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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Parteiarbeit in Odessa — Verhaftung und Gefängnis (1905 — 1906)

In Odessa kam ich erst nach dem Aufstand des Panzerkreuzers „Potemkin" an. Die Ortsgruppen aller Parteien, auch die unsrige, hatten alle stark gelitten und waren sowohl durch Verhaftungen als auch dadurch, dass viele Parteifunktionäre Odessa hatten verlassen müssen, sehr geschwächt worden.
Gleich nach meiner Meldung an der vereinbarten Stelle geriet ich in eine Sitzung des Odessaer Parteikomitees, wo sich herausstellte, dass meine Ankunft vom ZK im voraus angekündigt worden war, und dass daraufhin das Odessaer Parteikomitee mich in meiner Abwesenheit zu seinem Mitglied gewählt und zum Organisator des Stadtbezirks bestimmt hatte.
An der Sitzung des Parteikomitees nahmen folgende Genossen teil: Gussew (jetzt Sekretär der Zentralen Kontrollkommission der KP der SU), Kyrill — Prawdin (jetzt stellvertretender Volkskommissar für Verkehrswesen), Danil — Schotmann (jetzt Mitglied der ZKK) und Schapowalow (jetzt ebenfalls Mitglied der ZKK). Dieser verließ übrigens einige Tage nach meiner Ankunft Odessa. Die Arbeit des Odessaer Stadtkomitees war unter ihren Mitgliedern folgendermaßen verteilt: Gussew war Sekretär des Parteikomitees (außerdem stand er in Verbindung mit der bolschewistischen STUDENTEN-ORGANISATION und mit dem technischen Apparat des OK), Kyrill war Organisator des Peresypski-Bezirks, Danil Organisator des Dalnitzki-Bezirks und ich Organisator des Verwaltungsbezirks. Auf diese Weise war die Odessaer bolschewistische Organisation bis zu der Zeit nach dem Oktober 1905 in drei Bezirke eingeteilt. Der Dalnitzki-Bezirk hatte damals zwei Unterbezirke: den Fontanski und den Woksalni. Der Organisator des Woksalni-Unterbezirks war Genosse Mischa Woksalni — M. Semblüchter (jetzt Mitglied des Kollegiums des Innenkommissariats). Soweit ich mich erinnern kann, hatten die beiden anderen Bezirke keine fest organisierten Unterbezirke. Einige Tage nach meiner Ankunft in Odessa kam Genosse Anatoli (Gottlober) an, der ebenfalls in das Parteikomitee kooptiert wurde. Er wurde zum Leiter der Agitpropabteilung des Parteikomitees bestimmt. In dieser Zusammensetzung bestand das Parteikomitee bis zu den Tagen nach dem 17. Oktober 1905. Die Organisation war damals in Odessa und überhaupt in ganz Russland von unten bis oben nach dem Prinzip der Kooptierung aufgebaut: in den Fabriken und Werkstätten zogen die Bolschewiki, die dort arbeiteten, jene Arbeiter und Arbeiterinnen heran, die sie nach dem Grade ihres Klassenbewusstseins und ihrer Ergebenheit gegenüber der Sache des Proletariats für geeignet hielten. Die Verwaltungsbezirksleitungen in den Großstädten verteilten unter ihren Mitgliedern die Arbeit des Zusammenfassens aller Zellen in den Unterbezirken und des Schaffens von Zellen dort, wo noch keine bestanden. Die Organisatoren der Unterbezirke kooptierten die besten Elemente aus den Zellen in die Unterbezirksleitungen. Schied ein Mitglied der Unterbezirksleitung infolge einer Verhaftung oder, weil er die Stadt verlassen musste, aus, so kooptierten die übrigen Mitglieder andere Genossen, und zwar nach Vereinbarung mit der Verwaltungsbezirksleitung. Diese setzten sich aus den besten Elementen der Unterbezirksleitungen zusammen. Die Stadtkomitees wurden von der Gesamtheit aller Gruppen und Zellen einer Stadt gebildet und mussten vom ZK bestätigt werden, wobei die Stadtkomitees das Recht hatten, neue Mitglieder zu kooptieren. Wenn irgend ein Stadtkomitee ganz „aufflog", so ernannte das ZK der Partei irgend einen Genossen oder mehrere, und diese kooptierten dann die nötige Zahl geeigneter Genossen aus den Reihen der Funktionäre der Stadtbezirke.
Ich hielt es für nötig, bei dem organisatorischen Aufbau unserer damaligen Parteiorganisationen zu verweilen, weil ein sehr großer Prozentsatz der jetzigen Mitglieder der KP der SU in solchen Organisationen nicht tätig war, und es für diese von Nutzen ist, einiges darüber zu erfahren.
Außerdem leiden unsere ausländischen Bruderparteien sehr darunter, dass sie nicht imstande sind, eine passende Form des Aufbaus ihrer lokalen Organisationen unter illegalen Verhältnissen zu finden, da sie vor dem Kriege und auch nach dem Kriege (vor dem Entstehen der kommunistischen Parteien) nicht genötigt waren, ein illegales Dasein zu führen.
Wie war nun die Organisation des Odessaer Parteikomitees selbst beschaffen und worin bestand seine Tätigkeit vor den Oktobertagen des Jahres 1905?
Das Parteikomitee verfügte über Meldestellen für das Zentralkomitee und das Zentralorgan der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Bolschewiki), für die Parteikomitees der benachbarten Städte: Nikolajew, Cherson usw.
Die eintreffenden Genossen kamen zuerst zum Sekretär der Odessaer Organisation, dem Genossen Gussew. Gussew selbst hatte alltäglich, mit Ausnahme der Tage, an denen die Sitzungen des Parteikomitees stattfanden, seine eigenen Treffpunkte, wo wir — Mitglieder des Parteikomitees — ihn zu bestimmten Stunden finden konnten. Diese Treffpunkte waren in Cafes, in Privatwohnungen usw. Sitzungen des Parteikomitees fanden sehr oft statt, nicht weniger als einmal wöchentlich. Wir hielten sie in den Privatwohnungen der mit uns sympathisierenden Intellektuellen ab. In diesen Sitzungen besprachen wir die Direktiven des ZK, die politische Lage sowie die Durchführung dieser oder jener politischen Kampagnen. Oft wurden Fragen diskutiert, die unsere Agitation und Propaganda betrafen, ferner Fragen über unser Verhältnis zu den Organisationen der anderen Parteien in Odessa, mit denen unser Parteikomitee öfter in Berührung kam. Die von dem Parteikomitee gefassten Beschlüsse wurden von den Organisatoren der Verwaltungsbezirke ihren Bezirksleitungen bekannt gegeben, die dann über die Beschlüsse selbst ebenso wie über die Methoden ihrer Durchführung diskutierten.
Das Parteikomitee gab bei allen politischen Anlässen Flugblätter heraus (in Odessa hatten wir eine große illegale Druckerei des ZK, in der wir unsere Flugblätter druckten), verbreitete die Literatur, die wir vom ZK und aus dem Auslande erhielten, schickte Redner zu Betriebs- und anderen Versammlungen und bestimmte die Leiter für die höheren Stufen der politischen Bildungszirkel in den Verwaltungsbezirken. Welche Fragen in jener ersten Sitzung des Parteikomitees, an der ich am Tage meiner Ankunft in Odessa teilnahm, beraten wurden, weiß ich nicht mehr. Nach der Sitzung brachte man mich mit den Genossen des Verwaltungsbezirks in Kontakt, und ich machte mich an die Arbeit.
Die Leitung meines Verwaltungsbezirks funktionierte gut. Sie bestand aus dem Schuster Wolodja Mowschowitsch (gegenwärtig Mitglied der Revisionskommission eines Trusts), Anna (die „Geschorene") — einer Schneiderin, die ich nicht mehr wieder gesehen habe, dem Bauarbeiter Alexander Kazap (Pol-jakow — nach der Februarrevolution 1917 stellte sich heraus, dass er seit 1911 Agent der geheimen politischen Polizei war), Jakow — „Extern" (I. W. Stuhlbaum), „Pjotr", — ein Bulgare, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann — der als Arbeiter in der Tabakfabrik von Popow tätig war, einem Buchdrucker und noch einigen Genossen, deren Namen und Decknamen mir entfallen sind. Ein jedes Mitglied der Verwaltungsbezirksleitung stand mit den Gruppen und Zellen des Produktionszweiges in Kontakt, in dem er zur Zeit selbst tätig war. Durch die Gruppen- und Zellenmitglieder war er mit den Arbeitern und Arbeiterinnen dieses Produktionszweiges verbunden. Der Kontakt zwischen dem Odessaer Parteikomitee und den Arbeitern in den Fabriken und Werkstätten wurde auf folgende Weise aufrechterhalten: der Organisator eines Verwaltungsbezirks bildete das Bindeglied zwischen dem Parteikomitee und der Bezirksleitung, die Mitglieder der Bezirksleitung waren ihrerseits mit den Gruppen und Zellen verbunden, und die Mitglieder der Gruppen und Zellen führten die Direktiven des Parteikomitees und der Bezirksleitung unter den Arbeitern durch; umgekehrt informierten diese die Bezirksleitungen und das Parteikomitee über die Stimmung unter den Odessaer Arbeitern in eben derselben Reihenfolge. Ob die beiden anderen Bezirke Odessas genau so organisiert waren, kann ich nicht bestimmt sagen, da ich dort nicht gearbeitet habe. Ich glaube jedoch, dass die Organisationsformen dieser Verwaltungsbezirke sich nicht wesentlich von der Organisationsform des Stadt-Verwaltungsbezirks, in dem ich tätig war, unterschieden. In meinem Stadt-Verwaltungsbezirk befanden sich hauptsächlich kleine Betriebe: Schuster- und Schneiderwerkstätten, Buchdruckereien, Baubüros und Baugenossenschaften, Kontore und Läden, einige Tabakfabriken (die größte dieser Fabriken war die von Popow) und die Teesortiererei von Wysotzki.
Die Bezirksleitung tagte nicht weniger als einmal in der Woche, mitunter auch öfter. Ihre Zusammensetzung war eine ziemlich qualifizierte. Alle Fragen wurden gründlich und eingehend durchberaten. Als Bezirksorganisator musste ich in den Gruppen und Zellen meines Bezirkes Umschau halten (ich hatte dabei als Gehilfen die Genossin S. B. Britschkina), aber meine Hauptaufmerksamkeit konzentrierte ich auf die Arbeit unter den Tabakarbeitern und -arbeiterinnen. Außer den Versammlungen der Parteigenossen, die Tabakarbeiter waren, veranstalteten wir sehr oft Versammlungen für Arbeiter und Arbeiterinnen verschiedener Tabakfabriken, die oft von 50—60 Teilnehmern besucht wurden und in denen ich über verschiedene Fragen Referate hielt.
So ging die Arbeit vorwärts bis Mitte September. Mit jedem Tag gewannen wir immer neue und neue Beziehungen zu verschiedenen Industriezweigen, mit denen wir noch nicht in Verbindung standen.
Nun wurden in Odessa auch die Liberalen rührig: sie veranstalteten öffentliche Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, in denen sie pathetische Oppositionsreden hielten, und gaben Bankette, auf denen sie bis zum Überfluss schwätzten. Man begann freier zu atmen. Ich erinnere mich nicht, dass seit Mitte September Verhaftungen in Odessa vorgekommen waren. Hier und da fanden bereits Meetings in den Lehranstalten statt.
Mitte des Sommers 1905 existierten in Odessa außer der bolschewistischen Ortsgruppe eine menschewistische, ferner eine Ortsgruppe des „Bund", der Sozialrevolutionäre und der Daschnaki (Armenische Nationalrevolutionäre). Ende August oder Anfang September wurde die Frage der Einberufung einer gemeinsamen Sitzung der Vertreter der Bolschewiki, der Menschewiki und des „Bund" aufgeworfen. Welches Parteikomitee damals die Frage aufgeworfen hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, dass Bundisten es waren, die die Initiative ergriffen hatten, denn unsere Beziehungen zu den Menschewiki hatten sich sehr zugespitzt, so dass weder wir noch sie eine gemeinsame Sitzung vorgeschlagen haben konnten. Ich nehme also an, dass die Initiative zur Einberufung einer solchen Beratung von den Bundisten ausging, weil sie organisatorisch den Menschewiki näher standen, in vielen taktischen Fragen aber sich mit uns solidarisch erklärt hatten. Ich erinnere mich, dass in unserem Parteikomitee die Frage der Einberufung einer gemeinsamen Beratung diskutiert wurde, und dass wir uns einverstanden erklärten, daran teilzunehmen. Genosse Gussew und ich wurden als Vertreter bestimmt. Das Parteikomitee beauftragte uns auch, in der Beratung eine ganze Reihe von Fragen aufzuwerfen: Semstwokampagne, Wahlen zur Bulyginschen Duma usw. Soweit ich mich entsinnen kann, fand nur eine einzige Sitzung der Vertreter der drei Parteien statt, die aber zu gar keinem Ergebnis führte, da die Vertreter des „Bund" verlangten, dass alle drei Parteikomitees sich auf die gemeinsame praktische Durchführung jener Kampagnen einigen sollten, in bezug auf die keine Meinungsverschiedenheiten bestanden, und zwar ohne die Fragen zu diskutieren, über die wir verschiedener Ansicht waren. Da zwischen uns und den Menschewiki in fast allen taktischen Fragen große Meinungsverschiedenheiten bestanden, und wir sie überall bekämpften, wo wir mit ihnen in Berührung kamen, so konnten wir uns mit einer mechanischen Aktion in irgend einer Frage ohne Hinweis auf die Meinungsverschiedenheiten in den anderen taktischen Fragen nicht einverstanden erklären. Der Versuch der Verständigung war jedoch nicht spurlos vorübergegangen. In den Oktobertagen handelten nicht nur alle Gruppen der Sozialdemokratie, sondern überhaupt alle revolutionären Organisationen gemeinsam. Doch darüber später.
Ende September und Anfang Oktober begannen die Meetings in der Universität, die anfangs nur für Studenten bestimmt waren, allmählich aber zu Volksversammlungen wurden, die sich unaufhörlich wiederholten. Die Organisation dieser Meetings befand sich nach außen hin in den Händen der Studenten, in Wirklichkeit aber wurden die Redner von allen revolutionären und sozialistischen Parteien gestellt. Natürlich traten in diesen Versammlungen außer den Vertretern der Parteien alle möglichen Personen auf. Die Versammlungen trugen deshalb einen ziemlich chaotischen Charakter. Ich erinnere mich an folgenden drolligen Vorfall: die Bundisten verlangten, dass man ihnen gestatte, in ihrer Muttersprache zu reden, und begründeten diese Forderung damit, dass an den Versammlungen Arbeiter und Arbeiterinnen teilnehmen, die nur jiddisch verständen. Der Versammlungsleiter richtete an die Versammlung die Frage, wer von den Anwesenden nur Russisch verstände, und eine überwältigende Mehrheit der Versammlung war dafür, dass nur russisch gesprochen werden sollte. Die Bundisten waren über das Ergebnis der Abstimmung empört und beklagten sich darüber, dass man ihnen keine Gleichberechtigung einräumen wolle. Auf dringendes Verlangen aller sozialistischen Parteien wurde dann beschlossen, auch einen Redner in jüdischer Sprache zuzulassen. Er trat auf und begann seine Ansprache. Da aber erwies sich, dass alles, was er sagte, zu 60 Prozent aus russischen Worten bestand. Es setzte ein so stürmisches Lachen aller Versammlungsteilnehmer ein, dass der in Verlegenheit geratene Redner sich veranlasst sah, die Rednertribüne zu räumen.
Hier will ich nebenbei noch bemerken, dass der „Bund" in Kiew, Odessa, Jekaterinoslaw und anderen russischen Städten neben den bestehenden Organisationen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auch seine eigenen Parallelorganisationen schuf, obwohl die Bundisten sich selbst für einen Teil der russischen Sozialdemokratie ausgaben. Zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise führten sie an, dass in diesen Städten Arbeiter und Arbeiterinnen leben, die nicht russisch verständen. Eine seltsame Ausrede! Als ob die Ortsgruppen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter diesen Arbeiterschichten nicht auch in jüdischer Sprache hätten arbeiten können!
Die Lage in Russland wurde mit jedem Tag revolutionärer: in Petersburg und vielen anderen Städten Russlands, auch in Odessa, brachen ununterbrochen elementare Streiks mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen aus. Aus den Verwaltungsbezirken erhielt das Parteikomitee Nachrichten von einer entschlossenen Stimmung unter den Arbeitern. Die Meetings in der Universität wurden immer stürmischer. Es war klar, dass die Massen nach revolutionäreren Kampfmethoden suchten, als die Meetings es waren.
Ungefähr am 12. Oktober begann das bolschewistische Parteikomitee in Odessa die Frage der Anwendung aktiverer Kampfmethoden zu beraten. Das Komitee beschloss einstimmig, das Cdessaer Proletariat zum politischen Streik aufzurufen unter den Losungen: „Nieder mit dem Selbstherrschertum!" — „Her mit der Konstituante!" Außerdem beschloss man, am ersten Sonntag nach Beginn des Streiks eine Straßendemonstration zu veranstalten. Das Parteikomitee schlug sämtlichen revolutionären Organisationen vor, gemeinsam zum Streik und zur Durchführung der Demonstration aufzurufen. Damit waren die Bundisten und Menschewiki einverstanden. Auf unsern Vorschlag aber, den Streik am Freitag zu beginnen, wollten sie nicht eingehen und erklärten, dass die jüdischen Arbeiter, unter denen sie tätig waren, am Freitag ihren Lohn ausgezahlt bekommen und an diesem Tage die Arbeit nicht niederlegen würden. Außerdem, sagten sie, wäre es falsch, den Streikbeginn auf einen solchen Tag festzulegen, da die jüdischen Arbeiter, wenn sie am Freitag keinen Lohn bekämen, kein Geld zum Leben hätten. Die Menschewiki erklärten sich mit diesen Einwänden der Bundisten einverstanden und fügten ihrerseits hinzu, dass man auch auf den Sonnabend keinen Streik ansetzen dürfe, da für die russischen Arbeiter Sonnabends Lohntag sei. Ob die Sozialrevolutionäre mit dem Aufruf zum Streik am Freitag einverstanden waren und ob alle obengenannten Organisationen der Demonstration zustimmten, weiß ich nicht mehr. Das Parteikomitee der Bolschewiki setzte selbst den Beginn des Streiks auf Freitag und die Demonstration auf Sonntag fest. Wir gaben ein Flugblatt für den Streik heraus. Von der Demonstration erfuhren die Arbeiter in ihren Betrieben, Fabriken, Werkstätten und Versammlungen, wo zum Streik aufgefordert wurde. Über den Streik und die Demonstration werden wir uns später äußern. Hier wollen wir zunächst schildern, wie die Peripherie auf die Beschlüsse des Parteikomitees über den Streik und die Demonstration reagierte.
Gleich nach der Sitzung des Parteikomitees berief ich die Bezirksleitung meines Bezirkes zusammen. Beide Beschlüsse — Streik und Demonstration — wurden gutgeheißen. Die Frage der Durchführung aber rief eine außerordentlich lange Debatte hervor, die mehr als 6 Stunden dauerte. Und diese Debatte wäre wohl auch nicht so bald beendet worden, wenn wir nicht durch das Fenster der Wohnung, in der wir tagten (die Fenster dieser Wohnung gingen auf den Hof des Polizeireviers hinaus), plötzlich bemerkt hätten, dass die Kosaken in Alarmbereitschaft waren. Das bedeutete, dass es in der Stadt unruhig wurde.
Als die Mitglieder der Bezirksleitung meines Bezirkes die Direktiven an die Gruppen und Zellen weiterzugeben begannen, stellte es sich heraus, dass die Arbeiter in vielen Betrieben, sobald das Gerücht vom Streik sie erreichte, die Arbeit niederlegten, ohne erst eine offizielle Aufforderung abzuwarten. Leider kann ich nicht sagen, wie die Vorbereitungen zum Streik in den anderen Bezirken durchgeführt wurden. Es überraschte mich nur, dass die Genossen Kyrill und Danil, die Organisatoren der beiden anderen Bezirke, denen ich gerade begegnete, als ich nach der Sitzung des Parteikomitees in toller Hast in meinem Bezirk umherlief, mir auf meine Frage: „Wohin geht Ihr?" erklärten, dass sie in die Sitzung der Stadtduma gingen. Ich glaube kaum, dass ihr Apparat in den Bezirken so gut funktionierte, dass er imstande war, die Direktiven des Parteikomitees ohne die Parteiorganisatoren durchzuführen. Offenbar verfügten sie nur über ganz belanglose Verbindungen in ihren Bezirken. Das Parteikomitee hatte beschlossen, alle Arbeiter zum Streik aufzurufen, mit Ausnahme der Arbeiter in den Wasserwerken, Bäckereien und Krankenhäusern.
Inwieweit die Direktiven des Parteikomitees ausgeführt wurden, inwieweit der Streik geschlossen durchgeführt wurde, ist heute schwer zu sagen. Jedenfalls machte sich der Streik sehr fühlbar, obwohl der elektrische Strom nicht abgesperrt worden war. Viele rückständige Fabriken, mit denen die Partei nicht in Fühlung stand, stellten die Arbeit ein, ohne den Aufruf abzuwarten, denn zu jener Zeit standen bereits die Odessaer Eisenbahnwerkstätten still, und der Zugverkehr war auf Beschluss des Allrussischen Eisenbahnerkongresses, der damals in Petersburg tagte, eingestellt worden.
Die Demonstration war, wie ich schon oben erwähnt habe, auf den Sonntag festgesetzt worden. Es war der letzte Sonntag vor dem Erscheinen des Manifestes vom 17. Oktober. Am das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern. Zum Sammelpunkt wurde die Kreuzung der Deribassowskaja und Preobraschenskaja bestimmt, die gegenüber einem kleinen Garten gelegen war. Diesen Ort hatte man gewählt, weil am Sonntag in allen Auditorien der Universität Meetings stattfinden sollten, und man beabsichtigte, gleich nach Schluss der Meetings nach dem festgesetzten Ort die Chersonskaja hinunterzumarschieren. Die Universität lag an der Ecke der Chersonskaja, deren Fortsetzung eben die Preobraschenskaja bildet.
Das Parteikomitee bestimmte mich zum Leiter der Demonstration und schickte Genossen in alle Versammlungen, die die Aufgabe hatten, gleich nach der Eröffnung der Versammlung aufzutreten und die Anwesenden zur Teilnahme an der Demonstration aufzufordern. Die Organisation war nicht übel, und die Demonstration gestaltete sich recht eindrucksvoll (für die damalige Zeit natürlich). Die Demonstranten durchzogen ein paar Mal die festgesetzte Straße, wobei revolutionäre Losungen ausgerufen wurden. Ob eine rote Fahne da war, und ob revolutionäre Lieder gesungen wurden, weiß ich nicht mehr genau. Auf einmal stürzten sich die Kosaken auf die Menge, hieben mit ihren Nagaikas nach rechts und links auf die Demonstranten ein und trieben sie von der Hauptstraße in die Nebenstraßen.
Die Demonstranten waren unbewaffnet. Das Parteikomitee hatte nicht einmal die Frage der Bewaffnung der Demonstration gestellt. Um sich vor den Kosaken zu retten, warfen die Demonstranten einige Straßenbahnwagen um, rissen das Straßenpflaster auf und schleuderten Steine auf die Kosaken. Hie und da wurden auch die Eisengitter der Gärten herausgerissen.
Die Demonstranten zerstreuten sich nun in Gruppen über die ganze Stadt. Alle wurden aus den Häusern auf die Straße gerufen und die vorüberfahrenden Droschken angehalten.
Das ging so einige Stunden lang. Soweit ich mich erinnern kann, war es während der Demonstration zu keinen Schießereien gekommen, auch war niemand durch die Nagaikas der Kosaken ernstlich verletzt worden, obwohl man nach der Sprengung der Demonstration hie und da aus den umgeworfenen Straßenbahnwagen Barrikaden gemacht hatte, die die Kosaken dann im „Sturm" nahmen.
Alle Organisatoren der Verwaltungsbezirke fanden sich am festgesetzten Treffpunkt ein, wo Gen. Gussew saß. Jeder berichtete, was er gesehen hatte. Wir waren damals der Ansicht, dass die Demonstration geglückt war. Nach der Berichterstattung suchte ich den Treffpunkt meines Bezirks auf. Da dieser sich am entgegengesetzten Ende der Stadt befand (neben der Moldawanka), so musste ich durch das Zentrum der Stadt gehen. Die Straßen waren sehr belebt, obwohl es bereits spät am Nachmittag war und die Demonstration nur bis etwa ein Uhr gedauert hatte. Aber trotz der vielen Menschen sah man weder Polizei noch Kosaken auf den Straßen. Als ich schon beinahe den Treffpunkt erreicht hatte, tauchte plötzlich an der Straßenecke eine Abteilung berittener Polizisten auf, die alle Naganpistolen in der Hand hielten. Die Abteilung blieb auf einmal stehen und schoss ohne jeden Anlass und ohne Warnung direkt in die Menschenhaufen hinein, die sich rechts und links auf den Bürgersteigen angesammelt hatten. Dann sprengte die Abteilung ebenso schnell wie sie gekommen war davon.
Wie sich noch am selben Abend auf dem Treffpunkt des Parteikomitees, wo wir uns abermals versammelten, herausstellte, war die Schießerei, die ich mitangesehen hatte, nicht die einzige gewesen. Ähnliche Vorfälle hatten sich in allen Stadtteilen wiederholt, die von Arbeitern und dem ärmeren Teil der Bevölkerung bewohnt wurden. In der Sitzung des Parteikomitees, die am Treffpunkt abgehalten wurde, waren alle Genossen tief erregt über den Überfall der Polizei und die Erschießungen. Nur Genosse Gussew verlor kein Wort und schrieb fortwährend. Als jeder seinen Bericht erstattet hatte las uns Genosse Gussew das von ihm Niedergeschriebene vor. Es war ein kurzer Aufruf, der die Ereignisse des Tages schilderte, auf die Notwendigkeit der Fortsetzung des Streiks hinwies und die Arbeiter aufforderte, sich zu bewaffnen, da der Kampf bereits in den bewaffneten Aufstand übergehe. Dieser Aufruf wurde einstimmig gutgeheißen. Zugleich wurde auch beschlossen, Vorbereitungen zur Beisetzung der Opfer dieses Tages zu treffen; zu diesem Zweck beauftragte man Genossen Gussew und mich, Verhandlungen mit allen revolutionären Organisationen Odessas über diese Frage zu führen. Die Toten und Verwundeten waren nach dem Jüdischen Spital auf der Moldawanka gebracht worden. Um der Polizei die Möglichkeit zu nehmen, die Leichen fortzuschaffen, hatte man eine ständige Patrouille aus Vertretern aller revolutionären Organisationen gebildet. Ein föderatives Komitee dieser Organisationen arbeitete den Plan für die Beerdigung aus. Ununterbrochen pilgerten die Arbeiter nach dem Jüdischen Krankenhaus, wo die Toten und Verwundeten bis zum 17. Oktober lagen; in der Universität aber dauerten die Versammlungen weiter fort.
Am Morgen des 18. Oktober kehrte ich aus dem Jüdischen Krankenhaus in das Zentrum der Stadt zurück. Ich war in keiner sehr gehobenen Stimmung. Plötzlich strömten von allen Seiten Volksmassen herbei: Arbeiter, Studenten, Gymnasiasten, Frauen, Kleinbürger, Intellektuelle, Halbwüchsige — kurz, alles durcheinander. Alle hatten freudig erregte Gesichter. Das Manifest vom 17. Oktober wurde laut vorgelesen und unter dem Publikum verteilt. Hie und da hörte man durcheinander revolutionäre Lieder singen. Die Spießbürger gratulierten einander zur Freiheit. Schließlich tauchten rote Fahnen auf, und unter den Manifestanten fing man darüber zu streiten an, wohin man marschieren solle: zum Gefängnis oder zum Rathaus? Ich gestehe, dass ich persönlich für das Rathaus war. Es kam mir lebhaft in den Sinn, dass in Paris die Aufständischen zuerst das Rathaus besetzt hatten. Während ich mich aber auf der Straße unter der Menge befand und für den Marsch zum Rathaus sprach, glaubte ich eigentlich nicht an das Manifest, es schien mir nur eine Falle zu sein, um die revolutionären Elemente Russlands auf den Leim zu locken.
Die Menge teilte sich schließlich: der eine Teil zog mit den Fahnen zum Gefängnis, während der andere Teil, dem auch ich mich anschloss (mir war plötzlich irgendwie eine Fahne in die Hände geraten), sich durch die Hauptstraßen zum Rathaus begab. Die Demonstranten zwangen die Militärs, vor den roten Fahnen die Mütze zu ziehen. Als die Demonstration die Deribassowskaja passierte, wo damals die ganze Odessaer vornehme Welt wohnte, erblickte man auf den Balkons rote Teppiche und Tücher. Hie und da wurde sogar die Marseillaise gespielt. Am Tage darauf hingen auf denselben Balkons bereits die Zarenflaggen und Zarenbilder, und die Musik spielte die Zarenhymne.
Auf dem Rathaus wurde die rote Fahne gehisst und Redner hielten Ansprachen. Eine große Menschenmenge umringte das Rathaus. Es wurde viel und über alles mögliche gesprochen. Als aber eine kleine Abteilung Kosaken vorbeiritt, liefen die Teilnehmer des Meetings auseinander, und ich blieb mit der Versammlungsglocke fast allein auf dem Platze. Als die Kosaken fort waren, strömte das Volk wieder herbei, das Meeting begann von neuem und dauerte nun bis zum späten Abend. Ich trat ins Rathaus. Hie und da waren die Zarenbilder von den Wänden weggenommen und zerrissen worden. Überall bewegten sich ungehindert Menschenmengen. Ich begab mich in das Zimmer, in dem ein Teil der Stadtväter tagte und gerade die Frage der Bildung einer städtischen Miliz erörterte, da von Polizei auf den Straßen keine Spur zu finden war. Die Stadtverordneten stritten über die Abzeichen für die Miliz. Ich fragte, wen sie für die Miliz zu rekrutieren gedächten und ob im Rathaus Waffen wären. Auf meine Frage erhielt ich die klare Antwort, dass man durch die Hausbesitzer allen Mietern vorschlagen wolle, aus ihrer Mitte eine unbewaffnete Miliz zu wählen, die zur Unterscheidung von den übrigen Bürgern besondere Abzeichen tragen sollte. Und über die Form dieses Abzeichens debattierten eben die Stadtweisen in der erwähnten Sitzung.
Ich schlug die Bewaffnung der Arbeiterschaft durch die revolutionären Organisationen vor und wurde von dem eben eintretenden Genossen Gussew und einigen Anwesenden unterstützt, die wahrscheinlich ebenso wie ich selbst Vertreter der revolutionären Organisationen waren. Aber die Stadtväter erklärten uns, dass sie weder Waffen noch Geld zum Einkauf von Waffen hätten. Sie fügten noch hinzu, dass es nach dem Manifest wohl kaum nötig sein werde, das Proletariat zu bewaffnen.
Gegen Abend erreichten uns Gerüchte, dass auf der Moldawanka bereits ein Judenpogrom begonnen habe. Ins Rathaus kam noch jemand von den Mitgliedern des Parteikomitees. Wir beschlossen sofort, noch am gleichen Abend eine Parteimitgliederversammlung einzuberufen. Ich wurde nach der Moldawanka geschickt, um nachzusehen, was dort los sei.
Dort bot sich mir folgendes Bild: eine etwa 25 Köpfe zählende Gruppe junger Menschen, unter denen sich auch verkleidete Polizisten und Agenten der Ochrana befanden, hielt alle irgendwie jüdisch aussehenden Passanten an, ganz gleich, ob es sich um Frauen, Männer oder Kinder handelte. Die Angehaltenen wurden ganz nackt ausgezogen und misshandelt. Aber die Bande beschränkte sich nicht nur auf Juden. Fielen ihnen Studenten, Gymnasiasten oder einfach Menschen mit intelligenten Gesichtszügen in die Hände, so bekamen auch die ihre Prügel. Die Banditen verrichteten ihr Werk auf der Treugolnjaja. Etwas abseits standen viele Zuschauer und beobachteten die oben beschriebenen Vorgänge. Sofort organisierten wir eine mit Pistolen bewaffnete Gruppe (nach der Demonstration waren unserem Parteikomitee einige kleine Naganpistolen in die Hände gefallen; eine davon hatte auch ich erhalten), näherten uns den Banditen und gaben eine Salve ab. Die Bande stob auseinander. Aber plötzlich erhob sich zwischen uns und den Banditen eine Mauer: Militär in voller Ausrüstung. Wir zogen uns zurück. Daraufhin entfernten sich die Soldaten, und die Banditen erschienen wieder auf der Straße. Das wiederholte sich einige Male. Es wurde mir klar, dass die Banditen im Einverständnis mit den Militärbehörden handelten.
Ich begab mich in die Mitgliederversammlung unserer Organisation. Sie war schon eröffnet und machte auf mich einen schlechten Eindruck. Das Universitätsauditorium, in dem die Versammlung stattfand, war nur schwach erleuchtet. Unter den anwesenden Genossen herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Zusammensetzung der Teilnehmer überraschte mich. Es war eine zahlreiche Versammlung, aber unter den Anwesenden stachen besonders die Frauen hervor, und es schien mir, als ob sie die Mehrheit der Versammlungsteilnehmer bildeten. Russische Arbeiter fehlten fast ganz. Ich glaubte damals, der Grund für das Nichterscheinen der russischen Arbeiter liege in der mangelhaften Benachrichtigung der Parteimitglieder, denn es war eine außerordentliche Versammlung, die sehr rasch einberufen worden war; aber die darauf folgenden Versammlungen — sowohl bei uns als auch bei den Sozialrevolutionären und Menschewiki — wurden ebenfalls von einem verhältnismäßig geringen Prozentsatz russischer Arbeiter besucht, obwohl der Einfluss aller revolutionären Organisationen auf die russischen Arbeiter der Odessaer Fabriken und Betriebe sehr groß war, was durch die Streiks im Oktober und November bestätigt wurde.
Die Versammlung nahm einen Bericht über das Manifest und seine Bedeutung entgegen, ferner eine Mitteilung über den Pogrom. Es wurde beschlossen, zusammen mit allen anderen revolutionären Organisationen den Banditen bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen und die Bevölkerung zum Selbstschutz aufzurufen.
Auch ein föderatives Komitee aus Vertretern aller revolutionären Organisationen wurde gebildet. Außer uns, den Menschewiki, Bundisten und Sozialrevolutionären nahmen an den Sitzungen dieses Komitees Vertreter der Daschnaken, Poale-Zionisten und „Serpowzen" teil. Die neugeschaffene revolutionäre Körperschaft hatte in der ganzen folgenden Zeit ihren Sitz in der Universität.
In der Nacht vom 18. zum 19. und am Morgen des 19. Oktober herrschte in der Universität ein tolles Durcheinander. Eine Unmenge von Menschen kam und ging. Die einen brachten allerlei Waffen, die anderen Geld und alle möglichen Wertgegenstände zum Verkauf, um dafür Waffen zu erwerben. Am gleichen Morgen fing man auch an, bewaffnete Abteilungen zu formieren, die gegen die Plünderer und Mörder gesandt wurden.
Im Laufe von kaum drei Tagen hatten wir die meisten bewaffneten Abteilungen in den Kampf geschickt, aber sie hatten nicht viel ausrichten können, denn überall, wo die Banditen am Werke waren, wurden sie von Polizei, Kosaken, Kavallerie, Infanterie und sogar von Artillerie gedeckt. Im Dalnitzki-Bezirk hatten z. B. die Eisenbahner eine starke Abteilung organisiert, die erfolgreich die Plünderer auseinander trieb. Aber die Arbeiter mussten sich schließlich unter großen Verlusten zurückziehen, da das Militär mit Waffengewalt gegen die bewaffneten revolutionären Kampftrupps vorging. An einigen Punkten der Stadt, wo keine Soldaten zu sehen waren, gingen der Selbstschutz und die bewaffneten Kampftrupps erfolgreich gegen die Plünderer vor. Hie und da gelang es ihnen, gewaltsam in die Waffenhandlungen einzudringen und dem Stab des föderativen Komitees Waffen zu besorgen. Die Selbstschutzabteilungen hatten sehr hohe Verluste. Dass die Opfer des Pogroms unter der jüdischen Bevölkerung außerordentlich groß waren, versteht sich von selbst.
Ich muss hier den Heldenmut einer aus Studenten der Marineschule bestehenden Abteilung hervorheben. Diese hatte im Kampf gegen die Plünderer besonders hohe Verluste erlitten.
In der auf den zweiten Pogromtag folgenden Nacht wurde es klar, dass der bewaffnete Kampf, den das Föderative Komitee führte, nicht die Ergebnisse zeitigte, die die großen Opfer hätten rechtfertigen können. Der Kampf wurde in organisierter Weise abgebrochen, obwohl hie und da Abteilungen die noch nicht in die Universität zurückgekehrt waren, ihre Tätigkeit fortsetzten. Außerdem war noch der Selbstschutz der Bevölkerung in Tätigkeit. Die Initiative zum Abbruch des Kampfes ging von Genossen Gussew aus: er erklärte mir, dass der Kampf keinen Zweck hätte, da die Kräfte viel zu ungleich wären, und dass wir unsere Kaders behalten müssten, da noch ein langer und hartnäckiger Kampf gegen den Zarismus bevorstünde. Derselben Ansicht waren auch die anderen Mitglieder des Föderativen Komitees.
Der Pogrom fing an und endete vollkommen programmmäßig. Sobald die von den Satrapen des Zaren festgesetzte dreitägige Frist um war, hörte der Pogrom auf. Die Universitätsverwaltung erhielt von den Behörden eine ultimative Forderung, die Hochschule von den revolutionären Organisationen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu säubern. Dieser entsprach genau dem für die Beendigung des Pogroms festgesetzten Termin. Widrigenfalls sollte eine Besetzung der Universität durch Militär vorgenommen werden.
Man beschloss, alle aus der Universität zu entfernen und vorher die Waffen einzusammeln. Diese Waffen fielen denn auch nicht in die Hände der Behörden. Die Universität wurde rasch gesäubert, und es wurde in der Tat niemand von den Hinausgehenden festgenommen. Überhaupt sah man in der Nähe der Universität weder Soldaten noch Polizisten. Offenbar hatten sie vor Bomben Angst. Dafür aber waren alle Straßen Odessas von Militärpatrouillen besetzt, die unter Leitung der Polizei standen. Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, nahmen die betrunkenen Patrouillen den Passanten Geldbeutel, Taschenuhren, Ringe und dergleichen mehr ab. Zur Charakteristik der rechtlichen Verhältnisse in Odessa, die bereits einige Tage nach dem Pogrom herrschten, will ich hier nur eine Episode schildern. Einige Tage nach dem Pogrom begab ich mich zu den mit mir befreundeten Genossen Itin, um zu sehen, ob sie noch am Leben wären, denn ich hatte sie schon eine ganze Woche lang nicht gesehen. Sie wohnten im Zentrum der Stadt. Wir saßen zusammen und erzählten einander gerade die Erlebnisse der letzten Tage, als plötzlich Schüsse ertönten und Gewehrkugeln in die Zimmerdecke einschlugen, nahe an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand. Dieses Fenster ging auf die Straße hinaus, die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Wir stürzten zu den Fenstern und erblickten neben dem Haus, gerade unseren Fenstern gegenüber, eine Patrouille. Polizisten liefen auf und ab. Das Haus wurde umstellt und niemand hinausgelassen. Dann wurden Soldaten aller Waffengattungen, ja sogar leichte Artillerie herangezogen. Wir saßen im Zimmer und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Schließlich drang eine Bande von Polizisten und Offizieren in die Wohnungen ein. Der Korridor und die Treppe waren voll von Soldaten. Voran stürzten die Offiziere zu uns ins Zimmer mit dem Ruf: „Wer hat von hier aus auf die Patrouille geschossen?" Zu unserem Glück waren die Winterfenster bereits eingesetzt und verkittet, so dass, selbst wenn aus der Wohnung durch die Luftpforte geschossen worden wäre, die Schüsse nur die Fenster des gegenüberliegenden Hauses hätten treffen können, aber keineswegs die Patrouille, die mitten auf dem Straßendamm gestanden hatte. Das setzten wir ihnen alles auseinander. Trotzdem wurden wir alle in ein Zimmer hineingetrieben, das sie vorher sozusagen auf den Kopf gestellt hatten. Dann begann man uns einzeln zur Vernehmung aufzurufen auf Grund des Mieterverzeichnisses. Die Aufgerufenen wurden einer persönlichen Visitation unterzogen und gleichzeitig verhört. Man fragte ganz genau nach allen möglichen Dingen und schikanierte jeden in unglaublicher Weise. Ich überlegte lange hin und her, was ich tun sollte: ich wohnte ja nicht in diesem* Hause, also würde man mich nicht aufrufen, aber der Soldat, der vor der Tür des Zimmers stand, in dem wir uns befanden, hatte mich bemerkt. Wenn nun auch die Offiziere auf mich aufmerksam geworden wären, dann hätte man mich, da ich im Mieterverzeichnis nicht vermerkt war, bestimmt nach der Polizeiwache zur Feststellung meiner Personalien mitgenommen, und dann hätte vielleicht mein letztes Stündlein geschlagen, denn in jenen Tagen mordete man in den Polizeirevieren. So beschloss ich denn, mich hinter der Zimmertür zu verstecken. Ich musste mich geraume Zeit dort versteckt halten, denn die ganze Prozedur dauerte sehr lange. Dafür aber hatte ich Glück gehabt: ich war unbemerkt geblieben und damit aus der Patsche heraus. Als die ganze Bande die Wohnung verlassen hatte, packte mich ein Entsetzen. Ich besann mich darauf, dass im Erdgeschoß desselben Hauses eine Kistenmacherei war, deren Fenster und Tür auf die Straße hinausgingen. In dieser Werkstatt befand sich die illegale Druckerei des ZK, in der auch die Flugblätter des Odessaer Parteikomitees gedruckt wurden. Ich dachte, die Haussuchungen würden im ganzen Hause stattfinden — also auch unten. Wenn man auf die Patrouille wirklich aus unserem Hause geschossen hätte, dann wäre das nur aus dem Erdgeschoß oder vom ersten Stock aus möglich gewesen. Von da aus hätte man leicht feuern können, aber außer der Salve, die auf unsere Fenster abgefeuert worden war, hatte man keinen Schuss vernommen.
Hätte man die Druckerei entdeckt, dann würde man alle umgebracht haben. Die ganze Nacht hindurch bangte ich furchtbar am das Schicksal der Genossen aus der Druckerei. Angesichts meiner unsicheren Lage in diesem Hause wagte ich nicht, selbst hinunterzugehen, um nachzusehen, was geschehen war. Jemand von den Itins hinzuschicken, war ebenfalls unmöglich, weil ich dann den Itins hätte sagen müssen, dass sich unten die Druckerei befand; das aber war ihnen unbekannt, obwohl die Itinsche Wohnung oft von den Genossen der Druckerei benutzt wurde und die Itins — Mann und Frau — in der Odessaer Organisation tätig waren. Ich hatte mich während der ganzen Nacht nicht einen Augenblick hingelegt und lauschte angestrengt auf jedes Geräusch, auf jeden Schrei im Hause. Am Morgen lief ich auf die Straße hinaus, um zu sehen, was in der Kistenmacherei los war. Ich fand sie wie immer offen. Es stellte sich heraus, dass die Haussuchungen nur im ersten und zweiten Stock stattgefunden hatten.
Was die in den Räumen der Druckerei wohnenden Genossen während der Haussuchung durchgemacht hatten, kann man sich leicht vorstellen.
Gleich nach dem Pogrom erhöhte das Parteikomitee bereits in der ersten Sitzung die Zahl seiner Mitglieder; es wurden kooptiert: J. Awdejew, ein Dreher aus den Eisenbahnwerkstätten, dann Stawski, Seka (der sich später als Lockspitzel entpuppte) und noch einige Genossen, deren Namen und Decknamen meinem Gedächtnis entfallen sind.
Die erste Sitzung des Erweiterten Parteikomitees fand in der Wohnung des Genossen Schklowski statt. Auf der Tagesordnung standen Fragen des organisatorischen Parteiaufbaues. Es war notwendig, die Odessaer Organisation nach demokratischen Prinzipien umzubauen, obwohl beschlossen worden war, die Organisation nicht zu legalisieren. Ich hielt ein Referat über den Aufbau der Ortsgruppen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Darauf setzte eine ziemlich gründliche Diskussion über die Reorganisation der Odessaer Ortsgruppe ein. In jenen Tagen war aus Petersburg ein Bolschewik namens Ljowa (Wladimirow) als Beauftragter des ZK angekommen und hatte die Losung: „Einigung mit den Menschewiki um jeden Preis!" ausgegeben, und zwar Einigung ohne vorherige Einigung der zentralen Körperschaften der beiden Fraktionen der Partei. Ihm schloss sich der Bolschewik Baron (Eduard Essen) an, der vor dem Pogrom in Odessa angekommen war. Diese Losung wurde im Lager der Menschewiki und der Bolschewiki aufs wärmste begrüßt. Das war auch ganz verständlich: die Schwäche und Zersplitterung der geringen Kräfte, über die wir verfügten, waren jedem Parteimitglied während des Pogroms besonders klar geworden. Die Genossen Ljowa und Baron traten denn auch in der Vollversammlung der Parteimitglieder auf, in der Genosse Gussew ein Referat über die Reorganisation der Odessaer Organisation nach dem 17. Oktober hielt, und forderten die sofortige Einigung mit den Menschewiki. Das Parteikomitee erhob keinen Widerspruch gegen die Einigung, war aber entschieden gegen eine Einigung von unten. Das Odessaer Parteikomitee war ein Teil der Partei der Bolschewiki, an deren Spitze das ZK und die Redaktion des Zentralorgans standen, die vom 3. Parteitag gewählt worden waren. Wie konnte man sich also in Odessa mit den Menschewiki ohne Wissen und Billigung des Zentralkomitees vereinigen. Baron und Ljowa aber waren im Gegenteil für die Einigung von unten, um auf diese Weise auf das ZK einen Druck auszuüben. Dem Parteikomitee war es klar, dass der Vorschlag der sofortigen Einigung sowohl bei uns wie bei den Menschewiki mit einer gewaltigen Stimmenmehrheit angenommen werden würde, denn überall, wo die Anhänger der sofortigen Einigung auftraten, bekamen sie die Stimmen aller Anwesenden. Unser bolschewistisches Parteikomitee war deshalb gezwungen, Bedingungen für eine Einigung auszuarbeiten, ohne selbst diese Einigung zu wollen. Das aber musste getan werden, weil sonst die Einigung bedingungslos vor sich gegangen wäre. Die Bedingungen lauteten:
1. Es wird ein paritätisches Komitee aus 10 Mitgliedern gebildet; von diesen werden fünf durch die Mitgliederversammlung der Bolschewiki und fünf durch die Mitgliederversammlung der Menschewiki gewählt. Dieses Komitee führt die tatsächliche Verschmelzung der Organisationen durch, worauf die gemeinsame Versammlung der Mitglieder beider Organisationen das ständige Parteikomitee wählt.
2. Das Odessaer paritätische Komitee unterhält Beziehungen zum Zentralkomitee der Bolschewiki und dem Organisationskomitee der Menschewiki.
3. Die Odessaer vereinigte Organisation der Sozialdemokraten entsendet Vertreter einer jeden Richtung zu den Konferenzen und Beratungen sowohl der Bolschewiki als auch der Menschewiki bis zu deren vollständiger Verschmelzung.
Diese drei Punkte waren das Wichtigste in dem Projekt. Auf dieser Grundlage wurde in Odessa tatsächlich die Einigung vollzogen.
Die Lage der alten Bolschewiki aus dem Parteikomitee war eine recht schwierige: wir waren gegen die Vereinigung und mussten doch Verhandlungen über die Vereinigung führen. Mehr als das: einige alte Bolschewiki sahen sich gezwungen, ihre Kandidatur für das paritätische Komitee aufstellen zu lassen, damit in dem leitenden Organ konsequente Bolschewiki vertreten seien. Ich konnte damals die Handlungsweise der Genossen Ljowa und Baron nicht verstehen. Ich kannte die beiden von früher als aktive Bolschewiki. Wie kam es nun, dass sie die Einigung so chaotisch durchführen und nicht die Einigung auf einem gemeinsamen Parteitag abwarten wollten? Übrigens entpuppte sich Genosse Ljowa in den Jahren 1909 bis 1916 als „permanenter Einiger".
In das paritätische Komitee wurden von den Bolschewiki folgende Genossen gewählt: Gussew, Ljowa, Kazap (Diesen hatte man aufgestellt, weil er während des Pogroms hie und da an die Plünderer Ansprachen gehalten hatte, in denen er sie zur Einstellung des Pogroms aufforderte; die Plünderer sollten ihn dafür entweder verprügelt bzw. den Versuch gemacht haben, ihn zu verprügeln. In dem Verwaltungsbezirk, in dem ich mit ihnen zusammen arbeitete, tat er sich lediglich durch seine langen und unglaublich verworrenen Ausführungen in der Leitung meines Bezirkes hervor). Robert (Ein junger Bursche, ein Schönredner, der Feuer und Flamme für die Einigung war und den ich bis dahin nirgendswo gesehen hatte); wer der fünfte war, weiß ich nicht mehr, es wird wohl Baron oder Kyrill gewesen sein. Von den Menschewiki wurden gewählt: Stolpner, Schawdia, St. Iwanowitsch, Friedrich und P. Juschkewitsch.
Auf mich hatte der Pogrom mit seinen Schrecken einen niederschmetternden Eindruck gemacht. Hatten doch an den Plünderungen sogar rückständige Elemente der russischen Arbeiter und Bauern teilgenommen, die zu diesem Zweck aus den umliegenden Dörfern herbeigeeilt waren. Außerdem war die Hilflosigkeit und Schwäche der revolutionären Organisationen und der Sozialdemokratie aller Richtungen in Odessa klar zutage getreten. Ferner begriff ich nicht recht, wer aus dem gigantischen Kampfe der vergangenen Woche den Nutzen ziehen werde: die Bourgeoisie, das Proletariat oder die zaristische Bürokratie?
Mir war sehr schwer zu Mute.
Ich muss hier noch einige Worte über den Odessaer Arbeiterrat sagen. Die Organisation des Arbeiterrats in Odessa hatte ich nicht einmal bemerkt, und der Tag, an dem der Arbeiterrat gebildet wurde, ist in meinem Gedächtnis nicht haften geblieben. Ich glaube, das ist erst nach der Vereinigung der Bolschewiki und Menschewiki geschehen, da man im bolschewistischen Parteikomitee die Frage des Arbeiterrats nicht behandelt hat.
Da der Petersburger Arbeiterrat eine gewaltige Autorität unter den Arbeitern ganz Russlands besaß, so wählten die Arbeiter der Odessaer Fabriken und Werkstätten schon auf die erste Aufforderung der vereinigten Sozialdemokraten hin ihre Vertreter in den Rat. Diese Wahlen waren in den Tabakfabriken, unter deren Belegschaften ich nach wie vor tätig war, ganz unbemerkt verlaufen.
Der Arbeiterrat selbst tagte bald in der Speisehalle der Hafenarbeiter bald in der Speisehalle irgend einer Fabrik in der Nähe des Hafens. Im Arbeiterrat waren alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten vertreten. Die Sitzung des Arbeiterrats, der ich beiwohnte, verlief sehr flau. Es war klar, dass die Mitglieder des Arbeiterrats noch nicht die Funktionen der Körperschaft begriffen hatten, in die sie gewählt worden waren. Auch das Präsidium dieser Versammlung trat nicht sicher genug auf. Zum Vorsitzenden des Arbeiterrats hatte man den menschewistischen Studenten Schawdia gewählt, der auch Mitglied der Leitung der vereinigten Sozialdemokraten war. Ihn kannten viele Arbeiter und Arbeiterinnen, da er oft in den Versammlungen in der Universität den Vorsitz geführt hatte. Wo das Exekutivkomitee und das Präsidium des Arbeiterrats tagte, weiß ich nicht mehr. Ihre Treffpunkte hatten sie in den Teehäusern und Speisehallen, die der „Bund" und andere Organisationen eröffnet hatten und in denen man stets aktiv in der Bewegung stehende Arbeiter und Arbeiterinnen antreffen konnte. Jedenfalls tagten das Exekutivkomitee und das Präsidium nicht öffentlich. Das Exekutivkomitee gab die „Nachrichten des Arbeiterrates" heraus. Diese „Nachrichten" wurden illegal in verschiedenen Druckereien hergestellt. Man besetzte die Druckereien und zwang sie, die „Nachrichten des Arbeiterrats" zu drucken. Aus den Druckereien wurden die „Nachrichten" in Privatwohnungen geschafft, von wo aus man sie dann zur Verbreitung in Odessa verteilte und auch nach Nikolajew und Cherson schaffte. Der Einfluss nichtsozialdemokratischer Organisationen auf den Arbeiterrat war verschwindend gering. Ich muss hier hervorheben, dass der Dezemberstreik, den der Arbeiterrat in Odessa zusammen mit den revolutionären Organisationen durchführte, der erste wirkliche Generalstreik in Odessa war und einige Tage dauerte. Dieser Streik hätte auch in einen bewaffneten Aufstand umschlagen können, wenn der Arbeiterrat und die revolutionären Organisationen dazu aufgerufen hätten.
Alles stand still: es gab keinen Handel, kein elektrisches Licht, sogar die Apotheken streikten, obwohl die Militärbehörden gleich nach der Proklamation des Streiks den Ausnahmezustand verhängt hatten und jeder, der am Streik teilnahm, schweren Gefahren ausgesetzt war. Ich erinnere mich, dass sich am Tage der Proklamation des Streiks in meinem Zimmer Genossen befanden, die den Streik leiteten. Von überallher kam man zu den Vertretern des Arbeiterrats, um Aufklärung über die Ursachen des Streiks zu bekommen und um die Erlaubnis zu erhalten, sich dem Streik anzuschließen. Mich hatte man in eine große Versammlung der Pharmazeuten geschickt, an der auch die Militärpharmazeuten teilnahmen. Es wurde gerade die Frage des Streiks diskutiert. In dieser Versammlung traten auch Gegner des Streiks auf, aber nach meiner Ansprache beschloss die erdrückende Mehrheit, sich dem Streik anzuschließen. Der Streik wurde mit bewunderungswürdiger Geschlossenheit durchgeführt; erst nach der Niederwerfung des Moskauer Aufstandes wurde der Streik abgebrochen.
Hier will ich nebenbei auch auf den Unterschied in der Stellungnahme der Bourgeoisie zum Oktober- und Dezemberstreik hinweisen. Für die Streiktage im Oktober erhielten die Arbeiter ihren vollen Lohn ausgezahlt, ohne dass ein Kampf nötig war. Im Dezember aber lehnten die Unternehmer die Bezahlung der Streiktage kategorisch ab trotz des Drucks durch den Arbeiterrat. Die Arbeiter der Tabakfabrik von Popow z. B. forderten ihren Lohn auch für die Streiktage. Popow lehnte ab. Darauf legten die Arbeiter die Arbeit nieder, und die aktiven Genossen kamen unter Führung des Bulgaren Pjotr zu mir. Wie sehr ich ihnen auch zuredete, sofort die Arbeit wieder aufzunehmen, ohne auf Bezahlung der Streiktage zu bestehen: sie erklärten sich damit nicht einverstanden. Auch eine Versammlung der aktiv in der Bewegung stehenden Arbeiter und Arbeiterinnen erklärte sich mit meinem Standpunkt nicht einverstanden. Das Resultat war ein sehr trauriges. Popow bezahlte nicht nur nicht, sondern warf auch noch die Führer der Bewegung auf die Straße. Das gleiche Los ereilte auch die Arbeiter der anderen Fabriken. Der Arbeiterrat aber hatte nicht genügend Macht um Zwangsmittel anzuwenden. Die Rolle, die er spielte, war ganz belanglos. Er verschwand denn auch spurlos vom Schauplatz. Weder der Arbeiterrat noch das Exekutivkomitee wurden verhaftet. Gleich nach dem Dezemberstreik (1905) setzte in Odessa eine wirtschaftliche Krise ein, und viele Arbeiter wurden arbeitslos.
In der geeinigten Organisation erhielten die Menschewiki die Mehrheit Auch in zwei von den früheren drei Bezirken bekamen die Menschewiki die Mehrheit. Dazu kam noch ein neuer Bezirk — der Hafenbezirk —, in dem wir Bolschewiki gar keine Organisation gehabt hatten. Zur allrussischen menschewistischen Konferenz wurden von Odessa, wenn ich nicht irre, der Menschewik Stolpner und von den Bolschewiki der am wenigsten standfeste Alexander Kazap gewählt. Die Leitung der Organisation gab auch eine kleine Tageszeitung heraus, die aber nicht den Namen der Organisation trug, sondern sich „Kommertscheskaja Rossija" (Russische Handelszeitung) nannte. Gleichzeitig mit dem Abbruch des Dezemberstreiks stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Der Sekretär der Redaktion war Genosse Gussew, aber die Mehrheit hatten die Menschewiki. Bei einigen Bolschewiki, die früher für eine sofortige Vereinigung eingetreten waren, stellten sich Zweifel ein über die Zweckmäßigkeit der Einigung mit den Menschewiki, die durchgeführt wurde, ohne dass vorher im gesamtrussischen Maßstab eine Einigung erzielt worden war. Ich setzte meine Arbeit unter den Tabakarbeitern fort, begann aber zugleich an eine Übersiedlung in die Hauptstadt zu denken.
Am 2. Januar 1906 wurde ich abends in der Sitzung der Leitung meines Bezirkes verhaftet. Dieser wohnten 10 Mitglieder der Leitung des Stadtbezirks bei. Vier davon waren Bolschewiki, die übrigen Menschewiki. Außer den zehn Mitgliedern der Bezirksleitung wurde noch der Organisator dieses Bezirkes verhaftet (ein Menschewiki) und zwei Mitglieder des Parteikomitees (beide Menschewiki: Genosse Schawdia und noch jemand). Im Parteikomitee waren Meinungsverschiedenheiten über irgend eine Frage entstanden, deshalb waren zu der Sitzung Vertreter beider Ansichten erschienen. Aber wir kamen nicht einmal dazu, sie anzuhören.
Unsere Verhaftung trug einen wahrhaft großzügigen Charakter. Offenbar hatte man Schawdia, der als Vorsitzender des Arbeiterrats bekannt war, nachspioniert. Die ganze Straße war von Militär besetzt. In die Wohnung, in der wir tagten — in der Hospitalstraße auf der Moldawanka — stürzten Gendarmen, Offiziere, Spitzel, Soldaten, Polizisten und sonstiges Gesindel. Sie glaubten, dass in den anderen Zimmern der Arbeiterrat tage und dass wir das Exekutivkomitee seien; deshalb ließen sie in unserem Zimmer Soldaten zur Bewachung zurück und begaben sich in die anderen Wohnungen des Hauses auf die Suche. In der Zwischenzeit aber zogen wir alle Papiere, die wir bei uns hatten, aus den Taschen und rissen sie in Fetzen. Gerade als wir damit fertig waren, kehrten die Gendarmen zurück. Sie stürzten sich auf die Soldaten und fluchten darüber, dass man uns die Papiere habe zerreißen lassen. Die Soldaten rechtfertigten sich damit, dass sie keinerlei Befehl darüber bekommen hätten. Auf die Frage der Gendarmen, wer Papiere zerrissen habe, sagten die Soldaten: „Alle".
Es war ziemlich viel zerrissen worden — den ganzen Fußboden bedeckten weiße Papierfetzen. Die Gendarmen sammelten all das, aber ihre Mühe war vergebens: sie vermochten kein einziges Dokument zusammenzusetzen. Gegen Morgen brachte man uns alle, auch den kranken Wohnungsinhaber, der Arbeiter in einer Plätterei war, samt seiner Frau ins Gefängnis.
Nach allen Prozeduren und Durchsuchungen im Büro und im Korridor des Gefängnisses brachte man mich in eine stinkende, halbdunkle, feuchte und kalte Einzelzelle des Kellergeschosses. Der Morgen graute bereits. Mir war nicht besonders zu Mute. Am frühen Morgen wurden die Insassen unseres Korridors zum Spaziergang hinausgeführt. Als wir auf den Hof kamen, erblickte ich viele bekannte Gesichter. Die mir bekannten Genossen, die früher als ich verhaftet worden waren, machten mich mit der Ordnung im Gefängnis vertraut und zählten mir die Genossen auf, die sich zur Erholung in diesem vorzüglichen Odessaer zaristischen „Sanatorium" befanden. Dann wurde ich in den ersten Stock versetzt und am nächsten Tage machte ich meinen Spaziergang bereits mit den Insassen des Erdgeschosses. Nach einigen Tagen war ich mit allen politischen Gefangenen bekannt. Die verschiedensten Menschen waren dort: Menschewiki, Bolschewiki, Anhänger des Bauernbundes, Mitglieder des Eisenbahnerverbandes, Sozialrevolutionäre, Bundisten, Anarchisten, Expropriateure (so genannte „Schwarze Raben") und einfache Arbeiter und Bauern, die zu gar keiner der aufgezählten Organisationen oder Kategorien gehörten. Die Bauern waren aus den in der Umgegend Odessa liegenden Dörfern hergebracht worden. Auch in bezug auf das Alter war die größte Mannigfaltigkeit zu verzeichnen: es gab unter den Verhafteten Greise und fast noch Knaben. Sogar Krüppel gab es bei uns, die sich nur mit Mühe fortschleppten. Auch die Frauenabteilung stand uns in dieser Hinsicht nicht nach. Dort gab es ebenfalls die verschiedenartigsten Typen von Insassen. Die Gendarmen griffen wahllos alles auf, was sie nur kriegen konnten: Schuldige und Unschuldige. Offenbar wollten sie sich mit Zinseszins für die durch die Amnestie der Oktobertage erzwungene Befreiung der Gefangenen entschädigen.
Bald darauf begann man uns einzeln ins Büro zum Verhör zu rufen. Mich fragte ein Beamter der Geheimpolizei in Uniform aus; neben dem Zimmer aber, in dem das Verhör vor sich ging, schnüffelten Spitzel in Zivil umher.
Bei der Verhaftung nannte ich mich so, wie ich bei der Polizei angemeldet war, und gab auch meine richtige Adresse an, obwohl in meiner Wohnung ganze Pakete von „Nachrichten des Arbeiterrates" lagen. (Irgend ein Genosse hatte sie vor dem Weiterversand nach Nikolajew zu mir gebracht; dann aber war entweder die Verbindung mit Nikolajew verloren gegangen oder der Genosse hatte einfach keine Lust gehabt, hinzureisen. Auf diese Weise waren die Pakete in meiner Wohnung liegen geblieben. Ich rechnete darauf, dass meine Freunde, die mit mir in derselben Wohnung (in anderen Zimmern natürlich) hausten, meine Abwesenheit bis 12 oder 1 Uhr in der Nacht bemerken und mein Zimmer säubern werden. Es kam aber noch besser: Genosse Gussew kam am Abend meiner Verhaftung in die Hospitalstraße. Als er merkte, dass die Straße sich in ein Heerlager verwandelt hatte, erriet er sofort, dass irgend eine Sitzung aufgeflogen war. Es gelang ihm bald, festzustellen, dass es sich um die Bezirksleitung handelte. Da schickte er Genossen in die Wohnungen der Verhafteten, damit man dort alles in Ordnung bringe. Meine Wohnung aber suchte er selbst auf.
Ich hatte einen „eisernen" Pass (Anm.: Die Parteigenossen, die illegal lebten, benutzten eigens hergestellte falsche Pässe mit ersonnenen Namen und Wohnorten, mit gefälschten Stempeln usw., oder Kopien fremder Pässe, die von offiziellen Behörden für wirklich existierende Personen ausgestellt worden waren, oder einfach fremde Pässe. Diese galten als viel sicherer; man bezeichnete sie deshalb als „eiserne" Pässe.). Alle Details, die für das Verhör von Wichtigkeit waren, nämlich die Namen der Mutter, des Großvaters usw. waren mir bekannt. Diesem Pass nach war ich Schuster oder Schneider, und der Inhaber meines Passes hatte noch nie politischer Delikte wegen mit den Behörden zu tun gehabt. Deshalb begab ich mich vollkommen ruhig zum Verhör, obwohl mich eine im Schaufenster eines Photographen ausgestellte Aufnahme ein wenig beunruhigte, die das Meeting vom 17. Oktober vor dem Rathaus darstellte und auf der ich sehr deutlich zu erkennen war. Nachdem alle Personalien festgestellt worden waren, erklärte mir der Agent der Ochrana, dass wir, die Verhafteten, das Exekutivkomitee des Arbeiterrates seien und vors Kriegsgericht kommen würden. Ich erwiderte, dass wir zusammengekommen seien, um zu beraten, wie man den vielen Arbeitslosen in Odessa, die von niemanden Unterstützung bekämen, helfen könne. Bei dieser Gelegenheit wies ich noch darauf hin, dass es mir nicht gelungen sei festzustellen, welche Organisationen ihre Vertreter zu dieser Beratung entsandt hätten, da ja die Polizei noch vor der Eröffnung der Sitzung erschienen wäre. (Wir hatten schon vorher verabredet, was wir beim Verhör zu sagen hatten.) Der Agent der Ochrana erklärte, dass er genaue Dokumente besitze, aus denen klar hervorgehe, dass wir Mitglieder des Exekutivkomitees seien. Die Behörden hatten in unserer Sache (wir waren 15 Mann) nur gegen Schawdia, der in der Öffentlichkeit als Vorsitzender des Arbeiterrats aufgetreten war, und außerdem gegen den Genossen Mowschowitsch wirkliche Beweise. Bei dem Genossen Mowschowitsch hatte man viel sozialdemokratische Literatur gefunden, wenn auch von jedem Werk nur ein Exemplar, außerdem noch das Quittungsbuch des Odessaer Parteikomitees über Geldsammlungen für Waffen. Nach diesem ersten Verhör wurden wir über fünf Monate lang von keinem Gendarmen mehr belästigt.
Die Ordnung im Gefängnis war erträglich. Wir machten längere Spaziergänge. Während der Spaziergänge veranstalteten die Gefangenen Ballspiele, Wettrennen usw. Allwöchentlich durfte man auch in Gegenwart von Gendarmen Besuche empfangen. Die Besuchszeit betrug allerdings nur sechs Minuten. Genossen, die in den anderen Zellen desselben Korridors saßen, durfte man ebenfalls besuchen. Meistens war man zu zweien in einer Zelle. Zeitungen erhielten wir täglich, trotz des Verbotes der Gefängnisverwaltung. Sobald die Kontrolle der Zelle vorüber war, stellten wir uns ans Fenster und lasen die Zeitung. Bei gutem Wetter las man sie sogar laut vor. So verliefen in ewiger Eintönigkeit Tage, Wochen und Monate. Die Zeitungen schrieben immerfort von einer Amnestie, die am Tage der Eröffnung der ersten Duma erfolgen sollte. Tagaus tagein fand man Artikel darüber. Das viele Reden von der Amnestie nahm gar kein Ende. Zugleich aber fällten die Kriegsgerichte wegen jeder Kleinigkeit die grausamsten Urteile. Fiel ein politisch bereits Vorbestrafter dem Kriegsgericht in die Klauen, so waren ihm 4 bis 8 Jahre Zuchthausstrafe sicher.
Da im Jahre 1905 viel marxistische Literatur erschienen war, so stürzte ich mich aufs Lesen. In der Freiheit hatte ich nie genug Zeit dazu gehabt, da ich immer durch die praktische Arbeit völlig in Anspruch genommen war.
Es war gerade die Zeit, als innerhalb der Partei die Vorbereitungen zum Vereinigungsparteitag in Stockholm getroffen wurden. Die Thesen und Aufsätze der Bolschewiki und Menschewiki gelangten auch zu uns ins Gefängnis. Natürlich pflogen wir Diskussionen über die Frage des Boykotts der Ersten Duma und über viele andere Fragen.
Zu dieser Zeit flog das Odessaer Parteikomitee in seiner Gesamtheit auf (Ljowa, Kazap, Mark Ljubimow und andere) und auch die Versammlung, die sich mit den Wahlen zum Vereinigungsparteitag beschäftigen sollte.
Die Eintönigkeit des Gefängnislebens wurde durch zwei Ereignisse unterbrochen, die mit einem Male alles auf den Kopf stellten. Ich will sie daher ganz kurz schildern. Nach den Dezembertagen tauchten in Odessa Expropriationsgruppen auf, die unter den verschiedensten Namen („Schwarze Raben" und dergleichen mehr) operierten. Ihre Beweggründe waren durchaus nicht ideeller Natur. Es geschah häufig, dass Verbrecher sich die Namen verschiedener Organisationen zulegten, um leichtes Spiel zu haben. Die „Schwarzen Raben" führten ihre Überfälle am helllichten Tage aus und terrorisierten durch ihre Kühnheit buchstäblich die ganze Bourgeoisie von Odessa. Zu ihnen muss man noch die Anarchisten hinzurechnen, die ebenfalls Expropriationen ausführten und Bomben in die Cafes warfen, in denen die Bourgeoisie sich amüsierte. Viele lichtscheue verbrecherische Elemente machten sich damals an die ideellen Anarchisten heran, die aufrichtig und naiv glaubten, dass man durch Bombenwerfen in Cafes den Kampf gegen die Bourgeoisie führen, das Proletariat von der Notwendigkeit zu kämpfen, befreien und seine Lage verbessern könne. Die Bourgeoisie war durch die Überfälle so in Schrecken geraten, dass sie den ganzen Polizei- und Militärapparat zum Kampf dagegen einsetzte. Die Kriegsgerichte arbeiteten ununterbrochen. Sie verurteilten alle, die ihnen in die Klauen fielen, zu unglaublich schweren Strafen. Auf diese Weise bekamen wir ins Gefängnis den ersten zum Tode Verurteilten. Im Gefängnis wurde es still. Eine Zeitlang konzentrierte sich das ganze Interesse der Gefängnisinsassen nur auf diesen Verurteilten. Man wollte wissen, wie er sich fühle, ob er spazieren gehe, ob er alles habe, was er brauche, ob er imstande sei zu schlafen usw.
Die Insassen des Gefängnisses hatten noch kaum Zeit gehabt, sich an den Todeskandidaten zu gewöhnen, als der gewaltsame Tod im Gefängnis Einzug hielt. Das Odessaer Gefängnis stand nämlich auch unter Belagerungszustand. Bei den Spaziergängen der politischen Gefangenen hielten Soldaten ständig Wache. Eines Tages — als die Insassen unseres Korridors bereits den Spaziergang und das Mittagessen hinter sich hatten — ging an unseren Fenstern eine Abteilung Soldaten mit dem Offizier Tarassow vorbei. Ich persönlich sah zum ersten Male einen Offizier im Gefängnis. Gewöhnlich leitete die Ablösung der Wache entweder ein Sergeant oder ein Unteroffizier. Plötzlich rief jemand aus dem Erdgeschoß: „Nieder mit dem Absolutismus!" Der Offizier ließ die Soldaten sofort halten und fragte drohend: „Wer hat hier eben ,Nieder mit dem Absolutismus!' gerufen?". Alle Gefangenen sprangen an die Fenster, um den Sonderling von einem Offizier zu betrachten, der so wichtig tat. Irgend jemand von unten antwortete ihm: „Und wenn ich es gewesen wäre? Was wäre schon dabei?" Darauf ließ der Offizier die Soldaten vor dem Fenster des Genossen, der ihm diese Antwort erteilt hatte, eine Reihe bilden und rief: „Wenn du ein Anarchist, ein Sozialdemokrat oder einfach ein ehrlicher Mensch bist, dann rühre dich nicht von der Stelle". Die Gefangenen, die diese Szene beobachteten, waren erstaunt: einige lachten über den Sonderling, andere riefen ihm zu: „Aber wir sitzen doch gerade deswegen im Gefängnis, weil wir gegen den Absolutismus sind". Ich war in der Nachbarzelle bei den Genossen Lebit und Mowschowitsch. Wir beobachteten alle drei das grausige Bild. Irgend jemand rief, dass selbst während des Belagerungszustandes Herr im Gefängnis der Direktor sei, und nicht der Wachoffizier. Der Offizier aber ließ seine Soldaten antreten und befahl ihnen, sich fertig zu machen. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, forderte er den Gefangenen auf, der in einer Zelle mit dem Genossen saß, der das verhängnisvolle Gespräch mit Tarassow angeknüpft hatte, sich vom Fenster zu entfernen. Da dieser der Aufforderung nicht nachkam, kommandierte der Offizier: „Feuer!" und gleich darauf krachte eine Salve. Sofort stürzten alle zu den Türen. Ein Höllenlärm erhob sich im ganzen Gefängnis. Die Kriminellen kamen uns zu „Hilfe" (Anm.: Ich setze die Hilfe der Kriminellen aus folgendem Grunde in Gänsefüßchen: Als während der Revolution des Jahres 1905 die Meetings, Demonstrationen und sonstige Manifestationen einsetzten, nahmen die Arbeiter und Arbeiterinnen an diesen Veranstaltungen natürlich den lebhaftesten Anteil. Das nutzten nun die Diebe aus und brachen in die leeren Arbeiterwohnungen ein, was in vielen Städten und auch in Odessa große Erbitterung hervorrief und dazu führte, dass die Arbeiter mit den ertappten Einbrechern selbst abrechneten, ohne die Hilfe der Polizei und Justiz in Anspruch zu nehmen. Im Gefängnis erkannten die Verbrecher einen Arbeiter, der sie übel zugerichtet hatte, und wollten mit ihm abrechnen. Das wurde durch die politischen Gefangenen verhindert. Aus diesem Grunde waren die Beziehungen zwischen uns und den Kriminellen sehr gespannt. Die Verbrecher, die wussten, dass wir uns bei der Gefängnisverwaltung nicht beschweren würden, stahlen uns während der Spaziergänge alles, was von einigem Wert war. Als nach der Bluttat Tarassows die Politischen alle hinunterliefen, bestahlen die Kriminellen nicht mehr einzelne von uns, sondern alle, bei denen es nur etwas zu stehlen gab.) und öffneten uns politischen Gefangenen mit Dietrichen die Türen unserer Zellen.
Alle Politischen eilten nach unten in das Rondell. Beide Genossen waren schwer verwundet. Einige Tage darauf starb der eine, vielleicht auch beide — ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.
Gleich darauf erschien im Gefängnis, während wir uns noch in dem Rondell befanden, der Staatsanwalt, der Stadthauptmann und andere Vertreter der Behörden. Die politischen Gefangenen forderten die Verhaftung Tarassows und die Entfernung der Soldaten aus dem Gefängnis. In der Stadt wurde das Blutbad im Gefängnis bekannt, und der ganze Platz vor dem Gefängnis füllte sich mit Menschen, die Aufklärung über das Geschehene verlangten. Der Gefängnisverwaltung glaubte die Menge nicht, so dass man schließlich nachgeben musste und einen politischen Gefangenen hinausführte, der die Vorgänge schilderte.
Tarassow wurde verhaftet und die Soldaten aus dem Gefängnis entfernt. Später erfuhren wir, dass Tarassow für seine „Tapferkeit" belohnt und in einen höheren Rang versetzt worden war. Nach diesem Drama waren die Nerven der Gefängnisinsassen noch gespannter. In dieser überhitzten Gefängnisatmosphäre beschlossen wir dreizehn Mann, die am 2. Januar zusammen verhaftet worden waren, eine energische Kampagne zur Beschleunigung unserer Angelegenheit zu eröffnen. Während der fünf Monate hatte man uns nämlich kein einziges Mal verhört, abgesehen von der ersten Vernehmung bei der Einlieferung. Mehr noch, wir wussten, dass die Angelegenheit überhaupt nicht vom Fleck kam, denn da unter uns auch Genossen mit falschen Pässen waren, so hätten die Behörden bloß dort anzufragen brauchen, wo diese Pässe ausgestellt worden waren: die Gendarmen würden sich dann sofort bei uns eingefunden haben, denn man hätte gleich festgestellt, dass sich unter uns Illegale, also „wichtige Verbrecher" befanden. Das war noch nicht geschehen und bedeutete also, dass unsere Angelegenheit nicht von der Stelle kam. Es war bereits Sommer. Der Lärm um die erste Duma dauerte noch an. Außerdem wirkte auch die Ungewissheit über den Ausgang des Stockholmer Parteitages sehr beunruhigend. Wir fragten uns, wer siegen werde: die Bolschewiki oder Menschewiki? Es fiel einem schwer, im Gefängnis zu sitzen, der Drang dem Gefängnis zu entrinnen, war ungeheuer. Wir hatten richtig darauf gerechnet, dass die Behörden bei der geladenen Atmosphäre im Gefängnis weder eine Obstruktion noch einen Hungerstreik zulassen würden, und beschlossen deshalb, durch die Erklärung des Hungerstreiks einen Druck auf sie auszuüben. Wir schrieben alle einzeln dem Staatsanwalt darüber, dass unsere Angelegenheit nicht vom Fleck komme, obwohl bereits fünf Monate vergangen wären, und dass wir entweder die Aushändigung der Anklageschrift und die Anberaumung eines Verhandlungstermins oder aber die Freilassung forderten, widrigenfalls wir von dem und dem Tage an in den Hungerstreik treten würden.
Wir bereiteten uns wirklich ernstlich auf den Hungerstreik vor. Am Vorabend des festgesetzten Tages entfernten wir aus den Zellen alles Essbare. Die Besucher brachten uns keine Esswaren mehr, sondern nur noch Blumen. Nach der Kontrolle, als es bereits zu dunkeln angefangen hatte, wurden wir einzeln ins Büro gerufen, wo man uns erklärte, dass der Staatsanwalt angeordnet hätte, uns bis zur Gerichtsverhandlung auf freien Fuß zu setzen und unter polizeiliche Aufsicht zu stellen.
Von den verhafteten fünfzehn Genossen wurden dreizehn (Schawdia und Mowschowitsch blieben im Gefängnis), darunter auch Genossen mit falschen und fremden Pässen, in Freiheit gesetzt.
Man muss die Aufregung, die einen Menschen bei seiner Befreiung packt, der sich für „schuldig" und für einen Feind des Absolutismus und der Bourgeoisie hält, selbst erlebt haben, um sie zu begreifen. Jeder von uns lief in der Zelle hin und her, jeder war in Unruhe darüber, ob man ihn auch aufrufen werde, oder ob ihn die Gendarmen entdeckt hatten. Wir glaubten fast gar nicht, dass man uns freilassen werde. Als man uns aber aus dem Gefängnis brachte, dachten wir, dass wir in Provinzialgefängnisse abtransportiert werden, denn in Odessa hätte der Hungerstreik zu einer Gefängnismeuterei anwachsen können. Ganz unerwartet erlangten wir die Freiheit. Übrigens: als wir bereits in Freiheit waren, bekamen es die Gendarmen mit der Eile zu tun. In einem Monat war die Untersuchung beendet. Die Angelegenheit wurde dem Militärstaatsanwalt übergeben, und dieser gab sie an das Kriegsgericht weiter. Anscheinend war es den Gendarmen gelungen, mit den „Schwarzen Raben" fertig zu werden und sich mit unserer Angelegenheit zu befassen.
Ich war unendlich glücklich über die Freiheit. Das steinerne Ungetüm von Gefängnis, das uns so entsetzlich zuwider geworden war, lag zwar in der Nähe der Stadt, dem Leben der Stadt aber war es um so ferner. Obwohl meine Kleidung keineswegs in einem ordentlichen Zustand war (im Gefängnis war alles zum Teufel gegangen), lief ich am ersten Tage nach meiner Freilassung wie toll in der Stadt umher, ohne etwas zu tun. Mir war, als sähe ich zum ersten Male Odessa. Der Anblick des Meeres überraschte mich. Während der Zeit, die ich bis zu meiner Verhaftung in Odessa verbrachte, hatte ich keine Möglichkeit, ja nicht einmal die Lust gehabt, ans Meer zu gehen oder die Stadt zu besichtigen.
An jenem Tage hatte ich das Gefühl, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Aber schon am darauf folgenden Tag erfasste mich ein derart starkes Gefühl der Einsamkeit, dass ich fieberhaft versuchte, meine Beziehungen zu den Odessaer Bolschewiki wieder aufzunehmen.
Die Lage in der Odessaer Organisation war nach all den Verhaftungen keine glückliche. Die Bolschewiki waren zersplittert worden, und in der Leitung saßen so verstockte Menschewiki wie Friedrich und L. N. Radtschenko.
Ich nahm wieder meine Verbindungen mit den Tabakarbeitern auf und versuchte festzustellen, was von uns Bolschewiki in Odessa übrig geblieben war. Es stellte sich heraus, dass eine ganze Anzahl von tüchtigen Parteifunktionären zurückgeblieben war, dass aber unter ihnen kein Kontakt bestand. Der Genosse Konstantin Ossipow (Lewitzki, ein Bolschewik, der lange in Odessa gewohnt hatte und nun aus der Verbannung zurückgekehrt war), den ich einige Male besucht hatte, besorgte eine Wohnung, in der die bolschewistischen Funktionäre in Odessa sich versammeln konnten. Wir setzten fest, wer von den Genossen eingeladen werden sollte, und bestimmten einen Tag. Die Sitzung fand statt. Es nahmen an ihr auch Genossen teil, die ich nicht kannte. Einige Genossen waren in Militäruniform gekommen. Diese jagten mir einen ordentlichen Schrecken ein. Als sie nämlich zusammen ins Zimmer traten, in dem wir tagten, riefen sie: „Was ist das für eine Versammlung? Ihr seid verhaftet!" Ich hatte natürlich gar keine Lust nach 2—3 Tagen Freiheit wieder in das steinerne Ungetüm zu geraten. Aber mein Schreck war schnell vorbei, als der Wohnungsinhaber die Eingetretenen aufforderte, Platz zu nehmen.
Nach Entgegennahme des Berichtes über die Lage innerhalb der Organisation, beschlossen die Versammelten, einige Genossen zu beauftragen, derartige Zusammenkünfte periodisch einzuberufen und auf diese Weise eine bolschewistische Fraktion innerhalb der Odessaer Gesamtorganisation zu schaffen.
Ich beschloss, mich dem Gericht nicht zu stellen und Odessa zu verlassen, da es jetzt ganz klar war (es war nach der Auflösung der ersten Duma), dass die schwärzeste Reaktion im Lande Oberhand gewann. Um festzustellen, wohin ich nun reisen sollte, wandte ich mich mit einem Brief an die Genossin Krupskaja, die damals in Petersburg Sekretärin der bolschewistischen Zentrale war. Diese Zentrale hat auch nach dem Stockholmer Parteitag, während des Bestehens der „Vereinigten Sozialdemokratischen Partei" existiert.
Bald nach Absendung des Briefes nach Petersburg erhielt ich ein Schreiben von Genossen Gussew, der mich im Auftrage der Moskauer Organisation einlud, nach Moskau zu kommen.
Ich beschloss, nach Moskau zu reisen.
Aus Odessa musste ich schleunigst verschwinden, da ich und alle am gleichen Prozess Beteiligten aus irgend einem Grunde vom Kriegsgericht aufgefordert worden waren, sich zu melden. Aus Moskau hatte ich aber noch keine Adressen erhalten. Ich beschloss deshalb, zunächst zu meinen Verwandten in meine Heimat zu reisen.
Der Terror, der in allen großen Industriezentren wütete, hatte diese Stadt noch nicht erreicht. Hier fanden noch im Stadtpark, im Zentrum der Stadt, Massenversammlungen statt. Außer der Ortsgruppe des „Bund" und einer Jugendorganisation, die sich „Der Kleine Bund" nannte, existierte dort auch eine ziemlich starke Ortsgruppe der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, mit der ich mich sofort in Verbindung setzte. Sie bestand aus russischen, polnischen, litauischen und jüdischen Arbeitern und zählte zu ihren Mitgliedern auch einige Vertreter der Intelligenz. Geleitet wurde die Gruppe von einem vom Militärdienst zurückgekehrten Unteroffizier, dem Genossen „Ossipow". Seinen wirklichen Namen habe ich vergessen. 1907 traf ich ihn in Petersburg.
Die Organisation hatte einen festen Kontakt mit den Landarbeitern der in der Umgegend liegenden Güter, einen ebensolchen Kontakt besaß sie mit den Arbeitern und Bauern der benachbarten Ortschaften und Dörfer. Ich nahm aktiv Anteil an der Arbeit der Organisation und trat oft in Mitgliederversammlungen und Massenmeetings auf.
Gleich nach dem Eintreffen von Adressen und Geld reiste ich nach Moskau ab.

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