Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Jewgenij Samjatin - Wir (1920)
http://nemesis.marxists.org

EINTRAGUNG NR. 31

Übersicht: Die große Operation. Ich habe alles verziehen. Zusammenstoß.

Gerettet! Im allerletzten Augenblick, da es schon so aussah, als gäbe es nirgends einen Halt, als wäre alles aus... So, als wäre man schon die Stufen zur Maschine des Wohltäters hinaufgestiegen, als hätte sich der gläserne Schirm mit dumpfem Klirren über einem geschlossen, als sähe man sich zum letzten Mal mit weitgeöffneten Augen an dem blauen Himmel satt...
Und plötzlich entdeckt man, dass alles nur ein Traum war. Die Sonne strahlt rosig und heiter, und die Mauern — wie wohl tut es, mit der Hand die kalte Mauer zu streicheln — und das Kopfkissen — wie berauscht man sich an der kleinen Vertiefung, die der Kopf in das Kissen gedrückt hat... Das alles empfand ich, als ich heute morgen die Staatszeitung las. Ja, was ich gestern erlebt habe, war nur ein entsetzlicher Traum, und nun ist er vorbei. Dabei hatte ich in meiner Verzagtheit, in meinem kläglichen Kleinmut schon an Selbstmord gedacht! Ich schäme mich, jetzt die letzten Seiten zu lesen, die ich gestern geschrieben habe. Nun, mögen sie stehen bleiben als Erinnerung an jenes Unglaubliche, das wohl hätte sein können, das aber nie sein wird, nie!
Auf der ersten Seite der Staatszeitung stand in großen Lettern: Freut euch,
denn von nun an seid ihr vollkommen! Bis zum heutigen Tage waren eure Kinder, die Mechanismen, vollkommener als ihr. Wodurch?
Jeder Funke des Dynamos ist ein Funke der reinsten Vernunft, jeder Stoß des Kolbens ist ein reiner Syllogismus. Ist diese unfehlbare Vernunft nicht auch in euch? Die Philosophie von Kranen, Pressen und Pumpen ist geschlossen und klar wie der Kreis eines Zirkels. Bewegt sich eure Philosophie nicht auch in Kreisen? Die Schönheit des Mechanismus liegt in seinem Rhythmus, der unveränderlich und genau ist wie der eines Pendels. Seid ihr, die ihr von Kindesbeinen an nach dem System Taylors erzogen wurdet, nicht auch so exakt wie ein Pendel?
Aber entscheidender als dies alles ist: Mechanismen haben keine Phantasie. Habt ihr je gesehen, dass bei der Arbeit auf dem Gesicht eines Pumpenzylinders ein entrücktes, töricht-verträumtes Lächeln spielt? Habt ihr je gehört, dass die Krane nachts, in Stunden, die der Ruhe dienen sollen, sich unruhig hin-und herwerfen und seufzen? Nein!
An euch aber — schämt euch! — entdecken die Beschützer dieses Lächeln und Seufzen immer öfter. Und — schlagt schuldbewusst die Augen nieder — die Historiker des Einzigen Staates bitten um Entlassung, weil sie diese schmachvollen Ereignisse nicht beschreiben wollen. Doch das alles ist nicht eure Schuld — ihr seid krank. Eure Krankheit heißt Phantasie.
Die Phantasie ist ein Wurm, der schwarze Furchen in eure Stirnen frisst, ein Fieber, das euch treibt, immer weiterzueilen — wenn auch dieses »weiter« dort beginnt, wo das Glück endet. Die Phantasie ist das letzte Hindernis auf dem Weg zum Glück. Freut euch, dieses Hindernis ist beseitigt. Der Weg ist frei.
nie staatliche Wissenschaft hat vor kurzem eine wichtige Entdeckung gemacht: das Zentrum der Phantasie ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knotens — und ihr seid von der Phantasie geheilt. Für immer.
Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zum vollkommenen Glück ist frei. Kommt in die Auditorien und lasst euch operieren. Es lebe die Große Operation, es lebe der Einzige Staat! Es lebe der Wohltäter! Liebe Leser, wenn Sie dies in meinen Aufzeichnungen lesen würden, die einem sonderbaren, altmodischen Roman gleichen, wenn Sie die nach frischer Druckerschwärze riechende Staatszeitung in Ihren zitternden Händen hielten, wenn Sie wüssten, dass es die wirklichste Wirklichkeit ist — wenn nicht heute, so doch morgen —, dann würden Sie gewiss das gleiche empfinden wie ich jetzt. Der Kopf würde Ihnen schwindeln, bange, süße, eisige Schauer würden Ihnen über Arme und Rücken laufen. Sie würden glauben, Sie seien ein Gigant, ein Atlas, der unfehlbar an die gläserne Decke stößt, wenn er sich aufrichtet. Ich nahm den Telefonhörer ab:
»I-330, ja, 330.« Gleich darauf stammelte ich: »Sind Sie zu Hause? Haben Sie's schon gelesen? Ist das nicht wunderbar?"
»Ja...« Ein langes, dunkles Schweigen. »Ich muss Sie heute unbedingt sehen. Kommen Sie nach 16 Uhr zu mir.« Liebste! Liebste! »Unbedingt!...« Ich lächelte — ich konnte nicht länger an mich halten. Lächelnd ging ich durch die Straßen. Der Wind sprang mich an. Er brauste, wirbelte, pfiff, peitschte mein Gesicht. Aber das stimmte mich nur noch froher. Tobe nur, heule nur, jetzt wirst du unsere Mauern nicht mehr umwerfen! Über meinem Kopf jagten bleigraue Wolken dahin; nun — sie werden
die Sonne nicht verdunkeln — wir haben sie an den Zenit geschmiedet, wir, die Nachfolger von Nazareth. An der Ecke drängten sich die Nummern. Sie pressten die Stirnen an die gläsernen Mauern des Auditoriums. Drinnen lag einer auf dem blendendweißen Tisch. Unter einem weißen Tuch sahen die nackten gelblichen Fußsohlen hervor, Ärzte in weißen Kitteln beugten sich über das Kopfende des Tisches, eine weiße Hand hielt eine Spritze mit irgendeiner Flüssigkeit.
»Warum gehen Sie nicht auch hinein?« fragte ich einen oder, richtiger, alle.
»Und Sie?« Einer drehte sich zu mir um. »Ich gehe später. Ich muss vorher noch ... « Ein wenig verwirrt ging ich weiter. Ich musste tatsächlich I noch vorher sehen. Aber warum denn »vorher« — darauf fand ich keine Antwort...
Auf der Werft. Der Integral leuchtete wie bläuliches Eis. Im Maschinenraum heulte der Dynamo, zärtlich ein und dasselbe Wort wiederholend, mein Wort. Ich bückte mich und streichelte den langen, kalten Auspuff des Motors. Morgen wirst du leben, morgen wird ein Funkenregen in deinem Leibe sprühen und dich erheben lassen... Mit welchen Augen würde ich dieses gläserne Untier sehen, wenn alles noch so geblieben wäre wie gestern? Wenn ich gewusst hätte, dass ich es morgen um zwölf Uhr verraten würde? Ja, verraten...
