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Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
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EINTRAGUNG NR. 11

Übersicht:... Nein, ich kann nicht. Also ohne Übersicht.

Abend. Leichter Nebel. Der Himmel ist mit goldenmilchigen Schleiern verhangen. Unsere Vorfahren wussten, dass dort ein gelangweilter Skeptiker wohnte, der größte ihrer Skeptiker — Gott. Wir wissen, diese kristallblaue Leere ist das nackte Nichts. Ich freilich weiß nicht, ob sich dahinter etwas verbirgt, denn ich habe zu vieles erfahren. Das Wissen, das von seiner Unfehlbarkeit überzeugt ist, nennt man Glauben. Ich besaß einen festen Glauben an mich selbst, ich glaubte mich bis in die letzten Winkel zu kennen. Und da ...
Ich stehe vor dem Spiegel, und zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich mich klar und bewusst. Ich betrachte mich verwundert wie einen Fremden. Das bin ich — nein, das ist jener andere: schwarze, gerade Brauen, dazwischen eine steile Falte wie eine tiefe Schramme (ich kann mich nicht entsinnen, ob sie früher schon da war). Stählerne graue Augen, darunter dunkle Schatten von der schlaflos verbrachten Nacht, und hinter diesem Stahl... Ich wusste nie, was dort war. Aus diesem »Dort« — es ist ganz
nahe und doch unendlich fern — blicke ich auf mich — auf den anderen, und ich bin sicher, dass jener mit den schnurgeraden Brauen ein Fremder ist. Ich kenne ihn nicht, ich begegne ihm zum ersten Mal im Leben. Aber das wahre Ich, das bin ich, nicht er... Nein, Unsinn! Diese Anwandlungen sind nur Fieberphantasien, eine Folge der gestrigen Vergiftung... Womit habe ich mich vergiftet — mit der grünen Flüssigkeit oder mit ihr? Darauf kommt es nicht an. Ich schreibe dies alles nur nieder, um zu zeigen, auf welch seltsame Abwege der exakte Verstand des Menschen geraten, wie er sich verlieren kann. Der gleiche Verstand, der es vermochte, die unseren Ahnen so schreckliche Unendlichkeit begreiflich zu machen durch...
Im Numerator fällt eine Klappe — R-13. Nun, mag er kommen. Ich freue mich sogar auf ihn. Ich möchte jetzt nicht allein sein.
20 Minuten später.
Auf der Fläche des Papiers, in der zweidimensionalen Welt, stehen diese Zeilen untereinander, doch in jener anderen Welt... Ich verliere das Gefühl für Zahlen: 20 Minuten — das ist vielleicht 200 oder gar 200.000. Es kommt mir höchst sonderbar vor, dass ich mein Gespräch mit R ruhig, gleichmäßig, jedes einzelne Wort genau abwägend niederschreiben soll. Mir ist dabei zumute, als säße ich mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel vor meinem Bett und beobachtete neugierig, wie ich mich auf diesem Bett hin und her werfe.
Als R-13 hereinkam, war ich völlig ruhig. Ehrlich belobte ich die Trochäen des Urteils, die sein Werk waren, und sagte, jener Wahnwitzige sei vor allem durch diese Trochäen bezwungen und vernichtet worden.
»Wenn man mir den Auftrag gegeben hätte«, setzte ich hinzu, »eine schematische Zeichnung von der Maschine des Wohltäters zu machen, dann hätte ich auf jeden Fall Ihre Verse beigefügt.«
Rs Augen verloren plötzlich allen Glanz, und seine Lippen wurden grau. »Was haben Sie?«
»Was ich habe? Ich habe es satt! Alle reden nur noch von diesem Urteil. Ich mag nichts mehr davon hören.« Er machte ein finsteres Gesicht und rieb sich den Rücken, diesen Koffer mit dem seltsamen Inhalt, den ich mir nicht zu deuten wusste. Pause. Er hatte etwas in seinem Koffer gefunden, zog es heraus, rollte es auf; seine Augen lachten, er sprang auf:
»Ich schreibe etwas für Ihren Integral, da ist es!« Er war wieder ganz der alte, seine Lippen schnalzten, die Worte sprudelten wie ein Springbrunnen. »Es ist die alte Legende vom Paradies... natürlich auf uns, auf die Gegenwart übertragen. Jene beiden im Paradies waren vor die Wahl gestellt: entweder Glück ohne Freiheit — oder Freiheit ohne Glück. Und diese Tölpel wählten die Freiheit — wie konnte es anders sein! Und die natürliche Folge war, dass sie sich jahrhundertelang nach Ketten sehnten. Darin war das ganze Elend der Menschheit beschlossen — sie gierte nach Ketten. Jahrhundertelang! Und wir erst sind dahinter gekommen, wie man das Glück wiedergewinnen kann... Unterbrechen Sie mich nicht. Der alte Gott und wir sitzen am gleichen Tisch. Jawohl! Wir haben Gott geholfen, endlich den Teufel zu überwinden — denn der Teufel war es ja, der die Menschen dazu trieb, das Verbot zu übertreten und von der verderblichen Frucht zu kosten, er, die höllische Schlange. Wir aber haben ihm den Kopf zertreten und sind so in das Paradies zurückgekehrt, sind wieder einfältig und unschuldig wie Adam und Eva. Es gibt kein Gut und Böse mehr. Alles ist unkompliziert und einfach geworden. Der Wohltäter, die Maschine, der Würfel, die Gasglocke, die Beschützer — all das ist erhaben und kristallklar. Es erhält unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist unser Glück. Die Menschen von einst hätten sich lange den Kopf zerbrochen, ob das eine Ethik sei oder nicht. Aber genug davon. Ist das nicht ein prächtiges Gedicht über das Paradies? Und ein so ernstes dazu!« Ich erinnere mich noch genau, dass ich dachte: Welch scharfer, klarer Verstand in dieser hässlichen, asymmetrischen Gestalt! Darum stand er mir auch so nahe, meinem wahren Ich (ich sehe mich trotz allem als mein früheres, wahres Ich; alles Gegenwärtige ist nur eine Krankheit). R hatte diesen Gedanken offenbar auf meiner Stirn gelesen, denn er schlug mir auf die Schulter und rief lachend: »Ach, Sie... Adam! Übrigens, Ihre Eva... « Er kramte in seiner Tasche und zog ein Notizbuch heraus. »übermorgen, nein, in drei Tagen, hat O ein rosa Billett für Sie. Wie wollen wir es machen? Wie immer? Soll sie mit Ihnen allein... « »Selbstverständlich.«
»Das meine ich auch. Sonst geniert sie sich, wissen Sie... Eine merkwürdige Geschichte! Mit mir hat sie nur eine Rosa-Billett-Affäre, aber mit Ihnen... Übrigens, sagen Sie, wer hat sich eigentlich als vierter in unser Dreieck eingeschlichen? Wer ist es — gestehen Sie, Sie Verführer!« In mir tat sich ein Vorhang auf, ich hörte das leise Rauschen von Seide, sah die Flasche mit der grünen Flüssigkeit, ein Lippenpaar...
»Sagen Sie«, entfuhr es mir, »haben Sie schon einmal Nikotin oder Alkohol gekostet?«
R schürzte die Lippen und blickte mich forschend an. Ich konnte seine Gedanken deutlich hören: Und du bist mein Freund?
»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Aber ich kannte eine Frau... « »I«, rief ich.
»Wie? Sie waren auch mit ihr zusammen?« Er schüttelte sich vor Lachen. Mein Spiegel hängt hinter dem Tisch, und von meinem Sessel aus konnte ich nur meine Brauen sehen. Sie zogen sich zusammen, und mein wahres Ich hörte einen wilden, widerwärtigen Schrei: »Was meinen Sie mit >auch<? Ich verlange... « R riss die Augen weit auf. Mein wahres Ich stürzte sich auf das andere, das Wilde, behaarte, keuchende, und sagte zu R: »Verzeihen Sie mir, um des Wohltäters willen. Ich bin schwer krank, ich kann nicht mehr schlafen. Ich begreife einfach nicht, was mit mir ist.« Die dicken Lippen lächelten flüchtig:
»Ich verstehe! Das ist mir alles bekannt — theoretisch natürlich. Leben Sie wohl!«
In der Tür wandte er sich um, kam noch einmal zurück und warf ein Buch auf den Tisch.
»Mein letztes Werk. Ich habe es für Sie mitgebracht, hätte es fast vergessen, Ihnen zu geben. Auf Wiedersehen!«
Ich war allein, oder richtiger: unter vier Augen mit diesem andern Ich. Ich saß mit übergeschlagenen Beinen im Sessel und beobachtete voller Neugier, wie ich mich auf dem Bett hin und her warf.
Wie kommt es nur, dass O und ich drei volle Jahre einträchtig miteinander gelebt haben — und jetzt bedarf es nur eines einzigen Wortes über sie... über I und... Gibt es diesen ganzen Unsinn von Liebe und Eifersucht
denn nicht nur in den Büchern unserer Ahnen? Und das muss mir widerfahren — mir! Ich bestehe doch nur aus Gleichungen, Formeln und Zahlen — und nun plötzlich dies! Ich begreife es nicht! Ach, ich werde morgen zu R gehen und ihm sagen...
Nein, ich gehe nicht, weder morgen noch übermorgen, ich gehe nie mehr zu ihm. Ich kann, ich will ihn nicht mehr sehen. Aus! Unser Dreieck ist zerstört. Ich bin allein. Abend. Leichter Nebel. Der Himmel ist mit milchig-goldenen Schleiern verhangen. Wenn ich nur wüsste, was sich dahinter verbirgt. Und wenn ich nur wüsste, wer ich bin!

 

EINTRAGUNG NR. 12

Übersicht: Begrenzte Unendlichkeit. Die Angel. Gedanken über Dichtung.

Ich glaube, ich kann wieder gesund werden. Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Keinerlei Träume oder andere krankhafte Symptome. Morgen kommt die liebe O zu mir, und alles wird so einfach, regelmäßig und begrenzt wie ein Kreis sein. Begrenztheit — ich fürchte es nicht, dieses Wort, denn die Arbeit des Größten, das der Mensch besitzt, die Arbeit des gesunden Verstandes, besteht ja in dem unablässigen Streben, die Unendlichkeit zu begrenzen, sie in bequeme, leicht fassliche Portionen, in Differentiale aufzuspalten. Darin liegt die göttliche Schönheit meines Faches, der Mathematik. Und ihr, jener I, fehlt jegliches Verständnis für diese Schönheit. Das ist übrigens eine rein zufällige Assoziation. All das ging mir bei dem rhythmischen, metrischen Räder-
rollen der U-Bahn durch den Kopf. In Gedanken skandierte ich das Stoßen der Räder und die Verse von R (ich las in seinem Buch, das er mir gestern gegeben hat): Plötzlich merkte ich, wie jemand hinter meinem Rücken sich vorbeugte und über meine Schulter auf die aufgeschlagene Seite des Buches blickte. Ohne mich umzudrehen, sah ich mit einem Blick aus den Augenwinkeln rosa abstehende Ohren und etwas doppelt Gekrümmtes... ihn! Ich wollte ihn nicht stören und tat, als bemerkte ich ihn nicht. Wie er hierher gekommen war, wusste ich nicht; als ich einstieg, saß er, glaube ich, noch nicht in dieser Bahn. Dieser an sich recht unbedeutende Vorfall hatte eine starke Wirkung, ich möchte fast sagen, er gab mir neue Kraft. Es ist so beruhigend, den Blick eines scharfen Auges zu fühlen, das einen liebevoll vor dem kleinsten Fehler, vor dem kleinsten Seitensprung bewahrt. Vielleicht klingt das sentimental, aber mir fiel wieder jene Analogie ein: die Schutzengel, von denen unsere Ahnen phantasierten. Ja, so vieles, von dem sie nur träumten, ist in unserem Leben Wirklichkeit geworden. In dem Augenblick, als ich meinen Schutzengel hinter mir wusste, las ich gerade ein Sonett mit dem Titel Glück. ich glaube, ich täusche mich nicht, wenn ich dieses Werk in seiner Schönheit und Gedankentiefe als wahrhaft einzigartig bezeichne. Die ersten vier Zeilen lauten:
Ewig Verliebte sind zwei mal zwei, ewig vereint als selige vier, heißeste Liebe auf Erden hier — die unzertrennlichen zwei mal zwei...
Und so geht es weiter von dem weisen, ewigen Glück des Einmaleins. Jeder echte Dichter ist ein Kolumbus. Amerika hat schon vor Kolumbus jahrhundertelang existiert,
doch erst Kolumbus hat es entdeckt. Das Einmaleins existiert ebenso schon viele Jahrhunderte vor R-13, doch erst er vermochte im jungfräulichen Dickicht der Zahlen ein neues Dorado zu entdecken. In der Tat, gibt es irgendwo sonst ein weiseres, wolkenloseres Glück als in dieser Wunderwelt?
Der alte Gott schuf den alten Menschen, das heißt, einen Menschen, der die Fähigkeit besaß, zu irren — folglich hat auch Gott selbst geirrt. Das Einmaleins ist weiser und absoluter als der alte Gott, es irrt sich niemals, hören Sie, niemals! Und niemand ist glücklicher als Zahlen, Nummern, die nach den harmonischen, ewigen Gesetzen des Einmaleins leben. Keine Unklarheiten, kein Irren. Es gibt nur eine Wahrheit, nur einen rechten Weg — diese Wahrheit ist zwei mal zwei, und dieser Weg ist vier. Wäre es nicht absurd, wenn diese beiden glücklich und ideal miteinander multiplizierten zwei plötzlich anfingen, an Freiheit, an einen Fehler zu denken? Für mich ist es ein Axiom, dass R-13 das Grundlegende, das... Da spürte ich wieder den warmen Atem meines Schutzengels, zuerst im Nacken, dann am linken Ohr. Er hatte offenbar bemerkt, dass das Buch auf meinen Knien zugeklappt war und dass meine Gedanken in weite Fernen schweiften. Ich war sogleich bereit, alle Seiten meines Gehirns vor ihm aufzuschlagen: das ist ein sehr beruhigendes, beglückendes Gefühl. Ich erinnere mich, dass ich mich sogar umdrehte, ihm hartnäckig, flehend in die Augen blickte; doch er verstand nicht, er wollte nicht verstehen — und sagte kein Wort... Mir bleibt nur eines: ich muss Ihnen, lieber Leser, alles erzählen (Sie sind mir jetzt ebenso teuer und nah — und unerreichbar fern — wie er damals). Der Weg, den ich in Gedanken zurücklegte, führte mich
vom Teil zum Ganzen. Der Teil ist R-13, das erhabene Ganze ist unser Institut staatlicher Dichter und Schriftsteller. Ich stellte folgende Überlegungen an: Wie hatten die Menschen von einst nicht erkennen können, dass ihre ganze Literatur und Dichtung ein einziger Unsinn war? Die majestätische Kraft des dichterischen Wortes wurde sinnlos vergeudet. Jeder schrieb, was ihm gerade einfiel. Das ist genauso lächerlich und dumm wie etwas anderes aus der alten Zeit: Damals schlug das Meer volle vierundzwanzig Stunden stumpfsinnig gegen die Küste, und die in den Wogen eingeschlossenen Millionen Kilogrammmeter dienten nur dazu, die Gefühle der Verliebten zu erwärmen. Wir aber haben aus dem verliebten Geflüster der Wellen Elektrizität gewonnen, wir haben die rasende, schäumende Bestie zum Haustier gemacht, und genauso haben wir das einst wilde Element der Poesie gezähmt und gesattelt. Heute ist die Dichtung kein süßliches Nachtigallenschluchzen, sie ist Dienst am Staat, sie ist etwas Nützliches.
Nehmen wir zum Beispiel unsere berühmten Mathematischen Nonen — hätten wir ohne sie in der Schule die vier Grundrechnungsarten so aufrichtig lieben gelernt? Oder die Dornen — ein geradezu klassisches Bild: Die Beschützer sind die Dornen an der Rose, sie schützen die zarte Blume des Staates vor rohen Händen... Nur ein Herz aus Stein bleibt ungerührt, wenn unsere unschuldigen Kinder wie ein Gebet die Worte lallen: »Der böse Bub wollte die Rose brechen, aber der stählerne Dorn stach ihn wie eine Nadel. Au, au! Der Schelm, er läuft nach Hause...« usw. Und die Täglichen Oden auf den Wohltäter. Jeder, der sie gelesen hat, neigt sich in frommer Ehrfurcht vor der selbstlosen Arbeit dieser Nummer aller Nummern. Und die roten Blüten der Gerichtsurteile, die unsterbliche Tragödie Zu spät zur Arbeit gekommen und das Volksbuch Stanzen über Geschlechtshygiene. Das Leben in all seiner Mannigfaltigkeit und Schönheit ist auf ewig in das Gold dieser Werke gefasst. Unsere Dichter schweben nicht mehr in höheren Regionen, sie sind zur Erde herabgestiegen. Im gleichen Schritt marschieren sie mit uns unter den Klängen der strengen, mechanischen Marschmusik der Musikfabrik. Ihre Leier ist das morgendliche Surren der elektrischen Zahnbürsten, das drohende Funkenknistern in der Maschine des Wohltäters, das intime Plätschern im kristallklaren Nachttopf, das erregende Rauschen der sich schließenden Gardinen, die fröhlichen Stimmen des neuesten Kochbuchs und das leise Geflüster der Straßenmembranen. Unsere Götter sind hier auf Erden, sie stehen neben uns im Büro, in der Küche, in der Werkstatt, im Schlafzimmer; die Götter sind geworden wie wir, also sind wir wie Götter geworden. Liebe Leser auf fernen Planeten, wir werden zu Ihnen kommen, damit Ihr Leben ebenso göttlich-vernünftig und exakt wie das unsere werde.

 

EINTRAGUNG NR. 13

Übersicht: Nebel. Du. Eine dumme Geschichte.

In der Morgendämmerung erwachte ich und blickte zu der starken, rosigen Himmelsfeste auf. Alles war gut. Am Abend würde O zu mir kommen. Ich war gewiss genesen. Ich lächelte und schlief wieder ein.
Der Wecker rasselt, ich stehe auf, und alles ist verändert. Hinter dem Glas der Decke, der Wände, überall sehe ich bleichen Nebel. Wilde Wolken, immer schwerer, immer
näher — und schon ist die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwunden, alles fliegt, fällt, zerfließt, findet nirgends einen Halt. Es gibt keine Häuser mehr, die gläsernen Mauern haben sich im Nebel aufgelöst wie Salzkristalle im Wasser. Wenn man von der Straße her in die Häuser blickt, gleichen die Menschen da drinnen den unlöslichen Teilchen in einer gärenden, milchigen Lösung. Und alles raucht — vielleicht rast irgendwo eine Feuersbrunst.
11.45 Uhr. Vor Beginn der täglichen körperlichen Arbeit, die das Gesetz vorschreibt, ging ich rasch auf mein Zimmer. Plötzlich läutete das Telefon... eine Stimme, die sich wie eine lange, feine Nadel in mein Herz bohrte: »Ah, Sie sind zu Hause? Freut mich sehr. Warten Sie an der Ecke auf mich. Ich gehe mit Ihnen... wohin, das sage ich Ihnen später.« »Sie wissen, dass ich jetzt zur Arbeit muss.« »Sie wissen, dass Sie tun werden, was ich Ihnen sage. Auf Wieder sehn. In zwei Minuten.«
Zwei Minuten später stand ich an der Ecke. Ich musste ihr doch beweisen, dass der Einzige Staat über mich zu bestimmen hatte und nicht sie. »Sie werden tun, was ich Ihnen sage...« Sie war wirklich davon überzeugt, ich hatte es an ihrer Stimme gehört. Nun, ich würde ihr ungeschminkt sagen, was ich dachte... Graue, aus feuchtem Dunst gewebte Uniformen huschten vorbei und lösten sich nach wenigen Schritten im Nebel auf. Ich starrte auf die Uhr — zehn, drei, zwei Minuten vor zwölf. Zu spät, um zur Arbeit zu gehen. Wie ich diese Frau hasste! Aber ich musste ihr ja beweisen... Im blassen Nebel schimmerte etwas Blutrotes — ein Mund. »Ich glaube, ich habe Sie warten lassen, aber jetzt haben Sie sich ohnehin verspätet.«
Wie ich sie... Übrigens hatte sie recht, es war tatsächlich zu spät.
Sie trat dicht an mich heran, unsere Schultern berührten sich, wir waren allein. Irgend etwas strömte aus ihr in mich hinein, und ich wusste, es musste so sein. Ich wusste es mit jedem Nerv, mit jedem schmerzlich-süßen Schlag meines Herzens. Mit unsäglicher Freude überließ ich mich diesem Gefühl. So freudig muss ein Eisenstück sich dem unabänderlichen, ewigen Gesetz unterwerfen und sich an einem Magneten festsaugen. So muss ein emporgeschleuderter Stein eine Sekunde lang stillstehen und dann in steilem Flug zur Erde hinabstürzen. So muss ein Mensch nach schwerer Agonie Atem schöpfen, ein letztes Mal — und dann sterben.
Ich erinnere mich, dass ich zerstreut lächelte und ganz unvermittelt sagte: »Es ist neblig... « »Liebst du den Nebel?«
Dieses alte, längst vergessene Du, mit dem die Herrin einst ihren Sklaven anredete — auch das musste sein, auch das war gut.
»Ja, gut...«, sagte ich laut vor mich hin. Und dann zu ihr: »Ich hasse den Nebel, ich fürchte ihn.« »Also liebst du ihn. Du fürchtest ihn, weil er stärker ist als du, du hasst ihn, weil du ihn fürchtest, du liebst ihn, weil du ihn nicht bezwingen kannst. Denn man kann nur das Unbezwingbare lieben.«
»Ja, das ist wahr. Und zwar darum, weil... weil ich... « Wir gingen zu zweien, allein. Irgendwo in der Weite schimmerte die Sonne kaum sichtbar durch den Nebel; alles füllte sich mit etwas Weichem, Goldenem, Rosigem, Rotem. Die ganze Welt war eine riesige Frau, und wir ruhten in ihrem Schoß, wir waren noch nicht geboren,
wir reiften freudig heran. Ich wusste — die Sonne, der Nebel, das Rosige, Goldene, all das war für mich, nur für mich...
Ich fragte nicht, wohin wir gingen. Mir war alles gleich, ich wollte nur gehen, gehen und reifen... »Wir sind da«, sagte I und blieb vor einer Tür stehen. »Heute hat gerade einer meiner Freunde Dienst. Ich habe dir damals im Alten Haus von ihm erzählt.« Ich sah ein Schild Gesundheitsamt und begriff alles. Ein gläsernes, von goldenem Nebel erfülltes Zimmer. Gläserne Wandregale mit buntschillernden Flaschen und Fläschchen. Elektrische Leitungen, bläuliche Funken in den Röhren. Und ein winzig kleiner Mensch. Er sah aus, als hätte man ihn aus Papier ausgeschnitten, und wie er sich auch drehte, er hatte immer nur ein Profil, ein scharfes Profil: eine blitzende Schneide — die Nase, eine Schere — die Lippen.
Ich hörte nicht, was I zu ihm sagte, ich sah nur, wie sie sprach, und fühlte, dass ich glücklich lächelte. Die scherenartigen Lippen blitzten, und der kleine Doktor antwortete: »So, so. Ich verstehe. Eine höchst gefährliche Krankheit, die schlimmste, die ich kenne...« Er lachte, die winzige, papierene Hand schrieb irgend etwas und reichte jedem von uns ein Blatt Papier. Es waren Atteste, dass wir krank seien und nicht zur Arbeit gehen könnten. Ich hatte den Einzigen Staat um meine Arbeit betrogen, ich war ein Verbrecher, ich würde durch die Maschine des Wohltäters enden. Doch das alles war jetzt so fern, so gleichgültig... Ich nahm das Blatt, ohne zu zögern; ich wusste, mit Augen, Lippen und Händen wusste ich, dass es so sein musste.
In der halbleeren Garage an der Ecke mieteten wir ein Flugzeug. I setzte sich ans Steuer, drückte den Starter auf
Vorwärts, und wir lösten uns von der Erde, wir schwebten. Hinter uns rosig-goldener Nebel, Sonne. Das winzige, scharfe Profil des kleinen Doktors war mir mit einemmal unendlich lieb und nah. Früher hatte sich alles um die Sonne gedreht: jetzt, wusste ich, drehte sich alles um mich...
Wir standen vor der Tür des Alten Hauses. Die alte Pförtnerin lachte uns entgegen. Ihr runzliger Mund war wohl die ganze Zeit fest verschlossen gewesen, wie zugewachsen, nun aber öffnete er sich und sprach lächelnd: »Nein, so etwas! Statt zu arbeiten wie alle anderen... Nun, wenn irgend etwas ist, komme ich herein und sage euch Bescheid.«
Die schwere, undurchsichtige Tür fiel knarrend zu, und zugleich öffnete sich mein Herz, öffnete sich schmerzlich weit. Ihre Lippen und meine. Ich trank, trank, riss mich von ihrem Mund los, blickte stumm in ihre großen Augen — und küsste sie wieder.
Im halbdunklen Zimmer. Blau, safrangelb, dunkelgrünes Leder, das goldene Lächeln des Buddha, der blitzende Spiegel. Und mein Traum von damals — wie klar wurde er mir jetzt: alles in mir war mit golden-rosigem Saft durchtränkt, im nächsten Augenblick musste er überfließen, versprühen...
Und unausweichlich, wie Eisen vom Magneten angezogen wird, floss ich in sie, mich dem unabänderlichen, ewigen Zwang des Gesetzes beugend. Es gab kein rosa Billett, keinerlei Berechnung, keinen Einzigen Staat mehr; auch ich hatte aufgehört zu existieren. Da waren nur noch spitze, zärtliche, zusammengepresste Zähne, weitgeöffnete Augen, durch die ich langsam in die Tiefe hinabstieg. Totenstille — nur in der Zimmerecke, tausend Meilen entfernt, tröpfelte das Wasser im Waschbecken, und ich war
das Weltall, zwischen dem Fall jedes einzelnen Tropfens lagen ganze Epochen...
Ich warf hastig meine Uniform über, sah I an und nahm sie ein letztes Mal mit den Blicken in mich auf. »Ich wusste es, ich wusste, wie du bist...«, sagte sie leise. Sie erhob sich, kleidete sich an, und das bissige Lächeln zuckte wieder um ihren Mund:
»Nun, Sie gefallener Engel? Jetzt sind Sie verloren. Haben Sie keine Angst? Leben Sie wohl! Sie werden allein zurückkehren.«
Sie öffnete die Tür des Spiegelschranks, blickte mich über die Schulter an und wartete, dass ich ging. Gehorsam verließ ich das Zimmer. Doch kaum stand ich auf der Schwelle, da fühlte ich, dass sie noch einmal ihre Schulter an meine lehnen musste...
Ich lief ins Zimmer zurück, wo sie wahrscheinlich vor dem Spiegel ihre Uniform zuknöpfte — und blieb wie angewurzelt stehen. Ich sah, dass der Ring am Schlüssel des Schranks noch hin- und herpendelte, aber I war verschwunden. Sie konnte nicht hinausgegangen sein, das Zimmer hatte nur eine Tür — und trotzdem war sie nicht mehr da. Ich suchte in allen Ecken und Winkeln, ich machte sogar den Schrank auf und befühlte die bunten, altmodischen Kleider — niemand.
Es ist mir sehr peinlich, lieber Leser, dass ich Ihnen von diesem höchst unnatürlichen Vorfall berichten muss. Aber was soll ich tun, da es nun einmal so gewesen ist? Der ganze Tag war ja vom frühen Morgen an voller Unwahrscheinlichkeiten, er war wie jene alte Krankheit, der Traum. Im übrigen bin ich fest davon überzeugt, dass es mir früher oder später gelingen wird, jede Art von Widersinn in irgendeinen Syllogismus zu fassen. Das beruhigt mich, und hoffentlich auch Sie.

 

EINTRAGUNG NR.. 14

Übersicht: »Mein«. Unmöglich, ich kann nicht. Der kalte Fußboden.

Noch immer von den gestrigen Ereignissen. Gestern war ich in meiner Persönlichen Stunde vor dem Schlafengehen beschäftigt und kam nicht zum Schreiben. Am Abend wollte die liebe O zu mir kommen, es war ihr Tag. Ich ging zum Hausmeister, um mir eine Bescheinigung zu holen, die mich berechtigte, die Gardinen zu schließen.
»Was haben Sie denn?« fragte mich der Hausmeister, »Sie sind heute so sonderbar.« »Ich... ich bin krank.«
Es war die Wahrheit, ich bin wirklich krank. Das alles ist nur eine Krankheit, nichts weiter. Plötzlich fiel mir ein: Ich hatte ja ein Attest... Ich griff in meine Tasche — da knisterte etwas, Ich hatte das also nicht geträumt... Ich reichte dem Hausmeister das Attest. Ich fühlte, wie meine Wangen zu brennen begannen; ohne aufzublicken wusste ich, dass der andere mich verwundert betrachtete. 21.30 Uhr. Im Zimmer links sind die Vorhänge zugezogen. Im Zimmer rechts sehe ich meinen Nachbar sitzen. Er hat seinen kahlen, mit kleinen Pickeln und Pusteln übersäten Kopf über ein Buch geneigt, und seine Stirn ist eine riesige gelbe Parabel. Ich gehe gequält im Zimmer auf und ab: Was soll ich, nach allem, was geschehen ist, mit O? Und mein Nachbar — ich fühle, dass seine Blicke auf mir ruhen, ich sehe die Runzeln auf seiner Stirn, es sind unklare Zeilen, und mir scheint, diese Zeilen beziehen sich auf mich. Um 21.45 Uhr kam ein heiterer, rosiger Wirbelwind in
mein Zimmer, zwei rosige Arme umschlangen meinen Hals. Doch der Ring um meinen Nacken lockerte sich immer mehr. O ließ die Arme sinken. »Sie sind so anders, nicht wie sonst, Sie sind nicht mehr mein!«
»Was ist denn das für ein unzivilisierter Ausdruck — mein? Ich war niemals...« Ich stockte. Früher hatte ich niemandem gehört, fuhr es mir durch den Kopf, aber jetzt... Jetzt lebte ich nicht mehr in unserer vernünftigen Welt, sondern in der alten, phantastischen, in der Welt der √-1.
Die Vorhänge schlossen sich. Mein Nachbar ließ sein Buch fallen, und durch die kleine Spalte zwischen Fußboden und Vorhang sah ich, wie seine gelbe Hand das Buch aufhob. Ich hätte mich am liebsten an diese Hand geklammert.
»Ich dachte, ich würde Sie heute Abend beim Spaziergang treffen. Ich habe Ihnen so viel zu erzählen... « Liebe, arme O! Ihr rosiger Mund war ein Halbmond, dessen Enden nach unten zeigten. Aber ich konnte ihr unmöglich alles erzählen, was geschehen war, schon deshalb nicht, weil ich sie damit zur Mitwisserin meiner Verbrechen machen würde. Ich wusste, dass sie nicht Kraft genug besaß, um zu den Beschützern zu gehen, und darum...
O legte sich hin, ich küsste sie flüchtig. Ich küsste die kindliche Falte an ihrem Handgelenk; ihre blauen Augen waren geschlossen, um ihre Lippen spielte ein Lächeln, ich bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
Mit einemmal wurde mir bewusst, wie sehr ich mich am Morgen verausgabt hatte. Nein, ich konnte nicht. Ich musste — doch ich konnte nicht. Meine Lippen wurden starr und kalt...
Ich saß neben dem Bett auf dem Fußboden — welch unerträgliche Kälte! — und schwieg. Die gleiche stumme Kälte herrschte wahrscheinlich auch dort oben, in den blauen, stummen Himmelsräumen.
»Begreifen Sie doch, ich... ich wollte nicht...«, stammelte ich, »ich habe mit aller Kraft versucht...« Das war keine Lüge, ich, mein wahres Ich, wollte sie nicht kränken. Und dennoch musste ich ihr jetzt alles sagen. Aber wie sollte ich ihr klarmachen, dass das Eisenstück nicht wollte, obwohl das Gesetz unabänderlich ist? Sie hob das Gesicht aus den Kissen und sagte mit geschlossenen Augen: »Gehen Sie, gehen Sie.«
Von eisigem Frost geschüttelt, ging ich in den Korridor. Jenseits der gläsernen Mauer sah ich ferne, feine Nebelschleier. In der Nacht würde sich dieser Nebel verdichten und alles einhüllen.
Und was würde nach dieser Nacht sein? O eilte stumm an mir vorbei zum Lift und schlug die Tür zu.
»Einen Augenblick!« rief ich ihr nach. Mir war elend zumute. Doch der Lift glitt summend nach unten... Sie hat mir R genommen, sie hat mir O genommen. Und trotzdem, trotzdem...

 

EINTRAGUNG NR. 15

Übersicht: Die Glocke. Das Spiegelmeer. Ich muss ewig brennen.

Auf der Werft, wo der Integral gebaut wird, kam mir der zweite Konstrukteur entgegen. Sein Gesicht war wie
immer, rund, weiß, flach, einem Porzellanteller ähnlich, und auf diesem Teller wurde mir nun etwas widerlich Süßes serviert. Er sagte:
»Sie beliebten krank zu sein, und während Ihrer Abwesenheit, in Abwesenheit des allerhöchsten Chefs, ist gestern etwas geschehen... « »Was?«
»Stellen Sie sich vor, als es zur Mittagspause läutete und wir hinausgingen, erwischte einer von uns einen umnumerierten Menschen! Ich kann einfach nicht fassen, wie er hereingekommen ist. Man hat ihn ins Operationsbüro gebracht, dort werden sie aus dem Täubchen schon herausholen, wieso und warum... « Er lächelte süßlich. Im Operationsbüro arbeiten unsere erfahrensten Ärzte unter der unmittelbaren Aufsicht des Wohltäters. Dort gibt es allerlei Vorrichtungen und Geräte, vor allem die Gasglocke. Sie beruht im wesentlichen auf dem gleichen Prinzip wie die wohlbekannte Glasglocke unserer Ahnen: Man setzte eine Maus unter die Glocke, saugte die Luft heraus, und so weiter. Nur ist unsere Gasglocke ein weit vollkommenerer Apparat, sie arbeitet mit verschiedenen Gasen, und außerdem dient sie nicht dazu, kleine schutzlose Tiere zu quälen, sondern sie schützt den Einzigen Staat und damit das Glück von Millionen Menschen. Vor etwa fünfhundert Jahren, als das Operationsbüro gerade erst mit seiner Arbeit begonnen hatte, wurde es von ein paar Narren mit der Inquisition unserer Vorfahren verglichen, doch das ist genauso absurd, wie wenn man einen Chirurgen, der eine Tracheotomie-Operation durchführt, auf eine Stufe mit einem Mörder stellen wollte. Beide gebrauchen vielleicht das gleiche Messer, beide führen die gleiche Operation durch — sie schneiden einem Menschen die Kehle durch: Der eine ist ein Helfer der Menschheit
und der andere ein Verbrecher. Der eine trägt ein Pluszeichen, der andere ein Minuszeichen. Das war so klar und einfach, dass ich es in einer Sekunde, in einer einzigen Umdrehung der logischen Maschine begriff. Doch plötzlich blieben die Zahnrädchen an einem kleinen Minus hängen, und ein anderer Gedanke drängte an die Oberfläche: der Ring an der Schranktür hatte hin-und hergependelt. Also war die Tür gerade erst zugeschlagen worden, aber I war spurlos verschwunden. Das konnte die Maschine nicht kontrollieren. Ein Traum? Doch ich spürte ja noch einen seltsam süßen Schmerz in meiner rechten Schulter. An diese Schulter gelehnt, war I mit mir durch den Nebel gegangen...
»Liebst du den Nebel?« Ja, auch den Nebel, ich liebte alles, alles. Und alles war neu und wunderbar... »Alles ist gut...«, sagte ich vor mich hin. »Gut?« Die runden Porzellanaugen starrten mich erschrocken an. »Was ist gut? Wenn dieser Kerl ohne Nummer hier herumschnüffelt... Sie sind überall, die ganze Zeit sind sie hier beim Integral, sie... « »Wer?«
»Wie soll ich das wissen? Aber ich fühle, dass sie unter uns sind, die ganze Zeit.«
»Haben Sie schon gehört, dass man jetzt die Phantasie wegoperieren kann?« (Ich hatte tatsächlich vor kurzem davon gehört.)
»Ich weiß. Aber was hat das mit dieser Sache zu tun?« »An Ihrer Stelle würde ich zum Arzt gehen und mich operieren lassen.«
Er zog ein säuerliches Gesicht. Der Gute, selbst die kleinste Anspielung darauf, dass er Phantasie haben könnte, kränkte ihn zutiefst. Vor einer Woche hätte auch mich das beleidigt, jetzt ist es anders, denn ich weiß, dass ich
Phantasie habe, dass ich krank bin. Und ich weiß auch, dass ich nicht gesund werden will.
Es verlangt mich einfach nicht danach. Wir stiegen die gläserne Treppe zum Integral hinauf. Die Werft unter uns lag wie auf der flachen Hand ausgebreitet. Lieber unbekannter Leser, wer Sie auch sein mögen, auch über Ihnen scheint die Sonne. Wenn Sie schon einmal so krank waren, wie ich es jetzt bin, dann wissen Sie, was Morgensonne ist, was sie sein kann. Sie kennen es, dieses rosige, warme Gold. Die Luft selbst scheint rosig, alles ist vom warmen Sonnenblut durchtränkt, alles lebt. Die Steine sind weich und lebendig, das Eisen lebt und glüht, die Menschen sind voller Leben und Freude. Schon in einer Stunde wird das alles vielleicht nicht mehr sein, aber noch ist es da.
Auch in dem gläsernen Leib des Integral pulsiert etwas; der Integral dachte an seine große, furchtbare Zukunft, an die schwere Last des unvermeidlichen Glückes, die er zu Ihnen hinauftragen soll, lieber Unbekannter, der da ewig sucht und niemals findet. Sie werden finden und glücklich sein, Sie haben die Pflicht, glücklich zu sein, Sie brauchen nicht mehr lange zu warten, der Rumpf des Integral ist fast vollendet, ein anmutiges Ellipsoid aus unserem Glas, dauerhaft wie Gold und biegsam wie Stahl. Ich beobachtete, wie man die Spanten und Längsrippen in dem gläsernen Leib befestigte, wie man im Heck das Lager für den gigantischen Raketenmotor einmontierte. Alle drei Sekunden eine Explosion, alle drei Sekunden wird der Integral Flammen und Gase in den Weltraum speien und unaufhaltsam vorwärtsstürmen, ein feuriger Tamerlan des Glückes...
Ich blickte hinunter auf die Werft. Nach Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell, im gleichen Takt, genauso wie die
Hebel einer riesigen Maschine, bückten die Menschen sich, richteten sich auf, drehten sich. In ihren Händen blitzten dünne Stäbe: mit Feuer schnitten und löteten sie Platten, Winkelmaße, Spanten und Winkelknie. Gläserne Riesenkrane rollten langsam über gläserne Schienen, drehten und neigten sich ebenso gehorsam wie die Menschen und senkten ihre Last in den Leib des Integral. Und diese vermenschlichten Krane und diese vollkommenen Menschen waren eins. Welch eine ergreifende, vollkommene Schönheit, Harmonie, Musik... Schnell hinunter zu ihnen, ich musste bei ihnen sein!
Ich arbeitete Schulter an Schulter mit ihnen, im gleichen stählernen Rhythmus... gleichmäßige Bewegungen, straffe rote Wangen, spiegelklare Augen und Stirnen, ungetrübt vom Wahn des Denkens. Ich schwamm in einem Spiegelmeer. Da sagte jemand zu mir: »Geht es Ihnen heute wieder besser?« »Wieso besser?«
»Sie waren doch gestern nicht da. Wir dachten schon, Sie seien ernstlich krank.« Seine Augen strahlten, er lächelte kindlich-unschuldig.
Mir schoss das Blut in die Wangen. Ich konnte diese Augen nicht belügen, ich konnte es nicht. Ich schwieg... In der Luke über mir erschien ein lachendes, porzellanweißes Gesicht:
»Hallo, D-503! Bemühen Sie sich bitte einmal herauf! Wir bauen gerade... «
Was er weiter sagte, hörte ich nicht mehr, ich stürzte Hals über Kopf nach oben, ich rettete mich schimpflich durch die Flucht. Ich hatte keine Kraft, aufzublicken; die gläsernen Stufen unter meinen Füßen schwankten, und mit jeder Stufe wurde meine Lage hoffnungsloser: ein versuchter Verbrecher wie ich hatte hier nichts zu suchen. Nie mehr kann ich in den exakten, mechanischen Rhythmus einfließen, nie mehr über das stille Spiegelmeer schwimmen. Ich muss ewig brennen, ruhelos hin und her jagen, einen Winkel suchen, in dem ich meine Augen verbergen kann — ewig, bis ich endlich die Kraft aufbringe, hinzugehen und...
Ein eisiger Schauer packte mich: es ging ja nicht allein um mich, ich musste auch an sie, an I, denken. Was würde dann mit ihr geschehen?
Ich stieg durch die Luke aufs Deck und blieb stehen. Ich wusste nicht, weshalb ich heraufgekommen war. Ich blickte auf. Über mir die trübe, matte Mittagssonne, unter mir der Integral, grau, starr, leblos. Das hellrote Blut, das in diesem riesigen Körper pulsiert hatte, war hinausgeflossen, und ich erkannte, dass meine Phantasie mir einen Streich gespielt hatte, dass alles wie früher war. »Hallo! 503! Sind Sie taub? Ich rufe und rufe... Was ist denn mit Ihnen?« sagte der zweite Konstrukteur dicht neben mir. Er musste schon lange gerufen haben, doch ich hörte ihn nicht. Ja, was ist mit mir? Ich habe das Steuer verloren, das Flugzeug rast weiter, aber ich habe das Steuer verloren, ich weiß nicht, ob ich hinabstürze zur Erde oder ob ich hinaufstürme, höher, immer höher, in die feurige Sonne...

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