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Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
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EINTRAGUNG NR. 36

Übersicht: Leere Seiten. Der Gott der Christen. Meine Mutter.

Sonderbar, mein Gedächtnis ist wie eine leere weiße Seite: ich weiß nicht mehr, wie es war, als ich zu Ihm ging und auf Ihn wartete (ich erinnere mich nur noch, dass ich warten musste). Auf keinen Laut, auf kein Gesicht, auf keine einzige Geste kann ich mich besinnen. Als wären
sämtliche Verbindungen zwischen mir und der Umwelt abgeschnitten.
Ich kam erst wieder zu mir, als ich vor Ihm stand; ich hatte entsetzliche Angst, aufzublicken. Ich sah nur die riesigen Hände auf seinen Knien. Diese Hände schienen Ihn zu erdrücken, die Knie gaben nach unter ihrem Gewicht. Er bewegte langsam die Finger. Sein Antlitz war irgendwo hoch oben in einem Nebel, und wohl nur deshalb, weil seine Stimme aus einer solchen Höhe zu mir drang, grollte sie nicht wie Donner und betäubte mich nicht, sondern klang wie eine gewöhnliche, menschliche Stimme:
»Also auch Sie? Sie, der Konstrukteur des Integral? Sie, der berufen war, ein großer Konquistador zu werden, Sie, dessen Name einen neuen glanzvollen Abschnitt in der Geschichte des Einzigen Staates einleiten sollte... Sie?« Mir schoss das Blut in die Wangen — und wieder eine leere Seite. Ich spürte nur meinen Pulsschlag in den Schläfen und hörte die donnernde Stimme aus der Höhe, nahm aber keines der Worte auf. Als er verstummt war, kam ich wieder zum Bewusstsein und sah, dass die Hand vor mir sich bewegte. Zentnerschwer kroch sie langsam näher, und ein Finger deutete auf mich: »Nun? Warum schweigen Sie? Bin ich ein Henker? Ja oder nein?«
»Ja«, antwortete ich demütig. Ich verstand alles, was er sagte:
»Denken Sie etwa, ich fürchte dieses Wort? Haben Sie schon einmal versucht, die Hülle zu zerreißen und nachzusehen, was sich dahinter verbirgt? Ich werde es Ihnen zeigen. Ein blauer Hügel, ein Kreuz, und davor eine Menschenmenge. Erinnern Sie sich? Die einen, blutbespritzt, schlagen einen Körper ans Kreuz, die anderen,
tränenüberströmt, sehen zu. Glauben Sie nicht auch, dass die Rolle der ersten oben die schwierigste und wichtigste ist? Denn wie hätte sich ohne sie die erhabene Tragödie vollenden können? Sie wurden von der dunklen Menge ausgepfiffen, und darum musste der Autor der Tragödie, Gott, sie um so reichlicher belohnen. Und der barmherzige Christengott, der alle Abtrünnigen im Höllenfeuer schmoren lässt, ist er vielleicht kein Henker? Und ist die Zahl derer, die von den Christen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, kleiner als die Zahl der Christen, die in der Hölle schmoren? Dennoch — hören Sie — dennoch hat man diesen Gott, die Liebe dieses Gottes, jahrhundertelang gepriesen. Absurd? Nein, im Gegenteil — es ist das mit Blut geschriebene Patent auf die unausrottbare Vernunft des Menschen. Selbst damals, als er noch wild und ungesittet war, begriff der Mensch: Die wahre Liebe zur Menschheit ist unmenschlich, und das Kennzeichen der Wahrheit ist ihre Grausamkeit! So, wie es das Kennzeichen des Feuers ist, dass es brennt. Können Sie mir ein Feuer nennen, das nicht brennt? Nun, nennen Sie es mir doch, widersprechen Sie mir doch!« Wie sollte ich Ihm widersprechen — das, was Er sagte, waren ja meine eigenen Gedanken, nur hatte ich nie verstanden, sie in einen so festen, glänzenden Panzer zu kleiden. Ich schwieg...
»Wenn Ihr Schweigen bedeutet, dass Sie mir recht geben, dann lassen Sie uns miteinander reden wie erwachsene Menschen, wenn die Kinder im Bett sind. Ich frage Sie: Worum haben die Menschen von Kindesbeinen an gebetet, wovon haben sie geträumt, womit haben sie sich gequält? Dass irgendeiner ihnen ein für allemal sage, was das Glück ist und sie mit einer Kette an dieses Glück schmiede. Und ist dies nicht gerade das, was wir
tun? Der uralte Traum vom Paradies... Kennen Sie ihn? Im Paradies haben die Menschen keine Wünsche mehr, sie kennen kein Mitleid, keine Liebe, dort gibt es nur Selige, denen man die Phantasie herausoperiert hat (sonst wären sie nicht glücklich), Engel, Knechte Gottes... Und in dem Augenblick, da wir diesen Traum verwirklichen konnten« — er ballte die Faust, als wollte er Saft aus einem Stein pressen —, »als wir die Beute nur noch auszuweiden und zu verteilen brauchten, da kamen Sie... « Das eherne Dröhnen verstummte plötzlich. Ich war wie eine glühende Eisenstange unter den Schlägen des Hammers... Plötzlich fragte Er: »Wie alt sind Sie?« »Zweiunddreißig.«
»Aha, zweiunddreißig, und doppelt so naiv wie ein Junge von sechzehn! Ist es Ihnen denn noch nie in den Sinn gekommen, dass diese Leute — ihre Namen kennen wir noch nicht, aber ich bin sicher, dass wir sie von Ihnen erfahren —, dass diese Leute Sie nur brauchten, weil sie der Konstrukteur des Integral sind, nur weil man durch Sie...«
»Nein, nein!« schrie ich.... Es war genauso, als wollte man sich mit bloßen Händen gegen eine Kugel schützen und ihr diese Worte zurufen; man hört noch sein lächerliches »Nein, nein!«, aber die Kugel hat einen schon getroffen, und man wälzt sich auf der Erde.
Ja, den Konstrukteur des Integral, den brauchten sie... Ich sah das wütende Gesicht von U vor mir, als sie an jenem Morgen mit ziegelroten, bebenden Kiemen in mein Zimmer zusammen mit I... Ich lachte schallend und blickte auf. Vor mir saß ein Mensch mit einer Glatze wie Sokrates, und auf der Glatze standen kleine Schweißtropfen.
Wie einfach alles war, wie banal und lächerlich einfach! Vor Lachen fast berstend, hielt ich die Hand vor den Mund und rannte hinaus.
Stufen, Wind, feuchte, wirbelnde Splitter von Lichtern und Gesichtern. »Ich muss sie sehen, noch ein einziges Mal!« dachte ich. Nun folgt wieder eine leere Seite. Ich kann mich nur noch an eines entsinnen: Füße, keine Menschen, sondern Füße. Tausende von Füßen auf dem Pflaster, ein schwerer Regen von Füßen. Ein keckes, wildes Lied und ein Ruf, der wahrscheinlich mir galt: »He, he! Hierher, zu uns!«
Ein öder Platz, in der Mitte eine dunkle, drohende Masse: die Maschine des Wohltäters. Sie rief mir ein schreckliches Bild ins Gedächtnis: ein blendendweißes Kissen, ein nach hinten geneigter Kopf darauf mit geschlossenen Augen, ein Streifen weißer Zähne... All das war auf unheimliche Weise mit der Maschine verbunden — ich wusste, wie, aber ich wollte es nicht sehen, ich wollte es nicht laut aussprechen, ich konnte es nicht. Ich schloss die Augen und setzte mich auf die Stufen, die zu der Maschine hinaufführten. Ich glaube, es regnete, denn mein Gesicht war mit einemmal ganz nass. In der Ferne dumpfe Schreie. Aber niemand, niemand hörte, wie ich schrie: »Rettet mich, rettet mich!« Wenn ich eine Mutter hätte, wie unsere Vorfahren, eine Mutter... Für sie wäre ich nicht der Konstrukteur des Integral, nicht die Nummer D-503, nicht ein Molekül des Einzigen Staates, sondern nur ein Mensch, ein Teil von ihr selbst — zertreten, erdrückt, verstoßen... Sie würde mich hören und mich trösten...

 

EINTRAGUNG NR. 37

Übersicht: Infusorien. Weltuntergang. Ihr Zimmer.

Morgens beim Frühstück. Mein linker Nachbar flüsterte mir erschrocken zu: »Essen Sie doch, man beobachtet Sie!«
Ich lächelte mit großer Anstrengung, und dabei hatte ich ein Gefühl, als wäre mein Gesicht in zwei Hälften gespalten. Die Spalte öffnete sich immer weiter: es war ein unerträglicher Schmerz.
Ich versuchte zu essen. Doch kaum führte ich einen Bissen zum Mund, da zitterte die Gabel in meiner Hand und fiel klirrend auf den Teller. Eine ungeheure Detonation erschütterte das ganze Haus, die Tische, die Wände, die Teller, die Luft bebten und klirrten. Bleiche, verzerrte Gesichter, offene Münder, in der Luft erstarrte Gabeln. Dann sprang alles aus den jahrhundertealten Geleisen; alle fuhren von ihren Plätzen auf (ohne die Hymne zu Ende zu singen!), kauend, einander drängend und stoßend: »Was war das? Was ist geschehen?« Und wie Splitter einer jäh zerstörten Maschine, die eben noch vorzüglich funktioniert hatte, flogen alle in wildem Durcheinander zum Lift und zu den Treppen. Auf den Stufen eilige Schritte, Stampfen, abgerissene Worte. In allen Nachbarhäusern das gleiche. Eine Minute später glich der Prospekt einem Wassertropfen unter dem Mikroskop: unzählige Infusorien schossen bald hierhin, bald
»Aha!« rief eine triumphierende Stimme. Vor mir ein Nacken und ein zum Himmel erhobener Finger — ich sehe den gelblich-rosa Fingernagel mit dem weißen Halbmond noch deutlich vor mir. Dieser Finger war wie ein
Kompass — aller Augen blickten zum Himmel. Dort oben jagten Wolken, sprangen eine über die andere, daneben die Flugzeuge der Beschützer mit ihren langen, nach unten gerichteten Fernrohren, und im Westen so etwas wie...
Zuerst begriff keiner, was es war, selbst ich nicht, der (zum Unglück) mehr wusste als die anderen. Es sah aus wie ein ungeheurer Schwarm schwarzer Flugzeuge. Sie kamen rasch näher; Vögel schwebten mit heiserem Geschrei über unseren Köpfen. Der Sturm packte sie und stieß sie hinab, und sie ließen sich auf Kuppeln, Dächern und Baikonen nieder.
»Aha!« Der Mann vor mir wandte sich um — und ich erkannte jenen Menschen mit den buschigen Brauen. Doch er sah völlig verändert aus, er war unter seiner gewölbten Stirn hervorgekrochen, und um seine Augen und Lippen schimmerten helle Strahlen: er lächelte. »Die Mauer ist niedergerissen! Die Mauer ist niedergerissen!« schrie er mir durch das Pfeifen des Windes und der Vogelschwingen zu.
Am Ende des Prospekts fliehende Gestalten, die mit vorgestreckten Köpfen in die Häuser rannten. In der Mitte der Straße die schwere Lawine der Operierten; sie wälzte sich nach Westen, zur Grünen Mauer. Ich fasste den Mann am Arm:
»Sagen Sie, wo ist sie, wo ist I? Hinter der Mauer, oder hier? Ich muss sie sehen! Verstehen Sie! Sofort!« »Sie ist hier in der Stadt, sie arbeitet!« rief er mir strahlend zu. »Ja, wir arbeiten, und wie!« Um ihn scharrten sich etwa fünfzig solcher Leute wie er — sie waren unter ihren finsteren Stirnen hervorgekrochen, ihre weißen Zähne blitzten. Gierig den Wind einatmend und mit elektrisch geladenen Knuten winkend
(wo hatten sie sie nur her?), marschierten sie hinter den Operierten nach Westen, aber auf einem Umweg... Ich eilte zu ihrem Haus. Wozu? Ich wusste es nicht. Leere Straßen, eine fremde, wilde Stadt, unaufhörliches, triumphierendes Vogelgekrächze, Weltuntergang. In einigen Häusern umarmten sich männliche und weibliche Nummern, ohne die Vorhänge zu schließen, ohne rosa Billett, am helllichten Tage...
Ein Haus — ihr Haus. Die Tür stand offen. Am Kontrolltisch im Vestibül kein Mensch. Der Lift hing in der Mitte des Schachtes. Keuchend lief ich die endlosen Stufen hinauf. Ein Korridor. Nummer 320, 326, 330... I-330. In ihrem Zimmer herrschte eine wüste Unordnung. Der Stuhl lag auf dem Boden und streckte seine Beine wie ein verendetes Tier in die Luft. Das Bett war von der Wand weggerückt und stand schief im Raum. Der Fußboden war mit zerknitterten rosa Billetts übersät. Ich bückte mich und hob eine Handvoll auf. Auf allen stand mein Name, D-503... Nein, sie durften nicht auf dem Boden liegen bleiben, niemand sollte darauf treten. Ich raffte sie zusammen, legte sie auf den Tisch, glättete sie sorgfältig, betrachtete sie und — lachte laut. Jetzt weiß ich etwas, das ich früher nicht wusste: Das Lachen kann verschiedene Gründe haben. Es ist nichts anderes als ein fernes Echo einer inneren Explosion: vielleicht sind rote, blaue und goldene Raketen mit lustigem Geknatter zerplatzt, vielleicht sind die Fetzen eines menschlichen Körpers in die Luft geflogen... Auf einem Billett las ich einen mir gänzlich unbekannten Namen. An die Zahl erinnere ich mich nicht mehr, nur noch an den Buchstaben: F. Ich fegte die rosa Fetzen vom Tisch, trampelte wütend auf ihnen herum und ging hinaus.
Im Korridor setzte ich mich auf die Fensterbank und wartete lange. Links von mir näherten sich schlurfende Schritte. Ein alter Mann; sein Gesicht war eine aufgestochene, leere, runzlige Blase, und aus dem Einstichloch tropfte etwas über seine Wangen. Langsam und dunkel begriff ich: Tränen. Erst als der Alte schon weit weg war, kam ich wieder zu mir und rief ihm nach: »Hören Sie mal, kennen Sie I-330?«
Er drehte sich um, winkte verzweifelt ab und hinkte weiter... Gegen Abend kehrte ich nach Hause zurück. Im Westen zuckte der Himmel in blassblauem Krampf, und auf jedes Zucken folgte ein dumpfes Grollen. Die Dächer waren von schwarzem, erloschenem Feuerbrand bedeckt: Vögel.
Ich legte mich zu Bett — und sogleich fiel mich der Schlaf an wie ein wildes Tier...

 

EINTRAGUNG NR. 38

Übersicht: (Ich weiß nicht, welche. Vielleicht ist das die ganze Übersicht: Die weggeworfene Zigarette.)

Ich wachte auf — grelles Licht im Zimmer. Ich kniff die Augen zusammen; in meinem Kopf beißender blauer Rauch, alles wie Nebel. Durch den Nebel drang der Gedanke: »Ich habe ja kein Licht gemacht, wieso... « Ich fuhr auf. Am Tisch saß I, das Kinn in die Hand gestützt, und sah mich spöttisch an... An diesem Tisch sitze ich jetzt und schreibe. Die zehn oder fünfzehn Minuten, die sie hier war, sind längst vorbei, doch mir ist, als hätte sich erst eben die Tür hinter ihr geschlossen, als könnte ich sie noch einholen, ihre
Hand nehmen und... vielleicht würde sie lachen und sagen...
I saß am Tisch. Ich sprang aus dem Bett: »Du, du! Ich war... ich habe dein Zimmer gesehen... ich dachte, du seiest...«
Auf halbem Wege stieß ich gegen ihre spitzen, unbeweglichen Wimpern und blieb stehen. Mir fiel ein, dass sie mich im Integral genauso angesehen hatte. Deshalb musste ich ihr sofort alles erzählen, so, dass sie es glaubte. »Höre, I, ich will dir alles sagen. Ich will nur vorher einen Schluck Wasser trinken.«
Mein Mund war so trocken, als wäre er mit Löschpapier ausgelegt. Ich goss mir Wasser ein und konnte nicht trinken. Ich stellte das Glas auf den Tisch und umklammerte die Karaffe mit beiden Händen.
Jetzt sah ich, dass der blaue Rauch von einer Zigarette kam. Sie tat einen tiefen Zug und sagte: »Lass doch. Schweig. Es ist alles gleich. Du siehst, ich bin trotzdem gekommen. Drunten warten sie auf mich, wir haben nur zehn Minuten ... «
Sie warf die Zigarette auf den Boden und beugte sich über die Sessellehne nach hinten (dort an der Wand ist der Knopf, man kann ihn schwer erreichen), so dass der Sessel kippte und nur auf zwei Beinen stand. Dann schlossen sich die Vorhänge.
Sie trat auf mich zu und presste mich fest an sich. Die Berührung ihrer Knie war ein süßes Gift, über dem ich alles vergaß... Und plötzlich... Sie haben das gewiss schon einmal erlebt: Man liegt in tiefem Schlaf, und plötzlich zuckt man zusammen, richtet sich auf und ist wieder hellwach. So war es jetzt mit mir; ich dachte an den Buchstaben F und an irgendeine Zahl... Das alles ballte sich zum Klumpen in mir zusammen.
Nicht einmal jetzt kann ich sagen, was für ein Gefühl ich dabei empfand, jedenfalls drückte ich sie so fest an mich, dass sie vor Schmerz aufschrie.
Eine Minute später lag ihr Kopf mit geschlossenen Augen auf dem blendend weißen Kissen. Dies erinnerte mich die ganze Zeit an etwas, an das ich um keinen Preis denken durfte. Ich presste sie immer zärtlicher, immer leidenschaftlicher an mich und immer stärker zeichneten sich die blauen Flecken unter meinen Fingern ab... Ohne die Augen zu öffnen, sagte sie:
»Ich habe gehört, du seiest beim Wohltäter gewesen. Stimmt das?« »Ja, es stimmt.«
Da schlug sie die Augen auf, und ich beobachtete entzückt, wie ihr Gesicht erblasste, erlosch, verschwand; nur die Augen blieben. Ich erzählte ihr alles. Nur eines verschwieg ich ihr — ich weiß nicht, warum, nein, das ist nicht wahr, ich weiß es — ich verschwieg ihr, was Er zuallerletzt gesagt hatte, dass sie mich nur brauchten, weil ich der Konstrukteur des Integral bin. Langsam, wie eine fotografische Platte im Entwickler, nahm ihr Gesicht wieder Gestalt an — die Wangen, der weiße Streifen der Zähne, die Lippen. Sie stand auf und ging zum Spiegelschrank. Mein Mund war trocken. Ich goss mir Wasser ein, mochte aber nicht trinken. Ich stellte das Glas auf den Tisch und fragte:
»Bist du nur gekommen, weil du alles erfahren wolltest?« Im Spiegel sah ich ihre spöttisch hochgezogenen Brauen. Sie wandte sich um, als wollte sie etwas sagen, doch sie sagte kein Wort. Ich wusste auch so alles. Sollte ich von ihr Abschied nehmen? Ich machte eine Bewegung; meine Beine, die nicht mir gehörten, wankten. Ich stieß gegen den Stuhl — er fiel um und blieb wie tot liegen. Ihre Lippen waren kalt — so kalt war einmal der Boden meines Zimmers gewesen, hier neben dem Bett.
Als sie gegangen war, hockte ich auf dem Boden und beugte mich über die Zigarette, die sie weggeworfen
hatte.
Ich kann nicht mehr schreiben, ich will nicht mehr schreiben!

 

EINTRAGUNG NR. 39

Übersicht: Das Ende.

Es war wie das letzte Salzkörnchen, das man in eine gesättigte Lösung wirft: die Kristalle schließen sich zu Nadeln zusammen, werden fest und erkalten. Ja, alles war entschieden, morgen früh würde ich es tun. Es kam zwar einem Selbstmord gleich, aber vielleicht würde ich danach auferstehen. Weil ja nur auferstehen kann, wer tot ist.
Im Westen zuckte der Himmel unaufhörlich in blauem Krampf. Mein Kopf glühte und pochte. So saß ich die ganze Nacht und schlief erst gegen sieben Uhr ein, als das Dunkel sich grün verfärbte und man die mit schwarzen Vögeln übersäten Dächer schon erkennen konnte. Ich wachte um zehn Uhr auf (heute hatte es offenbar nicht geläutet). Auf dem Tisch stand noch das Glas Wasser von gestern. Ich leerte es in einem Zug und eilte fort: ich musste alles so schnell wie möglich erledigen. Der Himmel war blau, leer, bis auf den Grund vom Gewitter ausgelaugt. Man fürchtete sich, die scharfen Kanten der Schatten anzufassen, die aus der blauen Herbstluft herausgeschnitten schienen, denn sie mussten
bei der leisesten Berührung zerbrechen und in gläsernen Staub zerfallen. In mir die gleichen zerbrechlichen Schatten. Nein, ich durfte nicht denken, ich durfte nicht denken, sonst...
Ich dachte nichts, vielleicht sah ich nicht einmal richtig, sondern registrierte nur. Auf dem Pflaster lagen Zweige mit grünen, roten und braunen Blättern. Am Himmel schossen Vögel und Flugzeuge hin und her. Da — Köpfe, weit geöffnete Münder, Hände, die mit Zweigen winkten. Ich glaube, das alles brüllte, krächzte und summte... Dann öde, wie von der Pest leergefegte Straßen. Ich erinnerte mich, dass ich über etwas unangenehm Weiches und dennoch Starres, Festes stolperte. Ich bückte mich: eine Leiche. Der Tote lag auf dem Rücken, die Beine waren gespreizt. Sein Gesicht — ich erkannte ihn an seinen dicken, wulstigen Lippen. Mit zwinkernden Augen lachte er mich an. Ich schritt über ihn hinweg und hastete weiter, ich konnte nicht mehr, ich musste alles so schnell wie möglich hinter mich bringen, sonst würde ich zugrunde gehen. Zum Glück hatte ich nur noch zwanzig Meter zu gehen — da leuchtete schon das Schild mit der goldenen Aufschrift: Schutzamt. Bevor ich eintrat, blieb ich eine Weile auf der Schwelle stehen und sog so viel Luft in mich ein, wie ich konnte.
Im Korridor eine endlose Schlange von Nummern mit Blättern und dicken Heften unter dem Arm. Sie bewegten sich einen Schritt vorwärts und blieben dann wieder stehen.
Ich eilte an der Schlange vorüber. Köpfe wandten sich mir zornig zu. Ich sank in die Knie und flehte sie wie ein Todkranker um ein Mittel an, das allem mit einem sekundenlangen, furchtbaren Schmerz ein Ende macht. Aus einer Tür kam eine Frau, die den Gürtel eng um die
Uniform geschnallt hatte; die beiden Halbkugeln ihres Gesäßes traten deutlich hervor, und sie wand sich hin und her, als ob dort ihre Augen säßen. Als sie mich sah, rief sie: »Er hat Bauchweh! Führt ihn zur Toilette, dort, zweite Tür rechts!«
Alle lachten. Dieses Gelächter würgte mich in der Kehle, ich musste schreien oder... Da fasste mich jemand von hinten am Ellbogen. Ich drehte mich um — durchsichtige Flügelohren. Aber sie waren nicht rosa, wie sonst, sondern dunkelrot; der Adamsapfel hüpfte, gleich musste die dünne Haut zerreißen.
»Warum sind Sie hier?« fragte er mich mit durchbohrendem Blick. Ich klammerte mich verzweifelt an ihn. »Schnell in Ihr Zimmer! Ich muss Ihnen sofort alles erzählen. Gut, dass ich Sie getroffen habe... Vielleicht ist es entsetzlich, dass gerade Sie es sind... Nein, es ist doch gut so.«
Er kannte sie ebenfalls, und das machte alles noch qualvoller für mich, aber vielleicht würde es ihn schaudern, wenn er meinen Bericht hörte, und dann würden wir zu zweien töten, dann wäre ich in meiner letzten Sekunde nicht allein...
Die Tür fiel zu; eine eigenartige, luftleere Stille trat ein, wie unter einer Glasglocke. Hätte er nur ein Wort gesagt, und wäre es das unsinnigste gewesen, dann hätte ich ihm sofort alles erzählt. Doch er schwieg. Ohne aufzublicken, begann ich endlich: »Ich glaube, ich habe sie stets gehasst, von Anfang an. Ich habe erbittert mit mir selbst gerungen... Nein, das ist nicht wahr, ich konnte und wollte nicht gerettet werden, ich wollte zugrunde gehen, das war mir mehr wert als alles andere... das heißt, ich wollte nur sie... So empfinde ich auch jetzt noch, da ich alles weiß... Haben Sie
gehört, dass der Wohltäter mich zu sich gerufen hat?« »Ja.«
»Aber, was der Wohltäter zu mir sagte, das wissen Sie wohl nicht... Es war, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen... So, als ob Sie plötzlich mit diesem Schreibtisch, mit dem Papier und der Tinte darauf versänken... Die Tinte spritzt, und alles ist ein einziger Klecks...«
»Weiter, weiter! Beeilen Sie sich, draußen warten noch andere.«
Stockend und verwirrt schilderte ich ihm alles, was gewesen ist und was ich auf diesen Seiten festgehalten habe. Von meinem wahren und von dem anderen Ich, und das, was sie auf dem Spaziergang von meinen Händen gesagt hatte — ja, damit hatte es angefangen —, und wie ich meine Pflicht versäumte, wie ich mich selbst betrog, wie sie mir Atteste besorgte, wie ich mich immer mehr verstrickte, wie ich in die unterirdischen Gänge und in das Land hinter der Grünen Mauer kam. Die spöttischen, S-förmig geschwungenen Lippen schoben mir lächelnd die Stichworte zu — ich nickte dankbar. Aber — was war das? Plötzlich sprach er statt meiner, und ich hörte zu! Es überlief mich eiskalt. Ich fragte: »Wieso wissen Sie das? Sie können es doch von niemandem erfahren haben... «
Er lächelte noch spöttischer. Nach einer Weile sagte er: »Sie wollten mir etwas verheimlichen. Sie haben mir alle genannt, die Sie hinter der Mauer entdeckt haben, aber Sie haben einen vergessen. Erinnern Sie sich nicht mehr, dass Sie mich dort gesehen haben? Ja, mich!« Pause.
Plötzlich durchfuhr mich ein schamloser Gedanke: Er gehört auch zu ihnen! Alle Pein, die ich erlitten, alles, was
ich mit letzter Kraft tapfer hierher geschleppt hatte, war nur noch lächerlich wie die alte Geschichte von Abraham und Isaak. Abraham, in kalten Schweiß gebadet, hatte schon das Messer gegen seinen Sohn, gegen sich selbst gezückt — da sprach eine Stimme in der Höhe: »Lass! Ich habe nur gescherzt.«
Ohne den Blick von diesem spöttischen Lächeln zu wenden, stemmte ich mich mit beiden Beinen gegen die Tischkante und schob mich langsam mit meinem Sessel zurück. Dann sprang ich mit einem Satz auf und stürzte an schreienden Menschen vorbei zum Ausgang. Ich weiß nicht, wie ich in den Waschraum der U-Bahn-Station kam. Oben war alles zerstört, die höchste und vernünftigste Zivilisation der Geschichte vernichtet, doch hier unten war durch irgendeine Ironie des Schicksals alles noch so schön wie früher. Aber auch dies würde zerfallen, würden von dichtem Gras überwuchert werden, und über uns würden die Mephi herrschen. Ein entsetzlicher Gedanke! Ich stöhnte laut. Da streichelte mich jemand zärtlich am Arm. Es war mein Zimmernachbar, der auf dem Sitz links neben mir saß. Seine Stirn — eine riesige gelbe Parabel, mit wirren Zeilen darauf, die mir galten. »Ich verstehe Sie, ich verstehe Sie vollkommen«, sagte er. »Aber beruhigen Sie sich, jede Erregung ist überflüssig. Es wird alles wiederkehren. Nur müssen zuvor alle von meiner Entdeckung erfahren. Sie sind der erste, dem ich davon berichte. Ich habe festgestellt, dass es keine Unendlichkeit gibt!« Ich sah ihn verstört an.
»Ja, es gibt keine Unendlichkeit! Wenn die Welt unendlich wäre, dann müsste die mittlere Dichte ihrer Materie Null sein. Da sie jedoch nicht Null ist — wie wir wissen —, muss das Weltall endlich sein, es hat sphärische
Form und das Quadrat des Weltradius, y2 = mittlere Dichte, multipliziert mit... Jetzt muss ich nur noch den Koeffizienten berechnen, und dann... nun, dann ist alles ganz einfach. Dann werden wir philosophisch siegen, verstehen Sie? Aber, Verehrtester, Sie stören mich bei meinen Berechnungen, Sie schreien... «
Ich weiß nicht, was mich mehr erschütterte, seine Entdeckung oder seine Ruhe in dieser apokalyptischen Stunde. Er hielt sein Notizbuch und eine Logarithmentafel in der Hand (das bemerkte ich erst jetzt). Da dachte ich: Bevor alles vernichtet wird, muss ich meine Aufzeichnungen abschließen, das bin ich meinen Lesern schuldig. Ich bat meinen Nachbar um Papier und schrieb diese Zeilen nieder. Ich wollte schon einen Punkt machen, so, wie unsere Vorfahren über den Gruben, in die sie ihre Toten warfen, ein Kreuz errichteten, aber plötzlich zitterte der Bleistift in meiner Hand und rollte auf den Boden. »Hören Sie«, ich packte meinen Nachbarn am Arm, »beantworten Sie mir diese Frage. Sie müssen sie mir beantworten. Was ist dort, wo Ihr endliches Weltall aufhört, was ist dort?«
Er hatte keine Zeit mehr, zu antworten; stampfende Schritte kamen die Treppe herunter...

 

EINTRAGUNG NR. 40

Übersicht: Fakten. Die Glocke. Ich bin überzeugt.

Tag. Hell. Barometerstand 760.
Habe ich, D-503, tatsächlich all diese Seiten geschrieben? Habe ich das wirklich jemals empfunden, was ich hier aufgezeichnet habe, habe ich es mir nur eingebildet?
Ja, es ist meine Handschrift. Auch auf dieser Seite ist es meine Handschrift... Aber hier ist nicht mehr von Phantasien und Gefühlen die Rede, sondern nur noch von Fakten. Ich bin nämlich wieder gesund, völlig gesund. Unwillkürlich muss ich lächeln, ich kann nicht anders: man hat mir einen Splitter aus dem Kopf gezogen, und ich spüre eine große Leere und Erleichterung. Nein, keine Leere, es ist nur nichts mehr da, was mich am Lächeln hindert (das Lächeln ist der Normalzustand eines normalen Menschen).
Nun zu den Fakten: Gestern Abend wurden mein Nachbar, der die Endlichkeit des Weltalls entdeckt hatte, ich und sämtliche Nummern, die keine Bescheinigung über die Operation besaßen, verhaftet und ins nächste Auditorium geführt. Man band uns fest und operierte uns. Heute morgen ging ich, D-503, zum Wohltäter und berichtete ihm alles, was ich von den Feinden des Glückes wusste. Ich kann jetzt einfach nicht begreifen, weshalb mir das früher so schwierig vorkam. Es gibt nur eine Erklärung dafür: meine Krankheit, die Seele. Am Abend saß ich an einem Tisch mit dem Wohltäter in der Gaskammer. Die Nummer I-330 wurde hereingeführt. Sie sollte in meiner Gegenwart ein umfassendes Geständnis ablegen. Sie schwieg hartnäckig und lächelte nur. Ich bemerkte, dass sie scharfe, sehr schöne weiße Zähne hatte. Man setzte sie unter die Gasglocke. Ihr Gesicht wurde bleich, aber ihre großen dunklen Augen leuchteten dadurch nur noch mehr. Als die Luft aus der Glocke gepumpt wurde, warf sie den Kopf zurück, senkte die Lider und presste die Lippen zusammen — das erinnerte mich an irgend etwas. Sie hielt sich krampfhaft an den Sessellehnen fest und blickte mich an, bis ihr die Augen zufielen. Dann wurde sie aus der Gasglocke herausgeholt,
durch einen Stromstoß wieder zu sich gebracht und von neuem unter die Glocke gesetzt. Dreimal wiederholte sich dies, doch sie sagte kein Wort. Die anderen, die zusammen mit ihr hereingeführt wurden, benahmen sich weniger widerspenstig: die meisten sprachen schon beim ersten Male. Morgen werden sie alle die Stufen zur Maschine des Wohltäters hinaufsteigen.
Wir müssen handeln, die Sache duldet keinen Aufschub, denn in den westlichen Vierteln gibt es immer noch Chaos, Gebrüll, Leichen, Tiere und leider auch eine bedeutende Zahl von Nummern, die die Vernunft verraten haben. Aber es ist uns gelungen, auf dem 40. Prospekt eine provisorische Mauer aus Starkstrom zu errichten. Ich hoffe, dass wir siegen. Ich bin sogar fest von unserem Sieg überzeugt. Die Vernunft muss siegen!

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