Jemand zupfte mich am Ellbogen. Ich wandte mich um: das flache Tellergesicht des zweiten Konstrukteurs. »Wissen Sie schon?« fragte er. »Was? Die Operation? Ja, eine großartige Sache.« »Nein, das meine ich nicht. Der Probeflug ist auf übermorgen verschoben worden. Alles wegen dieser Operation... Wir haben uns umsonst abgehetzt.«
Alles wegen der Operation! Lächerlicher, beschränkter Mensch! Wenn es keine Operation gäbe, säße er morgen im gläsernen Käfig, würde wie wahnsinnig hin und her rennen...
In meinem Zimmer. 12.30 Uhr. Als ich hereinkam, saß U an meinem Schreibtisch, knochig, kerzengerade, die rechte Wange auf die Hand gestützt. Sie musste lange gewartet haben, denn als sie aufsprang und mir entgegeneilte, sah ich auf ihrer Wange fünf Vertiefungen, die von den Fingern herrührten.
Eine Sekunde lang dachte ich an jenen unglücklichen Morgen — sie hatte neben I am Schreibtisch gestanden, voller Wut... Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte die heutige Sonne schon alles weggewischt. Es war, wie wenn man an einem klaren Tag ins Zimmer kommt und zerstreut das Licht einschaltet — die Lampe brennt, doch sie scheint nicht dazusein, so lächerlich, armselig und überflüssig ist sie.
Ohne Zögern streckte ich ihr die Hand hin; ich verzieh ihr alles... Sie nahm meine Hände und drückte sie fest. Ihre Backen, die wie ein altmodischer Zierat über die Kinnladen herabhingen, begannen zu zittern. Sie sagte: »Ich habe auf Sie gewartet... Ich wollte nur eine Minute... Ich wollte Ihnen nur sagen, wie glücklich ich bin, wie sehr ich mich für Sie freue! Morgen oder übermorgen sind Sie genesen, wie neugeboren... « Auf dem Schreibtisch sah ich die beiden letzten Seiten meiner gestrigen Aufzeichnungen; sie lagen noch genauso da, wie ich sie gestern Abend hatte liegenlassen. Wenn sie gesehen hätte, was ich da geschrieben habe... Nun, das wäre jetzt auch gleich. Das alles gehört bereits der Geschichte an, es ist schon so weit weg, als sähe ich es durch ein umgekehrtes Fernglas...
»Ja«, erwiderte ich. »Übrigens, auf dem Prospekt habe ich eben etwas Seltsames beobachtet: ein paar Menschen gingen vor mir her, und denken Sie, ihr Schatten leuchtete! Ich glaube ganz gewiss, dass es morgen überhaupt keine Schatten mehr geben wird, weder von einem Menschen noch von einem Gegenstand; die Sonne wird alles durchdringen... «
»Sie sind ein Träumer! Meinen Kindern würde ich nicht erlauben, so zu reden ... «, sagte sie mit zärtlicher Strenge und erzählte mir, dass sie ihre ganze Schulklasse zur Operation geführt habe und dass man die Kinder an den Tischen hatte festbinden müssen. Doch man müsse ja »erbarmungslos« lieben, und sie habe sich nun endlich entschlossen... Sie lächelte mir ermunternd zu und ging. Zum Glück war die Sonne heute noch nicht stehen geblieben; es war 16 Uhr. Mit pochendem Herzen klopfte ich an die Tür von I.s Zimmer. »Herein!«
Ich kniete vor ihrem Sessel nieder, umschlang ihre Beine, warf den Kopf zurück und blickte ihr in die Augen... Jenseits der Mauer stieg ein Gewitter auf, die Wolken wurden immer dunkler. Ich stammelte wirres Zeug: Ich fliege mit der Sonne irgendwohin... nein, nicht irgendwohin, jetzt kennen wir unsere Flugrichtung. Hinter mir flammensprühende Planeten, in denen feurige, laut tönende Blumen wachsen, dann stumme blaue Planeten, wo vernünftige Steine zu einer organisierten Gesellschaft vereinigt sind, Planeten, die gleich unserer Erde den Gipfel des höchsten, des vollkommenen Glücks erreicht haben...
Plötzlich sprach eine Stimme von oben: »Du glaubst doch nicht, dass diese vernünftigen Steine der Gipfel sind?«
Immer spitzer, immer dunkler wurde das Dreieck in ihrem Gesicht:
»Und das Glück? Wünsche sind etwas Qualvolles, findest du nicht auch? Man ist nur dann glücklich, wenn man keinen Wunsch mehr hat... Welch ein Irrtum, welch ein lächerliches Vorurteil, dass wir bis heute ein Pluszeichen vor das Glück gesetzt haben, vor das absolute Glück hingegen ein Minuszeichen, das göttliche Minus.« Ich erinnere mich, dass ich zerstreut murmelte: »Das absolute Minus — 273 Grad... «
»Stimmt, minus 273. Ein wenig kühl, aber beweist das nicht, dass wir auf dem Gipfel stehen?« Sie sprach gleichsam meine eigenen Gedanken aus, wie sie es schon einmal getan hatte. Doch das hatte etwas Beängstigendes für mich, ich konnte es nicht ertragen, und mit großer Mühe zwang ich mir ein Nein ab. »Nein«, sagte ich, »du... du scherzest.« Sie lachte laut, zu laut. Sie stand auf, legte die Hände auf meine Schultern und blickte mich lange an. Dann zog sie mich an sich, und ich vergaß alles, fühlte nur noch ihre heißen Lippen. »Leb wohl!«
Das kam aus weiter Ferne, ganz von oben, und erreichte mich vielleicht erst nach zwei, drei Minuten. »Wieso, leb wohl?«
»Du bist doch krank, du hast um meinetwillen ein Verbrechen begangen. Hat dich das nie gequält? Jetzt gehst du zur Operation — und dann bist du von mir geheilt. Das bedeutet: Leb wohl.« »Nein!« schrie ich. »Wie, du verschmähst das Glück?«
Mein Kopf zersprang in zwei Hälften, zwei logische Züge stießen zusammen und entgleisten...
»Wähle: die Operation und das vollkommene Glück oder...«
»Ich kann ohne dich nicht leben«, murmelte ich, oder vielleicht dachte ich es auch nur, aber sie hatte es gehört. »Ich weiß«, antwortete sie, und während ihre Hände immer noch auf meinen Schultern ruhten und sie mir tief in die Augen blickte, fuhr sie fort: »Dann bis morgen. Morgen um zwölf.« »Nein, es ist um einen Tag aufgeschoben... übermorgen.«
»Um so besser für uns. Also übermorgen... « Ich ging allein durch die dämmrige Straße. Der Wind packte mich, trug mich fort wie einen Papierfetzen, von dem gusseisernen Himmel stürzten dicke Brocken herab — sie müssen noch ein, zwei Tage durch die Unendlichkeit fliegen... Die Uniformen, die mir begegneten, hielten mich an, aber ich ging allein weiter. Mir war klar: Alle waren gerettet, doch für mich gab es keine Rettung mehr; ich wollte nicht gerettet werden.

 

EINTRAGUNG NR. 32

Übersicht: Ich glaube es nicht. Traktoren. Ein armseliges Bündel Mensch.

Können Sie sich vorstellen, dass Sie sterben werden? Nun, der Mensch ist sterblich, und da ich ein Mensch bin... Aber das wissen Sie ja. Dennoch: haben Sie es sich je vorstellen können, nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Körper und so deutlich, dass Sie es geradezu fühlten: diese Finger, die jetzt dieses Blatt Papier halten, werden dereinst gelb und eiskalt sein...
Nein, Sie können es sich natürlich nicht vorstellen, und deshalb sind Sie auch bis jetzt noch nicht vom zehnten Stockwerk auf die Straße gesprungen, deshalb essen Sie noch, blättern eine Seite in einem Buch um, rasieren sich, lächeln, schreiben.
So war mir heute zumute, genau so. Ich weiß, dass der kleine schwarze Zeiger der Uhr nach Mitternacht hinabschleicht, wieder langsam emporklettert, irgendeinen letzten Strich überschreitet — und dann beginnt es, das unvorstellbare Morgen. Ja, ich weiß es, und trotzdem glaube ich es nicht, oder vielleicht kommen mir vierundzwanzig Stunden wie vierundzwanzig Jahre vor. Deshalb kann ich noch etwas tun, Fragen beantworten, die Treppe zum Integral hinaufsteigen. Er schaukelt auf dem Wasser, das fühle ich noch, und ich weiß, dass man sich am Geländer festhalten muss. Ich spüre das kalte Glas unter meiner Hand. Ich sehe, wie die durchsichtigen, lebendigen Krane ihre Kranichhälse biegen, die Schnäbel vorstrecken und die Motoren des Integral mit grauenhaft explosiver Nahrung füttern. Und drunten auf dem Fluss erkenne ich deutlich blaue, im Winde anschwellende Wasseradern und Wasserknoten. All das ist sehr weit weg von mir, fremd, flach, wie eine Zeichnung auf einem Blatt Papier. Mir kommt es ganz merkwürdig vor, dass das flache Gesicht des zweiten Konstrukteurs plötzlich sagt: »Wie viel Treibstoff nehmen wir mit? Rechnen wir drei oder dreieinhalb Stunden... «
»Fünfzehn Tonnen genügen. Nein, nehmen Sie besser hundert mit...«
Ich wusste ja, was morgen geschehen würde! »Hundert? Warum so viel? Das reicht ja für eine ganze Woche! Für viel länger sogar!« »Unterwegs kann allerlei passieren.«
»Ja, ich weiß.«
Der Wind pfiff, die Luft war von etwas Unsichtbarem erfüllt. Es machte mir große Mühe, zu atmen, zu gehen. Schwerfällig, langsam, ohne eine Sekunde stehenzubleiben, bewegte sich der Uhrzeiger am Akkumulatorenturm vorwärts. Die in den Wolken verborgene Turmspitze sog mit dumpfem Getöse Elektrizität ein. Die Schornsteine der Musikfabrik heulten. Die Nummern marschierten wie immer zu vieren, doch die Reihen waren nicht geschlossen, sie schienen im Wind zu schwanken. Da, an der Ecke stießen sie mit etwas zusammen, wichen zurück und wurden zu einem starren, atemlosen Haufen. Mit einemmal hatten sie alle lange Gänsehälse.
»Sehen Sie! Sehen Sie nur! Dort, schnell!« »Sie! Das sind sie!«
»Ich gehe um keinen Preis hin! Nein, lieber den Kopf auf die Maschine des Wohltäters...« »Still! Wahnsinniger... «
Die Tür des Auditoriums an der Ecke war weit geöffnet, langsam kam eine Kolonne von etwa fünfzig Menschen herausgestampft. Menschen ist nicht das richtige Wort — nein, es waren keine Füße, sondern schwere, von einem unsichtbaren Triebwerk bewegte Räder, es waren keine Menschen, sondern Traktoren in Menschengestalt. Über ihren Köpfen knatterte eine weiße Fahne, auf die eine goldene Sonne gestickt war, und in den Sonnenstrahlen las ich:
Wir sind die ersten! Wir sind operiert! Alle nach uns! Unaufhaltsam pflügten sie durch die Menge, und wenn statt unserer blaugrauen Reihen ihnen eine Mauer, ein Baum, ein Haus im Weg gestanden hätte, hätten sie alles niedergewalzt. Inzwischen waren sie zur Mitte des Prospekts gelangt und bildeten eine Kette, wobei sie die Gesichter uns zuwandten. Wie Gänse die Hälse reckend, warteten wir beklommen, dunkle Wolken glitten über den Himmel, der Wind pfiff.
plötzlich schwenkten beide Flügel der Kette ein, sie kamen schneller, immer schneller auf uns zu, und schon hatten sie uns eingekreist. Sie drängten uns zu der weit geöffneten Tür des Auditoriums, hinein in den Saal... Da, ein markerschütternder Schrei: »Rettet euch! Lauft!«
Und alle stürmten davon. Dicht an der Mauer war noch ein schmaler Durchgang frei; alle rannten zu dieser Stelle, mit den Köpfen voraus — die Köpfe wurden im Nu zu spitzen Keilen. Stampfende Füße, fuchtelnde Hände, Uniformen sprühten wie ein Wasserstrahl aus einem Feuerlöschschlauch auseinander und zerstreuten sich. Ein S-förmiger Körper tauchte vor mir auf und war im nächsten Augenblick verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Ich war allein unter Armen und Beinen. Ich lief, so schnell ich konnte... Wenig später, als ich in einem Hauseingang stand, um Atem zu holen, flog, vom Wind gleich einem Span hergeweht, eine Gestalt auf mich zu.
»Ich bin die ganze Zeit... hinter Ihnen hergelaufen... Ich will nicht... Ich will nicht operiert werden... Helfen Sie mir.«
Kleine, runde Hände legten sich auf meinen Arm, blaue, runde Augen blickten mich flehend an. O! Sie setzte sich auf die kalten Treppenstufen und kauerte sich zu einem Bündel zusammen. Ich beugte mich über sie, streichelte ihr Haar, ihre Wangen — meine Hände waren nass. Sie schlug die Hände vors Gesicht und sagte kaum vernehmlich:
»Jede Nacht, wenn ich allein bin, denke ich an das Kind, wie es aussehen wird, wie ich es... Und wenn sie mich heilen, wozu soll ich dann noch leben? Ich kann nicht mehr, Sie müssen, Sie müssen mir helfen.« Ein dummes Gefühl, aber ich war tatsächlich davon überzeugt, dass ich es musste. Dumm, weil diese meine Pflicht ein neues Verbrechen war, dumm, weil Weiß nicht zugleich Schwarz sein kann, weil Pflicht und Verbrechen sich niemals decken können. Vielleicht gibt es aber im Leben weder Schwarz noch Weiß vielleicht hängt die Farbe nur von dem logischen Grundsatz ab, von dem man ausgeht. Und wenn das der Grundsatz war, dass ich gegen das Gesetz ein Kind mit ihr gezeugt hatte... »Gut«, sagte ich. »Hören Sie auf zu weinen! Ich werde Sie zu I bringen, wie ich Ihnen damals vorschlug.« »Ja«, antwortete sie leise, immer noch die Hände vorm Gesicht.
Ich half ihr aufstehen. Schweigend, jeder mit seinen eigenen oder beide vielleicht mit den gleichen Gedanken beschäftigt, gingen wir durch die dunkle Straße, an stummen, bleifarbenen Häusern vorbei. Plötzlich hörte ich schlurfende Schritte hinter mir. An einer Straßenecke drehte ich mich um — und inmitten der jagenden Wolken, die sich in dem trüben, gläsernen Pflaster spiegelten, erblickte ich S. Meine Arme kamen sofort aus dem Takt und vollführten unsichere Bewegungen, als gehörten sie nicht mir. Ich berichtete O mit lauter Stimme, dass morgen der Integral zum ersten Mal starten werde und dass das etwas Gewaltiges und Wunderbares sei. O schaute mich verwundert mit ihren runden blauen Augen an und sah auf meine sinnlos gestikulierenden Hände. Ich ließ sie nicht zu Wort kommen, ich redete, redete. Aber in mir — das konnte nur ich hören —
summte und hämmerte der Gedanke: »Unmöglich... ich kann sie unmöglich jetzt zu I bringen.« Statt links einzubiegen, ging ich nach rechts. Die Brücke bot uns dreien, mir, O und S, der uns folgte, ihren sklavisch gekrümmten Rücken dar. Aus den hellerleuchteten Häusern am jenseitigen Ufer fiel Lichtschein auf das Wasser und zersprühte in tausend tanzende Funken. Der Wind dröhnte wie eine Basssaite, die aus einem dicken Tau besteht. Und im Dröhnen des Basses vernahmen wir die ganze Zeit schlurfende Schritte hinter uns. Wir kamen zu dem Haus, in dem ich wohne. O sagte: »Sie haben doch versprochen... «
Aber ich ließ sie nicht ausreden und schob sie hastig durch die Tür. Über dem Tisch im Vestibül sah ich die zitternden Hängebacken von U; ein Haufen Nummern drängte sich zeternd und streitend um sie. Ich zog O in die entgegengesetzte Ecke, setzte sie mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl (ich hatte bemerkt, dass draußen ein dunkler Schatten mit einem großen Kopf über das Pflaster huschte) und nahm mein Notizbuch aus der Tasche. O saß da, als wäre ihr Körper unter der Uniform verdampft, als wäre sie nur noch eine leere Hülle mit Augen, aus denen einen eine blaue Leere anblickte. Müde sagte sie: »Warum haben Sie mich hierher geführt? Wollen Sie mich betrügen?«
»Nein! Still! Sehen Sie, draußen vor dem Haus...« »Ja, ein Schatten.«
»Er ist schon die ganze Zeit hinter mir her. Ich kann Sie nicht zu I bringen. Verstehen Sie es doch! Ich schreibe rasch ein paar Zeilen, die nehmen Sie mit und gehen allein. Ich weiß, dass er hier bleiben wird.« Unter ihrer Uniform regte sich wieder ein Körper, ihr Leib rundete sich allmählich, ihr Gesicht hellte sich auf.
Ich gab ihr den Zettel und drückte ihre kalte Hand. Meine Augen ruhten zum letzten Mal in ihren blauen
Augen.
»Leben Sie wohl! Vielleicht werden wir uns wieder sehen... «
Sie zog ihre Hand zurück. Mit hängendem Kopf machte sie zwei Schritte, drehte sich rasch um und stand wieder neben mir. Ihre Lippen zuckten, ihre Augen, ihr Mund, ihr ganzer Körper sagten mir ein Wort, immer das gleiche Wort — welch unerträgliches Lächeln in ihrem Gesicht, welcher Schmerz...
Dann sah ich das zusammengeduckte Bündel Mensch in der Tür und gleich darauf einen winzigen Schatten vor dem Haus. Sie entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ich trat zu U an den Tisch. Sie blies erregt die Kiemen auf und sagte:
»Der da behauptet, er habe beim Alten Haus einen nackten Menschen gesehen, der ganz mit Haaren bedeckt war. Verstehen Sie das? Die sind ja alle verrückt geworden.«
Aus der Gruppe rief eine Stimme: »Jawohl! Ich habe ihn auch gesehen!«
»Was sagen Sie dazu? Ist das nicht Irrsinn?« sagte U zu mir. Sie sprach das Wort »Irrsinn« so überzeugt aus, dass ich mich fragte:
»Ist alles, was in letzter Zeit mit mir und um mich herum geschehen ist, vielleicht nichts weiter als Irrsinn?« Ich blickte auf meine behaarten Hände, und da fiel mir ein: »In dir ist gewiss noch ein Tropfen Waldblut... Vielleicht habe ich dich deswegen... « Nein, zum Glück ist es kein Irrsinn. Nein, zum Unglück ist es keiner.

 

EINTRAGUNG NR. 33

Übersicht: Ohne Übersicht. In aller Eile ein letztes Wort.

Der bewusste Tag war angebrochen. — Rasch ein Blick in die Zeitung, vielleicht war dort... Ich las die Zeitung nur mit den Augen (meine Augen sind wie eine Feder, wie ein Rechenschieber, den man in den Händen hält, etwas Fremdes, ein Instrument). Eine riesige Schlagzeile zog sich über die erste Seite: Die Feinde des Glückes schlafen nicht. Haltet das Glück mit beiden Händen fest! Morgen ruht jegliche Arbeit — sämtliche Nummern werden zur Operation antreten. Wer nicht erscheint, endet durch die Maschine des Wohltäters. Morgen! Kann es überhaupt noch ein Morgen geben? Die Macht der Gewohnheit ließ mich die Hand nach dem Bücherbrett ausstrecken und die heutige Zeitung zu den übrigen in eine Mappe mit Goldprägung legen. Dabei dachte ich: Wozu? Ich werde nie wieder in dieses Zimmer zurückkehren!
Die Zeitung fiel auf den Boden. Ich stand da und blickte mich im Zimmer um; hastig raffte ich alles zusammen, was ich mitnehmen wollte, und warf es in einen imaginären Koffer. Den Tisch, die Bücher, den Sessel. Auf diesem Sessel hatte I damals gesessen... und ich hatte vor ihr auf der Erde gekniet. Das Bett... Dann wartete ich eine, zwei Minuten lang töricht auf irgendein Wunder; vielleicht würde das Telefon rasseln, vielleicht würde sie mir sagen, dass... Nein, es geschah kein Wunder...
Ich gehe jetzt hinaus, ins Unbekannte. Dies sind meine letzten Worte. Leben Sie wohl, liebe unbekannte Leser,
mit denen ich so vieles durchlebt, denen ich, der an dem unheilbaren Leiden Seele Erkrankte, mich ganz enthüllt habe, bis zum letzten abgebrochenen Schräubchen, bis zur letzten geplatzten Sprungfeder... Ich gehe.

 

EINTRAGUNG NR. 34

Übersicht: Die Freigelassenen. Sonnennacht. Die Radio-Walküre.

Ach, hätte ich nur mich selbst und alle anderen in tausend Stücke zerspringen lassen, wäre ich nur mit ihr irgendwo jenseits der Grünen Mauer, unter Tieren, die ihre gelben Hauer fletschen, wäre ich nur nie wieder hierher gekommen! Dann wäre mir tausendmal, Millionen Mal leichter. Aber jetzt — was nun? Soll ich sie erwürgen, diese — Doch würde das noch irgend jemandem helfen? Nein, nein, nein! Nimm dich fest in die Hand, D-503. Ergreife den Hebel der Logik mit aller Kraft und drehe gleich einem Sklaven der Alten die Mühlsteine des Syllogismus, bis du alles niederschreibst, was geschehen ist.
Als ich an Bord des Integral ging, waren schon alle auf ihren Plätzen. Durch das gläserne Deck sah ich tief unten neben Telegrafen, Dynamos, Transformatoren, Höhenmessern, Ventilen, Zeigern, Motoren, Pumpen und Röhren winzige Menschen wimmeln. Im Kommandoraum beugten sich die Leute vom Amt für Wissenschaft über Tabellen und Instrumente, neben ihnen stand der zweite Konstrukteur mit seinen beiden Assistenten.
Die drei hatten ihre Köpfe wie Schildkröten eingezogen, ihre Gesichter waren herbstlich-fahl und stumpf.
»Was ist?« fragte ich.
»Ach, nichts weiter... «, antwortete einer von ihnen mit einem grauen, matten Lächeln. »Vielleicht müssen wir irgendwo landen. Wer weiß, was alles passiert. Überhaupt weiß niemand... «
Ihr Anblick war mir unerträglich; ich konnte sie nicht länger ansehen, sie, die ich in einer Stunde mit meinen Händen für immer von der mütterlichen Brust des Einzigen Staates losreißen sollte. Sie erinnerten mich an die tragischen Gestalten der Freigelassenen, deren Geschichte jedes Schulkind kennt. Dieses Epos erzählt davon, wie drei Nummern versuchsweise einen Monat lang von der Arbeit befreit wurden: Tut, was ihr wollt, geht, wohin ihr wollt. (Das war im dritten Jahrhundert nach der Schaffung der Gesetzestafel.)
Die Unglücklichen lungerten in der Nähe ihrer früheren Arbeitsstätte herum und starrten mit gierigen Blicken auf die anderen; sie blieben mitten auf der Straße stehen und vollführten stundenlang jene Bewegungen, die zu bestimmten Tageszeiten bereits ein Bedürfnis für ihren Organismus geworden waren: sie sägten und hobelten Luft, sie bearbeiteten mit unsichtbaren Hämmern unsichtbare Eisenstangen. Am zehnten Tag hielten sie es nicht mehr aus: sie fassten einander bei den Händen und gingen ins Wasser. Unter den Klängen unseres Marsches sanken sie immer tiefer, bis die Wellen ihren Qualen ein Ende machten.
Ich wiederhole: Es war bedrückend für mich, sie anzusehen, und ich ging eilig hinaus. »Ich will nur rasch zum Maschinenraum«, sagte ich und machte mich auf den Weg.
Man fragte mich etwas, ich glaube, wie viel Volt man für die Startexplosion nehmen solle, wie viel Wasserballast
wir für die Heckzisterne brauchten. In mir war ein Grammofon, das schnell und genau alle Fragen beantwortete, während ich selber meinen eigenen Gedanken nachhing. Aber plötzlich begegnete mir etwas in dem engen Korridor, und damit fing alles erst richtig an. Graue Uniformen, graue Gesichter huschten vorbei, und eine Sekunde lang sah ich unter ihnen tief in die Stirn hängende Haare und tiefliegende Augen — es war der Mann von damals. Ich wusste, dass sie hier waren und dass es für mich kein Entrinnen gab, mir blieben nur noch zehn Minuten... Ich spürte ein leichtes Zittern im ganzen Körper (es hörte bis zuletzt nicht mehr auf); es war, als hätte man einen riesigen Motor in mich einmontiert, doch mein Körper war zu leicht gebaut, so dass sämtliche Wände, Schotten, Kabel, Balken und Lichter zitterten... Ich wusste nicht, ob sie schon da war. Aber ich hatte keine Zeit, mich zu vergewissern, ich musste zum Kommandoraum zurück; Zeit zum Start — wohin? Graue, glanzlose Gesichter. Drunten auf dem Wasser geschwollene blaue Adern. Ein bleischwerer Himmel, so schwer wie meine Hand, die den Telefonhörer abnahm: »Start — fünfundvierzig Grad!«
Eine dumpfe Explosion — ein schwacher Stoß — ein zischender weißlich-grüner Wasserberg im Heck — das Deck schwankte unter meinen Füßen, und alles stürzte in die Tiefe, das ganze Leben, für immer... Eine Sekunde lang sah ich die eisblauen Umrisse der Stadt, die runden Blasen der Kuppeln, den einsamen Finger des Akkumulatorenturms. Dann ein Wolkenvorhang aus grauer Watte — wir stießen hindurch — und Sonne, blauer Himmel. Sekunden, Minuten, Meilen — das Blau wurde härter und dunkler, die Sterne glichen silbernen Schweißtropfen...
plötzlich war es Nacht, eine unheimlich beklemmende, glühende Sternennacht, Sonnennacht. Wir hatten die Erdatmosphäre verlassen. Aber die Verwandlung war so jäh, dass alle betroffen schwiegen. Mir allein wurde es leichter ums Herz unter dieser gespenstisch stummen Sonne, als hätte ich die unvermeidliche Schwelle überschritten, als wäre mein Körper irgendwo dort unten geblieben, während ich durch eine neue Welt jagte, wo alles sich in sein Gegenteil verkehrte...
»Gleichen Kurs halten!« rief ich in den Maschinenraum; nein, nicht ich rief es, sondern das Grammofon in mir, das mit seinem Scharnierarm dem zweiten Konstrukteur den Hörer reichte. Ich selber war ganz in ein leises Zittern gehüllt, das nur ich fühlen konnte: ich lief nach unten, um sie zu suchen.
Die Tür zur Messe — in einer Stunde würde sie sich klirrend schließen... Neben der Tür stand ein Unbekannter mit einem Dutzendgesicht, das in der Menge nicht auffällt; nur seine Arme waren ungewöhnlich lang, sie reichten bis zu den Knien, als wären sie aus Versehen von einer anderen Menschenart genommen. Er streckte abwehrend die langen Arme aus: »Wohin?« Offensichtlich hatte er keine Ahnung, dass ich alles wusste...
Ich sagte in ziemlich scharfem Ton:
»Ich bin der Konstrukteur des Integral und überwache alle Versuche. Verstanden?« Die Arme sanken herab.
In der Messe. Über Karten und Instrumenten gelbliche Glatzen. Ich musterte sie mit einem kurzen Blick, machte kehrt und eilte in den Maschinenraum. Glühende Röhren verbreiteten eine unerträgliche Hitze, blitzende Hebel drehten sich in trunkenem Tanz, leise bebend bewegten
sich die Zeiger auf den Uhren, ohne eine Sekunde stillzustehen.
Endlich sah ich jenen Mann mit den dichten, überhängenden Brauen; er saß mit einem Notizbuch in der Hand am Tachometer.
»Hören Sie, ist sie hier? Wo ist sie?« Er lachte: »Sie? In der Funkkabine.« Ich eilte dorthin.
In der Funkkabine saßen drei Menschen, alle mit Kopfhörern, die mich an geflügelte Helme erinnerten. Sie schien um einen Kopf größer als sonst, strahlend, wie eine Walküre aus alter Zeit.
»Irgend jemand... nein, würden Sie vielleicht...«, sagte ich zu ihr, vom schnellen Laufen noch ganz außer Atem, »ich muss einen Funkspruch durchgeben ... Kommen Sie, ich diktiere ihn.«
Neben dem Armaturenraum befand sich eine kleine Kajüte. Wir setzten uns an den Tisch. Ich ergriff ihre Hand und drückte sie fest: »Was wird nun geschehen?«
»Ich weiß es nicht. Herrlich, so zu fliegen, ohne zu wissen, wohin... Bald ist es zwölf Uhr... Wo werden wir beide heute Nacht sein? Vielleicht auf einer Wiese, auf welken Blättern... « Ich zitterte immer stärker:
»Schreiben Sie«, sagte ich, immer noch ein wenig atemlos (natürlich vom schnellen Laufen). »Zeit: 11.30. Geschwindigkeit: 6800... « Ohne aufzublicken, sagte sie leise:
»Gestern Abend kam sie mit deinem Zettel... Ich weiß alles, du brauchst mir nichts zu erklären. Es ist doch dein Kind, nicht wahr? Ich habe sie fortgebracht, sie ist schon hinter der Mauer. Sie wird leben... «
Im Kommandoraum. Das dunkle Gewölbe der Nacht mit unzähligen, funkelnden Sternen und einer die Augen blendenden Sonne; der Zeiger der Wanduhr hinkte schwerfällig von einer Minute zur nächsten, alles war in einen leichten Nebel getaucht, alles bebte. »Gut, dass der Aufstand nicht hier, sondern irgendwo weiter unten, in der Nähe der Erde, ausbrechen wird«, schoss es mir durch den Kopf. »Stopp!« rief ich in den Maschinenraum. Unsere Geschwindigkeit nahm allmählich ab. Plötzlich hing der Integral einen Augenblick unbeweglich in der Luft, und dann stürzte er wie ein Stein hinunter, schneller, immer schneller. Ohne ein Wort zu sagen, flogen wir zehn Minuten lang — ich hörte meinen Pulsschlag — der Zeiger der Uhr näherte sich der Zwölf. Ich war ein Stein, I die Erde, und ich, der Stein, den jemand hochwarf, musste fallen und die Erde erreichen...
Unter mir sah ich schon den dichten blauen Rauch der Wolken... Was aber sollte werden, wenn unser Plan scheiterte?
Das Grammofon in mir nahm den Hörer und kommandierte: »Halbe Kraft voraus!« Der Stein stand still. Vier niedrige Klötze, zwei am Heck und zwei am Bug, wurden hinausgelassen, um den Flug des Integral zu stoppen, und wir schwebten etwa einen Kilometer über der Erde in der Luft.
Alle kamen an Deck (es war gleich zwölf). Sie beugten sich über die gläserne Reling und betrachteten die unbekannte Welt jenseits der Mauer, die unter uns lag. Bernsteingelb, grün, blau — ein Herbstwald, eine Wiese, ein See. Am Rande der kleinen blauen Schale standen gelbe Ruinen, und daneben drohte ein grauer, verdorrter Finger — das musste der Turm einer alten
Kirche sein, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war.
»Sehen Sie! Schnell! Dort, rechts!«
Über die grüne Fläche unter uns flog ein brauner Schatten. Mechanisch hob ich mein Fernglas: eine Herde brauner Pferde galoppierte mit wehenden Schweifen über die Wiese, und auf ihrem Rücken saßen braune, weiße und schwarze Menschen.
Hinter mir sagte eine Stimme: »Sie können es mir glauben, ich habe ein Gesicht gesehen!« »Erzählen Sie das einem anderen!« »Dann sehen Sie doch einmal durch das Glas...« Doch sie waren schon verschwunden. Endlos dehnte sich die grüne Einöde... Ein schrilles Läuten: Mittagessen, eine Minute vor zwölf.
Ich ging zur Messe. Auf der Treppe lag ein goldenes Abzeichen; es krachte unter meinem Fuß. Jemand sagte: »Und es war doch ein Gesicht!« Ein dunkles Quadrat — die offene Tür zur Messe. Neben mir zusammengepresste weiße Zähne... Unendlich langsam begann die Uhr zu schlagen, die vordersten Reihen setzten sich in Bewegung. Plötzlich versperrten zwei überlange Arme den Eingang: »Halt!«
Harte Finger gruben sich in meine Handfläche — es war 1 Sie flüsterte: »Was soll das? Kennst du ihn?« »Nein. Ist das... ist das denn nicht...« Der Mann mit dem Dutzendgesicht sagte: »Alles herhören! Im Namen des Wohltäters! Wir wissen Bescheid. Wir kennen zwar noch nicht eure Nummern, aber wir wissen alles. Ihr sollt den Integral nicht haben! Untersteht euch, auch nur eine Bewegung zu machen. Der Probeflug wird zu Ende geführt. Und dann... Das ist alles, was ich euch zu sagen habe.«
Schweigen. Die gläsernen Platten unter meinen Füßen waren weich wie Watte, wie meine Beine. I sprühte wilde, blaue Funken. Sie zischte mir ins Ohr: »Sie waren's also! Sie haben Ihre >Pflicht< erfüllt!« Sie riss ihre Hand aus der meinen und ließ mich stehen. Ich ging allein in die Messe, schweigend wie die anderen... »Aber ich habe es doch gar nicht getan! Ich habe keinem ein Wort davon gesagt, außer diesen stummen weißen Seiten... «, schrie ich ihr in Gedanken verzweifelt zu. Sie saß mir gegenüber am Tisch und würdigte mich keines Blickes. Ich hörte, wie sie zu der gelblichen Glatze neben ihr sagte:
»Edelmut? Aber, lieber Professor, eine philologische Analyse dieses Wortes zeigt ja schon, dass es sich hier nur um ein Vorurteil handelt, um ein Überbleibsel aus feudalen Zeiten. Wir aber... «
Ich fühlte, wie ich erbleichte; gleich mussten es alle merken... Doch das Grammofon in mir vollführte automatisch die für jeden Bissen vorgeschriebenen fünfzig Kaubewegungen, und ich zog mich in mich selbst zurück wie in ein undurchsichtiges Haus, ich wälzte Steine vor die Tür und verhängte die Fenster ...
Dann hielt ich den Telefonhörer in der Hand, und der Flug durch die Wolken in die eisige, sternhelle Sonnennacht begann. Wahrscheinlich lief die ganze Zeit in meinem Inneren ein logischer Motor auf vollen Touren, denn nirgendwo im blauen Raum sah ich mit einem Male dieses Bild: mein Schreibtisch, darauf ein Blatt meiner Aufzeichnungen und darüber die kiemenähnlichen Backen von U. Sie allein konnte uns verraten haben. Schnell in die Funkkabine... Ich erinnere mich, dass ich irgend etwas zu ihr sagte und dass sie durch mich hindurchsah, als wäre ich aus Glas:
»Ich bin beschäftigt. Ich nehme gerade einen Funkspruch von unten auf. Diktieren Sie meiner Kollegin.« Ich überlegte eine Minute und sagte mit fester Stimme: »Zeit: 14.40. Landen! Motoren abstellen. Alles zu Ende.« Wieder im Kommandoraum. Das Maschinenherz des Integral stand still, wir fielen, und mein Herz, das keine Zeit hatte zu fallen, blieb stehen und stieg plötzlich immer höher, bis zur Kehle. Wolken, in der Ferne ein grüner Fleck, er jagte wie ein Sturmwind auf uns zu — gleich ist alles vorüber. —
Das porzellanweiße, verzerrte Gesicht des zweiten Konstrukteurs. Ich glaube, er versetzte mir mit aller Kraft einen Stoß. Ich schlug irgendwo mit dem Kopf auf und hörte gerade noch wie durch einen dichten Nebel: »Heckmotoren — äußerste Kraft voraus!« Ein jäher Sprung nach oben — was dann geschah, weiß ich nicht.

 

EINTRAGUNG NR. 35

Übersicht: Ein Reif um meinen Kopf. Eine Möhre. Ein Mord.

Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich dachte unablässig an ein und dasselbe.
Mein Kopf ist seit meinem gestrigen Unfall fest mit Binden umwickelt. Aber mir ist, als wären es keine Binden, sondern ein Reif, ein schmerzender Reif aus gläsernem Stahl, und ich bewegte mich immerzu in dem gleichen magischen Kreis: Töten! Töten! Töten — und dann zu ihr gehen und sagen: »Glaubst du mir jetzt?« Widerwärtig, dass das Töten ein schmutziges Handwerk ist.
Dieser Gedanke erzeugt in meinem Mund einen abscheulich süßen Geschmack, und ich kann den Speichel nicht herunterschlucken, ich spucke ihn in ein Taschentuch. Mein Mund ist trocken.
In meinem Schrank lag eine schwere Kolbenstange, die beim Gießen geplatzt war (ich wollte die Bruchstelle unter dem Mikroskop betrachten). Ich steckte meine Aufzeichnungen in eine Rolle, schob die Kolbenstange hinein und ging hinunter ins Vestibül. Die Treppe nahm kein Ende, die Stufen waren schlüpfrig und weich, die ganze Zeit musste ich mir mit dem Taschentuch den Mund abwischen.
U war nicht da, ihr Platz war leer. Da fiel mir ein, dass heute jegliche Arbeit ruhte. Alle mussten ja zur Operation. Was sollte sie also hier?
Ich verließ das Haus. Wind. Graue Eisenklumpen wirbelten über den Himmel. Die ganze Welt war in spitze Späne gespalten; sie stürzten herab, hingen eine Sekunde lang vor mir in der Luft und verdampften spurlos. Auf der Straße ein wildes Gewühl. Die Menschen marschierten nicht in Reih und Glied wie sonst, sondern rannten kopflos hin und her. Ich lief, so schnell ich konnte. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen: im zweiten Stock eines Hauses, in einem Glaskäfig, der in der Luft zu schweben schien, sah ich einen Mann und eine Frau in enger Umarmung. Ein letzter Kuss, ein Abschied für immer...
An irgendeiner Straßenecke ein schwankender, stachliger Strauch von vielen Köpfen. Darüber knatterte eine Fahne: Nieder mit der Maschine! Nieder mit der Operation! Kann denn auch sie ein Schmerz quälen, von dem man sie nur zu befreien vermag, indem man ihnen das Herz herausreißt? Und müssen sie alle noch etwas tun, bevor
man sie heilt? durchzuckte es mich. Einen Augenblick lang existierte nichts mehr auf der ganzen Welt außer meiner behaarten Hand mit der bleischweren Rolle. Da kam mir ein Schuljunge laut heulend entgegengerannt. Ich hielt ihn an und fragte ihn nach U. »Sie ist bestimmt noch in der Schule«, antwortete er, »aber beeilen Sie sich.«
Schnell zur nächsten U-Bahn-Station. Am Eingang rief mir jemand zu: »Heute fährt kein Zug! Dort unten... « Und schon hastete er weiter.
Ich ging die Treppe hinunter. Ein leerer, kalter Zug. Auf dem Bahnsteig eine dichte Menschenmenge. Schweigen. In der Stille eine Stimme. Ich konnte sie nicht sehen, aber das war ihre Stimme, ich kannte sie, ich kannte sie nur allzu gut! Ich schrie: »Lasst mich durch! Platz! Ich muss... « Jemand packte mich an den Armen und hielt mich fest. Die Stimme sagte in schneidendem Ton: »Nein, geht nur hinauf! Dort werdet ihr geheilt, dort werdet ihr mit Glück gefüttert. Ihr werdet satt und zufrieden sein, ihr werdet friedlich schlafen und im Takt schnarchen — hört ihr sie, die große Schnarchsymphonie? Narren, man will euch von allen Fragezeichen befreien, die an euch nagen wie Würmer. Doch ihr steht hier und hört mir zu. Schnell hinauf, zur großen Operation! Was kümmert es euch, dass ich allein hier bleibe? Was geht es euch an, dass ich das Unmögliche will...« Eine andere Stimme sagte:
»Das Unmögliche! Jag du nur deinen törichten Phantasien nach, solange du magst, sie zeigen dir doch bloß den Schwanz. Nein, wir werden ihn packen, diesen Schwanz, und dann... « »Und dann fresst ihr euch voll und schnarcht und braucht
bald einen neuen Schwanz vor eurer Nase. In alten Zeiten gab es ein Tier, das unsere Vorfahren Esel nannten. Um ihn zu zwingen, immer vorwärts zu gehen, immer weiter, banden sie ihm dicht vor den Nüstern ein Bündel Möhren an die Deichsel, und zwar so, dass er es nicht erreichen konnte. Aber wenn er es erwischte, fraß er es mit einemmal auf... «
Plötzlich war ich frei; ich stürzte zur Mitte, wo sie sprach — und im gleichen Augenblick stoben alle auseinander. Von oben ein Schrei:
»Sie kommen, sie kommen!« Das Licht erlosch — offenbar hatte jemand die Leitung durchgeschnitten. Eine Lawine, Schreie, Röcheln, Köpfe, Finger... Ich weiß nicht, wie lange wir durch den stockfinsteren Tunnel gingen. Endlich Stufen, Licht, Helle — wir standen auf der Straße. Die Menge zerstreute sich, ich war allein. Wind, graue Wolken, dicht über meinem Kopf, Dämmerung. Auf dem nassen Straßenpflaster spiegelten sich Lichter, Mauern, Gestalten. Die bleischwere Rolle in meiner Hand zog mich fast zu Boden. U saß immer noch nicht an ihrem Tisch im Vestibül; ihr Zimmer war dunkel.
Ich ging in mein Zimmer und machte Licht. Der Reif um meine hämmernden Schläfen zog sich fester zusammen; ich ging vom Tisch, auf den ich die schwere Rolle gelegt hatte, zum Bett, zur Tür, zurück zum Tisch, als wäre ich in einen magischen Kreis gebannt. Im Zimmer links waren die Vorhänge geschlossen. Rechts — eine höckrige Glatze, die sich über ein Buch beugte: die Stirn — eine riesige gelbe Parabel, die Runzeln darauf — undeutliche gelbe Zeilen. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegneten, spürte ich, dass diese Zeilen mir galten... Punkt 21 Uhr. U kam zu mir. Ich atmete so laut,
dass ich meinen eigenen Atem hörte; ich versuchte, mich zu beherrschen — es gelang mir nicht. U setzte sich und zog den Rock über die Knie. Die rosa Kiemen zitterten:
»Ach, mein Lieber, Sie sind wirklich verletzt? Ich habe es eben erfahren...«
Die Rolle lag vor mir auf dem Tisch. Keuchend sprang ich auf. Sie hielt mitten im Satz inne und erhob sich gleichfalls. Ich starrte auf jene Stelle an ihrem Kopf und hatte einen widerlich süßen Geschmack im Mund... Das Tuch... Ich fand es nicht und spuckte auf den Boden. Mein Zimmernachbar durfte es nicht sehen. Das würde alles noch verschlimmern... Ich drückte auf den Knopf, obwohl ich kein Recht dazu hatte, aber jetzt war alles gleich. Die Vorhänge schlossen sich.
Sie begriff offenbar, was ich vorhatte, und eilte zur Tür. Ich kam ihr zuvor; schwer atmend und die Stelle an ihrem Kopf keine Sekunde aus den Augen lassend, stand ich vor ihr.
»Sie... Sie sind wahnsinnig! Unterstehen Sie sich...« Sie wich zurück und setzte sich, vielmehr, sie fiel auf das Bett. Zitternd, die Hände im Schoß gefaltet, hockte sie dort. Sie immer noch fest anblickend und alle Kraft zusammennehmend, streckte ich die Hand nach dem Tisch aus und ergriff die Rolle.
»Ich bitte Sie! Ein Tag — nur noch ein Tag! Morgen will ich kommen und alles tun, was Sie wollen...« Was meinte sie damit? Ich holte aus... Ja, ich habe sie getötet. Sie, unbekannte Leser, können mich einen Mörder nennen. Ich weiß, ich hätte die Rolle auf ihren Kopf niedersausen lassen, wenn sie nicht geschrieen hätte: »Um des Wohltäters willen... ich bin bereit...«
Und mit zitternden Händen riss sie sich die Uniform vom Leib. Ihr fetter, gelber schlaffer Körper lag auf dem Bett. Sie hatte gedacht, darum hätte ich die Vorhänge geschlossen! Das war so grotesk, dass ich in lautes Gelächter ausbrach. Im selben Augenblick riss eine zu straff gespannte Feder in mir, meine Hand sank kraftlos herab, und die Rolle glitt über den Boden. Lachen ist die tödlichste Waffe. Mit Lachen kann man alles töten, sogar den Mord selbst, erkannte ich plötzlich.
Ich saß am Tisch und schüttelte mich vor Lachen. Es war ein Lachen der Verzweiflung. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn alles seinen natürlichen Lauf genommen hätte. Doch da rasselte unvermutet das Telefon. Ich nahm hastig den Hörer ab — vielleicht war es I. Eine bekannte Stimme sagte: »Einen Augenblick!« Endloses, qualvolles Summen. Dann hörte ich schwere Schritte; sie kamen näher, wurden lauter, dröhnten wie Erz:
»D-503? Hier spricht der Wohltäter. Kommen Sie sofort zu mir!«
U lag immer noch auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Kiemen zu einem breiten Grinsen verzogen. Ich raffte ihre Kleider vom Fußboden auf, warf sie ihr zu und fuhr sie an:
»Machen Sie, dass Sie hier wegkommen!« Sie richtete sich auf und glotzte mich verdutzt an. »Wie?«
»Ziehen Sie sich an! Los, los!«
Sie nahm ihr Kleid und duckte sich. Mit gepresster Stimme sagte sie:
»Drehen Sie sich um.«
Ich wandte mich ab und drückte die Stirn an die gläserne Mauer. Auf dem schwarzen, nassen Spiegel zitterten
Lichter, Gestalten, Funken. Nein, das war ja ich, das war in mir... Warum hatte er mich gerufen? Wusste er bereits alles?
U ging fertig angekleidet zur Tür. Zwei Schritte, und ich presste ihre Hände so fest zusammen, als wollte ich Tropfen um Tropfen herauspressen, was ich erfahren musste:
»Hören Sie... Haben Sie ihren Namen — Sie wissen, wen ich meine — haben Sie ihren Namen angegeben? Sagen Sie mir die Wahrheit, ich muss es unbedingt wissen. Alles andere spielt keine Rolle... « »Nein.«
»Nein? Warum denn nicht — da Sie doch Anzeige erstattet haben...«
Sie schob die Unterlippe vor, und über ihre Wangen rannen dicke Tränen. »Weil... weil ich fürchtete... wenn sie verhaftet würde... dann würden Sie mich vielleicht... nicht mehr... lieben... Ach, ich kann nicht mehr...«
Ja, das war die Wahrheit, die dumme, lächerliche, menschliche Wahrheit! Ich öffnete die Tür.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur