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Walter Schönstedt - Kämpfende Jugend (1932)
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VI.

Es war wieder ein sehr warmer, drückender Abend. Über der Stadt Gewitterstimmung. Die Nostizstraße lag lauernd da, wartete auf Regen und ihre Häuser verschmolzen mit dem Himmel zu einem einzigen, grau-trüben Ton. Im schwermütigen Licht der hereinbrechenden Nacht brach sich hoffnungslos der Schein trüber Gasfunzeln. Es gab keine Laternenanzünder mehr. Die meisten von ihnen moderten wohl schon auf den Friedhöfen, und nachts leuchteten Glühwürmchen auf ihren armseligen Grabhügeln. Mit einem kleinen, ganz stillen — Peng — entzündeten sich die Laternen automatisch. Man musste dicht daran stehen, um es zu hören.
Vor vier Tagen war der kleine Karl Danna gestorben. Er sah ganz weiß aus und seine Mutter hatte sich über ihn geworfen. „KALLI, Karlchen! Bleib doch hier ... Geh doch nicht in den Himmel! Bleib bei Muttern... . Du bist jetzt ein Engel... "
Und dann hatte sie gebrüllt. Ihre Augen klammerten sich an den toten Körper des kleinen Karl und sahen nicht die langsam hereinschleichenden Frauen. Die kamen ganz leise die vier Treppenstufen zur Kellerwohnung herab, brachten einen warmen Geruch mit, den der Moder auseinandertrieb, wie eine Seifenblase. Alle pressten den Mund zusammen und dachten nach. Einige legten die Hand unters Kinn, als ob sich da ein Spitzbart befände. Manche waren auch neugierig, wie sieht ein in der Kellerwohnung verrecktes Proletenkind aus? Natürlich, wie ein Engel. Aber darum stritten sie nicht sehr laut. Eine schwangere Frau, verkümmert und mit toten Augen, drückte ihm eine rote Rose in die Hand, früher hatte diese kleine, durchsichtige Hand mit Murmeln zwischen Müllkästen gespielt. Karl Danna starb. — Aber es gab ja noch mehr kleine Kinder. Noch viel, viel mehr spielen auf den düsteren Höfen der Nostizstraße. Die Frau trug ein Kind im Leib. Noch viel mehr Frauen der Nostizstraße tragen Kinder im Leib. Und alle sterben nicht so früh. Sie kommen zur Schule, werden zum ,Ja' sagen erzogen. Manche bekommen dann Arbeit, manche nicht Und dann stehen sie vor den Haustüren und warten. Sie warten immer auf irgend etwas. Und ihre Sehnsüchte zerfressen die Seele, stiften Verwirrung und schwächen den zermürbten Organismus. Es kommen immer mehr und mit ihnen kommen neue Winde.
Vom Tod des kleinen Karl sprach man in vielen Häusern. Die Stimmen senkten sich, waren ängstlich und traurig. Die Frau mit dem Wuschelkopf lief mit dummem Gesicht in der Küche umher. Ihre Nachbarin war bei ihr.
„...Ich kann das immer noch nicht begreifen. Die Mutter eine so starke Frau. Wischt die Treppe, scheuert und macht... Und dann ist sie noch vom Lande. Hat immer kräftig gearbeitet. Hat Muskeln die Frau... "
„...Ja, sie ist stark. Hat viel gearbeitet. Aber eben deshalb. Als sie mit dem Karl ging, zwei Tage vorher, hat sie Schnee gefegt. Da ist sie umgefallen morgens um fünf... "
Frau Mädicke strich sich die fettigen Finger an ihrem Busen ab und tanzte vor ihrem Mann hysterisch auf und ab. Der Mann war ja so schwach, er dachte nie. Alles musste so sein, bloß seine Frau konnte er nicht begreifen. Und dabei war das alles so einfach. Bloß im Bett war er der Schwächere, schlief immer gleich ein. Und das zahlte sie ihm zurück mit böser Zunge.
„Ist ja kein Wunder. Kein Mensch passt auf das Kind auf. Den ganzen Tag alleine. Den ganzen Tag... '
„Ach, hör auf. Ich will nicht hören, was in der Straße vorgeht. Meinetwegen können sie alle krepieren... "
„Soo! — Und wer hat mir denn hergebracht in die Straße, hä? Du bist's doch gewesen, hast Männchen gemacht, eine Blume im Knopfloch gehabt. Ja. Und denn; kommen Sie man, Fräulein. Himmel, was hat der Mensch einem alles vorgeschwindelt. Und nu haust man hier in so ein dreckiges Loch. Er will aber nischt wissen, von dem Dreck. Soo!"
„Ach!"
Seine Brust hob sich einen Moment und fiel dann wieder schwach zusammen. „Hör auf. Ich kann nicht dafür. — Was gehen mich anderer Leute tote oder lebende Kinder an? Wir haben keine."
„Nee. Gott sei Dank. Wir haben keine. Von Dir nicht, von Dir nicht, Du, Du, Du . . ,"
Und oben vier Treppen bei Schades unterhielt sich die Mutter mit ihrem Sohne.
„Der arme Bengel Jetzt wird er nicht mehr heulen. Schade um ihn. Aber vielleicht ist es ganz gut, dass er weg ist. Wer weiß, was er alles durchmachen müsste ... . Ist aber doch traurig. Jeden Tag trifft man ihn auf dem Hof. Und nun sieht man ihn einfach nicht mehr. Jetzt liegt er da irgendwo... "
Theo hatte es wieder eilig. Aber er blieb doch länger sitzen und sagte ganz ruhig:
„Ach Mutter, werde doch nicht sentimental. Der Tod ist doch eine Selbstverständlichkeit." Genau so wie eine Geburt. Warum soll man da trauern? Eins ist morsch, wird irgendwie zerschlagen, und das andere frische, ist wieder da, kräftiger und besser. Das ist so wie mit der Gesellschaft... Aber die Wut kann einen packen, wenn man sieht, unter welch erbärmlichen Umständen der arme Deibel krepiert ist. Nicht weil er alt war, weil seine Zeit ran war, sondern einfach, weil seine Mutter kein Geld hatte für seine Kleidung. Weil der Junge nie Milch und immer nur ein Stück verkrüppelter Sonne gesehen hat. Und dann da unten in der Kellerwohnung. Das geht vielen so. Millionen Proleten krepieren in den Hinterhöfen der Großstädte an Tuberkulose, an Krebs, vor Hunger, einfach weil sie kein Geld haben zu ihrer Gesundung. Und im kapitalistischen Staat ist das Geld notwendig dazu... Wenn einer so verreckt, wie der kleine Karl da unten, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern einfach die brutale Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, zu helfen. Für uns ein Grund mehr zum Hass... Das bisschen Säuglingspflege und Mutterschutz ist doch bloß Schwindel. Nicht etwa aus christlicher Nächstenliebe oder Menschlichkeit heraus ist sie geschaffen, nein, weil man doch später einen Teil gesunder Arbeitstiere braucht. Alles lassen sie nicht verrecken. Soviel, um die Produktion in Gang zu halten, müssen immer da sein. Und dazu können sie keine Krüppel gebrauchen... "
„Hast wieder mal recht, Theo. Aber es ist doch komisch. So ein sonderbares Gefühl... Uns Alten wird es ja schwer fallen, das so zu betrachten, wie Du. Aber Ihr, Ihr, Theo. Du und Deine Genossen..."

Und während die Mutter des toten Kindes zwischen bleichen Lippen, mit irrer Stimme wütende Gebete murmelte — Gebete, die so ungläubig klangen und gar keinen Trost bringen wollten —, stand drei Haustüren weiter die größere Jugend: Franz, Kater, Spinne, Gustav und die anderen. Auch Frieda war dabei. Sie hatte den Vorfall mit Gustav längst vergessen. Neben ihr stand ein verschmitztes rotblondes Mädchen. Sie standen da und wussten nicht, was sie anfangen sollten. Mit schelmischem Gesicht erzählte die rotblonde Edith ein kleines Rummelerlebnis.
„Kommt da so ein Otto mit Schülermütze und will mit mir angeben. Ob ick mit nachn Kreuzberg komme und ob wir Sonntag nach Wannsee fahrn wolln. Junge, hab ick den hochjenomm. Ick hab jesacht, er soll man erst seine Schularbeiten machen. Un dann hat er ne Fresse jezohjen un is jetürmt."
Sie zeigte beim Sprechen weiße Zähne wie eine Hündin. Kaum spürbare, hungrige Neugier auf das andere Leben klang aus ihren Worten. Gustav sagte mit einer gutmütigen Grobheit in der Stimme:
„Na, na. Wirst wohl doch verrückt gewesen sein auf den Pieper. Die Jungs haben Taschengeld, meine Liebe , . ."
Verstohlen kicherten die Jungen und Kater flüsterte Spinne etwas ins Ohr. Sie waren alle irgendwie verbunden. Alles schien so einfach bei ihnen. Einfach, grob und ehrlich. Ihre Gesichter waren alle aus einem Holz. Und das war früh gealtert. War stellenweise grün, und wenn man die Hand darüber hielt, leuchtete mattes, phosphorartiges Licht. Innen war es hart, kernig und unverbraucht. Nur die Herzen schmolzen bei dem geringsten warmen Atem. Aber das merkte man nicht so leicht: Die Brutalität verbarg alles Sanftmütige.
„Was wollen wir anfangen?"
Das wusste niemand. Was war denn auch groß anzufangen? Gustav war wütend auf Erich.
„Das Schweineaast lässt sich bei uns überhaupt nich mehr 6ehn... "
„Ist bei die Kommunisten, verstehste; oller Leunakämpfer geworden... "
„Alle Abend rennt er rum. Alle Abend, Mensch, mir würde det keen Spaß machen. Da ist man so gebunden."
Franz schüttelte eine Last von seinen Schultern. Mit einem Ruck war. es unten. Aber er spürte keine Erleichterung. Er dachte ganz anders. Aber das bisschen Halt konnte er nicht preisgeben. Wenn er jetzt bei denen nicht mehr der starke Franz war, dessen Wort das letzte und entscheidende ist, so war er verloren. Er spuckte aus und sagte giftig:
„Lasst doch die Affen. Rennen sich die Hacken ab. Wenn’s mal so weit ist, dann sind wir ja auch da. Wär mir schwer hüten, von so einem Scheißer, wie der Karl Langscheidt, befehlen lassen. —"
„Na ja, der Theo ist ooch da. Und der ist bestimmt anders."
„Wat heißt det? Natürlich. Ist ein knorker Bengel. Aber alle sind sie doch nich so... "
„Haben da ooch ein paar affige Mädels in ihre Gruppe. Deswegen wird er wohl bloß hingegangen sein... "
„Na, lass ihm. Gründen uns einfach ooch een Verein!"
Da. Bums! Natürlich fehlte bloß der Name. Jedem Deutschen einen eigenen Verein. Und Franz warf sich in die Brust. Jetzt war er dran, jetzt konnte er zeigen, dass nur er bis jetzt gefehlt hatte, um den Laden in Schwung zu bringen. „Schön, machen wir eine Klicke auf. Fahne: grün-weiß. Jeden Sonnabend gehts los. Alle Woche eine Sitzung und wir wissen gleich, was wir anfangen sollen . "
„Dufte, dufte", rief Spinne und tanzte von einem Bein auf das andere. Man muss doch irgendwie Kraft verbrauchen. Und in einer Klicke braucht man nicht einmal große Leistungen zu vollbringen. Da ist es so schön gemütlich. Viel gemütlicher werden sie es haben als die Bürger in ihren Kegelklubs oder Skatvereinen. Viel gemütlicher als die Bürger, die ihre Geilheit in einem Bordell am nackten Fleisch billiger Proletenmädels aufpeitschen. Viel gemütlicher wird es sein als in den billigen Cafes, wo Warenhausmädels mit 100 Mark Monatsgehalt schlechten Kaffee schlürfen und Konfektionsjünglingen, mit vom Chef geklauten Briefmarken in der Tasche, gurrende, alberne Blicke zuwerfen.
„Ja, gründen wir eine Klicke."
Warum sollten sie denn keinen Verein haben? Irgend etwas braucht doch der Mensch. Und da die Romantik den Flaum ihrer Seelen zerfressen hatte, tauchten tolle Namen auf. „Wie soll det Ding heißen?"
Da, die erste große Tat.
„Der Schrecken der Oase... .?"
„Wat, Du bist wohl blödsinnig? Det is doch keen richtiger Name."
„Na, denn... na denn... der blutige Speer?!"
„Ach, Quatsch."
„Recht schweinisch, aber gut muss er sein. Gut... "
„Klicke Aftersausen... ?"
„Lass Dir man nich eene anhauen, Du Aftersauser. Wenn Du Aftersausen hast, jeh ein paar Häuser weiter."
„Wat denn, solln da ooch Mädels bei sein?" fragte Gustav. Frieda wurde rot. Die andere lächelte nur und tat schnippisch. Sie spitzte den Mund.
„Na, denn nich."
„Warte doch mal. Ja, natürlich. Warum denn nich. Det wird doch überall so gemacht."
„Denn hätt ick nämlich een feinen Namen gehabt: Klicke Weiberschreck!"
„Gibs ja schon. Im Osten. Aber warum solln keene Weiber bei sein?" fragte erstaunt Kater und blinzelte Edith zu. Edith hatte, wie fast alle rotblonden Frauen, ein milchiges Gesicht. Aber wunderschöne, reine, beinahe durchsichtige Haut. Man möchte sie nicht küssen, aber ganz leicht mit dem Mund darüber fahren. Ganz leicht. Und dann die Haare ins Maul nehmen . . Jetzt hatte sie kleine, rote Flecken auf den Backen. Und unter der Unterlippe zeigte sich auf einmal ein lustiges Grübchen. So aufgeregt und eifrig war sie.
Franz tat ernst und senkte den Kopf wie ein böser Stier. Über seiner Nasenwurzel versuchten ein paar kümmerliche Fältchen Eindruck zu schinden. Alle warteten jetzt auf ihn.
„Passt mal auf: Edelsau! Klicke Edelsau. Ganz einfach. Ist nicht so säuisch und doch interessant. Sonntag machen wir die erste Fahrt. Sonnabend abend fahren wir los... '
„Wohin denn? Und bis dahin haben wir doch noch keine Fahne... .?"
„Muss mir noch überlegen, wohin. Die Fahne hat auch noch Zeit."
Ü ber den Namen waren die wenigsten erfreut und Gustav gab ganz offen seiner Enttäuschung Ausdruck.
„Ooch, Edelsau. Nee. Det jefällt mir nich, mein Lieber. Warum nich Apachenblut oder so ein Indianername?"
„Jibs schon. Allet schon da. Wir können doch nich so heißen, wie andere Klicken."
„Ja, aber Edelsau jefällt mir nich."
„Halts Maul. Wenn’s Dir nich jefällt, dann jeh, Du oller Stänkerkopp. Oder sag einen anderen Namen."
„Ich weiß keinen. Meinetwegen sagt Toppsau. Mir auch egal. Der Name spielt ja auch keine Rolle."
So unterhielten sie sich noch eine ganze Weile. In ihnen schmorte der Groll, der Überdruss, die Liebe, von der sie selbst nichts wussten und der Hass, fürchterlicher Hass gegen alles, was nicht um sie war. Ihre Gesichter verrieten stummes Genießen und sie freuten sich.
Ein helles Trompetensignal drang vom Hof auf die Straße. Hinterher hörte man jemand laut und kurz sprechen. Die Worte schlingerten sich durch den langen Hausflur und brachen ab, ehe sie die Straße erreichten. Auf beiden Seiten liefen eilig junge Arbeiter. Die Gruppe Nostizstraße protestierte gegen das Verbot der ,Jungen Garde'. Die Genossen sprangen die Treppen hinauf und herunter. Rasch ging das alles. An den Türen wurde geklopft, fast gleichzeitig an allen auf einem Flur. Die Nachbarn kamen angeschlürft. Manche schnell und rissen mit einem Ruck die Tür auf.
„Was ist denn los?'
„,Junge Garde', die Zeitung der werktätigen Jugend verboten. Macht Krach. Protestiert mit uns."
Ein anderer kam hinterher und bot Zeitungen an.
„Hier, die letzten Nummern der ,Jungen Garde'. Die ,Rote Faust', die illegale Kampfzeitung der werktätigen Jugend."
Unten stand Theo und sprach. Man hörte nur Bruchstücke und die Wände warten die Worte hin und her...
„Die Reaktion wird immer frecher... Der Faschismus tobt in Deutschland... Notverordnungen und nochmals Notverordnungen... Der Hooverplan, eine bessere Methode der Ausbeutung... Ihr Arbeiter, Jungproleten, Ihr Mittelständler, Ihr seid diejenigen... Ihr müsst kämpfen! Mit uns, mit dem Kommunistischen Jugendverband, mit der KPD.!"
Zu der neugegründeten Klicke kam Erich Schmidt. Er drückte jedem ein auf einem Abziehapparat hergestelltes Flugblatt in die Hand.
„Na. Du?"
„Na, Ihr? Kommt, macht mit... "
„Ach, wat. Bei die Hitze. Rennt Ihr man."
Franz riss ihm das Flugblatt aus der Hand und wollte es zerknüllen. Aber dann besann er sich und las:

„Die ,Junge Garde' verboten !!!! Verbotsseuche über Deutschland!
Der Berliner Polizeipräsident hat die unendliche Kette der Verbote der revolutionären Presse um ein neues Glied erweitert. Betrachtet man nur die Verbote der letzten vier Wochen, so kommt es einem fast vor, als ob die herrschende Klasse ihr System nur noch durch Verbote der Arbeiterpresse und revolutionären Veranstaltungen vor dem endgültigen Zusammenbruch bewahren will. Die kläglichen Rollen, die hierbei die sozialdemokratischen Minister und Polizeipräsidenten spielen, gibt wirklich allen Arbeitern bis weit ins sozialdemokratische Lager hinein zu denken. Die Nazi-Presse wird auf vier Wochen verboten und dies dann schnell auf zwei Wochen reduziert. Unser Polizeipräsident darf ja auch seinen Nazi-Lieblingen nicht wehe tun. Wie anders bei den Kommunisten, dort jagt ein Verbot das andere und ,Vergehen' gegen diese Verbote werden mit hohen Gefängnisstrafen belegt. Wie dem auch sei, Grzesinski müsste doch bald merken, dass uns seine Verbote einen Dreck kümmern und nur dazu führen, dass wir unsere Arbeit unter den Jungarbeitermassen verdoppeln. Die ,Junge Garde', die Zeitung der werktätigen Jugend, wird bei ihrem Wiedererscheinen von einer verdoppelten Leserzahl erwartet und begrüßt. Das ist die beste Antwort, gerichtet an alle Feinde der Arbeiterklasse mitsamt ihren sozialdemokratischen Helfern in Form von Polizeipräsidenten und Ministern.
Werktätige Jugend Berlins! In Betrieb und auf der Stempelstelle! Hört den Ruf der jungen Kommunisten, reiht Euch ein in den Kommunistischen Jugendverband! Kämpft mit uns gegen Arbeitsdienstpflicht und Jugendausbeutung! Für Jugendschutz und Jugendrecht! Für ein Sowjetdeutschland!
Lest und abonniert die ,Junge Garde', die Zeitung der Jugend in Stadt und Land."

„Ja, wat soll man dazu sagen. Möcht sie abonnieren, hab aber keen Geld ... "
„Haben recht, Mensch, wenn man sich det so bedenkt. Da kann een wirklich die Wut packen. Die Nazis, die Lausewänste, könn sich allet erlauben. Mensch, wenn’s doch bloß erst losjehn würde", sagte erbittert Gustav. Es war so, als hätte er jetzt schon die Klicke Edelsau vergessen.
„Da ist man so gebunden bei die, sonst würd ick auch mitmachen. Die rennen, rennen. — Wenn wir alle mithelfen würden, würde es schneller gehn... "
Franz schnauzte ihn an;
„Renn doch mit, Mensch!"
Und Kater sagte beruhigend:
„Wat Du ooch bloß immer hast, Justav... "
Erich war längst weiter gelaufen und Theo sprach schon auf einem Hof an der Ecke Bergmannstraße Ein Überfallwagen raste vorüber. Er stoppte kurz, es roch nach Gummi. Die Grünen sprangen herunter und rannten in die Häuser. Nach einer Weile mussten sie erfolglos abfahren.
Die Mitglieder der Klicke Edelsau fingen an, sich zu langweilen. Edith gähnte, warf den Haarschopf nach hinten und meinte müde:
„Ich geh schlafen... "
„Ja, was soll man denn anfangen. Gute Nacht."
„.... Also Sonnabend!"

Die Mitglieder der Klicke Edelsau liefen vom Bahnhof Königswusterhausen zu den Tonkuten hinter Körbiskrug, Franz als Klickenbulle vorne weg und hinterher acht Jungens und zwei Mädels. Auf ihren Tornistern thronten klappernde Kochgeschirre. Sie trugen alle fast gleichmäßige Kleidung: kurze Hosen und bunte Hemden. Gustav war als Wanderlehrling bestimmt worden, weil er vom Wandern die wenigste Ahnung hatte. Darüber war er sehr wütend, denn Kater und Spinne waren viel jünger. Die Jungens nannten ihn jetzt ,Blaubacke'. Warum, wussten sie selber nicht. Seine Backe war gar nicht blau, aber besetzt mit einigen Leberflecken, die wie braune Dreckspritzer1 aussahen. Er trug eine zusammengerollte Pferdedecke unter dem Arm und sah gar nicht zunftmäßig aus. Jeder hänselte ihn.
„Musst noch viel lernen, Blaubacke. Siehst aus, als wenn Dir jemand aus die Dörfer gejagt hat. Find ein paar Stullen, rennt über die Stoppeln und kommt nach Berlin... "
„Halt die Fresse, Mensch. Und hör mit den Namen off, vastehste!"
An einer Bahnschranke mussten sie warten. Jungen und Mädels in blauen Hemden standen schon davor und sangen Lieder von der romantischen, alten Zeit, wo noch die Postkutschen durchs Land fuhren:

„Vorn auf dem gelben Wa-agen,
sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Ro-osse traben,
Lustig ertönet das Horn.
Wiesen und Felder und Auen,
leuchtendes Aehrengold.
Möchte so gerne noch schau-auen,
Aber der Wa-agen rollt!"

Die Burschen trugen saubere Rucksäcke und manch einer hielt ein verschüchtertes, unschuldig tuendes Mädel im Arm. Über ihren Haarschnecken und Bubiköpfen lagen glänzende Metallringe mit altgriechischen Verzierungen. In der Mitte der Gruppe stand ein langer Bursche und zupfte an einer Guitarre. Seine dünnen, behaarten Beine staken in Sandalen. Kater klatschte in die Hände und vollbrachte irgendetwas, wie einen Volkstanz. Dabei sang er mit verstellter Stimme:

„Was kümmert uns die Politik?
Wir tanzen uns die Waden dick!"

Dann lief er zu Spinne „Halalala", sang er weiter. „Freundschaft, Spinne! Kommst Du auch mit zur SAJ.?"
Man warf ihm böse Blicke zu. Die Mädels schlugen die Zungen an die Gaumen, dass es sich so anhörte, wie wenn ein Bäuerin Schweine lockt und der Lange mit den behaarten Beinen murmelte: „Lausejungs."
Aber die Lausejungs hörten nichts. Der endlos lange Güterzug fuhr vorüber und die Klicke marschierte weiter. Links lag ein kleiner See, an den Ufern große Flächen mit Schilf bewachsen. Ein schmaler, blasser Bursche, Peikbeens Bruder, rief: „Mensch, is det aber romantisch!" „Wat weest Du denn von die Romantik, Orje?" Vorn begann man zu singen. Helle und tiefe Stimmen stritten miteinander. Franz brummte nur und Gustav spielte auf einer Mundharmonika:
„Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein, Zogen einst zwei Tippelbrüder in ein kleines Dörfchen ein. Und in diesem kleinen Dörfchen steht ein Häuschen ganz allein, Und die beiden Tippelbrüder, sie kehrten bei dem Bauern ein. Und der Bauer hat ne Tochter, die war so schön, Und die beiden Tippelbrüder, sie wollten mit dem Mädel geh'n. Da sprach der erste: Schönste Blume, Du, Schenk mir doch ein bisschen Liebe und Dein kleines Herz dazu!
Da sprach der zweite: Schönste auf der Welt.
Schenk mir doch ein bisschen Liebe und dazu Dein ganzes Geld!"
Da sprach das Mädel: höret zu, Ihr zwei!
Meidet Alkohol und Weiber, sie reißen Euch das Herz entweil
Als die goldne Morgensonne, sandte ihren ersten Schein,
Zogen einst zwei Tippelbrüder, weiter in die Welt hinein!"
Es wurde dunkler. Die Bäume warfen keine Schatten mehr und die Gräser wurden taufeucht. Franz lief immer schneller. Die Hintersten mussten sich ranhalten, um mitzukommen. Edith schimpfte:
„Ist das ne Looferei. Det is doch keene Erholung. —"
„Mensch, Franz! Schalt mal den anderen Gang ein."
„Komm man, komm man, Du rothaarige Hexe."
Kater versuchte, ihr Mut zu machen. Er nahm ihr den Rucksack ab und hängte ihn an den Arm. Dann sah er auf ihre Haare und sagte:
„Hast Du früher mal in die Nagelkiste geschlafen, oder hast Du Dir früher die Haare nicht abgetrocknet? Die sind ja ganz rostig."
„Quatsch nich so dämlich. Na, warte, Du kommst mir ja noch mal, Bursche ... "
Die beiden Tonkuten waren tief und angefüllt mit grünlichem, klarem Wasser. Hier hatte früher eine nahe Ziegelei ihr Material für die Ziegelsteine geholt. Von der Ostseite waren sie von einem Wald begrenzt. Schnell hatte die Klicke Zelte aufgebaut. Ärmliche Zelte, aus Decken und zerrissenen Militärplanen. Frieda stand unschlüssig da. Sie legte ihr Gepäck auf die Erde und setzte sich daneben. Auf einmal hatte sie Angst bekommen. Das war so ruhig hier. Ruhig und unheimlich zwischen den brutalen Burschen. Gustav kam an sie heran. Er sah grob aus und meinte gutmütig:
„Komm zu mir ins Zelt. Wenn Du nicht allein willst — schön — nimm Edith mit . . ,"
Sie sah ihn an. Aber er schlug den Blick zu Boden und umfasste mit den Augen ihre Schenkel, die der hochgerutschte Rock freigelegt hatte.
„Na, was ist?"
„Ja, ich — ich möchte schon. Aber Du musst vernünftig sein, Gustav, ja?"
„Was heißt vernünftig sein? Quatsch nich und sage, was Du willst."
„Na ja. Draußen kann ich ja nicht bleiben. Und bei den anderen, die sind genau so... ."
Edith und Kater liefen in den Wald Holz suchen. Er strich schmeichelnd um sie herum und war wieder freundlich.
„War nicht so gemeint vorhin, Edith. Deine Haare sind nämlich schön... ."
„Ja, aber nicht für Dich... "
„Ach, Du alte Henne. Für wen denn? Was verlangst Du denn überhaupt?"
Etwas abseits von den Zelten wurde ein Lagerfeuer angezündet. Das trockene Reisig prasselte und ohne viel Qualm schlugen die Flammen hoch. Alle setzten sich heran. Ein Stück Mond kam hinter zerrissenen Wolken vor. Von fern her tönten die schwermütigen Klänge einer Ziehharmonika, und von der nahen Chaussee hörte man die Autos hupen. Alle waren still und starrten in das Feuer. In ihnen war eine karge Freude und sie fühlten, dass einer dem anderen gut war. Sie lehnten sich aneinander und Gustav schlich sich zu Frieda, legte seinen Kopf in ihren Schoß.
„Krabbel mir ein bisschen die Haare... ."
Das klang bittend. Frieda verzog traurig den Mund. Ihre Augen wurden plötzlich warm und sie küsste Gustav auf die Stirn. Der staunte... .
„Spiel ein bisschen, Gustav."
Gustav spielte und sie sangen wie alte Krieger im Schützengraben, die wehmütig an die ferne, ferne Heimat dachten.

„Auf der Insel zu Samoa, lag ein Kuli da und starb.
Inmitten seinen Kameraden, den die Feindeskugel tödlich traf

Kamrad, siehst Du die Heimat wieder,
Kamrad, siehst Du dann mein Weib.
Sag, ich lass sie herzlich grüßen
Sag, dass ich ihr ewig treu verbleib.

Nimm den Ring von meinem Finger,
Nimm den Ring von meiner Hand.
Drück auf ihre lockige Stirne
einen Kuss von mir als Abschiedspfand."

Eine Melodie folgte der anderen. Die sentimentalen Lieder wühlten die rohen Burschen bis ins Innerste auf. Sie schämten sich auf einmal vor einander. Da war irgend etwas, was sie nicht ausdrücken konnten. Einige krochen weiter vom Feuer weg, die anderen bogen sich weit zurück. Frieda sang nicht mit. Sie schwieg, schwieg mit aller Kraft und hätte am liebsten geheult. Und in ihren Gedanken stritt sich die stille, plötzliche Freude mit ihrem armseligen Leben. Orje rauchte eine kurze Pfeife und sah dem ringelnden Rauch nach. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte den anderen zu. Neben ihm, auf dem Rücken, lag Franz und starrte in den Himmel. Er hatte einen Grashalm im Mund. Sein Denken war verwirrt
„Kinder, können wir nicht immer so dufte zusammen sein... ?"
„Ach ja."
„Jeht nicht. Immer nicht. Dauert nicht lange und die Stänkerei jeht wieder von vorne los."
„Und warum? He, warum? Wegen die Weiber und weil eener immer allet besser als der andere wissen will, vastehste!"
Edith lächelte. Ihre Haare glänzten, und das Gesicht sah matt aus, wie Marmor. Sie mischte sich ins Gespräch.
„Lasst doch, ein bisschen Stänkerei muss sein. Sonst macht doch das ganze Leben keinen Spaß."
„Ja, und vor allem Jungs, werde ich Euch mal eins sagen; die Stänkereien sind ja gar nicht so gemeint. Im Grunde genommen sind es meistens versteckte Freundlichkeiten. Ärger haben wir alle. Herrgott und den muss man doch irgendwo loswerden... ." „Hast recht, Orje. Aber manchmal ist das schon gemein." Das Feuer war langsam abgebrannt, Große Holzstücke glühten weiter und knisterten. Vom Ufer strich ein leichter Wind. Im Walde schrie ein Nachtvogel und die Ziehharmonika setzte wieder mit einem Schlager ein.
„Die dämlichen Schlager. Wie sich das anhört.' „Erika, Erika, brauchst du nicht einen Freund?" So ein Quatsch. Und denn von wejen Auto schickt. Wer hat denn von uns ein Auto? Der Mist geht uns doch gar nichts an. So eine olle Plärrerei."
Diese Worte schufen eine stumpfe Verwirrung. Sie legte sich wie ein nebelhafter Streifen unbekannten Denkens in ihre Hirne. Am Himmel glommen zaghaft einige Sterne. Der bleiche Mondschimmer warf schwache Schatten der Bäume, Spinne lag mit dem Bauch auf der Erde und kaute an einem Grashalm. Er sagte, ohne aufzublicken: „Singt doch mal ein paar Kommunistenlieder.".
Traurig klang das Lied vom „kleinen Trompeter" durch die Nacht:

„Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter
Wir waren Dir alle so gut.
Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter,
Du lustiges Rotgardistenblut."

Franz hatte die ganze Zeit nicht gesprochen. Er durchbrach plötzlich die Stille und kam auf Peikbeen zu sprechen, der das Lied so oft gesungen hatte.
„Was mag Peikbeen jetzt machen...?"
Die Jungen horchten auf. Ach ja, Peikbeen. — Vergessen hatten sie ihn nicht.
„Jetzt ist es elf Uhr. Der hat längst seinen Kanten Brot weg und liegt jetzt auf der Pritsche."
„Wo sitzt er denn überhaupt?"
„Lehrter Straße, Zellengefängnis. Soll schlimm sein da. Zille hat jetzt seine acht Monate da abgemacht Sah blass aus, wie er raus kam."
„Schweinerei, eine verfluchte Schweinerei ist das", brüllte Orje und sprang erregt auf. „Wegen einem Stück Wurst — wegen einem Stück Wurst. Er hatte wirklich Hunger gehabt."
Orje lief um das Feuer herum. Er wurde immer wütender.
„Und dann gleich vier Monate! Vier Monate. Was kriegen die großen Strolche, die das Volk bestehlen? Hier — hier", er holte eine Nummer der „Roten Fahne" aus der Tasche, „hier habe ich einen Artikel. Ihr kennt doch alle Achtenberg und Hoffmann aus der Nostizstraße Mit Achtenberg sind wir in eine Schule gegangen, die haben vier Monate in Untersuchung gesessen. Gestern sind sie verurteilt worden. Passt auf, ich lese vor:

„Antifaschistische Gesinnung mit Zuchthaus bestraft. Neues Schreckensurteil in Moabit. — 9 Jahre 9 Monate Zuchthaus und 9 Monate Gefängnis für vier Jungarbeiter.
Der Zuschauerraum war überfüllt, als das Urteil gegen die sechs Arbeiter, die des Überfalls auf Nationalsozialisten in Wilhelmsaue angeklagt waren, gesprochen wurde Mit tiefer Erbitterung, voller Abscheu gegen die Klassenjustiz nahmen die Arbeiter das furchtbare Urteil entgegen. Den Kurs, den Landgerichtsdirektor Ohnesorge gegen Kommunisten eingeschlagen hat, fortsetzend, verurteilte das Schwurgericht die Arbeiter Achtenberg und Hoffmann wegen versuchten Totschlags in drei Fällen (!) zu vier Jahren Zuchthaus, Steinhäuer zu einem Jahr 9 Monaten Gefängnis. Die Angeklagten Schmidt und Petzold mussten freigesprochen werden. — Das, was sich am 13. März in Wilhelmsaue nach einer Versammlung der Nationalsozialisten im Viktoriagarten abspielte, ist nichts weiter als eine natürliche Folge der ungeheuren faschistischen Terrorwelle, die seit Monaten und Jahren durch alle Städte und Dörfer Deutschlands geht und immer wieder wehrlosen Arbeitern das Leben kostet. Die gesamte Pressemeute vom ,Vorwärts' bis zum Nazi-,Angriff mag toben und schreien über ,Rot-Mord-Gesindel' und dergleichen, soviel sie mögen. Die Schmierfinken ihrer Redaktionsstuben wissen sehr gut, dass alle Bluttaten auf Konto der Hakenkreuzler fallen. — Der angeklagte Jungarbeiter Achtenberg sagte am ersten Verhandlungstag auf eine entsprechende Frage des Gerichts: „...das ist doch allerhand, wenn unsere Arbeiter niedergeschossen werden, dann wird man doch Rache nehmen dürfen.' — Der Vorsitzende glaubte in der Urteilsbegründung feststellen zu können, dass die angeklagten Arbeiter den Überfall planmäßig vorbereitet hatten. Wenn er damit den glühenden Hass gegen die faschistische Mordpest, die in jedem Werktätigen lebendig ist, meint, dann haben die Angeklagten ,planmäßig' gehandelt. Mit diesem Urteil hat das Klassengericht erneut bewiesen, dass das ,Dritte Reich' in Moabit seinen Einzug gehalten hat."

„Wat? Vier Jahre?"
„Vier Jahre!! Vier Jahre
Es trat Ruhe ein. Eine fürchterliche Ruhe. Alle waren aufgesprungen. Sie bissen die Zähne zusammen. Sie rissen die Augen auf in maßloser Wut. Sie waren erregt, alle Romantik war futsch.
„Vier Jahre", wiederholte einer. „Vier — Jahre . . ."
„Und die Nazis? Und die! Die können alles machen. Hab ich eine Wut! Hab ich eine Wut! Was waren das für Kerle: Hoffmann und Achtenberg, Mensch... ."
Sie wollten schreien. Dann setzten sie sich wieder, legten frisches Holz auf und wurden ruhiger. Franz begann wieder, langsam und stockend:
„Eigentlich müsste man doch... "
Er beendete den Satz nicht. Irgend etwas hielt ihn davon zurück. Prüfend betrachtete er seine Freunde. Sie hatten nichts bemerkt.
Vielleicht dachten sie so wie er. So wie sein unausgesprochener Satz: „Eigentlich müsste man doch was dagegen machen. Das kann sich doch niemand gefallen lassen. Im vorigen Jahr haben die Nazis unseren Freund Waller Neumann erschossen. Die Mörder wurden freigesprochen. Da muss man doch gegen ankämpfen. Unsere Klicke ist ein Dreck. Ich will nichts mehr davon wissen... "
Langsam kroch einer nach dem anderen ins Zelt. Unheimlich lag die Ruhe über dem Platz. Die Jungens und Mädels lagen lange da mit offenen Augen. Frieda saß im Zelt und hielt die Knie gegen die Brust gedrückt. Von Gustav wurde sie überhaupt nicht beachtet. In der anderen Ecke lag Edith und versuchte einzuschlafen. Der Junge gab ihr seine Decke und kroch auf den Knien aus dem Zelt Draußen rannte er unruhig auf und ab. Er stieß auf Orje. Leise schlichen sie sich fort, wie nach einer stummen Verabredung. „Na", fragte Orje. „Ja, ich kann nicht schlafen."
„Mir gehts genau so." Und nach einer Weile: „Eigentlich sind wir doch Feiglinge."
„Ja, eben daran denke ich ja. Wir schimpfen auf die Latscher, auf die SAJ.; sind ja selbst welche. Andere rennen, arbeiten, kommen ins Zuchthaus und wir gründen eine Klicke. Ist das ein Mist, ist das ein Mist... " Sie liefen immer weiter von den Zelten weg und setzten sich am Waldrand ins taufrische Gras, Keiner hatte mehr recht Lust zum sprechen.
„Orje, Mensch. Seh Dir doch das alles an. Unsere Straße. Alle haben Hunger. Und wir... Unsere besten Freunde sind Kommunisten, kriegen Staatsferien oder werden erschossen. — Aber was kann man denn mit unseren Jungen schon anfangen ... ."
„Die denken jetzt genau wir wir, mein Lieber."
„Ich bin ja so ein Schwein, so ein Schwein, Mensch."
„Was? Wie meinst Du denn das?"
„Ach, hör uff. Da gibs nichts zu reden."
Langsam und schweigend liefen sie zurück.
Am andern Morgen krochen Kater und Spinne als erste aus den Zelten und gingen baden. Man musste schwimmen können; denn es ging gleich steil ab. Verschlafen torkelten die andern hoch und sprangen ins Wasser. Gustav machte Feuer an und kochte Kaffee. Der Himmel war bewölkt. Leichter Nebel stieg auf. Im Westen sah man die hohen Funktürme von Königswusterhausen. Die Zelte sahen jetzt noch ärmlicher aus und waren schlaff Spinne gab Edith einen Stoß. Sie fiel ins Wasser Kater gab ihm daraufhin eine saftige Ohrfeige. Dann schlugen sie sich und die anderen bildeten einen Kreis, Sie rollten sich auf der Erde, sprangen wieder auf, packten sich in den Haaren. Spinne blutete aus der Nase. Edith gab ihm ihr Taschentuch.
„Da, so bin ich zu Dir. Wie eine Mutter, und Du Aast schmeißt mir ins Wasser "
„Ach Du, Du... "
Leute kamen vorüber. Klickenbrüder wie sie. Sie grüßten: ,Wildfrei' und sahen verwegen aus.
„Wo seid Ihr her? Wie heißt Eure Klicke?" „Vom Kreuzberg, Klicke Edelsau."
Die anderen lachten. „Edelsau, hä, Edelsau. Dufte wat, Atze? Wo habt Ihr denn Eure Säue? Die Beeden da?"
Sie deuteten auf die beiden Mädels. Kater wollte auf sie zuspringen, besann sich aber im letzten Moment, denn sie trugen alle einen Spaten. Einer war dabei, hatte einen Zylinder ohne Krempe auf dem runden Kopf und in der Hand eine große Keule. Das war deren Klickenbulle ,Onkel' nannten ihn die anderen. Onkel trat ein paar Schritte gravitätisch wie ein Indianerhäuptling vor und hielt eine kurze Rede: „Also, dass Ihrs wisst: hier ist unser Stammplatz. Wir wollen hier keine Jannoven herhaben . . , ,"
„Hoho, von wegen Jannoven!"
„Halt die Fresse, jetzt rede icke, vastehste! — Ihr könnt natürlich ruhig hierbleiben. Bestimmen tun wir hier. Da drüben liegt ,Fichte'. Das ist ihr Gelände. Vor die müsst Ihr Euch vorsehn, die machen um jeden Dreck Krach und wollen von Klicken nischt wissen. Manchmal kommt auch die ,Rote Jungfront' her. Das sind unsere Freunde. Mit die dürft Ihr nicht angeben, die haun Euch zu Puppendreck. Wer ist denn Euer Klickenbulle?"
Franz war wütend. „Nu halt mal einen Moment die Luft an. Du kannst uns viel erzählen. Was .Fichte' ist und die ,Rote Jungfront', das wissen wir alleene. Ihr habt uns gar nichts vorzuschreiben... "
„Jawohl, richtig", riefen seine Freunde, und Spinne hatte die blutende Nase schon wieder vergessen. „Wir bleiben und damit basta. Und wenn Ihr zehnmal mehr seid wie wir."
„Schön", sagte Onkel und warf sich in die Brust, „bleibt hier. Wenn Ihr affig werdet, reißen wir Euch die Zelte über dem Kopf ab. So. Nu jehn wir wieder. Tarzan, Du passt uff die Leute uff."
Tarzan, ein sehniger, braungebrannter Bursche mit behaarter Brust, sah prüfend von einem zum anderen. Er deutete erst auf Gustav, dann auf Franz. ,.Den zum Frühstück, den brech ick in der Mitte auseinander und die anderen atme ick ein."
Damit zog er mit seinen Kumpanen los. Still, mit erhobenem Kopf und von dem Gedanken durchdrungen; denen haben wir es aber tüchtig gegeben. Klicke Edelsau schäumte vor Wut, Nur Edith lächelte und sah unbeobachtet lange dem haarigen Tarzan nach.
„Die Schweinebandel Kommen hierher und befehlen," — „Lasst sie doch. Brauchen uns ja nicht um sie bekümmern."
Die Sonne stieg höher und brannte durch die Wolken. Fünf Mann liefen ins Dorf und holten Wasser. Gustav begann Frieda lauernd zu betrachten. Sie merkte es und wurde unsicher. Ab und zu sah sie zu ihrer Freundin. Die tat so ungeniert mit Kater, dass man annehmen konnte, beide wären ein restlos glückliches Liebespärchen. Ein Liebespärchen, das sich etwas Schönes vorgaukelte. So wie Schulkinder. Und die dann feststellen, dass doch alles nur Unsinn ist und nur aus Spaß gesagt wurde. So herzig waren die beiden miteinander. Unbemerkt von den anderen lief Frieda in den Wald. Sie hatte nur ihren
Badeanzug an. Ihre spärlichen Brüste legten sich prall an und sahen größer, fester aus. Ihr schien alles so unsinnig. Ihre Pulse tobten. In ihrer Brust lag Zorn. Kiefernadeln stachen sie in die nackten Fußsohlen. Das Unterholz knackte. Sie warf sich auf den trockenen Waldboden und dachte lange nach: an Gustav, warum der so ist und an die anderen und ihr Verhalten. Sie kam sich so verlassen vor. Niemand war gut zu ihr. Und wenn es die Jungens eine Zeitlang waren, dann wollten sie eben nur das Eine. Keinen Menschen hatte sie. Zu Hause war man froh, wenn man sie eine Weile nicht sah. Ihre Mutter war auf beiden Ohren taub, schimpfte deshalb viel, weil sie annahm, alle Gespräche drehten sich um sie und man mache sich über sie lustig. Die Schwester war schon drei Jahre lang fort. Ihr ging es schlecht. Vor vier Monaten hatte sie aus Hamburg geschrieben. Der Vater arbeitete den ganzen Tag. Wenn er nachmittags kam, war er hundemüde, wollte nichts hören und nichts sehen. Sie wurde in ihren wirren Betrachtungen unterbrochen. Gustav kam plötzlich mit rotem Gesicht auf sie zugesprungen. „Ach, da bist Du ja..."
Sie erschrak und bekam Angst. Eine grässliche Angst vor Gustav, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie kroch zurück. Er kam näher und fasste sie um. Fest presste er sie an sich, stammelte hilflos. Sie riss die Augen auf.
Gustav keuchte: „Frieda, liebe Frieda, sei doch vernünftig. Ich habe Dich ja trotzdem so lieb... Frieda!"
„Gustav! Nicht doch, Gustav! Wenn was passiert, ich kann doch nicht. Lass das jetzt!!"
In ihre Augen trat ein sonderbarer Glanz. „Sei ruhig, Gustav. Sei doch gut ... "
„Ich kann nicht! Du machst mich verrückt. Das ist ja nicht zum aushalten! Du — Du... ."
Er warf sich über sie, drückte ihre Arme zusammen. Da bekam sie eine unbändige Kraft und brüllte: „Hilfe! Hilfe!"
Gustav ließ sie jäh los. Dann senkte er den Kopf. „Ich kann doch nichts dafür", sagte er mit leiser Stimme und rannte in den Wald.
Kater und Edith kamen atemlos angerannt. „Was ist denn los? Warum schreist Du denn?"
„Ach, nichts. Ich dachte, hier wäre ein Tier. Es ist wirklich nichts — wartet, ich komme gleich mit zurück."
Sie glaubten nicht daran und dachten sich ihr Teil. So kann kein Mensch brüllen, der in einem Walde bei Berlin ein Tier sieht.
Am Lagerplatz warteten die anderen. Das Wasser hatten sie schon ausgetrunken. Gustav lag schlafend neben seinem Zelt. Frieda legte sich neben ihn und nahm seine Hand. Er ließ es geschehen, sah sie aber nicht an.
Schnell verging der Tag. Die Sonne hatte die Rücken der Klickenmitglieder rot gebrannt, und das Gepäck scheuerte. Franz schimpfte. Er hatte den schwersten Tornister zu tragen. Als erster lief er wieder los. Spinne begann zu singen, laut und ausgelassen:

„Zwei Freunde stiegen auf einen Turm
au, au, au.
Der eine hat einen Bandenwurm,
au, au, au.
Da lässt sich ja der andre munter,
au, au, au,
An dem Freund sein Bandwurm rauf und runter,
au, au, au.
Ja, wenn man so eine Musik hört,
dann ist alles wieder gut, dann ist alles wieder gut.
Ja, wenn man so einen Eierkuchen bäckt,
dann geht alles wie genudelt, wie geleckt!"

„Ach, hör doch auf. Immer den gleichen Mist."
„Nu loof doch man schon. Ick trete Dir ja dauernd in die Hacken!"
Durchgeschwitzt und mit brennenden Rücken kamen sie nach Königswusterhausen. Die Züge waren mit Menschen und Gepäck vollgepackt. Einer fluchte auf den anderen. Kinder schrieen und jammerten. Ein Hund jaulte unter den Füßen der Menschen. Am Görlitzer Bahnhof suchten sich die Klickenbrüder Fahrscheine für die Straßenbahn. Nur Kater, Edith und Frieda liefen gemeinsam zur Nostizstraße.

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