten die Äcker und die Schweine. Was aber das Wichtigste ist, die Ideen, auf denen das ganze System aufgebaut ist diese Ideen wurden hier nicht geändert, nicht einmal berührt, ja, nicht einmal begriffen. Das System bleibt dasselbe. Gestern war der Herr hier Don Chucho, heute Eusebio, morgen Florencio. Es sind immer wieder Herren da, und weil Herren da sind, darum sind auch Knechte da. Im Grunde hat sich hier nichts geändert. Sie haben nicht einmal ein Körnchen Dankbarkeit für uns, die wir ihnen geholfen haben, Sie würden dich und mich verhungern lassen, nur um nicht ein Stück Schweinefleisch für sich weniger zu haben.«
»Wie können die armen Muchachos das besser wissen, wenn es ihnen niemand erklärt?« verteidigte Andres die Peones.
»Eine Revolution, die erklärt und vielleicht sogar begründet werden muss, ist keine Revolution, sondern nur ein Streit um Besitz und Ämter. Die wirkliche Revolution, die fähig ist Systeme zu ändern, sitzt dem wahren Revolutionär im Herzen. Der wahre Revolutionär denkt nicht daran, was er persönlich durch eine Revolution verdienen könnte, sei es ein Ministerposten oder ein Bürgermeisterämtchen oder ein vernichteter Geschäftskonkurrent. Der wahre Revolutionär rührt die Grundfesten des Systems auf, unter dem er leidet und unter dein er andere Menschen leiden sieht. Und er opfert sich und stirbt dafür, um die Grundfesten zu zerstören und neue Ideen zu verwirklichen.«
Andres schüttelte den Kopf und sagte: »Profesor, das ist mir alles zu hoch. Ich sollte doch erst einmal Profesor werden, wie du einer bist, ehe ich das verstehe.«
»Brauchst dich nicht zu sorgen, Andrucho«, sagte darauf El Profesor, »du, El General, El Coronel, Celso, das Mädchen Modesta, Santiago, Matias, Fidel, Cirilo und noch eine gute Anzahl von uns hier sind die richtigen Leute, die wir brauchen. Ihr habt es im Herzen, und wer es im Herzen hat, dem braucht man nichts zu erklären.«
Da brüllte eine Stimme durch die Bäume: »Also, zum Teufel, wo ist El Profesor? Profesor! Los, wir marschieren!«
»Estoy, da bin ich, General!« sagte El Profesor, nahe herankommend.
»Lass uns nun vorankneten, Camarada, durch den gottverfluchten Dreck hier. Wir müssen zum Vortrupp. Der ist schon ein gutes Stück voraus.«
»Ich sprach noch soeben mit Andres. Hölle und Teufel mögen mir helfen, was das hier für Leute sind, die Peones meine ich. Morgen werden sie sich gegenseitig abzuschlachten beginnen, weil der eine einen Fetzen mehr Land verlangt, als ihm die anderen bewilligen wollen oder weil ihm ein Stück besser gefällt, auf das sich bereits sein Nachbar hingesetzt hat.«
»Nicht unsere Sorge, Profesor. Mit solchen Kleinigkeiten können wir uns nicht aufhalten. Auch dafür wird einmal Zeit kommen.«
»Richtig, General. Wir werden in den nächsten Wochen anderes zu tun bekommen.«
»Aha, gut geahnt, Comisario, vielleicht schon in den nächsten Tagen. Losgehopst. Kneten wir heftig voran, an den hier stöhnenden Muchachos vorüber, dass wir nach vorn kommen. Immer vorn voran sein, Profesor, dann hört man nicht so viel von den kleinen Ärgerlichkeiten. Je weniger man denen zuhört, um so mehr Vertrauen behält man dafür, dass eine Revolution nicht nur Systeme zu ändern vermag, sondern vielleicht auch den ärmlichen Hökersinn der Menschen.« »Wo hast du denn das her, General?«
»Das habe ich mir in der letzten Nacht so ausgedacht, nachdem die Peones gegangen waren und ich außen um das Lager herumstolperte und von weitem zwischen den Bäumen hindurch die Feuer brennen sah und hier und da etwas auffing von den Hunderten von Reden und Gesprächen, die da in der Luft herumschwirrten. Ausgedacht habe ich es mir. Es kam so ganz wie von selbst.«
»Vorzüglich ausgedacht, General, das könnte man hübsch und sauber aufschreiben, damit es nicht verloren geht.«
Und während sie so sprachen, wateten sie hurtig voran, über Äste, Wurzeln und Steine stolpernd, hier und da bis an die Knie in dem zähen Morast des Dschungels versinkend, erneut aufgeweicht durch den heftigen Regen der Nacht. Kalt, grau und wässrig kroch zögernd der Morgen herauf und wehte missvergnügt und schlecht geschlafen um die Kronen der Urwaldbäume. Hier auf diesem Pfade, im dichten Gebüsch und unter dem verstrickten Laubdach des Dickichts, das nicht einmal einen Glimmer der sich langsam grauenden Wolken hindurchließ, war es noch stockfinster.
Die marschierenden Muchachos verursachten ein merkwürdiges eintöniges Geräusch durch das Quatschen und Flutschen und schlürfende Spritzen der Löcher und Röhren des Morastes, in den die Marschierenden ihre nackten Beine hineinquetschten und wieder herauszerrten. Sie grunzten, knurrten, stöhnten und ächzten, wenn sie plötzlich tiefer als erwartet einsanken, und wenn sich dann noch, beim leisesten Windhauch, Bäume und hohe Sträucher bewegten und einen dicken Guss im Laube angesammelten Wassers auf die darunter hinknetenden Muchachos ausschütteten.
El General und El Profesor, obgleich sie infolge der Finsternis kaum voransehen konnten und nur zuweilen neben sich die Schatten der schwerbepackten Leute, die sie hinter sich zurückließen, undeutlich gewahrten, wussten plötzlich, dass sie nahe dem Vortrupp sein mussten. Denn sie hörten Celsos kräftige Stimme brüllen, als wollte sie das Dickicht zu Spänen zerfetzen.
»Ihr lausigen Indios, ihr seid mir auch gerade die richtigen Begleiter. Rebellen wollt ihr sein? Ein Schitt seid ihr. Ein Hundeschitt. Nichts weiter. Rebellen? Ha? Dass ich doch nicht aufplatze vor Lachen. Rebellen. Heulfuntzen seid ihr. Alte verschrumpfte Weiber. Das seid ihr. Habt ihr denn auch so gestöhnt, gewinselt und gejammert, wenn ihr für die Patrones im Mist und Dreck und im Schitt bis zum Halse gesteckt habt und dann noch die dickste Troza mit langgezottelt? Da habt ihr Lausefetzen nicht mal Mumm gesagt, keiner hat das Maul aufgerissen, nur geschuftet hat jeder einzelne, schlimmer als vier Ochsen. Das freilich war für die gottverdammten und verhurten Patrones und Cabrones. Und jetzt, wo es endlich einmal für euch selber geht, da reißt ihr das Maul, das dreckige, gleich bis hinter eure verfilzten Ohrlappen auf, wenn auch nur eine Zehe hier mal nur gerade so bis an den abgequetschten Nagel in den gottverfluchten Matsch reinrutscht. Flucht meinetwegen von früh bis in die Nacht hinein, wenn ihr eure Fresstore aufsperrt, aber winselt mir hier nicht herum, wenn es nun einmal für eure eigene Rebellion geht. Ihr kennt mich doch wohl, oder vielleicht nicht? Ihr kennt doch meine Flossen. Und das sage ich euch, gottverdammte und verlauste Indios, die ihr seid, wenn ich auch nur noch ein einziges Mal nur einen einzigen von euch hier winseln oder auch nur schüchtern husten höre, dann komme ich euch einmal auffrischen. Aber gründlich. Rebellen. Hai Rebellen. Los nun, verdammt noch mal und die Stelzen gerührt und voran. Los! Los! Nur nicht schüchtern und zaghaft.«
El Profesor und El General waren stehen geblieben.
»Du hast dir da ein Prachtstück von einem Generalstabschef aus. gesucht, General. Auf den kannst du stolz sein.«
»Bin ich auch.«
»Was ist er denn jetzt?«
»Leutnant.«
»Teniente nur? Ich schlage vor, dass du ihn zum Capitan ernennst. Zum Hauptmann.«
»Du bist der Comisario, Professor, und da du ihn zur Beförderung empfohlen hast, gut, er ist zum Capitan ernannt.«
»Muchas gracias!«
»Aber da fällt mir ein, Comisario, ich habe einen Coronel, zehn Capitanes und ein halbes Hundert Tenientes. Was mir dringend fehlt, ist ein Mayor. Mit deiner Erlaubnis, Comisario, werde ich ihn heute Abend im Lager zum Mayor ernennen.«
El Profesor hatte sich schon wieder in Marsch gesetzt. In derselben Sekunde jedoch stolperte er über eine dicke Baumwurzel und fiel der ausgestreckten Länge nach hin. Mit den Armen bis zum Ellbogen und mit dem Gesicht bis zu den Ohren steckte er im Schlamm. Und dies war der Grund, warum er jetzt nicht antworten und die Beförderung sofort bestätigen konnte.
ENDE

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