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Walter Schönstedt - Kämpfende Jugend (1932)
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IX.

Doktor lief nachdenklich am Landwehrkanal auf und ab. Er schwitzte und hatte die Mütze zurückgeschoben. Auf der andern Seite des Kanals fuhren in regelmäßigen Abständen Hochbahnzüge. Der Kanal war schmutzig und roch nach warmem Teer. Der Himmel spiegelte sich blau in dem trägen Wasser, auf dem stellenweise buntschimmernde Ölflecke sanft schaukelten. Ein Schleppdampfer mit vier großen Kähnen fuhr leise vorüber. Sie waren mit Sand beladen und ragten nur ein ganz kleines Stück über dem Wasserspiegel, es sah so aus, als ob sie jeden Augenblick untergehen wollten. Ganz kleine Wellen schlug die Schraube des Dampfers. Unwillig und kraftlos plätscherten sie gegen die Kanalwand und fielen müde wieder zurück. Auf dem letzten Kahn saß eine alte Frau und schälte Kartoffeln, gleichgültig blinzelte sie Doktor zu. Der wischte sich sorgfältig und ärgerlich den Schweiß von der Stirn. Er erweckte den Eindruck eines arbeitslosen Kaufmanns, der die Zeit totschlägt.
Es war kurz vor Feierabend. Einige Mädels liefen schwatzend an ihm vorbei, eins von ihnen sagte kichernd: „Da unten die Frau möchte ick nich sin." Doktor, der sowieso schon gereizt war, ärgerte sich über diese Worte. Lange dachte er über diese Mädels nach: sie kümmern sich um nichts, werden da im Kaufhaus Tietz an der Ecke hin und her gejagt, müssen springen und höflich sein. Sie grinsen ständig, fühlen sich wichtig und tun so, als wären sie weiß Gott was für Schönheiten, auf die ein jeder gleich hereinfallen muss. Und dabei sind sie doch so armselig. Bald sind sie verbraucht, noch einige wenige Jahre, und ihre Sehnsüchte versacken in einer lausigen Bude, zwischen schmutzigen Kindern und immerwährendem Elend.
Doktor lief ärgerlich weiter. Gerade ihm, der doch gar nicht wusste, wie man da vorgehen sollte, hatte die Gruppe den Auftrag gegeben. Dann lächelte er und sagte halb ironisch, halb gutmütig zu sich selber: „lass doch, Doktorchen, die lieben Leute wollen Dich erziehen. Sie wollen Dich verproletarisieren. Nu gut. An mir soll es nicht liegen... "
Aus dem dunklen, großen Torweg des Telefunkenhauses kämen eilig Arbeiter. Alles ältere Männer. Viele hatten Fahrräder. Manche kamen mit Stehkragen und Aktentasche, andere im offenen Hemd, mit blauen Kaffeeflaschen. Zuletzt verließen die Lehrlinge das Gebäude.
Ein Arbeiter mit feinem Gesicht und schmalen, kümmerlichen Lippen grüßte: „Was suchst Du denn hier, Genosse Doktor?"
Doktor drehte sich erstaunt um, überlegte einen Moment. „Ach, Du bist es! Ja, was ich hier will? Wir wollen eine Jugendbetriebszelle gründen, und ich soll den Laden schmeißen. Ausgerechnet ich. Ich habe da so viel Ahnung von wie vom Gänsebeschlagen. — Was ist denn hier los im Betrieb?" Und dann setzte er in kläglichem Tonfall hinzu: „Kannst Du mir nicht irgendwie helfen?"
Der Genosse zog Doktor ein paar Schritte weiter. „Ist gut, dass Ihr Euch darum kümmert. Aber es ist schwer, mein Lieber. Die besten Jungens sind entlassen worden. Von unserer Parteizelle haben sie auch welche rausgefeuert. Die Schweine passen ja so auf! Überall stecken Spitzel. — Was soll ich Dir helfen. Drei, vier junge Kerls kenne ich, die Ihr bearbeiten könnt. Warte mal, ich werde Dir einen zeigen, mit dem sprichst Du dann. Musst aber sehr geschickt vorgehen, Doktor! — Da, dieser lange Lümmel da. Der hat eine freche Schnauze, lässt sich von keinem zu nahe kommen und sympathisiert stark mit uns. Den wollten sie schon früher kappen. Machs gut, ich muss zur Zelle."
Der lange Lümmel kam mit noch einem jungen Arbeiter. Er trug die Jacke unter dem Arm und spuckte am Haustor kräftig aus. Er hatte ein gutmütiges, kluges Gesicht.
„So, wieder mal ein Tag rum. Haste jesehn, Fritze, heute mittag die dofe Sau von Kühne? Mensch, wat der sich so einbildet! Bei mir aber nicht, mein Lieber, Der kann auf ne Wäscheleine pennen und sich hinterm Feuerhaken ausziehen, das schmale Gehopse! Bloß die verfluchte Fresse!"
Der andere sah zu seinem langen Kollegen auf, gab ihm fröhlich einen Rippenstoß und sagte grinsend: „Hau ihn doch mal aufs Maul, den Angeber! So ganz aus Spaß."
„Na ja. Bei Gelegenheit mal."
Am Halleschen Tor standen Zeitungshändler und riefen die Abendzeitungen aus: ,Tempo!', ,Die Welt — am Abend!', ,Der Angriff!!'... .
Ein Mann mit auffallend hervorstehendem Unterkiefer verkaufte den ,Angriff. Ein paar Gymnasiasten standen neben ihm, schwatzten laut, lachten blöd und musterten die Vorübergehenden. Der Zeitungshändler schien sie gar nicht zu beachten, obwohl sie zu seinem Schutze da standen. Vielleicht dachte er- sich: was ist mit die albernen Bengels schon los! Die kriegen eins auf die Fresse und rennen zum Schutzmann.
Ein großer Herr kam eilig heran, knallte die Hacken zusammen, hob den rechten Arm weit in die Luft und brüllte: „Heil!" Die Gymnasiasten kamen sich auf einmal wichtig vor, der Herr kaufte eine Zeitung. Es war ein echt preußischer Offizierstypus, ein paar Narben am Kinn, um die Mundwinkel ein zynisches Lächeln. Hastig ging er weiter.
Die beiden Burschen von ,Telefunken' gingen langsam über Hie Brücke. Der Lange spuckte wieder aus, las laut mit verstellter Stimme die Überschrift eines ,Angriffs' vor: „Rot Mord wütet! Ins Zuchthaus mit dem Gesindel!" Dann lachte er breit und höhnisch! Die Gymnasiasten sahen ihn böse an und schlichen zum Rücken des Zeitungsverkäufers. Dieser tat, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an.
Am Hochbahnhof blieben die beiden Burschen stehen. Doktor lief um sie herum, er überlegt, ob er sie mit Du oder mit Sie ansprechen sollte. Er fühlte sich überhaupt recht unbeholfen, ab und zu lief um seinen Mund ein nervöses Zucken, dann zeigte er einen Moment die Zähne, sah mutig aus und blieb wieder stehen. „Eigentlich ist doch alles so einfach, bloß ich bin nicht der richtige Kerl zu dieser Aufgabe", dachte Doktor.
Der Kleine rannte plötzlich die Treppen zur Hochbahn hinauf. Doktor gab sich einen Stoß und stand vor dem Langen. Der kniff die Augen zusammen, griente ein wenig und sagte freundlich: „Na, wat schieiste denn, Du oller Brillenkönig?"
Doktor atmete erleichtert auf. „Kann ich Sie — kann ich Dich mal sprechen, Kollege?"
Bei dem Wort Kollege griente der andere wieder und meinte gutgelaunt: „Nu mal los, wat haste denn?"
„Ach, es ist nur wegen Eurem Betrieb. Ich bin Mitglied im Kommunistischen Jugendverband. Wenn es Dir recht ist, gehn wir hier ein Stück am Kanal entlang."
Dem Langen schien es recht zu sein. „Meinetwegen. Aber lange habe ich nicht Zeit, verstehste!"
Sie liefen längs des Kanals auf und ab. Schon nach ganz kurzer Zeit hatte Doktor den richtigen Kontakt gefunden. Emil hieß der Lange und wohnte an der Kottbuser Brücke. „Vastehste, da unten im Topplappenviertel."
Sie unterhielten sich lange. Doktor redete immer mehr, und Emil hörte ihm gespannt zu.
„Ja, ja. Hast Du schon ganz recht", unterbrach er ihn, „aber det is nich so einfach, mein Lieber. Die besten Leute haben sie rausgefeuert. Wir sind nur noch ein paar Mann, die stieke sind. — Seh ma, mir brauchste det ja nich so lange auseinanderzuposamentieren. Ich weeß doch ooch Bescheed, war damals in die Rote Jungfront, 6. Abteilung, 2. Zug. Fummel hieß unser Zugführer, kennste den?"
Doktor kannte Fummel nicht, mit der Roten Jungfront hatte er nicht viel zu tun gehabt, die Jungens waren ihm zu grob gewesen, sie hatten ihn immer verkohlt,
„Pass mal auf, Emil. Man kann natürlich nicht verlangen, dass Du wegen so einfacher Arbeiten aus dem Betrieb fliegst. Das muss alles gut organisiert werden. Du sollst uns nur unterstützen, zusammen mit den stieken Jungens, die noch da sind. Wir von der Straßenzelle fertigen Material an und verteilen es vor dem Betrieb. Die Unterlagen für das Material sollst Du besorgen. Die Jungens, von denen Du annimmst, dass sie gut sind, informiere vorsichtig und lade sie zu einer Sitzung ein. Ich hole Dich dann wieder ab. Und auf der; Sitzung werden wir schon sehen. Hauptsache, es sind Leute da."
„Für fünfe, sechse garantiere ick. Rot Front, Du olle Brillenschlange!"
Emil lief unter der Hochbahn weiter nach dem Kottbuser Tor zu. Er pfiff ein Lied und schlenkerte mit den langen Armen hin und her. Etwas schwerfällig sah er aus, schwerfällig und dabei wie ein kleiner Junge. Aber Knochen hatte er wie ein junger Stier. Doktor war froh, seine Gedanken waren leicht, als er zur Nostizstraße zurückging.
Auf einer Holzbarriere neben der Straßenbahn, Ecke Nostiz- und Gneisenaustraße, saßen junge Arbeiter und ließen die Beine herunterhängen. Andere standen im Kreis herum, in ihrer Mitte zappelten unruhig zwei Schutzpolizisten, Einer von ihnen war mürrisch und wäre am liebsten fortgelaufen; der andere debattierte und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Armen in der Luft herum. Theo sprach unablässig. Auch Ernst war wieder bei seinen Genossen, man hatte ihn freigelassen und einen Prozess in Aussicht gestellt.
„Ja, Herrschaften, ich sehe, Sie sind gar nicht so dumm", sagte der aufgeregte Schupo, „aber Ordnung muss sein. Soviel verstehe ich auch schon von Politik."
„Wat is denn Eure Ordnung? He? Wie sieht denn diese Ordnung aus?"
„Hören Sie mal, wo sollten wir denn hinkommen, wenn jeder machen könnte, was er wollte? Das würde doch ein Chaos werden. Hier, die Nostizstraße ist schon schlimm genug. Gott sei Dank, sie gehört nicht mehr zu unserem Revier. Wir sind von der Gneisenauwache."
„Ach Herrje! Die Nostizstraße. Warum denn die Nostizstraße? Warum denn? Weil hier die Leute hungern, weil sie auf die Gesetze pfeifen? Gehl man dort hin, wo die Festessen stattfinden, dann seid Ihr richtig."
„Stellen Sie sich das mal vor, Herr Wachtmeister, Ihre Ordnung", sagte Ernst und trat einen Schritt vor, „Ordnung ist, wenn die einen krepieren, in den Wohlfahrtsämtern angebrüllt werden und wenn sich auf der anderen Seite die Reichtümer häufen. Wenn hier schwangere Proletenfrauen nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt machen sollen, und auf der andern Seite die Frauen der herrschenden Klasse in die Berge ins Sanatorium fahren, ihre Kleider zeigen, die Fressen anmalen und — Abtreibungen vornehmen lassen. Da kräht kein Staatsanwalt danach. Natürlich braucht der Bürger die Ordnung. Das haben die sozialdemokratischen Führer 1918 auch gesagt. Ruhe und Ordnung. Dann kam Noske. Dann kamen die faschistischen Freikorps, die er geschaffen hatte. Da hatte der Bürger die Ruhe, aber das Proletariat hat seine Besten bei dieser ,Ordnung' verloren und hat die Schnauze gehalten. Aber heute nicht mehr. Und nun haben sie alle die Schnauze voll. Was gehen mich die Gesetze an, wenn ich Hunger habe? Einen Dreck! Und stellen Sie sich vor, was für eine Situation Sie als Polizist kommen: ich gehe mit ander auf die Straße und fordere Arbeit und Brot, trotzdem Demonstrieren verboten ist, und der Bürger seine dreckige Ruhe braucht. Sie als Polizist haben mit ihren Kollegen den Auftrag, den Demonstrationszug mit allen Mitteln auseinander zuschlagen. Wir gehen nicht. Sie greifen zur Waffe, stehen vor mir. Ich habe Ihnen nie etwas getan, wir kennen uns gar nicht. Ich bin ein Prolet, Sie sind ein Prolet. Stellen Sie sich das einmal vor! Sie schießen mich über den Haufen und schützen den Staat. Den Staat, der uns gar nichts angeht, der uns verrecken lässt, den die herrschende Klasse braucht, um das Proletariat zu unterdrücken. Und Sie gehören auch zum Proletariat."
„Na, na, so schnell wird ja nun doch nicht geschossen... "
„Oho! Eure Pusten sitzen ziemlich locker. Ihr lasst Euch ja von den faschistischen Polizeioffizieren verrückt machen!"
„...Und dann ist es auch nicht nötig zu demonstrieren. Wenn ich Hunger, habe, brauche ich ja keinen Krach zu machen, davon wird es ja auch nicht besser... "
„Der Krach ist dazu da, das Volk zu mobilisieren! Wir werden Krach machen, immer stärker! Bis Eure Pistolen und Maschinengewehre nichts mehr nutzen."
„Ja, aber, was soll denn das werden, wie soll denn das enden . . ?"
„Ein Sowjetdeutschland!"
... ..Eine Obrigkeit muss doch da sein. Und wir leben doch in
einer Demokratie. Das Volk hat sich doch diese Obrigkeit gewählt. Wir haben doch eine Demokratie, das können Sie doch nicht abstreiten."
Der andere Schupo zupfte seinen Kollegen ärgerlich am Ärmel. Fünf Schritte entfernt stand die zwei Mann starke Schupopatrouille der Nostizstraße von der Heimwache. Sie waren verblüfft, schüttelten leicht die Köpfe und machten kehrt. Verwundert sahen sie sich an: wie können sich unsere Kollegen mit diesen Lausebengels unterhalten! Das ging ihnen nicht in den Kopf. Sie wussten doch, wo der Feind stand, es wurde ihnen ja so oft und so oft in die Schädel gehämmert. Da ist die Nostizstraße, in der wohnen Kommunisten, vor allem Jugendliche. Das ist ein Aufruhrherd; also tun Sie Ihre Pflicht.
Doktor war zu der debattierenden Gruppe getreten und hatte die letzten Sätze über die Demokratie gerade noch gehört. Und als sich die Grünen davonmachen wollten, meinte er so nebenbei: „Ja, vor dem Gesetz sind alle gleich. Es ist den Armen wie den Reichen verboten, unter Brückenbogen zu schlafen und Brot zu stehlen. Das ist Ordnung, das ist Demokratie... "
Die Jungens lachten, auch der eine Schupo griente: „Natürlich, das verstehe ich schon, aber... "
Ein Herr mit Spitzbart kam langsam heran; er musterte, ohne fein Wort zu sagen, die Umstehenden. Die beiden Grünen zottelten los in Richtung Gneisenauwache. Da sagte einer von den Jungens zu den übrigen: „Mensch, merkt Ihr denn nichts? Hier riechts doch nach Bullenfleisch!"
„Ja, hast recht. Wer hat acht Groschen da? Hol doch mal eener acht Groschen aus der Tasche... "
Dann Hefen sie weiter, in die Nostizstraße hinein; der Herr mit dem Spitzbart sah ihnen aus trüben Augen nach, drehte sich ärgerlich um und schob ab, als ginge ihn die ganze Sache nichts an.

Vor den Haustüren standen Leute. Ein zottiger Köter spielte mit einem kleinen, niedlichen Hund; der kleine legte sich auf den Rücken, streckte die vier Pfoten lächerlich in die Luft, und der große leckte ihn ab. Eine Frau kam mit einem quietschenden Kinderwagen. Vier Kinder liefen über den Damm, das jüngste fiel hin und blutete aus der Nase, fürchterlich fing es an zu brüllen.
Das Nachtgespenst schlich durch die Straße, mit vornübergebeugtem Kopf, es suchte Stummel. Während es im Zickzack den Bürgersteig entlang lief, murmelte es unverständliche Worte vor sich hin. Seine tränenden, kranken Augen waren müde und klein, wie die eines neugeborenen Hundes, der zum ersten Male die Augen aufschlägt. Das spöttische Grinsen um den Mund machte das runzlige Gesicht noch hässlicher. Die Augenbrauen waren verfilzt und weiß wie ein Bausch Watte. Eine junge Frau kicherte und rief einem etwa dreijährigen Kinde zu: „Du, Gustav, seh' mal, der alte Mann, der holt Dich, wenn Du nicht artig bist und hörst, was Mutti sagt!" Das Kind verzog die Lippen, kämpfte vergebens gegen das Weinen an, plärrte los. „Willst Du mal stille sein! Du verdammtet Balg! Heult den janzen Tach. Den janzen Tach! Hergott, wenn hat man denn mal Ruhe...."
Obwohl die Sonne die Häuser nur noch ganz oben an den Dachrinnen beschien, blieb es immer noch furchtbar drückend.
Franz stand ärgerlich neben Frieda, Gustav und Orje.
„Wat machen wir heute? He?"
„Jarnischt. Ziehn uns nackend aus und passen auf die Sachen auf. Ick schwitze wie ein Affe."
„Ach, mit Euch ist ja nischt anzufangen!" sagte Franz. „Ihr versaut ja alles! Was soll man denn mit Euch machen, blödes Volk?"
„Ach, ja. Blödes Volk! Mensch, hör off, oder ick haue Dir doch noch mal uffs Maul. Dir hab ick so richtig gefressen."
Gustav war aufgeregt. Frieda sah ihn warm an.
„Na, komm, stoßen wir uns eene aus! Mir schon recht... "
„Ja, los, komm in Hausflur!"
Orje fuhr gutmütig dazwischen: „Macht doch keen Unsinn, Kinder!", und Frieda packte mit aller Kraft Gustavs Arm. Er riss sich grob los, mit den Zähnen knirschend. In Friedas Augen standen Tränen, kullerten rasch die Wange hinab.
„Zu was denn bloß, Kinder? Immer müsst Ihr stänkern. Ist doch gar kein Grund da, zu was denn bloß?... "
Franz presste mit heißer, ärgerlicher Stimme hervor: „Eine Wut hab ick, eine Wut!" Er sah aus, als wollte er mit dem Schädel gegen die Wand rennen. Nach einer Weile drehte er sich um, stützte sich an ein Fenstersims und begann zu grübeln.
Vier Häuser weiter standen Peter Simon von der Gruppe ,Nostizstraße' und der Bauer aus Langendorf. Peter erzählte wichtigtuerisch, der andere kaute unentwegt an seinem Pfeifenstück. Derb und lustig schlug er Peter auf den Rücken, so dass Peter einen Moment einknickte wie ein abgestochenes Kalb. Dann erzählte Peter weiter:
„Musst sie erst richtig scharf machen, verstehste? Is ja nun je nachdem, wie's Dir gerade passt. Bei der eenen kommste so weiter und bei der anderen so. Mensch, det is ne feine Sache, wenn man den Bogen so richtig spitz hat. Und warum soll man sich nicht amüsieren he? Det steht doch nirgends. Hauptsache, det Mädel hat ooch wat davon. Lange offhalten kann man sich ja sowieso nicht dabei. Hast ja nie Zeit. Wenn de nich auf dem Kien bist, wirste durch die Parteiarbeit zum Eunuchen. Und det liegt mir jarnicht... "
„Ja, ick habe da ja weniger Erfahrung, bei uns auf dem Dorf is das einfacher. Da sind fremde Schnitterinnen. Von Liebe kann natürlich gar keene Rede sein. Gehst mit ihr los und legst ihr einen Bund Stroh auf den Kopf, dann braucht man sie nicht zu sehen."
„Sind da polnische Weiber? Die soll'n doch so feurig sind?"
„Ach ja, feurig. Stinken tun se, wenn se den ganzen Tag offs Feld geschwitzt haben. Nee, macht keen Spaß, mein Lieber."
Plötzlich stand Trude neben den beiden. Das Gespräch verstummte jäh, obwohl Peter gern mehr von den polnischen Weibern gehört hätte. Er war gar nicht verlegen; und damit nicht ein zu dummer Eindruck bei Trude entstünde, erzählte er weiter: „... Vastehste! Wir um die Ecke, und die Grünen in die Häuser. Denn sind wir nachhause gegangen. Nachher zuhause det Essen: Peter, stech zu, sind Linsen!"
Der Bauer lachte und spuckte in großem Bogen braunen Tabakspeichel. Trude sah von einem zum andern, sie hatte die Verlegenheit der Jungens bemerkt. Das hatte sie ja bei Jungens schon öfter erlebt: sie waren einfach zu feige, weiterzusprechen. Und dabei hatten Mädels doch auch Interesse für derartige Themen, hätten vielleicht sogar mit guten Ratschlägen aufzuwarten.
Sie sagte: „Gehn wir!"
„Is denn schon so weit? Mensch, wat wollen wir paar Mann denn machen?!"
„Egal. Es wird eben gemacht."
Ü berall in den Straßen standen Gruppen junger Arbeiter. Ältere kamen hinzu und unterhielten sich.
„Wird’s denn noch lange so weiter gehen? Ich meene, jetzt muss doch endlich Schluss sein!"
„Liegt doch an Euch! Nur an Euch!"
„Ja, was sollen wir denn machen!? Die Kommunisten machen doch ooch nischt. Sollen sagen: so, jetzt gehts los! Denn bin ick ooch mit bei."
Plötzlich sprangen acht, zehn Mann auf den Fahrdamm und begannen zu singen; „Wir sind die erste Reihe, wir gehen drauf und dran!"
Immer mehr schlossen sich" an, auch Ältere. Kater und Spinne, etwas später Gustav und Frieda. Der Herr mit dem Spitzbart rannte los. Der Zug marschierte die Nostizstraße hoch, bog in die Arndtstraße ein.
Fenster wurden geöffnet. „Rot Front!"
Weiter. Immer weiter.
Eine rote Fahne schwang sich über den Zug, ein fünfzackiger Messingstern glänzte an ihrer Spitze,
Kinder liefen dem Zug hinterher und Frauen.
„Was ist denn los? Warum rennt Ihr denn so?!'"
„Die Jugend marschiert!"
Die Marschierenden hielten fest zusammen, erst gegen Ende wurden die Reihen etwas lockerer. Aber immer mehr schlossen sich an. Aus den Haustüren kamen sie gerannt. „Da, Demonstration! Los, Atze, mit!"
Kleinbürgerfrauen blieben ängstlich stehen und tuschelten. „Na, wenn det man gut geht. Det is doch verboten, ne wahr?" — „Ach wat, verboten! Hungern ist doch auch nicht verboten. Lass die man ruhig. Es muss doch mal anders werden!"
Links, links, links! Der Zug marschierte in Richtung Chamissoplatz.
Die Körper der Jungen zuckten, alle Muskeln waren gespannt.
„Ach wat! Lass sie doch kommen. Ob wir so oder so krepieren!"
„Nieder mit dem Demonstrationsverbot! Wir wollen Arbeit und Brot!"
„Was haben die Erwerbslosen?"
„Hunger! Hunger! Hunger!"
„Es lebe Sowjetrussland, denn wir maschieren schon.
Wir stürmen in dem Zeichen der Völkerrevolution!"
Kater lief neben Spinne, eine Reihe vor ihnen Erich Schmidt. Er lächelte und betrachtete die Reihen strahlend: „Na Jungs? Los, weiter! Immer mit! Immer mit!"
Am Platz rannten die Leute zusammen, sprangen von den Bänken auf. Vor dem Reichsbannerlokal standen vier Männer in Windjacken. Einer sagte: „Da marschiert der Auswurf der Menschheit!"' Sein dicker Bauch wippte wabblig auf und nieder wie eine Biertonne im Landwehrkanal, die Speckfalte im Nacken quoll glänzend über den Jackenkragen. Ein jüngerer Kamerad, mit ernstem Gesicht tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte: „Hast einen Vogel! Pass auf, die machen uns noch was vor." Verärgert gingen sie wieder ins Lokal zurück. „Herr Wirt! Vier Mollen!" Dann droschen sie weiter Skat. Draußen drängte die dunkle Masse vorwärts. Ein Lastwagen fuhr polternd an dem Zug vorbei, der Fahrer reckte seine ölige Faust aus dem Führerkasten: „Nieder mit dem Verbot der ,Jungen Garde'! Nieder mit der Hungerregierung!" Ein einziger Schrei, wild und entschlossen antwortete: „Nieder!"
Radfahrer fuhren dem Zug voraus. Einer kam zurückgerast: „Achtung! Schupo von vorn!" Ein Beben lief durch die Menge, einen Augenblick lang schreckte sie zurück, aber die Vordersten gingen weiter, rissen alles mit. „Vorwärts!" Zwei Schupos kamen von vorn gerannt, sie stutzten einen Moment, dann schlugen sie mit den Gummiknüppeln in die Spitze des Zuges. Ein Knäuel von Armen packte zu und stellte sie wie Puppen auf den Bürgersteig. „Gebt den Weg frei, wir haben Hunger!" Die beiden waren sprachlos. Einer sagte: „Nee so was! Na lass sie, ick wer mir nich die Knochen kaputtschlagen lassen."
Das Signalhorn eines Überfallwagens schrillte, er kam von der Friesenstraße her. Er holperte über einen Prellstein. Eine Frau fiel in Ohnmacht. Die Grünen sprangen vom Wagen und hieben mit harten Gummiknüppeln auf wehrlose Körper. „Stehen bleiben! Ruhig auseinandergehen! Nicht rennen!" Ein Kind fiel zu Boden und brüllte. Kater und Spinne drückten sich an eine Hauswand. „Seh ma, seh ma, wie die mangdreschen!"
„Weitergehen! Weitergehen! Los! Los!" brüllte sie ein baumlanger Schupo mit Embryogesicht an. Kater bekam einen Hieb über den Kopf, dass er lang hinfiel. „Ah! Was hab ich denn gemacht! Ihr Hunde! Ihr Hunde!"
Der Schupo wollte ihn verhaften, ein Menschenknäuel schob sich dazwischen. Kater sprang mit letzter Kraft auf und rannte in ein Haus. Eine alte Frau öffnete eine Tür: „Hier, kommen Sie rasch rein! Die hausen ja wie die Vandalen!"
Sie wischte ihm das Blut vom Gesicht, sein Kopf schmerzte fürchterlich.
Die Grünen standen, Gummiknüppel in der Hand, breit und lauernd auf dem Fahrdamm. Von der Arndtstraße her drangen wieder Schreie: „Nieder mit der Hungerregierung!" Die Polizisten sprangen auf den Wagen, fuhren mit offener Wagenklappe los. Ein Schupo hing halb aus dem Wagen. An der Arndtstraße sprangen sie wieder ab und schlugen dazwischen. „Los! Weitergehen!"
Bis in die späte Nacht hinein fuhr der Überfallwagen die Nostizstraße auf und ab.
Und dennoch klebten am anderen Morgen kleine Plakate an den Wänden:

„An die Bewohner des Kreuzbergs!
Gestern kam es in verschiedenen Straßen des Kreuzbergs zu Protestdemonstrationen gegen die Notverordnung und Brüning-Regierung. Auch in der Nostizstraße und der angrenzenden Arndtstraße kam es zu Protestdemonstrationen junger Arbeiter, die sich immer in friedlichen Maßen hielten und die Grenzen der disziplinierten Agitation nicht überschritten. Erst nach Erscheinen der Polizei und der willkürlichen Verhaftung einzelner Jungarbeiter kam es zu Zusammenstößen, wobei auch viele unbeteiligte Passanten den Ordnungsknüppel dieser ,freien Republik' zu spüren bekamen. Alle Augenzeugen, die die Vorgänge von ihren Wohnungsfenstern beobachteten, gaben ihrer Empörung bei den Diskussionen mit den Jungarbeitern offenen Ausdruck.
Über den Transport der Festgenommenen berichten Augenzeugen folgende, empörende Einzelheiten: mit Schimpfworten, wie ,Sauhunde', ,Kommunistenschweine' und ,rotes Gesindel', wurden sie mit Fußtritten der Polizeibeamten auf den Wagen befördert. Die Fahrt bis zur Wache war für die Verhafteten mit dauernden Quälereien und Schikanen seitens der Polizisten verbunden. Als die Verhafteten den Wagen verließen, ereignete sich folgende brutale Misshandlung: als ein Festgenommener die Treppe zur Wache hinaufrannte, um sich den Schlägen der Polizisten zu entziehen, wurde er von hinten gepackt, die Treppe heruntergerissen und besinnungslos geschlagen. Er wurde daraufhin, weil er nicht laufen konnte, von den Beamten die Treppe hinauf in die Wache geschleift. Oben wurden im Beisein der Revierbeamten die Misshandlungen fortgesetzt Dabei tat sich besonders ein ,Zeuge' namens Richter hervor, der einem der Festgenommenen mit den Worten: ,Du Schweinehund wagst es, einen pflichttreuen Beamten anzugreifen?' einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzte. Wir werden auf diesen Kommunistenfresser noch besonders zurückkommen. Diese Jungarbeitermisshandlungen zeigen jedem Menschen, wie weit wir in Brüning-Deutschland gekommen sind. Die Bewohner des Kreuzbergs müssen aus diesen Vorgängen die Lehren ziehen. Sie müssen erkennen, dass die Demonstrationen der Arbeiterschaft nur die Folgen der Brüningschen Notverordnungspoltik sind. Vielen, die bisher abseits standen, geht jetzt ein Licht auf, weil sie die Auswirkungen der Notverordnungen am eigenen Leibe verspüren. Ihr Wille, nicht freiwillig zu verhungern, gibt ihnen die Überzeugung, dass sie kämpfen müssen unter der Führung der Kommunistischen Partei, An die Arbeiterschaft des Kreuzbergs richten wir deshalb den Kampfappell: wenn unsere Genossen zu Euch in die Wohnungen kommen und Euch auffordern, der KPD, beizutreten, so sagt nicht nein, sondern denkt daran, um den Kampf bis zum Sieg zu führen, brauchen wir auch Dich! Du fehlst in den Reihen Deiner kämpfenden Genossen! Wenn wir alle zusammenstehen, wird es uns ein leichtes sein, aus diesem morschen kapitalistischen System ein freies sozialistisches Deutschland zu schaffen. Ein Deutschland ohne Notverordnungen und ohne Gummiknüppel. Ein Deutschland der Arbeit und des Wohlstandes für alle Werktätigen. Darum hinein in die KPD.! Jungwerktätige, hinein in den Kommunistischen Jugendverband!
Mit kräftigem Rot Front!
Die Jungarbeiter des Kreuzbergs."

Kater und Orje standen in der Nostizstraße vor einem Plakat und lasen.
„Na, die haben ja wieder ganz schön gehaust!" sagte Orje, Die eine Ecke des Flugblattes hing lose, Orje spuckte sich in die Finger und klebte die Ecke fest. Kater stand neben ihm, er hatte eine eigroße Beule auf dem Kopf und eine furchtbare Wut im Leib. „Der Grüne, weeste, so ein langes Aast, Mensch, ick kann Dir sahren... " Er presste die Zähne aufeinander und atmete schwer.
„Tuts denn weh, Kater?"
„Affenkopp! Lass Dir doch mal mit det Ding vorn Schädel haun! Da denkste, Du bist im siehmten Himmel."
Sie liefen nebeneinander her. Die Straße und auch die Menschen waren eintönig wie an all den anderen Abenden. Aber dennoch war Ha irgend etwas, versteckt, sprungbereit. Vor allem Kater und Orje merkten das. Sie fühlten die Veränderung in sich, staunten erst, jeder versuchte zu erraten, ob der andere das gleiche fühlte wie er selbst.
An der Holzbarriere war niemand. Sie setzten sich darauf, Kater baumelte gleichgültig mit den Beinen, ab und zu sah er in den Himmel. Ein böser Druck lag auf seinem Herzen,
„Na, Du. Was macht denn Edith?"
„Ach, lass die rothaarige Hexe!" Kater hob die leere Hand und warf Unsichtbares weit fort. „Die will doch wat anderet, Mit Proletenjungs hat die nischt im Sinn. Wat soll ick ihr denn auch? Arbeitslos, zerrissen, keen Geld . . ," Seine Stimme war kalt.
Er sprang von der Barriere herab. Wäre jetzt Gras um ihn gewesen, und Blumen, dann hätte er sich vielleicht hingeworfen und gewimmert. Aber da drüben war die Nostizstraße.
Kater schlug mit der Faust auf den Balken. „Mensch, wie lange Soll denn det noch so gehen?! Man kommt ja aus dem Dreck janich mehr raus. So ein verfluchter Mist!"
„Ja, Kater, wie lange... Bald, bald muss das aufhören. Wir leben doch wie die Hunde. Aber es muss bald losgehen. Es muss! Alles muss kaputtgeschlagen werden! Alles! Du, wenn das soweit ist, dann... ach, Kater."
Eine Straßenbahn fuhr vorüber. Orje brannte sich eine Zigarette an, die Hand, in der er das Streichholz hielt, zitterte. Sein Gesicht zuckte und war sonderbar bleich. Nervös sah er Kater an. Lange sahen sich beide fest an. Nachher schämten sie sich, redeten aneinander vorbei. Es wurde schnell dunkel. Der Mond verkroch sich blass hinter zerrissenen Wolken. Eine Gruppe Jungens kam vom Baden im Landwehrkanal zurück. Frau Mädicke schaukelte mit ihrem Gatten über die Gneisenaupromenade. Er ging ein Stückchen hinter ihr und besah sich lüstern ihren wippenden Hintern.
Im Ecklokal lärmten Betrunkene, die Tür ging auf, ein alter Mann torkelte die Treppen herunter. Weißer Speichel klebte ihm um den Mund. Verzweifelt fasste er sich an den Kopf und fuchtelte kläglich mit den Armen in der Luft herum. Plötzlich schimpfte er los: „Da hat man nu! Da ist — da geht man nu — bei dir — hup — een — hup — hab ick — mein — janzet Vermögen va—soffen!" Er fiel hin, stand wieder auf und lief dann an der Wand lang schaukelnd nach Hause.
„Warst Du schon mal besoffen, Orje?" fragte gedehnt Kater.
„Nee, eigentlich noch nicht. Eenmal, Silvester. Da bin ick nachmittags bei Tietz gewesen und hab Kostproben getrunken. Franz war auch mit. Jeder sechs, sieben Gläser. Nachher haben wir ganz schön geschaukelt. Ick hab ja doch wieder alles ausgekotzt. Wenn Du nischt im Magen hast... ."
„Is doch eijentlich komisch: die Alten saufen, aber von unsere Jungens hab ick noch keen besoffen jesehn. Jewiß, wenn eener ne Molle kooft, trinken se mit, aber besaufen — nee."
„Hast recht. Ist aber gut so. Wir müssen viel, viel besser sein. Mensch, wenn wir ooch so saufen wollten, wie der Alte da, dann
würden sie uns schon helfen. Dann wäre alles aus. Für immer. Ist ganz gut so. — Wir sind alle feige. Peikbeen schreibt, wenn er rauskommt, ist er Kommunist. Wir sind feige, sage ich Dir. Hab ich nicht recht?"
„Ja", sagte Kater und ließ den Kopf sinken. Er träumte. Orje setzte sich zurecht und beobachtete ihn.
In der Straße war es stiller geworden. Es war kurz vor elf Uhr. Nur wenig Leute standen vor den Haustüren. Frieda und Gustav hatten sich am Nachmittag einen Fahrschein gesucht und waren mit der Untergrund zum Grunewald gefahren. Unten, an der Arndtstraße, schlichen ein paar Männer umher und verschwanden dann wieder. Ein Motorrad fuhr knatternd durch die Straße, hielt einen Moment vor Othellos Lokal und raste dann weiter. Auf dem Soziussitz saß ein Bursche mit zerhacktem Gesicht. Die rechte Hand hatte er in der Hosentasche vergraben. Die Schupopatrouille war nirgends zu sehen. Jetzt kam von der Belle-Alliance-Straße her ein Trupp von ungefähr dreißig Männern hintereinander in losen Gruppen. Sie schwiegen und verteilten sich in den Hausfluren und Lokalen der Gneisenaustraße. Ein langer Kerl rannte hin und her. In der Nostizstraße blieb er stehen, sah von Haus zu Haus und lief dann wieder zurück. Am Bürgersteig, nicht weit von Kater und Orje, hielten zwei elegante Privatautos. Die Motore waren nicht abgestellt. Orje stutzte. Er merkte sich die Autonummer und riss Kater aus seinem Dösen. „Du, seh mal." Kater sah sich um. Er tat erst verwundert. Dann sagte er leise: „Nazis. Los, hin zu Othello.; Die wollen die Straße überfallen. Da, da drüben der, det is Nazithiele, Los, jehn wir."
Othello stand behäbig hinter dem Schanktisch. Im Hinterzimmer brannte kein Licht. Vorn saßen Theo und zirka fünfzehn stramme Jungs. Auch Erich war dabei und Ernst. Der kleine Bauer aus Langendorf paffte unentwegt aus seiner Tabakspfeife.
„Wat roochst Du denn da? Stinkt wie Seegras, vermischt mit Grunewald."
„Ja, früher hab ick ooch bessern Tabak geraucht. Aber heute... "
Am Ofen saßen Trude und Elly mit den anderen Mädels. Sie flüsterten und kümmerten sich nicht um die Burschen. Ein paar ältere Parteigenossen standen umher und schimpften auf ihre schlappe Zellenleitung. „Nichts wird gemacht", beklagte sich einer bitter. „Alle arbeiten. Die Situation ist so günstig und unsere Zelle schläft weiter."
„Ach, mecker doch nicht! Das liegt doch nicht nur an der Leitung. Das liegt auch an den Genossen selbst. Da muss mal frisches Blut rein. Da, von der Jugend ein paar."
„Ooch nich richtig, mein Lieber. Da Leute rausziehen, ist sehr einfach ... "
Orje und Kater kamen ganz außer Atem ins Lokal.
Orje trat an Theo heran. Kater setzte sich zu den anderen und wartete die Dinge ab. Ina Hinterzimmer standen die Stühle auf den Tischen.
„Was ist denn los?"
„Nazis in der Gneisenaustraße! Planen wahrscheinlich Überfall. Zwei Privatwagen stehen an der Ecke. Die Nummern schreib ich Dir noch auf. Vorhin ist eine Harley-Davidson durch die Straße gefahren."
„Schön von Dir, mein Lieber. Deswegen liegen wir ja in Alarm. Heute, vor einer halben Stunde, haben wir das vom Nachrichtendienst erfahren. Wir haben Leute rausgeschickt, die sind aber noch nicht zurück."
Die Tür ging auf und Doktor stürzte herein. „Du, Achtung! Die Bergmannstraße ist frei. Aber vom Berg her kommen jetzt hintereinander mindestens hundert Mann. Thiele ist bei. Auch die Gneisenaustraße ist besetzt."
„Ruhe, Ruhe. Nur keine Aufregung. Los, die Hintertür auf! Drei Mann im Hausflur. Die Mädels sollen auch gehen. Sollen nachsehen, ob die Leute kochendes Wasser haben. Und dann immer von oben runter!"
An den Tischen draußen blieb alles ruhig. Nur Erich zitterte vor lauter Aufregung. „Mensch, lass sie nur kommen. Ich greif mir gleich einen Stuhl."
„Aber die haben doch Pistolen."
„Ach, lass sie doch schießen. Hier kommt keiner rein, das sag ich Dir!"
Trude wollte vorn im Schankraum bleiben. Sie schmollte und reckte ihre braunen Arme. „Meint Ihr denn, ich bin feige?"
„Nee, nee, Trude. Das wissen wir ja. Aber Du musst da mitgehen. Das ist auch eine Aufgabe. Ihr müsst die Leute Bescheid sagen, sie sollen Blumentöpfe bereithalten. Los, los!"
Theo gab ihr einen leichten Stoß und schob sie mit den andern zur Hintertür hinaus. Auf der Straße war noch alles ruhig. Alle Genossen waren gespannt und auf dem Posten. Die Ruhe im Lokal war quälend.
„Ick jeh raus. Los, kommt mit! Die Schweine schlagen wir zu Puppendreck!" brüllte plötzlich ein untersetzter Bursche los. Seine Hände umklammerten die Tischkante. Er zitterte am ganzen Körper. Man beruhigte ihn. „Mach keen Quatsch! Die schießen Dir über den Haufen. Im Nu ist Schupo da, wenn wir rausgehen. Und dass die auf uns losgehen, ist doch klar, das haben wir doch schon oft erlebt."
„Verfluchter Mist! Mensch, wenn ick doch bloß ne Pistole hätte, Kinder nee."
„Ja leider. Dafür kommt unsereens zwee Jahre ins Zuchthaus."
Der Genosse konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er rannte
hin und her und suchte einen Gegenstand zum Schlagen. „Gib mir
mal einen Gummischlauch, Othello." „Nee, jeht nich. Nachher heißt
es, ich verteile Waffen und mir wird die Konzession entzogen."
„Ach, so ein Mist, ach, so ein Mist. Jetzt sitzen wir hier drinne fest. Draußen auf der Straße, in den Häusern müssten wir stehen Die ganze Bevölkerung müsste bereit sein. Jeder müsste einen anständigen Knüppel in der Hand haben. Und die Leute kommen, sag ich Euch. Wir hätten nur vorher das Maul aufmachen sollen. — Was sollen wir paar Mann anfangen." „Hast schon recht. Aber es ist zu spät organisiert worden", entschuldigte sich Theo. „Ach ja. Das muss klappen! Sonst werden wir nie Revolution machen." „Wie viel sind’s denn überhaupt?"
„Hundertfünfzig Mann. Alle werden sie ja nicht angreifen. Die anderen decken ab." „Ach herrje, soviel? Müssen die aber eine Angst vor der Nostizstraße haben. Mensch... "
Ein lustiger Genosse mit ewig lächelndem Gesicht stand an der Tür. Er schob einen Tisch davor und legte die Hand darauf, als wenn er ein Gewehr in Anschlag brachte, „Da seht mal her. Nur so einen ganz kleinen Revolver möcht ich haben. Und dann lass sie kommen. Der erste: Peng! Der zweite: Peng! Das wär ne dufte Sache. Dann könntet ihr alle nach Hause gehen."
Der aufgeregte Genosse schob ihn ärgerlich zur Seite. „Jeh los hier. Die kommen jeden Moment und Du erzählst hier Märchen."
Er hatte sich eine Bierflasche besorgt und wog sie prüfend in der Hand. Dann nahm er sie beim Hals wie eine Handgranate und sagte schon etwas fröhlicher: „So siehste. Det jeht ooch ohne Revolver. Haust ihm eenfach mit de Pulle vorm Kopp Da, bautz! Und wenn er fragt, warum, haust Du nochmal. Und immer nochmal. Aber ick hab keen Schwein, mir looft keener vor de Pulle."
Er stellte sie ärgerlich auf den Tisch und fluchte: „Passt mal off, die kommen janich. Uns haben sie wieder einen Bären aufgebunden."
Plötzlich horchte er auf und nahm die Flasche wieder in die Hand. Breitbeinig stellte er sich in die Tür. Draußen gellte langgezogen ein schriller Signalpfiff.
„Achtung, vorwärts!"
Die Nostizstraße, von Süden her, zog im Trab ein dunkler Haufen Menschen. Vor dem Lokal blieben sie einen Moment stehen und gröhlten.
„Nieder mit der Kommune! Wo seid ihr feigen Hunde denn!"
Ein Pflasterstein flog gegen das Fensterkreuz und prallte ab. Verschlafen kamen Leute an die Fenster. Sie staunten und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Fenster wurden geöffnet. „Was ist denn bloß los?" Von oben rief eine laute Stimme: „Achtung, faschistischer Überfall!!!"
Auch Herr Rhoden sah aus dem Fenster. Sein langes Nachthemd reichte ihm beinahe bis an die Füße. Seine beiden Jungens waren bei da unten. Sie waren der Rückendeckung zugeteilt und standen in einem Hausflur der Gneisenaustraße. Hermann war besorgt um Viktor. „Komm, wir gehen."
„Nein, ich bleibe. Ich bin nicht feige."
„Weißt Du, was wir machen?"
„Natürlich, wir wischen der Kommune eins aus!"
Die anderen lachten und einer tippte Hermann mit dem Finger an die Stirn. „Bist ja plem, plem. Das macht doch Spaß, Mensch. Ich komme mir so vor, wie damals bei Langemarck, Kamrad."
Der Sprecher war ein nicht überaus kluger Student im dritten Semester. Seine Augen waren schlitzförmig und die Nase stand wie eine durstige Knolle nach oben. Hermann spuckte ihm vor die Füße.
„Du Schwein! Alle miteinander seid Ihr Schweine. Sind denn das die Finanzjuden, die ihr totschlagen wollt? Das sind Proleten, genau wie Ihr. Schade, dass Ihr bewaffnet seid. Windelweich hätten sie Euch sonst geschlagen."
Er rannte los. Die anderen sahen sich verdutzt um. Viktor rief ihm leise nach: „Hermann, Hermann..." Dann entsicherte er seine Dreysepistole, Kaliber 7,65.
Hermann lief zur Nostizstraße und versuchte an das Lokal heranzukommen. Er sah Gustav in einem Hausflur stehen. „Du, Du, die haben Schusswaffen, seh Dich vor", rief er ihm von weitem zu. „Wo ist denn einer von den Kommunisten? Wo — ich muss, ich habe was zu sagen..."
„Ja, da kommst Du jetzt schlecht rein. Geh mal auf den Hof, da liegen Knüppel. Wirst ihn noch gebrauchen." Aber Hermann lief weiter. Sein Vater hatte ihn nicht beobachtet und griente unentwegt weiter.
Kochendes Wasser plätscherte aus den Fenstern auf die Straße. Die Mädels kochten es mit den Frauen eimerweise.. Unten brüllten welche auf: „Au, verflucht! Kochendes Wasser! Den ganzen Arm hab ich mir verbrüht, den ganzen Arm..."
„Faschistenhunde! Nieder mit den Arbeitermördern!"
Blumentöpfe sausten herab. Und Steine und Kohlenstücken. Die Nostizstraße schlief nicht mehr. Im Lokal stand Theo und hielt die Genossen zurück. „Wir haben die Aufgabe, das Lokal zu verteidigen. Keiner geht raus." Da fiel ein Schuss. Noch einer und noch einer. Dreimal hintereinander: Peng! Peng! Peng! Der Genosse rannte mit der Flasche in der Hand zurück und kam mit einer Axt wieder. Jetzt war niemand mehr da, der ihn zurückhielt. Er sprang über Theo hinweg und zur Tür heraus. Theo lag mit dem Kopf auf die Erde. Man hob ihn auf. Othello holte eilig eine Decke. „Was ist denn los?" „Verflucht! Theo ist getroffen!"
Er schlug die Augen auf und versuchte zu lächeln. Dann presste er die Zähne fest aufeinander und drückte die Fäuste gegen den Leib.
„Theo! Theo, wo hats denn getroffen? Sag doch Theo... . Mein Gott..."
„Hier, hier — ist aber nicht so schlimm, Ge—nos—sen. Ich, Ich
Erich stand neben ihn. Er drückte seine Hand.
„Du — Erich. Du musst jetzt meine Funktion übernehmen. Ich —> kann vor—läu—fig nicht mehr . . ." Er hob seine blutige Hand bleich in die Luft. Blass war sein Gesicht. Dann schien er nichts mehr zu spüren. Man trug ihn fort.
„Mit der Taxe gleich weg! — Bauchschuß, hm, Glückssache."
Erich stand einen Moment still, und seine Augen starrten auf die Stelle, wo Theo gelegen hatte. Eine kleine Blutlache versickerte langsam in die morschen Dielen. Dann sprang er auf und rannte hinaus.
„Nieder mit den Arbeitermördern!" schallte es ihm auf der Straße entgegen. Vor dem Lokal lagen Steine und zerbrochene Blumentöpfe. Die Faschisten waren abgezogen. Die beiden Privatwagen hatten ihre Verwundeten fortgeschafft. Von der Geneisenaustraße kamen eilig Genossen und Arbeiter zurück. Kurze Zeit hinterher fuhr langsam ein Überfallwagen durch die Straße. Der Genosse mit dem Beil saß oben und winkte: „Rot Front, Genossen!" Ein Schupo schnauzte ihn an. „Rot Front", echote es zurück. Eine halbe Stunde später kam Verstärkung. „Alles vorbei, liebe Freunde. Habens auch ohne Euch geschafft. Bloß einen Mann mit Bauchschuß haben wir weggetragen."
„So ein Mist! Verflucht, wärn wir doch bloß ein bisschen mehr gerannt..." Die Straße beruhigte sich bald wieder. Sie hatte gelernt, sie war jetzt bereit. Alle Hoffnungslosigkeit war verschwunden.

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