Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
http://nemesis.marxists.org

EINTRAGUNG NR. 16

Übersicht: Gelb. Mein Schatten. Die Seele — eine unheilbare Krankheit.

Tagelang habe ich keine Zeile geschrieben. Wie viele Tage es sind, weiß ich nicht, denn alle Tage sind wie ein Tag, sie haben alle die gleiche Farbe, Gelb, wie ausgedörrter, glühender Sand. Nirgends Schatten, nirgends ein Tropfen Wasser, und ich wandere ohne Ende über den gelben Sand. Ich kann nicht mehr ohne sie leben, sie aber... Seit jenem Tag, an dem sie auf so geheimnisvolle Weise im Alten Hause verschwunden war, bin ich ihr nur einmal beim Spaziergang begegnet. Sie eilte an mir vorüber und belebte meine gelbe, öde Welt für einen kurzen Augenblick. Arm in Arm mit ihr, an ihre Schulter gelehnt, sah ich den buckligen S, den papierdünnen Doktor und eine weitere männliche Nummer. Ich entsinne mich nur noch an seine Finger, sie waren sonderbar weiß, lang und dünn und schossen wie ein Lichtbündel aus dem Uniform­ärmel hervor. I hob die Hand und winkte mir zu. Dann wandte sie sich zu dem Langfingrigen, und ich hörte deutlich das Wort Integral. Alle vier blickten mich an. Sie verschwanden im graublauen Himmel, und ich schritt wieder den trockenen, gelben Weg entlang.
Am Abend dieses Tages hatte sie ein rosa Billett für mich! Ich stand vor dem Numerator und flehte ihn zärtlich, hasserfüllt an, er solle die Klappe fallen lassen, damit ich die Nummer I-330 auf dem weißen Feld sehen könne. Eine Tür fiel ins Schloss, hochgewachsene brünette Frauen kamen aus dem Lift, in allen Zimmern ringsum wurden die Vorhänge zugezogen. Sie war nicht gekommen. Und in dieser Minute, um Punkt 22 Uhr, da ich dies
niederschreibe, lehnt sie sich vielleicht mit geschlossenen Augen an die Schulter eines anderen und fragt ihn, wie sie mich fragte: »Liebst du das?« Wer ist er, wer? Der mit den langen, schmalen Fingern oder R mit seinen wulstigen Negerlippen? Oder gar S?
S... Warum habe ich in den letzten Tagen stets seine schlurfenden Schritte hinter mir gehört, die klingen, als patschte er durch eine Pfütze? Warum ist er mir wie ein Schatten gefolgt? Vor mir, hinter mir, an meiner Seite erschien sein graublauer, krummer Schatten. Die Vor­übergehenden schritten durch diesen Schatten hindurch, traten darauf, doch er blieb unverändert, wich nicht von meiner Seite, als wäre er durch eine unsichtbare Nabelschnur mit mir verbunden. Vielleicht ist I diese Verbindung, ich weiß es nicht. Oder haben die Beschützer bereits gemerkt, dass ich... Mein Schatten sieht mich, sieht mich die ganze Zeit! Wissen Sie, wie das ist? Ein seltsames Gefühl: Meine Arme scheinen mir nicht mehr zu gehören, sie sind mir im Wege, ich ertappe mich dabei, dass ich sinnlos mit den Armen schlenkere, dass ich aus dem Takt gekommen bin. Oder mir ist, als müsste ich mich umsehen — aber ich kann es nicht, denn mein Genick ist starr, wie festgeschmiedet. Ich laufe, laufe immer schneller — der Schatten hinter mir läuft gleichfalls schneller, ich kann ihm nicht entrinnen... In meinem Zimmer — endlich allein. Aber hier ist etwas anderes, das mir keine Ruhe lässt — das Telefon. Ich nehme den Hörer ab: »Bitte I-330.« Ich höre ein leises Geräusch — eilige Schritte vor ihrer Tür - dann tiefe Stille... Ich werfe den Hörer auf
die Gabel, ich kann nicht mehr. Ich muss sie sehen. Das war gestern. Ich strich eine volle Stunde, von 16 bis 17 Uhr, um das Haus herum, in dem sie wohnt. Unzählige Nummern marschierten in Reih und Glied vorbei,
Tausende Füße im gleichen Schritt, ein millionenfüßiger Leviathan. Ich aber war allein, vom Sturm auf eine öde Insel verschlagen, und späte suchend in die graublauen Wogen hinaus. Plötzlich sah ich spöttisch hochgezogene Brauen und dunkle Augenfenster, hinter denen ein Feuer brannte. Ich eilte zu ihr und sagte:
»Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann! Warum kommst du nicht?«
Sie schwieg. Plötzlich wurde mir die tiefe Stille ringsum bewusst. Es war längst 17 Uhr. Alle waren zu Hause, nur ich war noch auf der Straße, ich hatte mich verspätet. Um mich eine gläserne, von gelbem Sonnenlicht durchglühte Wüste. In der glatten Fläche spiegelten sich die blitzenden Häuserblocks, sie standen auf dem Kopf wie ich. Ich musste sofort, in dieser Sekunde noch, zum Gesundheitsamt gehen und mir ein Attest holen, dass ich krank sei; sonst würde man mich verhaften, und dann... Ach, vielleicht wäre es das beste. Hier stehen bleiben und warten, bis sie mich aufgreifen und in den Operationssaal schleppen — dann wäre alles zu Ende, wäre alles gesühnt.
Ein leises, patschendes Geräusch — ein S-förmiger Schatten stand vor mir. Ohne aufzublicken spürte ich, wie zwei stahlgraue Augen sich in mich hineinbohrten. Ich riss mich zusammen und sagte lachend — ich musste doch etwas sagen —:
»Ich... ich will zum Gesundheitsamt...« »Warum stehen Sie dann hier herum?« Ich schwieg, meine Wangen glühten vor Scham. »Kommen Sie mit!« sagte S streng.
Ich folgte ihm gehorsam, mit den Armen schlenkernd, die mir nicht mehr gehörten. Ich vermochte nicht die Augen zu heben, und so bewegte ich mich die ganze Zeit
in einer grotesken, Kopf stehenden Welt. Ich sah Maschinen, die verkehrt aufragten, sah Menschen, die wie Antipoden mit den Füßen an der Zimmerdecke klebten, sah den Himmel, der mit dem gläsernen Straßenpflaster verschmolz.
»Entsetzlich«, dachte ich, »dass ich das alles auf dem Kopf stehen sehe.« Aber ich konnte nicht aufblicken. Wir blieben stehen. Vor mir Stufen. Ich tat einen Schritt und glaubte, Gestalten in weißen Arztkitteln und eine riesige stumme Glocke wahrzunehmen... Mit größter Anstrengung riss ich meine Augen von dem gläsernen Boden los — und vor mir leuchteten die goldenen Buchstaben Gesundheitsamt... Weshalb er mich hierher und nicht in den Operationssaal geführt, weshalb er mich geschont hatte, darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken; ich nahm die Stufen mit einem Satz, schlug die Tür hinter mir zu und atmete auf.
Zwei Ärzte: der eine, klein und krummbeinig, schaute die Patienten finster an; der andere, schmächtig und dünn, hatte eine messerscharfe Nase... Er war es! Ich stürzte auf ihn zu, als wäre er mein Bruder, ich stammelte etwas von Schlaflosigkeit, Träumen, Schatten, von einer gelben Welt.
Seine schmalen Lippen lächelten: »Schlecht, schlecht. Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.« Eine Seele? Das ist ein uraltes, längst vergessenes Wort. Wir sagen wohl manchmal noch »ein Herz und eine Seele«, »Seelenruhe«, »Seelenverderber«, aber Seele, nein!
»Ist das... ist das sehr gefährlich?« stotterte ich. »Unheilbar«, erwiderte er.
»Aber — was ist das eigentlich, eine Seele? Ich kann mir das nicht richtig vorstellen.«
»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Sie sind doch Mathematiker, nicht wahr?« »Ja.«
»Stellen Sie sich eine Fläche vor, zum Beispiel diesen Spiegel. Blicken Sie hinein — auf dieser Fläche sehen Sie uns beide, Sie sehen einen blauen Funken in der Leitung, und jetzt huscht der Schatten eines Flugzeugs vorüber. Nehmen wir an, diese Fläche sei weich geworden, jetzt gleitet nichts mehr darüber hin, sondern alles versinkt in jener Spiegelwelt, die wir als Kinder voller Neugier bestaunten. Glauben Sie mir, die Kinder sind gar nicht so dumm. Die Oberfläche ist also zu einem Körper geworden, zu einer Welt, und im Innern des Spiegels — und in Ihnen selbst — ist eine Sonne, der Propellerwind Ihres Flugzeugs, Ihre bebenden Lippen und ein zweites Lippenpaar. Sehen Sie, der kalte Spiegel reflektiert die Gegenstände, jener andere aber absorbiert sie, und alles lässt für immer eine Spur zurück. Vielleicht haben Sie einmal in einem Gesicht eine ganz feine Falte entdeckt — und schon ist sie für immer in Ihnen. Sie haben einmal gehört, wie in der Stille ein Wassertropfen fiel, und Sie hören ihn auch jetzt...«
»Ja, ja, genauso ist es!« unterbrach ich ihn und ergriff seine Hand. »Ich habe einmal gehört, wie der Wasserhahn am Waschbecken leise in der Stille tropfte, und ich werde das nie mehr vergessen. Dennoch ist mir nicht klar, warum ich plötzlich eine Seele habe. Ich hatte keine, nie, nie... und plötzlich ist sie da. Warum habe ich allein eine Seele, während die anderen... «
Ich klammerte mich noch fester an die dünne Hand, ich fürchtete, den Rettungsring zu verlieren. »Warum? Nun, warum haben wir weder Federn noch Flügel, sondern nur noch Schulterblätter, die Fundamente
der Flügel? Weil wir keine Flügel mehr brauchen — wir haben ja Flugzeuge, und Flügel wären uns nur hinderlich. Flügel sind zum Fliegen da, wir aber brauchen nirgendwohin zu fliegen, wir haben uns in die höchsten Höhen emporgeschwungen, wir haben gefunden, was wir suchten. Nicht wahr?«
Ich nickte zerstreut. Er blickte mich an und lachte spöttisch. Der andere Arzt hatte unser Gespräch gehört, er kam aus seinem Büro und warf dem schmächtigen Doktor und mir einen wütenden Blick zu.
»Was ist denn hier los? Was heißt Seele? Eine Seele, sagen Sie? Weiß der Teufel, was das ist! Wenn das so weitergeht, werden wir bald eine richtige Epidemie haben! Man muss bei allen die Phantasie herausschneiden, exstirpieren. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Er funkelte den kleinen Doktor böse an. »In solchem Fall hilft allein die Chirurgie... «
Er setzte eine riesige Röntgenbrille auf, betrachtete meinen Kopf von allen Seiten, spähte durch die Schädelknochen in mein Gehirn und schrieb etwas in ein Notizbuch. »Sehr interessant! Wirklich sehr interessant! Hören Sie, haben Sie etwas dagegen, dass wir Sie in Spiritus setzen? Das wäre äußerst nützlich für den Einzigen Staat... Es könnte uns helfen, eine Epidemie zu verhüten.« Der Schmächtige sagte: »D-503 ist der Konstrukteur des Integral, und das, was Sie da tun wollen, würde bestimmt verhängnisvolle Folgen haben.«
»Ach so!« brummte der andere und stapfte in sein Büro zurück.
Wir waren unter vier Augen. Die papierdünne Hand legte sich tröstend auf meinen Arm, das scharfgeschnittene, winzige Gesicht neigte sich ganz nahe zu mir, und er flüsterte mir ins Ohr:
»Mein Lieber, Sie sind nicht der einzige Fall. Mein Kollege redet nicht umsonst von einer Epidemie. Besinnen Sie sich einmal, ob Sie nicht bei anderen sehr ähnliche Symptome bemerkt haben.«
Er sah mich forschend an. Wem galt diese Anspielung? Ich sprang von meinem Stuhl auf.
Doch ohne darauf zu achten, fuhr er laut fort: »Und was Ihre Schlaflosigkeit und Ihre Träume betrifft, so kann ich Ihnen nur den einen Rat geben: Gehen Sie öfter zu Fuß. Machen Sie gleich morgen früh einen längeren Spaziergang, vielleicht zum Alten Haus.«
Wieder sah er mich prüfend an und lächelte leise. Und ich glaubte das Wort deutlich zu erkennen, das in das feine Gewebe dieses Lächelns gehüllt war, es war ein Buchstabe, ein Name... Oder täuschte mich meine Phantasie? Er schrieb mir ein Attest für zwei Tage. Ich schüttelte ihm noch einmal die Hand und eilte davon. Mein Herz ging leicht und schnell, so schnell wie ein Flugzeug, und trug mich empor, immer höher empor. Ich wusste, der nächste Tag würde mir große Freude bringen. Aber was für eine Freude?

 

EINTRAGUNG NR. 17

Übersicht: Blick durch die Grüne Mauer. Ich bin gestorben. Korridore.

Ich bin wie betäubt. Gestern, gerade in dem Augenblick, als ich dachte, ich hätte alles entwirrt, alle x gefunden, tauchte eine neue Unbekannte in meiner Gleichung auf. Der Punkt, von dem alle Koordinaten dieser Geschichte ausgehen, ist natürlich das Alte Haus, es ist der Ausgangs-
punkt der x-, y- und z-Achse, auf denen seit einiger Zeit meine ganze Welt ruht.
Auf der x-Achse (dem 59. Prospekt) ging ich zu Fuß zum Alten Haus. Meine Erlebnisse von gestern kreisten gleich einem wilden Wirbel in mir: die Kopf stehenden Häuser und Menschen, meine mir nicht mehr gehörenden Arme, das scharfe Profil des Doktors, das Klicken der Wassertropfen im Waschbecken. Das alles hatte ich erlebt und konnte es nun nicht mehr vergessen. Unablässig brodelte es unter der aufgeweichten Oberfläche, dort drinnen, wo die Seele war.
Ich hatte die schmale Straße erreicht, die an der Grünen Mauer entlang führt. Aus dem unabsehbar weiten grünen Ozean jenseits der Mauer wälzte sich mir eine Woge von Wurzeln, Blüten, Ästen und Blättern entgegen, sie bäumte sich hoch auf und drohte, mich wegzuspülen und mich, einen Menschen, den exaktesten aller Mechanismen, in ein Tier zu verwandeln. Doch zum Glück trennte mich die Grüne Mauer von diesem wilden, grünen Meer. O große, göttlich-begrenzende Weisheit von Mauern und Schranken! Die Mauer ist wahrscheinlich die bedeutendste Erfindung der Menschheit. Der Mensch hat erst dann aufgehört, ein unzivilisiertes Geschöpf zu sein, als er die erste Mauer errichtete. Zum Kulturmenschen wurde er erst, als wir die Grüne Mauer erbauten und unsere vollkommene Maschinenwelt von dieser unvernünftigen, hässlichen Welt der Bäume, Vögel und Tiere isolierten.
Durch das trübe, milchige Glas gewahrte ich die stumpfe Schnauze eines Tieres, seine gelben Augen starrten mich verwundert an. Wir blickten einander lange in die Augen — in diese Schächte, die von der Welt der Oberfläche in jene andere, tiefere führen. Und da sprach eine Stimme in mir: »Vielleicht ist dieses gelbäugige Tier in seinem
schmutzigen Blätterhaufen, in seinem ungeregelten Leben glücklicher als wir.«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, die gelben Augen blinzelten, wichen zurück und verschwanden im grünen Dickicht. Erbärmliches Wesen! Es sollte glücklicher sein als wir? Welch absurder Einfall! Vielleicht glücklicher als ich; aber ich bin eine Ausnahme, ich bin krank. Ich war beim Alten Haus angekommen. Die alte Pförtnerin stand vor der Tür. Ich lief auf sie zu und fragte: »Ist sie hier?«
Der eingefallene Mund öffnete sich langsam: »Wer — sie?«
»I natürlich... Ich bin doch damals mit ihr hergekommen — im Flugzeug.«
»Ah! So, so... Ja, sie ist hier, ist eben gekommen.« Sie war hier! Die Alte saß neben einem Wermutstrauch, ein Zweig berührte fast ihre Hand; sie streichelte die silbernen Blätter, und auf ihren Knien lag ein gelber Sonnenstreifen. Und mit einem Male waren wir eins, die Sonne, die Alte, der Wermutstrauch, die gelben Augen. Eine geheimnisvolle Ader verband uns unlösbar, und in dieser Ader pulsierte wildes Blut...
Ich schäme mich sehr, die folgenden Worte niederzuschreiben, aber ich habe nun einmal versprochen, nur die Wahrheit zu sagen. Ich beugte mich zu der Alten nieder und küsste ihren weichen, runzligen Mund. Sie wischte sich lachend die Lippen ab.
Durch die vertrauten halbdunklen Räume ging ich dann zum Schlafzimmer. Ich hatte schon die Türklinke in der Hand, da durchzuckte es mich: »Vielleicht ist sie nicht allein!« Ich lauschte. Aber ich hörte nur ein dumpfes Pochen ganz in meiner Nähe, nicht in mir, sondern neben mir — mein Herz.
Ich betrat das Zimmer. Da war das breite, unberührte Bett, der Spiegel, der Schrank mit dem altmodischen Ring am Schlüssel. Sie war nicht da.
Leise rief ich: »I, bist du hier?« Und noch leiser, mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem, als läge ich auf den Knien vor ihr: »I! Liebste!«
Stille. Aus dem Wasserhahn klickten Tropfen munter in das Waschbecken. Mich störte das Geräusch, ich vermag nicht zu sagen warum, und so drehte ich den Hahn fest zu und ging wieder hinaus. Da sie bestimmt nicht hier war, musste sie in einer anderen Wohnung sein. Ich lief die dunkle Treppe hinunter, rüttelte an einer Tür, an einer anderen: verschlossen. Alles war verschlossen, außer »unserer« Wohnung, und dort war kein Mensch. Dennoch zog es mich dorthin. Langsam und schwerfällig ging ich Stufe um Stufe hinauf, meine Füße wurden plötzlich so schwer wie Blei. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich dachte: Es ist ein Irrtum, dass die Schwerkraft konstant ist, und folglich sind meine sämtlichen Formeln...
Da zuckte ich zusammen: ganz unten schlug eine Tür, und jemand schlurfte über die Fliesen im Hausflur. Das Gefühl der Schwere war jäh verschwunden, ich flog zum Treppengeländer. Ich beugte mich hinab, wollte in dem einen Wort »Du!« alles aus mir hinausschreien — und erstarrte. Abstehende rosa Ohren, ein doppelt gekrümmter Schatten... S!
Ohne lange zu überlegen, kam ich zu dem Schluss: Er darf mich um keinen Preis hier sehen! Ich drückte mich an die Wand und schlich auf Zehenspitzen zu der unverschlossenen Wohnung. Eine Sekunde blieb ich vor der Tür stehen. Er stapfte die Treppe herauf, er kam hierher! Dass nur die Tür nicht knarrte! Ich bat, ich flehte sie an, aber sie
war ja aus Holz, sie knarrte und kreischte in den Angeln. Grünes, Gelbes, Rotes, der Buddha flog an mir vorbei, ich stand vor dem Spiegelschrank. Mein Gesicht war totenbleich, meine Augen und Lippen waren in angstvoller Spannung weit geöffnet... Durch das Rauschen meines Blutes hindurch hörte ich, wie die Wohnungstür klappte... Das war er, er!
Ich fasste nach dem Schrankschlüssel, und der Ring daran begann zu pendeln. Das erinnerte mich an etwas — »Damals war I...« Ich riss die Schranktür auf, stieg in den dunklen Schrank. Ein Schritt — und ich verlor den Boden unter den Füßen. Langsam, ganz langsam sank ich in die Tiefe, mir wurde schwarz vor Augen, ich verlor das Bewusstsein, ich starb.
Später, als ich all diese seltsamen Erlebnisse niederschrieb, zerbrach ich mir lange den Kopf und schlug in vielen Büchern nach. Da wurde mir alles plötzlich klar: Ich hatte mich in einem Zustand befunden, den unsere Vorfahren Ohnmacht nannten und der, soviel ich weiß, bei uns völlig unbekannt ist.
Wie lange ich ohnmächtig war, weiß ich nicht, es mögen fünf oder zehn Sekunden gewesen sein; als ich wieder zu mir kam, war es um mich herum stockfinster, und noch immer glitt ich langsam nach unten. Ich streckte die Hand aus und fühlte eine raue Mauer, an der sich mein Finger blutig riss. Also war dies nicht nur ein Spiel meiner krankhaften Phantasie. Aber was war es dann? Was? Ich hörte meinen keuchenden Atem, ich bebte vor Angst. Eine Minute, zwei, drei — immer noch ging es hinunter. Endlich spürte ich einen leichten Stoß; ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Ins Dunkel tastend, fand ich eine Türklinke, ich öffnete die Tür, und trübes Licht fiel in den schwarzen Schacht, in dem ich stand. Ich
wandte mich um und sah, wie ein kleiner Fahrstuhl hinter mir sich rasch nach oben entfernte. Ich wollte ihn anhalten .— zu spät, ich war abgeschnitten... Ich wusste nicht, wo ich mich befand.
Vor mir ein Korridor. Drückende, bleierne Stille. In den runden Gewölben brannten kleine Lampen, eine unendliche Linie flimmernder Lichtpunkte. Dieser lange Gang erinnerte an die Kanäle unserer Untergrundbahn, nur bestand er nicht aus unserem dicken, unzerbrechlichen Glas, sondern aus irgendeinem altertümlichen Material. Vielleicht war das einer der unterirdischen Gänge, in die sich die Menschen während des 200jährigen Krieges geflüchtet hatten... Aber mochte es sein, was es wollte — ich musste weiter.
Ich ging gut zwanzig Minuten. Dann bog der Korridor nach rechts ab, wurde breiter, und die Lampen leuchteten heller. Ich hörte ein wirres, dumpfes Geräusch. Ob es menschliche Stimmen oder der Lärm von Maschinen war, konnte ich nicht feststellen, jedenfalls fand ich mich einer schweren, undurchsichtigen Tür gegenüber, hinter der das Geräusch erklang.
Ich klopfte, zuerst leise, dann lauter. Plötzlich wurde es still. Dann klirrte etwas, und die Tür öffnete sich langsam. Ich weiß nicht, wer von uns beiden verdutzter war — vor mir stand der kleine Doktor.
»Sie? Hier?« rief er erschrocken. Ich starrte ihn schweigend an und verstand kein Wort von dem, was er sagte, als hätte ich noch nie den Laut einer menschlichen Stimme vernommen. Er wollte wohl, dass ich wieder ging, denn er nahm mich mit seiner papierdünnen Hand am Arm und führte mich zurück in den Korridor. »Erlauben Sie«, sagte ich, »ich wollte... ich dachte, dass sie, ich meine I-330... «
»Warten Sie hier!« fiel er mir ins Wort und verschwand. Endlich, endlich! Sie war hier, ganz in meiner Nähe! Ich stellte mir ihr gelbes Seidenkleid vor, ihr spöttisches Lächeln, ihre gesenkten Wimpern, und meine Lippen bebten, mir zitterten Hände und Knie, und mir kam ein ganz törichter Gedanke: Schwingungen sind Töne, also muss mein Zittern auch klingen. Aber warum höre ich es nicht? Da kam sie. Ihre Augen waren weit geöffnet, und ich versank in ihnen...
»Ich konnte es nicht länger ertragen! Wo waren Sie die ganze Zeit?« Ich starrte sie verzückt an und stammelte wie im Fieber: »Ein Schatten... hinter mir... ich war wie tot — der Schrank... Ihr Freund, der Doktor, sagt, ich hätte eine Seele... unheilbar... « »Eine Seele! Unheilbar! Du Armer!« antwortete I lachend. Der Fiebertraum war verflogen, überall hörte ich ein helles, spöttisches Lachen, und das tat mir wohl. Der Doktor bog um die Ecke und kam auf uns zu. »Nun?« fragte er sie.
»Kein Grund zur Aufregung. Er ist ganz zufällig hierher gekommen, ich werde Ihnen später alles erzählen. In einer Viertelstunde bin ich wieder da.«
Der Doktor ging. Sie wartete eine Weile. Dumpf schlug die Tür zu. I legte die Arme um meinen Hals und schmiegte sich eng an mich; die Berührung ihres Körpers war wie ein Nadelstich, der tiefer, immer tiefer in mein Herz drang. Wir waren zu zweit, allein... Arm in Arm gingen wir dunkle Stufen hinauf, die kein Ende zu nehmen schienen. Wir schwiegen beide; ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich wusste, dass sie mit geschlossenen Augen, zurückgeworfenem Kopf und geöffneten Lippen ging wie ich und dass sie einer leisen Musik lauschte: meinem kaum hörbaren Beben.
Wir gelangten zu einem der vielen Nebenhöfe des Alten Hauses; ich sah einen Zaun und nackte steinerne Rippen und gelbe Zähne eingestürzter Mauern. Sie schlug die Augen auf, sagte: »Übermorgen um 16 Uhr«, und ging. Ist das alles wirklich geschehen? Ich weiß es nicht. Übermorgen werde ich es erfahren. Nur eine einzige, wirkliche Spur ist zurückgeblieben: eine Schramme an den Fingern meiner rechten Hand. Aber heute, als ich beim Integral war, versicherte mir der zweite Konstrukteur, er habe selber gesehen, wie ich mit den Fingern den Schleifring streifte. Vielleicht war es tatsächlich so. Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts mehr.

 

EINTRAGUNG NR. 18

Übersicht: Im Dickicht der Logik. Wunden und Pflaster. Nie wieder.

Gestern legte ich mich zu Bett und versank sogleich im grundlosen Meer der Träume, wie ein zu schwer beladenes Schiff. Ich fühlte deutlich den Druck der schwankenden grünen Wellen. Dann wurde ich langsam emporgetragen und öffnete auf halbem Weg die Augen: mein Zimmer, kaltes, grünes Morgenlicht. Auf der Spiegeltür meines Schrankes ein schmaler Sonnenstreifen, der mich blendete. Dieses Licht hinderte mich, die gesetzlichen Schlafstunden genau einzuhalten. Vielleicht sollte ich die Schranktür öffnen? Doch ich hatte nicht die Kraft aufzustehen, ich war von einem Spinnennetz gefesselt, und in meinen Augen klebten Spinnweben...
Ich erhob mich trotzdem, öffnete den Schrank — und plötzlich erblickte ich hinter der Spiegeltür I, die gerade
ihr Kleid auszog. Ich bin jetzt so sehr an die unwahrscheinlichsten Dinge gewöhnt, dass ich nicht einmal erstaunt war und keine Frage stellte. Ich stieg in den Schrank, schlug die Tür zu und umarmte I, keuchend, blind, gierig. Da drang ein greller Sonnenstrahl durch die Türspalte und fiel wie eine scharfe, blitzende Schneide auf I.s zurückgebogenen, entblößten Hals... Ich erschrak darüber so sehr, dass ich die Nerven verlor und laut schrie. Ich schlug die Augen auf.
Mein Zimmer. Noch immer kaltes, grünes Morgenlicht. Die Sonne spiegelte sich in der Schranktür. Ich lag im Bett. Es war also nur ein Traum. Aber immer noch klopfte mein Herz zum Zerspringen, ich fühlte einen stechenden Schmerz in den Fingerspitzen und in den Knien. Also doch kein Traum. Ich wusste nicht, ob ich schlief oder wachte. Die irrationalen Größen verdrängten alles Dauerhafte, Gewohnte, und statt fester, geschliffener Flächen sah ich ringsum nur raue, zottige Massen. Es dauerte noch lange, bis der Wecker rasselte. Ich liege da, denke nach und gelange zu einem höchst merkwürdigen Ergebnis.
Jeder Gleichung, jeder geometrischen Figur entspricht eine krumme Linie oder ein Körper. Für die irrationalen Formeln, für meine √-1, kennen wir keine entsprechenden Körper, wir haben sie nie gesehen... Aber das Entsetzliche ist, dass diese unsichtbaren Körper existieren, dass sie unbedingt existieren müssen, denn in der Mathematik huschen ja ihre seltsamen, stachligen Schatten, die irrationalen Wurzeln, wie auf einer Leinwand an uns vorbei. Und die Mathematik und der Tod haben noch nie geirrt. Wenn wir aber diese Körper in unserer Welt, in der Welt der Fläche, nicht sehen können, dann müssen sie in einer eigenen, gewaltigen Welt leben, die dahinter liegt...
Ohne das Rasseln des Weckers abzuwarten, sprang ich aus dem Bett und ging im Zimmer auf und ab. Meine Mathematik, die bis jetzt die einzige feste, unerschütterliche Insel in meinem sonderbaren Dasein gewesen war, riss sich los und tanzte auf den Wogen. Bedeutete das nicht, dass diese lächerliche Seele ebenso wirklich war wie meine Stiefel, obgleich ich sie im Augenblick nicht sehen konnte, weil sie hinter der Spiegeltür des Schranks standen? Und wenn meine Stiefel keine Krankheit waren, warum war dann die Seele eine Krankheit?
Ich tappte im Kreis und fand keinen Ausweg aus diesem unheimlichen Dickicht der Logik. Das waren die gleichen unbekannten, schrecklichen Abgründe wie jene hinter der Grünen Mauer, und in ihnen lebten gleichfalls sonderbare, unbegreifliche Wesen. Hinter einer dicken Glasscheibe glaubte ich ein unendlich großes und zugleich unendlich kleines skorpionenhaftes Etwas zu erkennen, dessen Minus-Stachel verborgen und doch die ganze Zeit fühlbar war: die Wurzel aus minus eins... Aber vielleicht war dies nichts anderes als meine Seele, die sich gleich dem Skorpion unserer Vorfahren mit all dem stach, was... Der Wecker rasselte. Es war heller Tag. All diese Gedanken waren nicht tot, waren nicht verschwunden, sondern nur vom Tageslicht verdeckt, so wie die sichtbaren Gegenstände in der Nacht nicht sterben, sondern nur vom Dunkel verhüllt werden. In meinem Kopf wogte ein dünner Nebel. Durch diesen Nebel sah ich lange gläserne Tische und im Takt kauende Kiefer. Irgendwo in der Ferne tickte ein Metronom, und zu dieser gewohnten, zärtlichen Musik zählte ich mechanisch fünfzig — fünfzig Kaubewegungen sind für jeden Bissen gesetzlich vorgeschrieben. Mechanisch den Takt schlagend, ging ich hinunter und trug mich ins Ausgangsbuch ein wie die anderen.
Doch ich fühlte, dass ich von den anderen getrennt, dass ich allein war, von einer weichen, alle Laute dämpfenden Mauer umgeben, und hinter dieser Mauer lag meine Welt. Aber wenn diese Welt nur mir gehört, was hat sie dann in diesen Aufzeichnungen zu suchen? Warum erzähle ich hier von den törichten Träumen, den Schränken und endlosen Korridoren? Ich merke bekümmert, dass ich statt eines ausgewogenen, streng mathematischen Poems zum Preise des Einzigen Staates einen phantastischen Abenteuerroman schreibe. Ach, ich wünschte, es wäre nur ein Roman und nicht mein jetziges Leben, in dem es von unbekannten Größen, von √-1 und von schmählichen Entgleisungen wimmelt.
Vielleicht ist es doch besser, dass es so gekommen ist, denn Sie, unbekannter Leser, sind im Vergleich zu uns wahrscheinlich die reinsten Kinder (wir sind ja von dem Einzigen Staat erzogen worden und haben daher die höchstmögliche menschliche Entwicklungsstufe erreicht). Und wie die Kinder werden Sie alles Bittere, das ich Ihnen reiche, nur dann ohne Geschrei schlucken, wenn es dick verzuckert ist...
Abends:
Kennen Sie dieses Gefühl: Man stürmt im Flugzeug himmelan, das Fenster ist offen, der Wind peitscht das Gesicht; es gibt keine Erde mehr, man hat sie vergessen, denn sie ist so fern wie Saturn, Jupiter und Venus? So lebe ich jetzt, der Wind braust in meinen Ohren, ich habe die Erde vergessen, habe die liebe O vergessen. Doch die Erde existiert, früher oder später muss man im Gleitflug zu ihr zurückkehren... ich schließe ja nur die Augen vor dem Tag, an dem ihr Name, O-90, auf meiner Geschlechtstabelle steht... Heute Abend brachte sich die ferne Erde
in Erinnerung. Gemäß der Vorschrift des Arztes (ich bin fest entschlossen, gesund zu werden), wanderte ich volle zwei Stunden durch die schnurgeraden, menschenleeren Prospekte. Alle waren in den Auditorien, wie das Gesetz es befahl, nur ich nicht. Ein widernatürliches Bild: stellen Sie sich einen Finger vor, der vom Ganzen, von der Hand, abgeschnitten ist, einen einzelnen Finger, der geduckt mit langen Schritten über die gläsernen Bürgersteige eilt. Dieser Finger war ich. Und das Seltsamste und Unnatürlichste war, dass er nicht die geringste Lust verspürte, zu der Hand zurückzukehren. Er zog es vor, entweder allein zu bleiben, oder — nun, ich habe jetzt nichts mehr zu verbergen — bei jener Frau zu sein, sich an ihre Schulter zu lehnen, ihre Hand zu halten, sich ganz in sie zu verlieren. Als ich nach Hause kam, war die Sonne untergegangen. Auf den gläsernen Mauern, auf der goldenen Spitze des Akkumulatorenturms, in den Stimmen und im Lächeln der vorübergehenden Nummern lag die rosa Asche des Abendlichtes. Ist das nicht merkwürdig: die Strahlen der erlöschenden Sonne haben den gleichen Einfallswinkel wie die Morgensonne, und doch sind sie völlig verschieden voneinander. Die Abendröte ist ganz still, fast ein wenig bitter, die Morgenröte aber klingt und braust. Ich stand vor dem Kontrolltisch im Vestibül. U, die Aufsichtsbeamtin, zog aus einem Haufen von Briefen einen Umschlag heraus und reichte ihn mir. Ich wiederhole: U ist eine sehr anständige Frau, und ich bin gewiss, dass sie es gut mit mir meint. Trotzdem habe ich jedes Mal ein unheimliches Gefühl, wenn ich ihre kiemenähnlichen Hängebacken sehe.
U hielt mir mit ihrer knochigen Hand den Brief hin und seufzte tief. Doch dieser Seufzer streifte den Vorhang, der mich von der Außenwelt trennt, nur ganz leicht, denn
ich dachte allein an das Stück Papier in meinen zitternden Fingern. Gewiss war es ein Brief von I! U seufzte zum zweiten Mal, so laut, dass ich verwundert aufblickte. Schamhaft schlug sie die Augen nieder und verzog die Hängebacken zu einem süßen, betörenden Lächeln. Dann sagte sie:
»Ach, Sie Ärmster —« und deutete dabei auf den Brief. Sie kannte natürlich seinen Inhalt, sie war ja verpflichtet, alles zu zensieren. »Wieso? Ich bin wirklich... «
»Nein, nein, mein Lieber, ich weiß das besser als Sie selber. Ich beobachte Sie schon lange und sehe, dass Sie jemanden brauchen, der Arm in Arm mit Ihnen durchs Leben geht, jemanden, der das Leben kennt...« Ihr Lächeln legte sich wie ein Pflaster auf die Wunden, die mir dieser Brief in meiner Hand gleich schlagen würde. Schließlich sagte sie leise:
»Ich will mir überlegen, wie ich Ihnen helfen kann. Seien Sie ganz ruhig, wenn ich genug Kraft in mir fühle, dann werde ich... nein, nein, ich muss das alles noch genau überlegen.«
Großer Wohltäter! Ist das wirklich mein Schicksal? Will sie damit sagen, dass sie ein Auge auf mich geworfen hat?
Alles verschwamm mir vor den Augen, ich sah tausend Sinusoide, der Brief begann zu tanzen. Ich trat näher zur Wand, zum Licht. Die Sonne erlosch, und die dunkelrote Asche auf mir, auf dem Fußboden und auf dem Brief in meinen Händen verfärbte sich grau. Ich riss den Umschlag auf, warf einen Blick auf die Unterschrift, und da öffnete sich die tiefe Wunde — der Brief war nicht von I, sondern von O! In der unteren rechten Ecke sah ich einen blassblauen Klecks, der von einem Wassertropfen kam. Ich kann Kleckse nicht ausstehen, ganz gleich, woher sie kommen, ob von Tinte oder von... Früher war mir ein solcher Fleck nur unangenehm. Warum kommt er mir jetzt wie eine Wolke vor, warum verdüstert er alles? Oder ist das wieder die Seele? O schrieb:
Ich verstehe mich zwar nicht aufs Brief schreiben, aber das ist gleich. Sie wissen jedenfalls, dass ich nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht einen Frühling ohne Sie leben kann. R-13 ist für mich nur... nun, das ist unwichtig für Sie. Ich bin ihm jedoch sehr dankbar, denn ich weiß nicht, wie ich die letzten Tage ohne ihn hätte überstehen können. In diesen Tagen und Nächten bin ich um zehn, zwanzig Jahre gealtert. Mir war, als wäre mein Zimmer nicht quadratisch, sondern rund, ich tappte unablässig im Kreis und fände nirgends eine Tür.
Ich kann nicht ohne Sie leben — weil ich Sie liebe. Ich weiß, dass Sie jetzt niemanden in der Welt brauchen außer ihr, der anderen, und gerade weil ich Sie liebe, muss ich auf Sie verzichten. In zwei, drei Tagen, wenn ich aus den Fetzen meines Ichs etwas zusammengeflickt habe, das der früheren O ungefähr gleicht, will ich mein Abonnement auf Sie kündigen, dann wird Ihnen leichter ums Herz sein. Ich werde nie wiederkommen. Verzeihen Sie mir. O.
Das war natürlich das beste, sie hatte recht. Aber warum, warum...

 

EINTRAGUNG NR. 19

Übersicht: Eine unendlich kleine Größe dritter Ordnung. Die gerunzelte Stirn. Blick über das Geländer.

In dem unheimlichen Korridor mit den flackernden Lampen — nein, nicht dort, sondern später, als ich mit ihr in einem versteckten Winkel im Hof des Alten Hauses stand, hatte sie gesagt: »Übermorgen.« Dieses »Übermorgen« ist heute, und alles hat Flügel. Der Tag fliegt, und auch unsere Integral wird sich bald emporschwingen; der Raketenmotor ist eingebaut; heute haben wir ihn ausprobiert. Welch herrliche, gewaltige Salven! Jede einzelne empfand ich als Salut für mein Heute.
Bei der ersten Explosion standen ungefähr zehn schlafmützige Nummern vor dem Auspuff — und es blieb von ihnen nichts übrig als ein Häufchen Asche. Zu meiner Genugtuung kann ich hier niederschreiben, dass dieser Vorfall unsere Arbeit nicht im geringsten aufhielt. Keiner von uns zuckte auch nur mit der Wimper, wir und unsere Maschinen setzten unsere geraden und kreisenden Bewegungen so exakt fort, als wäre nichts geschehen. Zehn Nummern — das ist der hundertmillionste Teil der Masse des Einzigen Staates, also eine unendlich kleine Größe dritter Ordnung. Unsere Ahnen kannten ein arithmetisch-analphabetisches Mitleid, das wir lächerlich finden.
Übrigens kommt mir auch etwas anderes lächerlich vor, dass ich nämlich wegen eines armseligen grauen Flecks, wegen eines Kleckses gestern so nachdenklich geworden bin und das in meinen Aufzeichnungen erwähnt habe. Auch das kommt eben von der »Aufweichung der Oberfläche«, die diamantenhart sein muss wie unsere gläsernen Mauern.
16 Uhr. Ich ging nicht zum Gemeinschaftsspaziergang. Wer weiß, vielleicht fiel es ihr ein, gerade jetzt zu kommen... Ich war fast allein im Hause. Durch die sonnenfunkelnden Wände konnte ich die lange Flucht der in der Luft schwebenden leeren Zimmer rechts, links und unter mir überblicken. Ein dichter, grauer Schatten kam die bläulich schimmernde Treppe herauf, deren Stufen im hellen Sonnenlicht kaum sichtbar waren. Ich hörte Schritte und sah, wie U an meiner Tür vorbeiging, mir zulächelte und dann die andere Treppe hinunterlief. Die Klappe des Numerators fiel. In dem schmalen weißen Feld erblickte ich eine mir unbekannte männliche Nummer (sie begann mit einem Konsonanten, daher wusste ich, dass es ein Mann war). Der Lift surrte, und die Tür wurde zugeschlagen. Vor mir finstere Brauen und eine vorspringende Stirn, die einem tief ins Gesicht gedrückten Hut glich, so dass man kaum die Augen sehen konnte. »Hier ist ein Brief für Sie«, sagte der Fremde. »Von ihr. Sie bittet Sie, alles genauso zu machen, wie sie Ihnen schreibt.«
Er spähte verstohlen nach allen Seiten. Aber es war niemand da. Endlich reichte er mir den Brief und ging hinaus. Ich war wieder allein.
Nein, nicht allein, der Umschlag strömte einen feinen Duft aus, ihren Duft, und er enthielt ein rosa Billett! Sie kommt, sie kommt zu mir! Schnell, schnell den Brief überfliegen, damit ich mich mit eigenen Augen überzeugen, es wirklich glauben kann... Aber was stand denn da? Ich las ihre Zeilen noch einmal:... Billett. Und schließen Sie auf alle Fälle die Gardinen, so, als wäre ich tatsächlich bei Ihnen. Es tut mir unsäglich leid...
Ich zerriss den Brief in kleine Fetzen. Im Spiegel sah ich meine zusammengezogenen Brauen. Ich nahm das Billett, um es gleichfalls zu zerreißen. »Sie bittet Sie, alles genauso zu machen, wie sie Ihnen schreibt...«
Meine Hände sanken kraftlos herab, das Billett fiel auf den Tisch. Sie war stärker als ich, ich musste tun, was sie befahl. Musste ich es wirklich? Nun, bis zum Abend war noch viel Zeit... Das Billett lag auf dem Tisch. Wie ärgerlich, dass ich kein ärztliches Attest für heute hatte. Ich wollte gehen, endlos lange gehen, die ganze Grüne Mauer entlang, und mich dann auf mein Bett werfen, mich fallen lassen. Aber ich musste zum Auditorium 13, musste zwei Stunden, zwei geschlagene Stunden auf einem Fleck sitzen, ohne mich zu rühren.
In der Vorlesung. Sonderbar — aus dem blinkenden Apparat klang nicht die gewohnte metallische Stimme, sondern eine andere, weich und zart wie Moos. Es war eine Frauenstimme, sie erinnerte mich an die der Alten im Alten Haus.
Das Alte Haus,.. alles schlug wie eine Woge über mir zusammen, ich musste an mich halten, um nicht laut aufzuschreien.
Ich lauschte der weichen Stimme, ohne die einzelnen Worte in mich aufzunehmen. Ich war wie eine fotografische Platte, alles zeichnete sich seltsam scharf darauf ab: die Lichtreflexe auf dem Lautsprecher, das Kind darunter — die lebendige Illustration der Vorlesung —, der kleine Mund, der an einem Zipfel der winzigen Uniform lutschte, die geballten Fäustchen, die Falten im Handgelenk. Ich registrierte: Jetzt baumelt ein nacktes Bein über den Tischrand, die
kleinen Hände greifen in die Luft, gleich wird das Kind herunterfallen. Da — ein Schrei. Eine Frau fliegt zum Podium, fängt das Kind auf, legt es auf die Mitte des Tisches und kehrt zu ihrem Platz zurück. Ich sah rosige, sanft geschwungene Lippen, feuchte blaue Augen. Es war O! Jäh erkannte ich die fast mathematische Gesetzmäßigkeit, die Notwendigkeit dieses unbedeutenden Zwischenfalls.
Sie saß eine Reihe hinter mir. Ich wandte mich um; gehorsam blickte sie von dem Kind auf dem Tisch weg und sah mich an. Sie, ich und der Tisch auf dem Podium waren drei durch eine Linie verbundene Punkte, und diese Linie bildete die Projektion unvermeidlicher, noch unsichtbarer Ereignisse.
Als ich nach Hause ging, lagen die Straßen in grünlicher Dämmerung, die Lampen glühten wie feurige Augen. In mir tickte eine Uhr. Im nächsten Augenblick würden die Zeiger eine gewisse Zahl überschreiten, und dann würde ich etwas Unerhörtes tun. Sie wollte, die Leute in ihrem Haus sollten denken, sie sei bei mir. Ich aber wollte sie, und was gingen mich ihre Wünsche an! Ich hatte keine Lust, um fremder Leute willen die Vorhänge zuzuziehen.
Tappende, schlurfende Schritte hinter mir. Ich drehte mich nicht um, weil ich wusste, dass es S war. Er folgt mir bis zur Haustür, dachte ich, dann wird er wahrscheinlich von der anderen Straßenseite aus mein Zimmer beobachten, bis ich die Vorhänge schließe, die das Verbrechen dieser Frau verbergen sollen ;.. Nein, er, mein Beschützer, mein Schutzengel, hatte die Sache entschieden — ich war fest entschlossen, die Vorhänge nicht zuzuziehen! Als ich in meinem Zimmer Licht machte, sah ich O, die an meinem Tisch stand. Sie hatte sich unheimlich ver-
ändert, die Kleider schlotterten um ihren Leib, ihre Arme hingen kraftlos herab, ihre Stimme klang matt und brüchig.
»Ich bin wegen meines Briefes gekommen. Haben Sie ihn erhalten? Ich muss eine Antwort haben — gleich.« Ich zuckte die Achseln und blickte vorwurfsvoll in ihre blauen Augen, als wäre sie an allem schuld. Nach langem Schweigen sagte ich boshaft, jedes Wort scharf betonend: »Eine Antwort? Sie haben ja recht, vollkommen recht. In allem.«
»Das heißt also...« Sie versuchte ihr Zittern hinter einem krampfhaften Lächeln zu verbergen, aber ich bemerkte es dennoch. »Gut. Ich werde sofort... sofort gehen.«
Doch sie rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb mit niedergeschlagenen Augen und mit hängenden Schultern stehen. Auf dem Tisch lag noch das zerknüllte rosa Billett der anderen. Ich versteckte es schnell unter einer Seite meines Manuskripts (vielleicht mehr vor mir selber als vor O).
»Da sehen Sie, ich schreibe ununterbrochen. 170 Seiten sind es schon... Es wird etwas ganz anderes, als ich selber vermutet habe... « Ihre Stimme — nur der Schatten einer Stimme: »Wissen Sie noch... die siebente Seite... ich weinte, und eine Träne fiel auf diese Seite — und Sie... « Sie hielt inne. Aus ihren großen blauen Augen stürzten Tränen. Erregt sagte sie:
»Ich kann nicht mehr, ich gehe... ich werde nie wiederkommen. Aber ich möchte... ich muss ein Kind von Ihnen haben. Schenken Sie mir ein Kind, und dann gehe ich für immer.« Ich sah, wie sie unter der Uniform am ganzen Leibe
zitterte, und ich fühlte, dass auch ich in diesem Augenblick... Ich legte die Hände auf den Rücken und sagte lächelnd: »Sie wollen wohl auf der Maschine des Wohltäters enden?«
»Das kümmert mich nicht! Aber ich fühle es doch schon in mir, fühle es ganz deutlich. Und wenn ich es nur einen Tag bei mir habe, nur ein einziges Mal die kleine Falte an seinem Ärmchen sehen kann, so wie dort auf dem Tisch.«
Ich musste wieder an die drei Punkte denken, sie und ich und das geballte Fäustchen auf dem Tisch im Auditorium.
Als Schuljungen wurden wir einmal auf den Akkumulatorenturm geführt. Auf der obersten Plattform beugte ich mich über das gläserne Geländer und blickte hinunter. Die Menschen drunten waren winzige Punkte. Ein leichter Schwindel überkam mich: Wie, wenn ich jetzt hinunterstürze? Damals klammerte ich mich mit aller Kraft an das Geländer, jetzt aber würde ich hinunterspringen. »Wollen Sie es wirklich? Obwohl Sie genau wissen... « Sie schlug ihre blauen Augen auf und lächelte unter Tränen: »Ja, ich will es!«
Ich zog das rosa Billett der anderen unter dem Manuskript hervor und lief zur Aufsicht hinunter. O fasste mich am Arm und schrie etwas, das ich aber erst verstand, als ich zurückkam. Sie saß auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet.
»Beeilen Sie sich... « Ich packte sie grob am Handgelenk (morgen wird sie blaue Flecken haben, genau an der Stelle, wo die kindliche Speckfalte ist). Dann wurde der Ausschalter gedreht, die Gedanken erloschen, Finsternis, Funken — und ich stürzte über die Brüstung in die Tiefe.

 

EINTRAGUNG NR. 20

Übersicht: Entladung. Ideenmaterial. Die Null-Klippe.

Entladung — das ist der passendste Ausdruck. Jetzt sehe ich, dass das alles eine elektrische Entladung war. In den letzten Tagen war mein Pulsschlag immer lauter, rascher, schmerzhafter geworden — die Pole kamen einander näher und näher — ein trockenes Knacken — noch ein Millimeter. Explosion, dann tiefe Stille. In mir ist es jetzt still und leer, wie in einem Hause, wenn alle Bewohner ausgegangen sind, während man selber krank zu Bett liegt und dem metallischen Hämmern der Gedanken lauscht.
Es mag sein, dass die »Entladung« mich endlich von der mich quälenden Seele geheilt hat und dass ich nun wieder so bin wie wir alle. Wenigstens sehe ich jetzt im Geist O auf den Stufen des Würfels, sehe sie unter der Gasglocke — und empfinde dabei nicht den geringsten Schmerz. Es ist mir auch gleichgültig, ob sie im Operationssaal meinen Namen angibt, in meiner letzten Minute werde ich dankbar und ergeben die strafende Hand des Wohltäters küssen. Dem Einzigen Staat gegenüber habe ich das Recht, eine Strafe zu erleiden, und dieses Recht lasse ich mir keinesfalls nehmen. Keine von uns Nummern kann und darf es wagen, auf dieses ihr einziges und darum um so teures Recht zu verzichten... ... Leise, metallisch-klar hämmerten meine Gedanken; irgendein Flugzeug trug mich in die blauen Höhen meiner geliebten Abstraktionen empor. In der reinen Höhenluft zerplatzten meine Betrachtungen über dieses »Recht«, und ich erkannte, dass es nur Reminiszenzen an lächerliche Vorurteile unserer Ahnen, an ihre Rechtsideen waren.
Es gibt Ideen, die einem irdenen Topf gleichen, und es gibt Ideen, die für die Ewigkeit aus Gold oder aus unserem kostbaren Glas gegossen sind. Um das Material einer Idee zu bestimmen, braucht man es nur mit einer stark wirkenden Säure zu beträufeln. Eine dieser Säuren war unseren Vorfahren bereits bekannt, die reductio ad finem. Ich glaube, so nannte man das damals; doch sie fürchteten dieses Gift, sie wollten irgend etwas vor sich sehen, ganz gleich, was es war, sie zogen einen Spielzeughimmel dem blauen Nichts vor. Wir aber — dem Wohltäter sei Dank — sind erwachsen, brauchen kein Spielzeug. Nehmen wir an, man würde die Idee Wahrheit mit Säure benetzen. Schon in alten Zeiten wussten die größten Geister, dass die Quelle der Wahrheit die Macht, die Wahrheit also eine Funktion der Macht ist. Oder stellen wir uns zwei Waagschalen vor: auf der einen liegt ein Gramm, auf der anderen eine Tonne, auf der einen das Ich, auf der anderen Wir, der Einzige Staat. Dem Ich irgendwelche Rechte dem Einzigen Staat gegenüber einzuräumen, wäre das gleiche, wie wenn man behaupten wollte, dass ein Gramm eine Tonne aufwiegen könne. Daraus ergibt sich der Schluss: Die Tonne hat Rechte, das Gramm Pflichten, und der einzige natürliche Weg von der Nichtigkeit zur Größe ist: Vergiss, dass du nur ein Gramm bist, und fühle dich als millionsten Teil einer Tonne. Ihr, üppige, rotwangige Venusbewohner, und ihr, Uranusmenschen, rußig wie Schmiede — ich höre in meiner blauen Stille euer Murren. Doch wisset: alles Erhabene ist einfach, wisset: unerschütterlich und ewig sind nur die vier Grundregeln der Arithmetik. Und nur die Moral wird erhaben, unerschütterlich und ewig bleiben, die sich auf diese vier Regeln gründet. Das ist die letzte Weisheit, die Spitze jener Pyramide, welche die
Menschen rot vor Anstrengung, ächzend und stöhnend jahrhundertelang zu erklimmen versuchten. Und wenn man von diesem Gipfel in die Tiefe blickt, wo gleich nichtigen Würmern noch etwas wimmelt, das von unseren unzivilisierten Ahnen her in uns fortlebt — wenn man von diesem Gipfel hinabblickt, sind alle gleich: O, die ungesetzliche Mutter, der Mörder und jener Wahnsinnige, der sich vermaß, den Einzigen Staat mit seinen Versen zu schmähen. Sie alle erwartet das gleiche Gericht: ein vorzeitiger Tod. Das ist nichts anderes als jene göttliche Gerechtigkeit, von der die Steinhausmenschen, von dem rosigen, naiven Morgenschein der Geschichte erleuchtet, phantasierten: ihr Gott — Schmach und Schande über die Heilige Kirche — strafte, indem er mordete.
Nun, ihr Uranusbewohner, düster und schwarz wie die alten Spanier, die sich so gut darauf verstanden, Menschen auf Scheiterhaufen zu verbrennen — was schweigt ihr? Ich glaube, ihr seid auf meiner Seite. Doch ich höre die rosigen Venusbewohner etwas von Foltern, Hinrichtungen, von der Rückkehr zu barbarischen Zuständen murmeln. — Ihr tut mir leid, meine Lieben, ihr seid nicht fähig, philosophisch-mathematisch zu denken. Die Geschichte der Menschheit bewegt sich in Kreisen nach oben, genau wie ein Flugzeug. Es gibt verschiedene solcher Kreise, goldene und blutige, aber sie sind alle in 360 Grad eingeteilt. Und nun geht es vom Nullpunkt vorwärts: 10, 20, 200, 360 Grad — und dann wieder zu ihm zurück. Ja, wir sind zum Nullpunkt zurückgekehrt! Aber für meinen mathematisch geschulten Verstand ist es völlig klar, dass dieser Nullpunkt etwas gänzlich anderes, Neues ist. Wir sind von Null nach rechts gegangen und kehren von links nach Null zurück, und deshalb haben wir statt plus null minus null. Verstehen Sie?
Ich sehe diese Null als ein riesiges, stummes, messerscharfes Felsenriff. In wilder, undurchdringlicher Finsternis stießen wir mit angehaltenem Atem in unserem Boot von der schwarzen Nachtseite der Klippe Null ab. Jahrhundertelang trieben wir, gleich Kolumbus, dahin, wir umfuhren die ganze Erde, und endlich — hurra! Salut! Vor uns lag die andere, bisher unbekannte Seite der Nullklippe im kalten Nordlicht des Einzigen Staates, ein blauer Klumpen, Funken eines Regenbogens, Sonne — Hunderte von Sonnen, Millionen Regenbogen... Was hat es schon zu bedeuten, dass nur ein messerdünner Grat uns von der anderen, der schwarzen Seite der Nullklippe trennt? Das Messer ist das Dauerhafteste, Unsterblichste und Genialste von allem, was der Mensch geschaffen hat. Das Messer war eine Guillotine, das Messer ist ein Universalmittel zur Lösung aller Knoten, und der Weg der Paradoxe führt auf des Messers Schneide entlang — der einzig würdige Weg eines furchtlosen Geistes.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur