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Upton Sinclair - Am Fliessband (1948)
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Kurz nach dem Kriege hatte der Staat versucht, eine Flotte Frachter abzustoßen. Sie waren für den Nachschub der Armee gebaut worden. Die Handelsschifffahrt konnte sie nicht verwenden. Henry hatte 199 dieser Schiffe gekauft und sie nach River Rouge gebracht. Dort hatte er sie nach allen Regeln der Kunst zerlegt und für alles eine Verwendung in seinem riesigen Werk gefunden. Er wollte nichts daran verdienen, es machte ihm Spaß, so wie es anderen Spaß macht, Kreuzworträtsel zu lösen. Seine Leidenschaft war es nun einmal, Dinge zu verwerten und auszuklügeln, wie man das anstellen kann.
Mit diesen Schiffen hatte er die Maschinisten übernommen, die auf ihnen gedient hatten. Nun waren die Schiffe zerlegt, und eine weitere Gruppe von Menschen musste in der Ford-Empire eingereiht werden. Wieder ein Problem, das Henry reizte. Unter diesen Leuten war der berühmte Marineboxer Harry Bennett. Er hatte einen harten Schädel und eine schwere Faust; er besaß außerdem eine Eigenschaft, die im alten System des Feudalismus die Grundlage von Gesetz und Ordnung war: Verdingte er sich an einen Menschen, so machte er dessen Angelegenheit zu seiner eigenen. Henry, der in der Zeit des modernen Industriefeudalismus lebte, hatte das gleiche Bedürfnis, welches den Sultan der Türken veranlasst hatte, seine Janitscharen aufzustellen, oder die Fürsten der Renaissance ihre Condottieri um sich sammeln ließ. Er brauchte eine Garde gut ausgerüsteter und wohltrainierter Kämpfer als Schutz für sich und seine Dollarmilliarde.
Bennett wurde Chef von Henrys >Dienst-Abteilung< -eine Bezeichnung übrigens, die er wohl auch erst finden konnte, nachdem die Dollarmilliarde ihm den Sinn für Humor genommen hatte. Bennetts Aufgabe war es, die 3600 Mann starke firmeneigene Polizeitruppe aufzustellen und zu trainieren. Sie sollte die Tore des Werkes bewachen, die Arbeit im Werk überwachen, die Übertretung der etlichen hundert Richtlinien melden, sich als Spitzel unter die Leute mischen, um Aufwiegler und Hetzer zu entdecken und Gewerkschaftsagenten und Agitatoren der >Roten< aufzuspüren. All dies aber war nicht nur im Werk, sondern überall notwendig. Kam ein Arbeiterführer in die Stadt, so musste Henrys Dienst-Abteilung wissen, wohin er ging und mit wem er verhandelte. Mit anderen Worten: Henry Fords Armee stellte eine Spionageabteilung auf mit Spionen und Gegenspionen, wie sie im Krieg notwendig sind. Da der Angriff stets die beste Verteidigung ist, verübte Henrys Armee auch ihren Teil an Verbrechen. Daher konnte Frank Murphy, ehemals Richter und jetzt Bürgermeister von Detroit, mit Recht sagen: »Henry Ford bezahlt einige der übelsten Gangster unserer Stadt.«
Der Alkoholschmuggel war auch nicht mehr so ein Geschäft wie früher; denn der Schmuggler-Ring hatte den Zolldienst des Bundesstaates derart fest in der Hand, dass die Aufgabe Henry Ford Shutts fast ein simples Kraftwagenfahren wurde. Dementsprechend war auch die Bezahlung gesunken. Aber zum Glück hatte Hanks Chef einen Bruder, der ein wichtiger Mann im Geheimdienst Henry Fords war. Der bat Hank, ihm Material gegen eine Gruppe von Alkoholschmugglern zu beschaffen, von denen man behauptete, sie mischten sich in die Dearborner Politik, die Ford kontrollierte. Die Informationen, die Hank brachte, waren so gut, dass er nun eine Zeitlang einen doppelten Job und doppelten Lohn hatte. Als ein Spion gegen Spione verkehrte er in der Unterwelt, und die Dinge, die er wusste, hätten das politische und industrielle Regime von Detroit auffliegen lassen können, aber er behielt sie schön für sich und spielte sie sparsam aus. Hank hatte nun wieder Geld. Dann und wann ließ er sich im Hause seiner Eltern sehen und sorgte durch seine Zuwendungen für ihren Lebensunterhalt.
Dem amerikanischen Volke hatte man jahrelang erzählt, der großmütige Mr. Ford gibt ehemaligen Kriminellen gern eine Chance, um sich zu rehabilitieren, und Amerika glaubte, das sei eine edle und schöne Tat. Aber allmählich hatten sich die Praktiken der Ford-Motor-Company gewandelt: jetzt heuerte man ehemalige Verbrecher an, nicht etwa, damit sie ein besseres Leben führten, sondern damit sie so weitermachten wie bisher. Davon allerdings wusste das amerikanische Volk noch nichts.

Edsel hatte vier reizende Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Sie waren Henrys ganzer Lebenstrost. Von anderen Kindern hielt man sie fern, sie sollten ja die Erben dieses riesigen Reiches werden, sie sollten den Namen Ford tragen und die Tradition fortführen, die damit verbunden war. Sorgfältig wurden sie für diese Verantwortung erzogen, sollten sie dereinst würdig tragen und so Henrys Verteidigung des Systems der erblichen Monarchie in der Industrie rechtfertigen. »Demokratie hat nichts mit der Frage zu tun, wer herrschen soll« - so hatte Henry Ford in einem seiner Bücher geschrieben.
Als eine Folge der Depression hatte sich in Amerika eine neue Art des Verbrechens entwickelt: eine Welle des Kindesraubs ging durch das Land. Organisierte Gangsterbanden entführten die Kinder der Reichen und hielten sie um eines Lösegeldes willen fest; häufig behandelten sie die Kleinen grausam, und mehr als einmal hatte man sie getötet, wenn der Plan fehlschlug. Diese Ereignisse lasteten wie schwere Schatten auf dem Leben des Autokönigs. Er war von der Idee besessen, dieses Schrecknis könnte einem seiner angebeteten Erben zustoßen.
Die Gründe für diese Verbrechen lagen für jeden klar auf der Hand, der sich nur einmal die Zeit nahm, darüber nachzudenken. Die Kinder der Armen spielten auf den Straßen und waren vor den Kidnappern sicher, viele Eltern wären in jenen Tagen vielleicht gar nicht böse gewesen, wenn man ihre Kinder entführt hätte, vorausgesetzt, dass sie dabei gut genährt würden. Aber wenn von einem Manne bekannt war, dass er 200 Millionen Bargeld auf der Bank liegen hatte, so war das doch vielleicht die Chance, das größte Lösegeld aller Zeiten herauszuschlagen. Die Gangster wussten es, und Henry wusste, dass sie es wussten. Das zerstörte seine Ruhe; Liebe und Menschlichkeit verdorrten in seinem Herzen, Angst und Argwohn wucherten darin auf. >Schwer ruht das Haupt, das eine Krone trägt.<
Harry Bennett war der Mann, bei dem Henry Schutz gegen diese Gefahr suchte. Bennett trieb Männer auf, denen man die Bewachung der Kinder anvertrauen konnte und die sie für keine noch so große Summe an die Gangster verkaufen würden. Sie spielten im Leben des Autokönigs die gleiche Rolle wie die >königliche Leibgarde< in England. Der Chef der >Dienst-Abteilung< wurde Kommandeur der >Haus-Truppe<. Er kam und ging zu jeder Tageszeit, er war der einzige, der jederzeit bei Henry Zutritt hatte. Oft untersuchte er sogar Journalisten, die um Interviews baten, und nicht selten musste er entscheiden, ob ein Besuch bewilligt werden sollte.
Wieder bestimmte die Dollarmilliarde Henry Fords Leben. Bennett war durchaus der Mann- nach ihrer Fasson. Er hatte eine harte Faust, er war ein Meisterschütze und fackelte nicht lange. Er fürchtete sich vor nichts auf der Welt. Für ihn war das Recht einer Dollarmilliarde, die Welt zu regieren, ebenso erwiesen, wie es unwiderleglich wahr ist, dass Stahl hart und Blut rot ist. Er übernahm jetzt die Obhut für Henrys Leben und die Aufgabe, seinen Geist und Charakter umzuformen.
Was für ein Wechsel, wenn man überlegt, dass Reverend Samuel Marquis vormals diesen Platz in Henrys Leben eingenommen hatte. Er war ein gewissenhafter hochgeistiger christlicher Mensch gewesen, doch die Dollarmilliarde war stärker. Sie hatte im Fordwerk und in Fords Haus eine Atmosphäre geschaffen, in der er nicht atmen konnte. Er hatte es also aufgegeben und ein Buch über Henry Ford geschrieben, worin er mit betrübtem Herzen, aber klarem Blick dessen Charakter beschrieb. Marquis war allerdings wohl nicht klar geworden, dass Henry Ford nur eine ähnliche Entwicklung durchschritt wie die Kirche, die der Dekan vertrat - er riss Christus aus seiner Brust und setzte Cäsar an seine Stelle.

Abner Shutt trottete durch die Ford-Straße in Detroit, von Fabrik zu Fabrik. Vielleicht würde es der Zufall ja fügen, dass sie doch irgendwo Leute einstellten. Von seinem Wagen hatte er sich längst trennen müssen, das hieß in dieser weitläufigen Gegend, dass er die Chance, eine Arbeit zu bekommen, von vornherein verloren hatte, oder sie zu erreichen, wenn er wirklich eine fand. Wann immer es eine Mitfahrgelegenheit gab, fuhr er trotzdem in die Stadt und ging von Werk zu Werk. Wenn er noch das Geld für eine Zeitung hatte, las er die Anzeigen und den Teil der neuesten Nachrichten. Er hoffte immer noch, einer der Konzerne könnte sich wieder erholen.
Er kam zu einem Platz, auf dem sich eine Menge zusammengefunden hatte, irgendeine Kundgebung wurde abgehalten. >Ford-Arbeiter, versammelt euch<, las er auf einem großem weißen Plakat. Ein Mann hatte einen Lastwagen erklettert und sprach. Abner hielt sich immer noch für einen Ford-Arbeiter und trat näher, um zu sehen was man von ihm wollte.
Er lauschte der Rede eines Mannes, der behauptete, er sei viele Jahre bei Ford beschäftigt gewesen. Es war die Geschichte, die Abner selbst bestens kannte: die Beschleunigung des Arbeitstempos und die Tyrannei der Vorgesetzten, die sinnlosen, niederträchtigen Richtlinien, die Unregelmäßigkeit der Beschäftigung, das Fehlen jeglicher Sicherheit und aller Dinge, die das Leben erträglich machten. Ja, das war einmal ein Kerl! Der wusste, was er sagte! Und als die Menge ihm Beifall gab, wurde Abners Herz warm. So durften die Leute im Werk nicht reden, nicht einmal flüstern. Aber hier draußen war Amerika noch frei.
Der Redner sagte: »Wir wollen einen Protestmarsch nach Dearborn organisieren. Wir wollen vor die Tore des Werkes marschieren und Henry von den Sorgen seiner Arbeiter berichten.« Da ahnte Abner, um was es sich handelte, er hatte in der Zeitung gelesen, dass Agitatoren so einen Marsch planten, und der Bürgermeister von Detroit gab die Erlaubnis. Die Zeitungen schrieben, das seien Kommunisten, die notorischen und gefürchteten
> Roten<. Abner hätte diese Warnung beherzigen sollen, aber im Augenblick war er ganz hingerissen. Der Mann schien für die Sache der Arbeiter zu sprechen, und Abner wollte noch mehr darüber erfahren.
Er hörte sich noch mehr Sprecher an. Sie erzählten nicht nur von den Zuständen im Werk, die ihm ja bekannt waren, sondern auch von Fords Weigerung, einen Beitrag zur Unterstützung seiner arbeitslosen Arbeiter zu leisten. Auch von dem baldigen Bankrott der Stadt Detroit sprach der Redner: dass die Bankiers die Stadt zwangen, Hunderte von Angestellten zu entlassen, bevor sie ihr weitere Darlehen geben wollten. Jede weitere soziale Arbeit der Stadt hatten sie verboten und von der Wohlfahrtsbehörde verlangt, sie sollte 15000 arbeitslose Familien von den Unterstützungslisten streichen. Vielleicht waren ja einige Väter solcher Familien hier auf dem Platz? Ja, ja, wir sind da! riefen die Männer.
Es war der 7. März 1932. Ein beißender Wind fuhr übers Land. Die Männer standen zitternd da, der Wind trieb ihnen Tränen in die Augen, ihre zerrissenen Jacken hatten sie fest zugeknöpft und ihre Hände tief in den Taschen vergraben. Ein grauer, trüber Tag war es, Schnee lag auf dem Boden, die Männer stampften mit den Füßen, um warm zu werden. Erbärmliche, ausgemergelte Gesichter, die von der Gerechtigkeit träumten, die es nirgends auf der Welt gab, und von der Freiheit, etwas mehr tun zu können als verhungern. Sie wollten ihre Träume dem großen Herrn in Dearborn vortragen, der vor Zeiten einmal ihr Freund gewesen war, aber jetzt sein Antlitz von ihnen gewandt hatte.
Ein Redner las die Forderungen vor. Es war eine lange Liste: Arbeit für alle, die man auf Wartezeit gesetzt hatte, oder fünfzig Prozent ihres Lohnes, bis sie wieder Arbeit hatten; Verlangsamung des Arbeitstempos, Aufhebung
des Spitzelwesens - ja weiß Gott, im Ford-Werk würde das Arbeiten weit angenehmer sein, wenn diese Redner ihren Willen hätten! »Seid ihr mit diesen Forderungen einverstanden?« Die Zuhörer schrieen laut: »Ja, wir sind einverstanden!«
Die Straße herauf marschierten lange Kolonnen zerlumpter und hungriger Menschen, sie marschierten zu vieren in einer Reihe. Sie sangen ein altes Lied: »Hoch die Solidarität« und trugen große Schilder, deren Texte sich an den mächtigen Fabrikherrn wandten. Einige Polizisten gingen an der Spitze und an den Seiten des Zuges. Bürgermeister Murphy, der sich selbst liberal nannte, hatte gesagt, der arbeitslose Arbeiter müsse das Recht haben, seine Sorgen herauszuschreien, Versammlungen abzuhalten und Umzüge zu veranstalten. Alles würde ohne Zwischenfälle ablaufen, hatten die Organisatoren versprochen, und die Redner warnten die Männer: wenn es zu Gewalt käme, würden sie die öffentliche Sympathie verlieren, in der doch ihre ganze Hoffnung lag.
»Wir sind unbewaffnet. Wir sind keine Aufständischen, sondern Arbeiter und amerikanische Bürger. Wir bringen nur gerechte Forderungen vor und bestehen auf unserem Recht, gegen unhaltbare Ungerechtigkeiten zu protestieren. Kommt mit uns, Arbeiter und Kollegen!« Das erklärten die Sprecher und forderten alle auf, sich der Demonstration anzuschließen. In der Ferne sah man das River-Rouge-Werk; seine gewaltigen Schornsteine ragten wie riesige Orgelpfeifen in den Himmel. Dreitausend arbeitslose Arbeiter marschierten hier, um ihre Sorgen kundzutun. Abner Shutt war unter ihnen.

Sie kamen an die Stadtgrenze von Detroit. Hier hörten Bürgermeister Murphys Befugnisse auf. Dearborn begann, hier lag das Werk, in dieser Stadt herrschte Henry Ford. Der Bürgermeister und alle Beamten gehorchten ihm. Der Polizeichef hatte jahrelang ein Gehalt von Ford und ein zweites von der Stadt Dearborn eingestrichen. Erst kürzlich hatte er eine neue Ausstattung Maschinengewehre erhalten.
Die Demonstration stoppte, die Dearborner Polizei verbot ihr weiterzuziehen. Ein Redner erwiderte, sie wollten nur zum Ford-Werk und darum bitten, dass man eine Delegation vorlasse, die ihre Sorgen darlegen solle. Er beteuerte nochmals, dass es eine geordnete Demonstration sei, und warnte wieder alle Teilnehmer, Gewalt anzuwenden.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Polizei warf Bomben mit Tränen- und Lachgas. Aber die Straße war breit, und die Leute wichen nach allen Seiten aus. Der Marsch ging weiter. Polizisten in Autos und auf Motorrädern rasten zum Werk voraus und ließen die Sirenen heulen.
Henry hatte die Straßen mit großen Brücken überbaut, damit die Leute, die zu seinem Werk hinüber wollten, den Verkehr nicht behinderten. Auf der ersten Brücke standen Angehörige der >Dienst-Abteilung< mit Gasbomben und Maschinengewehren. Militärisch gesehen eine ausgezeichnete Stellung - wenn der Gegner nicht bewaffnet war. Eine Kette der Ford-Polizei, darunter Dearborner Polizei, war vor den Toren des Werkes postiert. Die Berichterstatter behaupteten, sogar Polizei aus Detroit sei darunter gewesen. Es sah so aus, als sei Bürgermeister Murphy nicht mehr Herr in seinem eigenen Distrikt.
Es kostete Mut, gegen diese Stellung vorzugehen, besonders, wenn man als Führer marschierte und wusste,
dass sie es auf einen abgesehen hatten. Vielleicht wagten das nur die roten Fanatiker, aber vielleicht war es auch umgekehrt, und man nannte jeden so, der diesen Mut aufbrachte. Hier jedenfalls standen sie, die Polizei forderte sie auf auseinander zugehen, und die Arbeiter verlangten, man möge eine Delegation hineinlassen, die ihre Forderungen vortragen könne.
Abner Shutt hatte keine Angst und war auch nicht verwirrt. Er war ja so häufig über diese Brücke gegangen, er fühlte sich hier ganz zu Hause. Und arbeitete denn nicht sein eigener Sohn noch jetzt dort? Sicher hatte er das Recht, nach Arbeit zu fragen, und gewiss würde Mr. Ford, wenn er davon erfuhr, dieses Recht ihm auch zugestehen. Doch als Abner dann sah, wie die Männer auf der Brücke Bomben nach ihm warfen, als er sie um sich her platzen hörte, da wollte er zurückgehen. Als dann gar ein Mann an seiner Seite sich an den Leib griff und von einer Kugel getroffen zusammenbrach, drehte Abner um und lief auf den freien Platz, wo er früher seinen Wagen geparkt hatte.
Von dem, was weiter geschah, sah er nichts mehr. Aber er las in den Zeitungen darüber. Die Tore des Werkes wurden geöffnet, und Harry Bennett fuhr in einem Wagen heraus, ein zweiter Mann lenkte. Bennett saß zur Rechten und schrie der Menge zu, sie solle auseinander gehen. Ob er einen Revolver oder eine Gaspistole abfeuerte, darüber gingen die Berichte auseinander. Jedenfalls hatte er geschossen. Irgend jemand warf daraufhin einen Stein, traf ihn am Kopf, er war reif fürs Krankenhaus. Sofort feuerten die Männer auf der Brücke mit ihren Maschinengewehren in die Menge. Sie schossen Dauerfeuer, fünfzig Mann wurden verwundet und vier getötet.
Das also war die Antwort von Mr. Ford an Abner Shutt und alle Arbeiter! Es war die Antwort der Dollarmilliarde, die ihn in den Klauen hatte. Zwei Dutzend Menschen lagen mit Schusswunden im Krankenhaus. Mit Handschellen und Ketten hatte man sie an ihre Betten gefesselt. Aber nicht ein einziger Polizist oder einer von der >Dienst-Abteilung< hatte eine Schussverletzung!
Mit dem Ford Modell A war es nun wieder genauso wie damals, als man ihn nur in einer Farbe haben konnte. Mochte man sie arabisch-sandfarben nennen oder dunkelgrau oder niagarablau oder stahlgrau - stets war es die Farbe menschlichen Blutes.

Abner Shutt fuhr allein mit der Straßenbahn heim und hatte viel Zeit nachzudenken. Was war geschehen? Man hatte auf ihn geschossen! Er hatte gesehen, wie ein Mann getötet wurde! Es war der erste Mord, den er miterlebt hatte. Er war entsetzt, und je länger er darüber nachdachte, um so mehr war er erstaunt über sich selbst. Die Gewöhnung an Ordnung und Gehorsam gewann wieder die Oberhand, und er sagte sich: »Ich wäre besser zu Haus geblieben.« Er dachte an seinen guten und großen Freund Henry Ford. Wie sehr musste es ihn schmerzen, wenn er von diesen Ereignissen erfuhr und dass gerade Abner daran beteiligt war. Wenn Mr. Ford gewusst hätte, dass die Leute ihn sprechen wollten, so wäre er sicher gekommen, hätte mit ihnen geredet, ebenso freundlich und gütig wie vor Jahren mit Abner. Warum hatte es ihm denn niemand gesagt?
Diese Überlegungen wurden noch bestätigt, als Abner eine Abendzeitung kaufte und über die Führer der Demonstration las: Es waren die schlimmsten roten Agitatoren, die es in Detroit gab. Die Zeitung nannte die
Namen, die Abner deshalb vertraut waren, weil er sie öfters in dem gleichen Blatt gelesen hatte. - So weit also war es gekommen! Diesen abgefeimten Gaunern war es gelungen, ihn, den loyalsten hundertprozentigen Amerikaner und Klansmann, in ihre Falle zu locken! Geheime Agenten des Bolschewismus waren das! Den freien amerikanischen Staat wollten sie vernichten und die Arbeiter zu Sklaven machen wie in Russland! Abner wusste, dass die Arbeiter in Russland in der Sklaverei lebten. Es hatte doch im >Dearborn Independent< gestanden!
Je länger Abner darüber nachdachte, um so mehr regte er sich auf. Himmel! Sein eigener Sohn John hätte auf der Brücke stehen und mithelfen können, das Werk gegen die Kommunisten zu verteidigen! Sein Sohn Hank hätte in der Menge sein können, um die Feinde der Ford-Company zu bespitzeln! Abner beschloss, der Familie sein Abenteuer etwas anders zu erzählen. Er war nicht mitmarschiert, o nein! Er war nur hinterhergelaufen, um zu sehen, was die Agitatoren tun würden. Wahrscheinlich hatte ihn ja auch keiner erkannt. Warum sollte er sich selbst ins schlechte Licht rücken?
Milly regte sich trotzdem gewaltig auf, als er es so erzählte. Er musste versprechen, dass er nie wieder so einen Unsinn machen würde. Daisy sagte, er hätte nicht nur getötet werden, sondern sein Verhalten hätte auch verschulden können, dass man John und ihren Mann entließe. Und was sollte dann aus ihnen werden? Ihre Furcht war durchaus begründet; man warf ja sogar Männer hinaus, die Geld für das Begräbnis der getöteten Demonstranten stifteten.
Als Hank nach ein oder zwei Tagen hereinschaute, sagte er, er sei in der Menge gewesen und habe seinen Vater gesehen, aber seinen Namen natürlich nicht angegeben. Der Alte solle es sich nur ja nicht noch mal einfallen
lassen, sich in solche Sachen zu mischen. Das könnte ihm verdammt schlecht bekommen.
In Wahrheit war Hank noch nicht einmal in der Nähe des Schauplatzes gewesen. Daisy hatte die Geschichte in einem Telefongespräch erwähnt, und Hanks Phantasie hatte alles übrige dazugetan. Seit er seine Hände in den geheimen Affären hatte, setzte er sich gern in Szene und tat so, als sei er überall dabei, habe das Vertrauen der >ganz großen Bosse< und sei mit allen auf du und du. Solange Hank diese Aufschneidereien nur bei so kleinen Leuten wie in seiner Familie anbrachte, war ja nichts dabei, und er war zu klug, um bei seinen Bossen damit anzugeben.

Wenige Tage nach der Demonstration brachte die Ford-Motor-Company zwei neue Typen des Modells A heraus. Es geschah mit dem üblichen Reklame-Getöse. Man prophezeite Riesenverkäufe und ein Sinken der Arbeitslosigkeit. Diesmal blieb die Wirkung aus. Erst vor kurzem waren endlich alle Banken in Detroit zusammengekracht, und die Not war schlimmer als je zuvor. Henry hatte Geld in diesen Banken, und da er der einzige Mann war, der über die nötigen Mittel verfügte, sie zu retten, musste er sie übernehmen. So wurde dem Ford-Reich ein weiteres Fürstentum einverleibt.
Für die Arbeiter Henry Fords vergrößerte sich das Unglück. Ihre Arbeit war schon auf ein oder zwei Tage in der Woche gekürzt, jetzt wurde auch noch der Mindestlohn auf vier Dollar pro Tag herabgesetzt. Die wirtschaftlichen Realitäten hatten sich stärker erwiesen als Henrys Theorien. Aber man glaube ja nicht, er hätte deshalb nun seine Theorien geändert! Er behauptete immer noch, der Weg zum Wohlstand liege in der Zahlung hoher Löhne. Ausgerechnet er sagte das, der nur noch einem Viertel seiner Arbeiter Lohn zahlen konnte!
Diese Riesenlast an Elend drückte die Bevölkerung Detroits wie ein Berg. Die Shutts hatten ihr Heim in ein Mietshaus verwandelt, sie waren in zwei Räume zusammengerückt. Abner jagte hinter Arbeit her, bis seine Beine lahm waren, doch er fand bestenfalls ein paar Gelegenheitsarbeiten, die mit einer Mahlzeit abgelohnt wurden. Er versetzte seine Uhr und dann seinen Wintermantel. Im Sommer machte das nichts aus, aber jetzt wurde es Herbst, und er musste Hank um Geld bitten, den Mantel wieder einzulösen.
Milly war fast immer bettlägerig, und sie hatten kein Geld für den Arzt. Der letzte hatte ihr Medizin verschrieben, aber sie konnten sie nicht mehr bezahlen. Daisy musste den Haushalt führen, und auch ihr ging es schlecht. Sie hatte verzweifelt dagegen gekämpft, ein Kind zu bekommen, zweimal schon abgetrieben, aber das hatte sie so krank gemacht, sie wagte es nicht noch einmal. Jetzt war ein Baby da, doch sie kümmerte sich nicht viel um das Kind; sie hatte auch nur wenig Milch, das Kind blieb winzig. Sie war ein Hausdrache geworden und so schlampig, dass ihre Tugend vor den Mietern ziemlich sicher war.
Und was waren das für herrliche Träume gewesen! Eine elegante Stenotypistin in einem Büro wollte sie einmal werden, stets seidene Strümpfe tragen und einen Boss heiraten. Sie hatte einen armen Angestellten bekommen, der ein oder höchstens zwei Tage in der Woche für den Mindestlohn von vier Dollar arbeitete. Er arbeitete in der Lohnbuchhaltung, auch hier war die Arbeitszeit auf ein Viertel gekürzt worden. Er hieß Jim Baggs, ging gern zum Football und feuerte seine Mannschaft an, und er spielte gern Bowling. Jetzt hatte er kein Geld mehr für derartige Vergnügungen. Auch seine Frau hatte jegliches Interesse an ihm verloren.
So zerstörte die Depression das Leben der Armen und jener, die sie arm machte. In Detroit gab es Zehntausende obdachloser Menschen. Sie schliefen in den Parks, gruben sich Höhlen in die Sandberge, saßen den ganzen Tag an den Kais und hofften, vielleicht einen Fisch zu fangen. Zugleich aber las man in den Zeitungen die Mahnungen der Politiker und Wirtschaftsführer, der Staat müsse sparen. Sie meinten damit, die Sozialausgaben müssten verringert werden, man müsse noch mehr Leuten die Unterstützung streichen. Ohne ihnen aber sagen zu können, was sie nun beginnen sollten. In Highland Park konnten die Shutts keine Unterstützung bekommen. Sie besaßen ja ein Haus! Aber was sollten sie denn mit diesem Haus anfangen? Darin sitzen und zu Tode frieren? Oder verhungern? Oder gar beides? Sie konnten es um keinen noch so geringen Preis losschlagen.
Wenn man den Wohlfahrtsbeamten mit diesem Argument kam, so antworteten sie, die Stadt stehe vor dem Bankrott, es sei kein Geld mehr da. Die Steuern erhöhen? Nein, dadurch würden die Einnahmen der Stadt auch nicht größer werden. Dann würden nur noch mehr Leute ihr Haus aufgeben und Unterstützung beantragen. Nein, was würde dabei schon herausspringen? Keiner der Shutts kannte die Lösung für solche Rätsel, und wenn irgend jemand auf der Welt sie wusste, woran sollte man diesen wunderbaren Menschen erkennen?
Wieder einmal stand eine Präsidentschaftswahl vor der Tür; vielleicht brachte das die Erlösung. Die Republikaner stellten den >großen Ingenieur< wieder auf. Hätten sie einen anderen präsentiert, wäre das ein Eingeständnis ihres Irrtums gewesen. Auch waren sie durchaus mit dem einverstanden, was ihr Präsident getan hatte: Er hatte der Industrie Staatskredite gegeben. Das war recht so, denn daher musste ja der Wohlstand kommen, wenn er überhaupt wiederkommen sollte. Die Demokraten stellten den Gouverneur des Staates New York auf. Er hielt gewandte Reden im Rundfunk und versprach einen >New Deal<(Anm.: >New Deal<, etwa = >Die Wende<.). Die Shutts hatten ihr Radio verkauft und lasen die Nachrichten über den Wahlkampf nur in der Zeitung, die ihnen versicherte, wirtschaftliche Gesetze ließen sich nicht mit politischen Reden durchbrechen.
Der große und gütige Henry Ford richtete einen Aufruf an seine Arbeiter, in dem er ihnen empfahl, für Präsident Hoover zu stimmen. Abner hielt sich immer noch für einen Ford-Arbeiter, und dieser Empfehlung hatte es bei ihm auch nicht bedurft, er war darauf festgelegt, dem Blendwerk demokratischer Redner zu widerstehen. Daisy und ihr Jim waren verbittert, sie wollten für Roosevelt stimmen. Solange der Wahlkampf tobte, versuchten sie den alten Abner zu überzeugen. Der aber hatte gelernt, den Mund zu halten, das tat er denn auch. Er stimmte für Hoover und bewies dadurch, dass er ein freier, unabhängiger Amerikaner war.

Daisy Baggs war in ihren glücklichen Tagen so oft sie konnte ins Kino gegangen. Jetzt hatte sie kein Geld mehr dafür. Aber sie fand einen schmerzstillenden Ersatz. In der Straße war ein Kramladen, wo man allerlei Zeugs kaufen konnte, so auch alte Magazine. Viele zerlesene Schundromane konnte man hier für fünf Cents das Heft haben, ja, man bekam das halbe Geld zurück, wenn man sie wiederbrachte. War das nicht wirklich ein preiswertes Glück für die Ärmsten der hungrigen Seelen? Daisy verschlang diese Schmöker und las sie laut ihrer Mutter vor.
Es ging immer romantisch in diesen Heften zu, sie handelten von reichen, glücklichen und erfolgreichen Menschen. Und fing ein Roman einmal traurig an, so waren die Helden jedenfalls am Schluss der Geschichte reich und glücklich. Gerade das unterschied die Romane vom wirklichen Leben und erklärte, warum arme, einsame und erfolglose Menschen ihre Groschen für sie ausgaben. In diesen Geschichten heirateten Mädchen, die fleißig lernten und Stenotypistin wurden, wirklich den Boss und nicht einen Buchhalter mit geviertelter Arbeitszeit. Mädchen in Hotels heirateten reiche Grubenbesitzer oder doch Männer mit einem Herzen treu wie Gold, die dann auch bald Ölquellen entdeckten. Nette, aber arme Burschen hielten ein durchgehendes Pferd auf, trafen so die reichste aller Erbinnen und heirateten sie. Oft auch retteten sie einem Magnaten das Leben und wurden an Sohnes Statt in sein Haus aufgenommen.
Abner hörte sich diese Geschichten an, wenn er zu Hause saß und seine müden Beine ausruhte. So also konnte man im Leben Erfolg haben! Leider war er nicht mehr jung und kein fescher Bursche mehr. Früher, richtig, da hatte er die Gelegenheiten wohl vorübergehen lassen. Aber der einzige reiche Mann, den er kannte, hatte nie ein Pferd geritten, er war, soviel Abner wusste, nie in Lebensgefahr gekommen. Mr. Ford war auch immer von unzähligen Leuten umgeben, die bereit waren, für ihn alles zu tun, was er verlangte. Abner hatte ihn später einige Male gesehen, als er durch das Werk ging oder von seinem Chauffeur gefahren wurde. Aber auch da hätte er nie eine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Abner wusste, wo sein Haus lag, und hatte sich einmal von hinten herangepirscht. Er sah dort Posten stehen - man konnte nicht einfach so hineingehen. Nein, die guten alten Zeiten waren vorbei, wo ein Arbeiter mit Henry Ford über alles sprechen konnte und ihn um eine Gunst bitten durfte.
Dennoch bewirkten Daisys Geschichten, über die sie endlos schwatzte, dass in Abner das Bewusstsein eines Bandes zwischen Herr und Arbeiter erhalten blieb. Abner fing auch an, sich Romane auszudenken, und stellte sich vor, was wohl alles geschehen könnte. Nun mal angenommen, er träte vom Fließband vor, wenn Ford vorüberging, und sagte: »Mr. Ford, ich bin Abner Shutt, hab' Ihr'n Benzinkasten mal mit aus 'm Dreckloch rausgeholt, ist schon fast vierzig Jahre her.« Oder wenn er nun zu dessen Haus ginge und einem der Posten seine Geschichte erzählte? Oder wenn er irgendwo auf den dreitausend Morgen von Mr. Fords Anwesen wartete? - Irgendwann einmal musste der große Mann ja vorüberkommen, und es konnte doch auch nicht alles abgezäunt sein!
Oder - wenn er nun einen Brief schrieb? Die Zeitungen sagten zwar, Ford bekäme täglich Tausende von Briefen. Aber es war doch möglich, dass auch ein Sekretär mal ein Herz hatte und durch so eine rührende und tragische Geschichte, wie er sie erzählen konnte, weich gestimmt wurde. Jeder Schreiber eines Bittbriefes hat den gleichen schönen Wahn dabei. Jeder ist ein Tropfen Wasser, der vom Himmel fällt. Noch ist es so! Aber eines Tages werden die Tropfen erkennen, dass sie Teile eines Stromes sind und auf dem Weg zum Ozean.
Einmal traf es sich, dass Daisy nicht zu Hause war und seine Frau schlief, als Abner heimkam. Darauf hatte er schon lange gewartet - endlich einmal das tun zu können, was er wollte, ohne Fragen beantworten zu müssen Heimlichkeit war eine seiner Eigenschaften geworden Das machte das enge Zusammenleben mit so vielen Menschen, die über alles anderer Meinung waren als er und ihn einen Tropf oder einen bemoosten Karpfen nannten. Abner war nicht besonders gescheit, aber er hatte sich doch überlegt, dass es besser sei, wenn der Brief auch wie der Brief eines Arbeiters aussah und nicht in der Handelsschulschrift seiner Tochter geschrieben war.
In der Zeitung hatte Abner viel über Mrs. Fords Nächstenliebe und ihre Betriebsamkeit in frommer Fürsorge gelesen. Er dachte sich, sie bekommt vielleicht nicht soviel Briefe wie ihr Mr. Ford. Er kramte Tinte und Feder hervor, riss eine Seite aus seinem Notizbuch, und mit mehr Arbeit und Schweiß als je am Fließband komponierte er einen Brief, der mit »Verehrte Mrs. Ford« begann und dann fortfuhr:
»Als Kind lebte ich dahinten, Bagley Street, hab oft den Kasten mit aus dem Dreck gezogen und einmal auch rumgedreht. Ich arbeitete seit dem ersten Jahr in der Fabrik. Hab damals manchmal mit Mr. Ford gesprochen. Hab fast dreißig Jahre für ihn gearbeitet und immer gut. Bin jetzt schon zwei Jahre ohne Arbeit. Hab eine kranke Frau, meine Tochter hat ein Baby, ihr Mann hat nur einen Tag Arbeit, im Büro. Mein Sohn hat in Mr. Fords Berufsschule gelernt, hat jetzt auch Familie und nur zwei Tage Arbeit. Mr. Ford kennt meinen Namen, hat mich selbst angestellt und viele Male mit mir gesprochen. Mrs. Ford, bitte, geben Sie mir Arbeit. Ich fass alles an, was ich kann. Kenn den Fordwagen. Hab mein Leben lang dran gearbeitet. Helfen Sie einem guten Mann. Gehöre zu Pfarrer Orguts Gemeinde.
Ihr ergebener Abner Shutt.«
Abner las den Brief wieder und wieder durch. Er hatte den unangenehmen Verdacht, einige Worte sähen wohl nicht so ganz richtig aus. Aber, überlegte er, ich bewerbe mich ja nicht um eine Stelle als Lehrer. Er glaubte, Mrs. Ford werde schon begreifen, was der Brief bedeute, und darin hatte er recht. Nur einen dummen Fehler machte er - er vergaß, seinen Absender auf den Brief zu setzen.
Er ging aus dem Haus, kaufte eine Briefmarke und steckte den Brief in den Kasten. Und nun wartete er. Er erzählte niemandem davon, er wollte sie alle überraschen. Den ganzen nächsten Tag blieb er zu Hause und wartete, weil er glaubte, es werde ein Sendbote kommen. Er wartete auch den darauf folgenden Tag noch, bis Daisy und Milly zu zetern begannen. Wollte er denn gar nicht mehr nach Arbeit suchen? Da ging er wieder los und wanderte durch die Straßen.
Mit dem Brief geschah folgendes: Ein Sekretär von Ford öffnete ihn und merkte ihn für eine Untersuchung und Nachprüfung vor, wie Mrs. Ford es für solche Fälle angeordnet hatte. Er wurde einem Angestellten im Verwaltungsgebäude zugestellt, der diese Fälle bearbeitete. Der Mann schlug den Namen Abner Shutt in der mehrere Millionen Namen zählenden Kartothek von ehemaligen Arbeitern der Ford-Company nach. Die fehlende Adresse war nicht so wesentlich. Abner Shutt war kein häufiger Name, die Eintragungen bewiesen, dass er bei der Gesellschaft gewesen war. Der Fall wurde also einem Mann übertragen, der im Außendienst tätig war.
Ein junger Mann kletterte vor dem Hause der Shutts aus seinem Ford Modell A Coupe und läutete. Er musste eine ganze Weile läuten, weil niemand außer Milly im Hause war, die nur selten aufstand. Aber endlich schleppte sie sich zur Tür, guckte durch den Spalt und war natürlich in hellster Aufregung, als sie einen fremden Mann sah, der
behauptete, er komme von Ford. Milly ließ ihn ein, stotterte Entschuldigungen und setzte sich stöhnend auf einen Stuhl. Sie schämte sich ihrer Armut. Das Zimmer war für einen Empfang gar nicht vorbereitet.
Viele der >rührseligen Erzählungen<, die in den Briefen an Mrs. Ford standen, hatten sich als nicht ganz wahr herausgestellt, doch in diesem Fall konnte der Prüfer sehen, dass Milly wirklich krank war. Er bemerkte auch, dass sie nichts von dem Brief wusste, den ihr Mann geschrieben hatte. So war es leicht, die Wahrheit jedes Wortes, das Abner geschrieben hatte, zu überprüfen. Der Ehemann war nicht zu Hause, suchte anscheinend Arbeit, ein ehrbares, aber vergebliches Bemühen. Der junge Mann stellte Fragen, die jede Einzelheit der Familie und alles über die finanzielle Lage der Shutts aufdeckten. So unwahrscheinlich es schien, dieser Shutt hatte tatsächlich Mr. Ford in seinen frühen Tagen gekannt; war sogar persönlich von ihm angestellt und gefördert worden. Der Fall hatte Aufmerksamkeit verdient.
Gab das eine Aufregung in der Familie, als sie nach und nach heimkamen und von diesem Ereignis hörten! Und wie stolz war erst das Haupt der Familie! Die lange Untätigkeit und Hilflosigkeit hatte ihn körperlich zerrieben, aber sein Kopf war helle geblieben. Jetzt schwoll ihm der Kamm, und es wurde schwer, mit ihm in einem Zimmer zu leben. Jeden Tag wartete er ungeduldig auf den Briefträger. Endlich erhielt er die Aufforderung, er möge sich im Highland-Park-Werk melden. Dort stellten sie immer noch Ersatzteile für das Modell T her. Abner durfte jetzt am Fließband einige winzige Schrauben der Magneten einsetzen. Zwei Tage in der Woche arbeitete er. Acht Dollar bekam er dafür und brauchte nicht einmal Fahrgeld. Diesen Menschen, die fast verhungert waren, schien es wie der Himmel auf Erden.
Wenn ein Mann 250000 Angestellte hat, so macht es ihn nicht bankrott, wenn er 250000 und einen Arbeiter hat. Außerdem bleibt ja immer noch die Möglichkeit, einen anderen Mann hinauszuwerfen oder gar hundert, wenn er es für richtig hält. Der Mann möchte seine Frau glücklich sehen, da liegt der Hase im Pfeffer. Sie hat eben ein weiches Herz wie alle Frauen, denen die wirtschaftlichen Zusammenhänge ein Buch mit sieben Siegeln sind. Und wenn sie sich obendrein dagegen wehrt, dass man die Bittbriefe an sie zerreißt, so muss ein Weg gefunden werden, ihre Wünsche zu erfüllen. Deshalb bekam Abner seine Arbeit. Er antwortete mit einem Brief voll rührender Dankbarkeit, der in seiner Ungelenkheit und seinem Stammeln so herzzerreißend war, dass man ihn der großen Dame vorlegte. Sie bewahrte ihn in ihrer Handtasche auf und zeigte ihn einigen ihrer Freunde; da konnten sie einmal sehen, was für eine gütige und fromme Einrichtung doch die Ford-Motor-Company war!
Abner vergaß über Nacht alle Wunden und Schmerzen, die man ihm zugefügt hatte, er vergaß die Kugeln, die über seinen Kopf gepfiffen waren - Kugeln, die von Henry Fords Geld bezahlt und von seinen Leuten verschossen wurden. Aber wir wollen nie mehr von dieser Verwirrung in Abner Shutts Leben sprechen, solange er noch lebt. Abner war jetzt mehr denn je überzeugt, dass Henry Ford einer der größten und besten Menschen sei. Er hatte das immer geglaubt. Wenn ein Unrecht geschah, so lag das nicht an Henry Ford. Sein Werk war groß, und er fand eben keine Männer, die seiner Ziele würdig waren. Daran lag es! Jetzt gehörte Abner wieder dazu. Sollte nur noch einmal irgendein Boss oder Vormann wagen, ihn hinauszuwerfen! Er wusste jetzt, was er dann zu tun hatte!

Amerika wählte Präsident Hoover nicht wieder; auch Henrys Macht half da nicht. Sie wollten es jetzt einmal mit den Demokraten versuchen. Sofort nach der Wahl begann der totale Zusammenbruch in Finanz und Industrie. Es war der schwerste, den man je erlebt hatte. War dieses Elend nun die Folge dessen, was Mr. Hoover getan oder unterlassen hatte? Oder fürchteten sich die Leute vor dem, was Mr. Roosevelt tun wollte, und lag hier die Ursache? Die Weisen stritten endlos darüber. Der Präsident lud seinen Nachfolger ein, um mit ihm Sofortmaßnahmen gegen die Missstände zu beraten. Aber Roosevelt lehnte es ab, die Verantwortung für jegliche Maßnahme zu tragen, die während Hoovers Amtsperiode noch beschlossen würde. Die Gegensätze verschärften sich also. Wer trug die Verantwortung, dass nun alle Banken des Landes die Schalter schlossen?
Abner war einer von den hundert Millionen Amerikanern, die nur das wussten, was sie in den Zeitungen lasen. Für ihn war jetzt alles noch rätselhafter und unbegreiflicher. Was würde aus dem Land werden? Fiel alles in Scherben? Würde Ford wieder schließen und ihm seine Stellung kündigen müssen?
Der neue Präsident war zuversichtlich und lächelte. Das half einigen Leuten, doch noch mehr brachte es in Zorn. Der neue Präsident vertrat den Gedanken, nicht den Großbanken und der Industrie, die es nur in ihren Safes anhäuften, sondern den Farmern und Arbeitern müsse man Geld geben. Die würden es sofort in Umlauf setzen. Dieser neue Plan schien all denen gut, die kein Geld hatten, sie versprachen ernsthaft und von ganzem Herzen, es sofort wieder auszugeben. Der Plan lief an, und sofort wurden wieder Waren gekauft. Die Industrie erholte sich, die Farmer fanden wieder Absatz für ihre Erzeugnisse.
Die einfachen Leute konnten wieder Nahrung kaufen, um sich sattzuessen.
Das war der Kurs in den nächsten Jahren. Der Staat verschuldete sich mit Milliarden von Dollars und lenkte sie nach diesen oder jenen Grundsätzen an die Endverbraucher, von denen man annehmen konnte, sie würden sie auch ausgeben. Doch letzten Endes lief es wieder darauf hinaus, dass die Großbanken und die Großindustrie zum Schluss alles Geld vergnügt einstrichen. Man sollte meinen, das hätte ihnen behagt und sie wären dem Präsidenten dankbar gewesen, der diese prächtige Idee ausgedacht und eingeführt hatte. Aber - die Banken waren kaum wieder geöffnet und mit Geld voll gestopft, die Farmer erzielten gute Preise, die Aktiengesellschaften zahlten die höchsten Dividenden seit ihrem Bestehen - da, kaum waren sie wieder obenauf, wandten sich alle aus einem dunklen Grunde gegen ihren Retter. Sie schimpften ihn einen Diktator, einen Verschwender und gaben ihm andere Namen, die man besser nicht nennt.
So auch Henry Ford: Ende 1934, etwa eineinhalb Jahre nach dem Beginn der >Wende< erklärte er, die Depression sei jetzt vorüber, er werde wieder eine Million Wagen pro Jahr herstellen. Soviel hatte er seit 1930 nicht mehr erzeugt. Diesmal stimmte es und war nicht nur Verkaufspsychologie. Die Leute hatten jetzt Geld, konnten ihre alten Wagen, die sie jahrelang gefahren hatten, durch neue ersetzen. Henry rief seine Arbeiter zurück und erhöhte den Mindestlohn. Könnte man nun nicht von ihm erwarten, er werde seine Wirtschaftsphilosophie ändern und versuchen, mit dieser Regierung zusammenzuarbeiten?
Durchaus nicht! Die Regierung wollte eine >National Recovery Act (Anm.: N.R. A. - National Recovery Act, etwa = Konzertierte Aktion.) beschließen: Man wollte die Lohnkürzungen, die blinde Überproduktion, sowie alle anderen Schäden der industriellen Anarchie verhindern. Henry aber, der eigensinnigste aller Individualisten, bockte wie ein Esel. Er verweigerte sein Einverständnis, sagte aber nicht, was er statt dessen zu tun gedächte. Nein, er überließ es der Regierung, seine Wagen zu boykottieren und seine Proteste abzulehnen.
Was dachte Abner Shutt sich bei solchen Ereignissen? Nun, er dachte sich gar nichts dabei. Er glich ebenfalls einem Esel der Industrie, aber einem von jener Art, den man an einem Pfahl anpflockt, der ewig im Kreis trottet und eine Maschine antreibt. Unendlich viele Male trottet er so jeder Stunde im Kreise, acht Stunden jeden Tag, fünf Tage jede Woche. Er wünscht sich nichts Besseres auf dieser Welt, solange er noch laufen kann, will er so angepflockt bleiben, damit er jeden Freitagabend einen der schönen Schecks der Ford-Motor-Company bekommt, damit er seine Familie kleiden und ernähren und die Steuern für sein Haus bezahlen kann. Vielleicht gelingt es auch, ein paar Dollar auf die Bank zu bringen, damit er und seine kranke Frau nicht hinweggeschleudert werden, wenn wieder einer dieser wirtschaftlichen Wirbelstürme über das Land hereinbricht. Ja, das wird er vielleicht tun, denn diesmal bürgt der Staat ihm ja für seine Ersparnisse.

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