Verhaftung, Gefängnis und Verbannung (1914-1915)
  Als ich am 16. Juni vom Mittagessen zur Arbeit zurückging, vernahm  ich im Gärtchen neben dem Dom von Samara hinter mir hastige Schritte.  Irgend jemand rief mir zu: „Warten Sie einen Augenblick, mein Herr!"  Als ich mich umsah, erblickte ich den hinter mir herlaufenden und außer  Atem gekommenen Revierinspektor. Ich machte natürlich lange Beine, als  ich jedoch die Gartenpforte erreicht hatte, die in eine enge leere  Straße führte, verstellten mir den Weg zwei Spitzel, die ich in der  letzten Zeit oft unter den Arbeitern gesehen hatte, die das Geleise  unweit meiner Wohnung legten. Als der Polizist mich erreicht hatte,  fragte er nach meinem Kamen, worauf ich ihm erwiderte, dass er ihn wohl  selbst wissen müsse, wenn er mir nachlaufe. Nicht weit von uns stand  eine leere Droschke. Sehr bald darauf war ich in der  Gendarmerieverwaltung. Weder bei mir noch in meiner Wohnung hatte ich  irgend etwas Illegales. Und die Nummern der „Prawda" und der  „Prosweschtschenje" hatte ich in meinem Zimmer nur in einzelnen  Exemplaren. Wäre ich nicht am Montag, sondern am Sonnabend festgenommen  worden, so hätten die Gendarmen bei mir einen chiffrierten Brief der  Genossin Krupskaja gefunden. Dieser Brief war schwer zu entziffern, und  ich zerbrach mir ergebnislos zwei Tage lang den Kopf, um nur die dort  angegebenen Adressen herauszubekommen. Nun beschloss ich, den Gendarmen  gegenüber den Ton der edlen Entrüstung eines unschuldigen und sehr  beschäftigten Menschen anzuschlagen. Das gelang mir anfangs auch. Der  Leiter der Gendarmerieverwaltung Posnanski geriet in Zweifel und hätte  mich beinahe als einen aus Versehen Verhafteten wieder auf freien Fuß  gesetzt, aber es kam plötzlich anders. Später rächte er sich an mir  sehr schwer wegen seines Schwankens. Als man mich zu ihm brachte,  erklärte ich, dass ein Irrtum vorliegen müsse und dass man mich  offenbar für einen anderen halte; ich sei beim Bau der Straßenbahn  beschäftigt, und da die Arbeit sehr eilig sei, so warte man dort auf  mich. Es stellte sich heraus, dass die Gendarmen meinen Namen nicht  kannten und mich lediglich auf Grund einer Photographie suchten. Diese  war mir aber wenig ähnlich, besonders wenn ich den Arbeitsanzug an  hatte. Die Photographie machte aber auf mich selbst einen verblüffenden  Eindruck: Stirn, Augen und Nase waren mein, die Haare aber und der Bart  fremd — ich hatte nie im Leben einen solchen Bart oder eine solche  Frisur getragen. Zu alledem war ich auf der Photographie in einem  Smoking dargestellt, einem Kleidungsstück, das ich nie besessen habe.  Sofort erkannte ich Schitomirskis Arbeit, denn die Stellung, die er mir  auf dem Bilde gegeben hatte, verriet ihn. Kurz vor meiner Abreise aus  Paris hatte Schitomirski eine Zeitlang mir, Kotow, Sefir, Andronnikow,  Kamenew und anderen Genossen zugesetzt, wir sollten uns alle mal von  ihm aufnehmen lassen, da er einen guten Apparat hätte. Lange wollten  wir nicht darauf eingehen, als wir aber einmal an einem sonnigen Tage  zufällig bei ihm zusammenkamen, schlug er wiederum vor, eine Aufnahme  zu machen. Wir erklärten uns einverstanden damit, und er  photographierte uns alle zusammen. Dann drang er darauf, noch ein  besonderes Bild von mir zu machen. Ich erklärte mich auch damit  einverstanden, verlangte aber, dass er mir die Negative übergebe, was  Schitomirski mir versprach und tatsächlich hielt. Nun zeigte mir  Posnanski eine dieser Aufnahmen, die ich sofort am Hintergrund  erkannte, obwohl Schitomirski mich in einen Smoking umgekleidet und  meine Haar- und Barttracht vollkommen verändert hatte. Schitomirski  konnte sehr gut zeichnen, deshalb muss ihm das gar keine  Schwierigkeiten gemacht haben. Aber nicht nur an der Photographie  erkannte ich die „Arbeit" Schitomirskis. Die Beschreibung meines  Körpers (da er Arzt war, so hatte ich mich von ihm einige Male  behandeln lassen) und der Kleidung, die ich gewöhnlich trug, bewiesen  deutlich, dass sie von ihm stammte. Die von Schitomirski vorgenommenen  Korrekturen verliehen dem Bilde eine geringe Ähnlichkeit. Das gab mir  Mut und machte Posnanski unsicher. Während er das Bild betrachtete,  trat ein Gendarm ins Zimmer. Posnanski gab ihm mein Bild und fragte  ihn, ob im Zimmer jemand wäre, der diesem Bilde ähnlich sehe. Der  Gendarm sah sich um und gab eine verneinende Antwort. Daraufhin begann  ich die Komödie noch besser zu spielen, Posnanski aber ließ sich alle  über meine Person vorhandenen Zirkulare bringen und nannte mir meinen  wirklichen Namen, nicht den im Pass angegebenen. Als er dann laut die  Zirkulare vorzulesen begann, war es mir bereits klar, dass er mich  nicht mehr freilassen werde. Er erklärte, dass die Sache ja gar nicht  so eilig wäre, und dass, wenn es sich herausstellen sollte, dass ich  nicht der Gesuchte sei, man mich immer noch zeitig genug freilassen  werde. Darauf brachte man mich ins Gefängnis. Nach einigen Tagen kam  Posnanski zu mir und zeigte mir ein Telegramm aus Kutais, in dem es  hieß, dass dort tatsächlich ein Sanadiradse angemeldet sei, dass dieser  aber augenblicklich in Kutais wohne. Posnanski empfahl mir, meinen  richtigen Namen zu nennen und sagte, dass ich mein Benehmen sonst zu  bedauern haben würde. Ich dachte, das Telegramm sei nur eine Finte und  gab ihm überhaupt keine Antwort. Nach einigen Tagen kam er wieder ins  Gefängnis, um mich zu vernehmen. Er zeigte mir einen Auszug aus dem  standesamtlichen Register der Stadt Kutais, aus dem hervorging, dass  Sanadiradse Brüder und Schwestern hatte, während ich am Tage meiner  Verhaftung erklärt hatte, keine Geschwister zu haben. Auch die von mir  angegebenen Namen von Großvater und Mutter stimmten nicht mit den Namen  der Eltern des wirklichen Sanadiradse überein (Anm.: Mein Pass auf den  Namen Sanadiradse war mir aus dem Kaukasus zugesandt worden, ohne dass  man mir irgendwelche Details über die Angehörigen des Betreffenden  mitteilte. Ich musste deshalb alles mögliche erfinden. Ich rechnete  nämlich damit, dass die Gendarmen sich lediglich danach erkundigen  würden, ob ein Pass unter der und der Nummer an dem und dem Tage einem  gewissen Sanadiradse ausgestellt worden sei. Bei der zweifelnden  Haltung Posnanskis würde eine einfache bejahende Antwort aus Kutais zu  meiner Freilassung geführt haben.). Als ich nun sah, dass die Lage  vollkommen klar war, nannte ich meinen wirklichen Namen. Darauf  entgegnete mir Posnanski, dass ich gut daran getan hätte, mich zu  nennen, weil bei ihm nichts gegen mich vorliege und er sogar imstande  sei, mich freizulassen. Auf meine Frage, warum er das nicht tue,  erwiderte er dass ich zu diesem Zweck auf seine Seite übergehen müsste.  Aus meiner Gefängnispraxis wusste ich sehr wohl, dass die Gendarmen den  politischen Gefangenen oft vorschlugen, in ihre Dienste zu treten, d.  h. Verräter und Lockspitzel zu werden, aber mir persönlich war nie ein  solcher Vorschlag gemacht worden. Auch damals kam mir das Angebot  Posnanskis völlig unerwartet, und ich antwortete ihm ganz kaltblütig  (ich weiß auch jetzt nicht, woher ich diese Kaltblütigkeit genommen  hatte), dass ich es vorziehe, neutral zu bleiben und es weder mit den  Revolutionären noch mit den Gendarmen zu halten. Meine Antwort machte  Posnanski wütend, und er begann zu schreien: er wisse, dass ich ein  Mitglied des ZK und Anhänger Lenins sei, dass ich mit dem Auftrag  hergekommen sei, eine Parteikonferenz des Wolgagebiets einzuberufen,  dass man mich in Samara unter dem Namen Jermann kenne, dass ich dort  die ganze Kampagne zur Eroberung der „Sarja Powolschja" geführt hätte  usw. Zum Schluss erklärte er, dass man mich vors Gericht stellen werde,  obwohl man bei mir nichts gefunden habe, und dass man zu diesem Zweck  es sogar darauf ankommen lassen würde, den Provokateur, der mich  verraten hatte, als Zeugen gegen mich auftreten zu lassen. Nach dem  Verhör begann ich all die Tatsachen zu analysieren, die der Gendarm im  Gespräch mit mir ausgeplaudert hatte. Dass in die Sache ein Provokateur  verwickelt war, unterlag keinem Zweifel. Offenbar war dieser  Provokateur über Samara informiert, denn nur dort trat ich zweimal  unter dem Namen Jermann auf: in der Versammlung des  Arbeiterkonsumvereins vor den Wahlen zu der Sitzung der erweiterten  Redaktion der „Sarja Powolschja", wo ich unter diesem Namen eine  Ansprache gehalten, und in der eigentlichen Sitzung der Redaktion, wo  ich ebenfalls diesen Namen benutzt hatte. Von der Konferenz der  Organisationen des Wolgagebietes wussten nur der Genosse Kukuschkin und  A. Nikiforowa. Wäre einer von ihnen Provokateur gewesen, so würde er  auch über das Provisorische Parteikomitee Mitteilungen gemacht haben.  Darüber aber hatte Posnanski ja nichts gesagt. Am meisten Kopfschmerzen  machte mir seine Behauptung, dass ich Mitglied des ZK sei. Auf der  Parteikonferenz im Januar 1912 war auch meine Kandidatur zum ZK  aufgestellt worden, da ich aber nicht sofort nach Russland reisen  konnte, fiel sie von selbst weg. Nun waren aber auf der Parteikonferenz  die Wahlen zum ZK geheim vorgenommen worden, so dass der Lockspitzel,  der offenbar an der Parteikonferenz teilgenommen hatte, nicht genau  wusste, wer eigentlich gewählt worden war. Deshalb hatte er zu den  Gewählten auch mich gerechnet (Anm.: Erst nach der Februarrevolution  ersah ich aus den durch M. A. Zjawlowski veröffentlichten Dokumenten  der Ochrana, dass in der am 1. November 1913 im Ausland stattgefundenen  Sitzung des ZK beschlossen worden war, dem russischen Büro das Recht  einzuräumen, mich und die Genossin W. Jakowlewa zu kooptieren. In den  Sitzungen des ZK wurde oft beschlossen, welchen Funktionären ein  bestimmter Au! rag erteilt werden sollte. Da aber im ZK Malinowski saß,  so wusste natürlich auch das Polizeidepartement über alles Bescheid.  Das aber erfuhren wir erst nach der Februarrevolution 1917.). Also —  ging es mir nach dem Verhör durch den Kopf — muss die Gendarmerie und  die Geheimpolizei genau über die Parteikonferenz orientiert sein! Alle  diese Gedanken waren höchst qualvoll. Wie entsetzlich: man trifft sich  mit einem Genossen, bespricht mit ihm Fragen des Klassenkampfes, er  aber entpuppt sich nachher als ein Judas, der die Interessen der  eigenen Klasse verrät! Das schlimmste dabei ist, dass man schließlich  anfängt, in jedem Genossen einen Verräter zu sehen. 
    Die Rache  Posnanskis ließ nicht lange auf sich warten. Bald nach dem Verhör  brachte man mich in die Gendarmerieverwaltung, dann ins  Polizeipräsidium und von da aus in einen dunklen Keller der  Kriminalpolizei, angeblich zwecks „Feststellung der Personalien",  obwohl diese von Posnanski längst genau festgestellt worden waren. Nach  allerhand Schikanen wurde ich in das Untersuchungsgefängnis der  Polizeiverwaltung überführt, wo alle möglichen Diebe, Zuhälter, Hehler  usw. saßen. Dort lernte ich den Abschaum der Gesellschaft kennen. Was  gab es da nicht alles für Gauner- und Diebesspezialitäten! Einfache  Einbrecher, ganz schwere Jungen, Taschendiebe, die ihr Handwerk nur in  Banken ausübten, Gauner, die auf Gimpelfang ausgingen, den nach Samara  kommenden Bauern „Gold" verkauften und bei ihnen falsches Geld  einwechselten usw. Es war entsetztlich eng und schmutzig. Ich musste  ganze Nächte lang auf dem Fensterbrett sitzen und mich an das Gitter  klammern. Die Polizeibeamten waren grob, Schimpfworte regnete es nur  so. In diesem schmutzigen Loch war ich der einzige politische  Gefangene. Ich hielt mich abseits von allen Gruppen, die sich unter den  Insassen des Untersuchungsgefängnisses je nach den entsprechenden  „Spezialitäten" (mit besonderen Führern) gebildet hatten. Die „Führer"  dieser Gruppen erinnerten sich sogar der „Kränkungen", die ihnen  politische Gefangene im Jahre 1905 und später zugefügt hatten. Beinahe  hätte ich sogar dafür büßen müssen. 
    Bei den Überführungen von einem Gefängnis ins andere erkannten mich  einmal Genossen aus Samara. Es gelang mir sogar, mit ihnen einige Worte  zu wechseln. Sie rieten mir, dem Richter, dem ich wegen der falschen  Papiere zugeführt werden sollte, zu erklären, dass ich gegen sein  Urteil Berufung einlegen werde. In diesem Falle, sagten sie, würde ich  in das „Arresthaus für Adlige" kommen, wo man leicht Zeitungen  erhalten, Besuche bekommen und sich durchs Fenster unterhalten könnte.  Außerdem versprachen sie mir noch, einen Rechtsanwalt zum  Friedensrichter zu schicken, um den Versuch zu machen, mich gegen  Kaution frei zu bekommen. Endlich stand ich vor dem Richter. Der  Friedensrichter erklärte mir ohne weiteres, dass ich wegen Anmeldung  unter falschen Papieren zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden  sei. In politischen Angelegenheiten Verhaftete wurden selten dafür  bestraft, dass sie unter fremden und falschen Pässen lebten. Bestrafte  man sie aber dafür, so wurden sie doch nicht in Sträflingskleider  gesteckt, und man ließ sie mit anderen „Politischen" zusammen sitzen.  Ich hatte es also hier mit einem Racheakt Posnanskis zu tun. Er ließ  auch nicht von mir, als ich bereits nur noch den Gefängnisbehörden  unterstand und zur Verbannung nach Sibirien verurteilt worden war.  Gegen Kaution wollte mich der Richter nicht freilassen. Ich wurde in  das Arresthaus für „Adlige" überführt. Hier bekam ich die letzten  Nummern der „Prawda" und der „Sarja Powolschja" zu sehen. Beide Organe  sprachen mit einem Male eine offen revolutionäre Sprache. Ich erfuhr  von dem Streik in Baku und dem Widerhall, den er im Lande gefunden  hatte. Die Genossen, die ans Fenster kamen, erzählten mir, dass das  provisorische Parteikomitee von Samara, dem ich als Mitglied angehörte,  auf Beschluss einer von vielen Parteifunktionären besuchten Versammlung  sich in ein ständiges verwandelt habe, dass man die Ankunft des  Genossen Muranow erwarte, dass die Umwandlung der „Sarja Powolschja" in  ein bolschewistisches Blatt nicht nur in Samara mit Zustimmung  aufgenommen wurde, sondern auch im ganzen Wolgagebiet, und dass aus der  ganzen Gegend Begrüßungsschreiben, Geldspenden und neue Abonnements  eintreffen. Schließlich begann ich mit angehaltenem Atem den Streik und  die Barrikadenkämpfe in Petersburg (Anfang Juli 1914) zu verfolgen.  Einmal bemerkte ich, dass, sobald zu meinem Fenster ein Genosse kam, um  mir etwas zu erzählen, im gegenüberliegenden Gesträuch sich jemand  versteckte, unser Gespräch belauschte und sich Notizen machte. Ich  warnte die Genossen und war gezwungen, verantwortlichen  Parteifunktionären den Besuch bei mir zu verbieten, da sie sonst  verhaftet werden konnten. Der Friedensrichter erklärte dem  Rechtsanwalt, dass bei der Gendarmerie noch eine Sache gegen mich  vorliege und dass er mich vor der Klärung dieser Angelegenheit nicht  freilassen könne. Bald wurde es in dem „Arresthaus für Adlige"  strenger; deshalb verzichtete ich auf eine Berufung und wurde ins  Gefängnis überführt. Hier begannen für mich neue Qualen. Man trennte  mich von den politischen Gefangenen. Da ich jedoch früher im selben  Korridor mit den politischen Gefangenen saß, so gelang es mir trotz des  strengen Regimes, die Genossen zu sehen und zu sprechen. Nun versetzte  man mich aber in einen Korridor, wo nur Strafgefangene saßen, und auch  meine Spaziergänge musste ich mit ihnen zusammen machen. Man schnitt  mir das Haar und steckte mich in eine Sträflingsuniform, die ich bis  zur Abbüßung meiner Strafe tragen musste. Am schlimmsten war für mich,  dass die Pritsche schon um 6 Uhr morgens aufgezogen wurde und bis zur  Kontrolle nicht benutzt werden konnte. Die Kontrolle aber kam recht  spät zu mir, da die Strafgefangenen außerhalb des Gefängnisses auf  Arbeit waren. Sehr anstrengend war auch das Saubermachen der Zelle. Der  Boden, der untere Teil der Wand und das Geschirr mussten von außen  geradezu glänzen. Für jede kleinste Verfehlung gab es Karzer. Man muss  der damaligen Direktion des riesigen Gefängnisses in Samara  Gerechtigkeit widerfahren lassen: die äußere Sauberkeit war ideal,  obwohl sie durch eine brutale Behandlung der Gefangenen erreicht wurde.  In den zweiundeinhalb Monaten, die ich als gemeiner Verbrecher in  Einzelhaft verbrachte, las ich sehr viele wissenschaftliche Bücher,  russische und ausländische Klassiker. 
    Während meiner Haft wurde ich wiederholt verhört. Zu einem dieser  Verhöre erschien ein junger, noch unerfahrener Gendarm, von dem ich  erfuhr, dass der Krieg ausgebrochen war, und der mir alles vorlas, was  die Gendarmerieverwaltung an Material gegen mich besaß. Von ihm erfuhr  ich auch, was für einen Vorschlag die Gendarmerieverwaltung dem  Polizeidepartement in meiner Sache gemacht hatte. Dieser Vorschlag  lautete auf fünf Jahre Verbannung nach Sibirien. Auf Grund einiger  unrichtiger Daten in dem Material der Ochrana wies ich nach, dass viele  gegen mich erhobene Beschuldigungen einfach aus der Luft gegriffen  waren und zweifelte unter Berufung darauf die Richtigkeit des gesamten  Anklagematerials an. Das half. Man verurteilte mich nur zu drei Jahren  Verbannung in das Jenissejische Gouvernement. Nun wurde ich in die  Abteilung überführt, in der Genossen saßen, die wegen politischer  Delikte zur Verbannung verurteilt worden waren. Des Krieges wegen  funktionierten die Gefangenentransporte nicht. Auf eigene Kosten  hinzureisen wurde mir aber nicht erlaubt. Bald sammelte sich in Samara  eine Unmenge von Menschen an, die auf die Wiederaufnahme der  Gefangenentransporte warten mussten. Während eines Spazierganges  erblickte ich außer einigen Genossen aus Samara auch den Genossen  Kartaschow vom „Nordrussischen Arbeiterbund", den ich seit 1903 nicht  mehr gesehen hatte. Schließlich setzte sich ein Transport nach dem  anderen in Bewegung. Ich aber wurde immer noch im Gefängnis  zurückgehalten. Genossen aus Samara, die erst nach mir verurteilt  worden waren, konnten schon mit dem ersten Transport fort, ich aber  musste immer noch da sitzen und warten. Alle meine Proteste bei der  Gefängnisdirektion blieben erfolglos. Erst nach einer Beschwerde bei  der Gefängnisinspektion und dem Staatsanwalt wurde ich abtransportiert.  Vom Augenblick der Urteilsfällung an (nach den drei Monaten Haft wegen  des falschen Passes) bis zu meiner Ankunft am Verbannungsort waren  sechs Monate vergangen! Der letzte Racheakt im Gefängnis zu Samara war  eine Leibesvisitation im Gefängnishof vor der Übergabe an die Wache des  Gefangenentransportes. Bei bitterem Frost zog man mich nackt aus,  suchte in allen Nähten meiner Kleidung nach Geld und feinen Sägen und  begründete dieses Vorgehen damit, dass ich vor zwölf Jahren aus dem  Gefängnis geflohen war. 
    Ich war so froh über die Befreiung aus diesem Gefängnis, dass der  Transport und Aufenthalt in den Sträflingswagen bis Tscheljabinsk mir  wie ein Paradies vorkam. Aus dieser Stimmung wurde ich allerdings bald  durch die Gefängnisse in Tscheljabinsk und Krasnojarsk herausgerüttelt.  In Tscheljabinsk waren gerade die Begleitsoldaten nicht da, die uns  nach Nowonikolajewsk bringen sollten. Infolgedessen führte man uns den  ganzen Tag herum und brachte uns schließlich abends ins Gefängnis; Nach  einer sehr strengen Leibesvisitation sperrte man lins fünfundachtzig  Menschen in eine Zelle, an deren Tür die Inschrift angebracht war: „Für  achtundzwanzig Häftlinge". Es war unglaublich eng. Man konnte weder  liegen noch sitzen noch stehen. Die Luft war so stickig, dass viele  Gefangene in Ohnmacht fielen. Gegen Morgen stopfte man in unsere Zelle  noch Leute hinein, die mit dem Transport aus Nowonikolajewsk gekommen  waren. Nun wurde es überhaupt unmöglich zu atmen. Da wissen die  Gefangenen die Fenster auf. Es war Ende November 1914. Die Folge war,  das fast alle Insassen der Zelle sich erkälteten. Heiserkeit und Husten  ließen nicht mehr von uns während der ganzen Reise, und es gab auch  Fälle von Lungenentzündung. Das war schon kein Paradies mehr, sondern  die leibhaftige Hölle. 
    Bis nach Krasnojarsk gelangten wir so ziemlich ohne Zwischenfälle,  abgesehen von der Niederkunft einer Frau in unserem Eisenbahnwagen, in  dem niemand war, der auch nur etwas von Medizin verstand. Im  Transportgefängnis von Krasnojarsk aber musste ich auf den weiteren  Transport nach Jenissejsk bis Ende Januar 1915 warten. 
    Ich erwähnte bereits, dass ich von dem Ausbruch des Krieges erst durch  einen jungen Gendarm erfuhr, der mich vernommen hatte. In den letzten  Tagen meiner Haft im „Arresthaus für Adlige" hatte ich in den Zeitungen  nichts Konkretes über die Möglichkeit eines Krieges feststellen können.  Im Gefängnis aber war ich dermaßen isoliert (ich saß ja unter den  Strafgefangenen!), dass ich während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes  dort mit niemand sprach und von niemand Besuch bekam, da das Regime in  dem Gefängnis zu Samara damals sehr streng war. Der erwähnte Gendarm  erzählte mir, dass Russland, Frankreich und England gegen Deutschland  und Österreich Krieg führten, und dass Deutschland Russland überfallen  hätte. Dieser Krieg könnte seiner Ansicht nach kaum länger als sechs  Monate dauern, da er große Volksmassen mitgerissen und das ganze  normale Leben der kriegführenden Länder zum Stillstand gebracht habe.  Dann teilte er mir mit, dass Plechanow sich für den Krieg gegen  Deutschland erklärt und dass die deutsche Sozialdemokratie, Liebknecht  ausgenommen, die Kriegskredite bewilligt habe; ferner dass Liebknecht  seiner Haltung wegen durch die Militärbehörden füsiliert worden sei.  Auf Russland zurückkommend, erklärte der Gendarm, durch das Land gehe  eine Welle großer nationaler Begeisterung. In Odessa habe sich  Purischkewitsch auf der Straße mit den Juden geküsst, in ganz Russland  gehen patriotische Manifestationen vor sich, und die Streiks, die vor  der Kriegserklärung zu verzeichnen waren, hätten völlig aufgehört. Dass  der Krieg ausgebrochen war, glaubte ich ihm, alles andere aber hielt  ich für erlogen, obwohl ich gar keine Möglichkeit hatte, seine  Mitteilungen nachzuprüfen. Einige Tage lang verbrachte ich in banger  Unruhe. Was ging denn eigentlich in der Welt vor sich? Was ist aus dem  nach Wien anberaumten Internationalen Sozialistenkongress geworden? Was  haben die Sozialisten aller Länder getan, um den Krieg zu verhindern?  Es bestanden doch die Beschlüsse des Baseler Kongresses der 2.  Internationale gegen den Krieg. Auf alle diese Fragen erhielt ich  natürlich keine Antwort. An einem für mich besonders qualvollen Tage  wurde ich in ein Bad geführt, das aus Einzelzellen bestand. Dort  versuchte ich, mit meinem Nachbar in Verbindung zu kommen. Dieser  antwortete mir auch. Es stellte sich heraus, dass er ein ehemaliger  Beamter der Gefängnisverwaltung war, der einer Veruntreuung wegen eine  Strafe abzubüßen hatte. Da er tagsüber im Gefängnisbüro arbeitete, so  war er über das, was in der „Freiheit" geschah, vollkommen  unterrichtet. Er bestätigte mir alles, was der Gendarm erzählt hatte.  Er teilte mir mit, dass sich die Füsilierung Liebknechts nicht  bestätigt habe, dagegen stimme es, dass die deutschen und französischen  Sozialisten ihre Regierungen unterstützen. Nirgends hätte man gegen den  Krieg protestiert, wenigstens hätten die Zeitungen keine Nachrichten  darüber gebracht. Auf meine Frage nach der Stellungnahme der russischen  Sozialisten zum Krieg konnte er mir keine befriedigende Antwort geben.  Die Ansicht Plechanows, dessen Rolle in unserer Partei mir bekannt war,  konnte für mich nicht maßgebend sein. Ohne viel Grübeleien und Analysen  war es mir klar, dass die Zarenregierung den Krieg nicht im Interesse  der Arbeiter und Bauern führte und dass für die russische Revolution  eine Niederlage des zaristischen Russland nützlicher sein werde, als  ein Sieg, weil im Falle einer Niederlage der Zarismus geschwächt werden  und der Kampf gegen ihn leichter sein würde. Die Revolution des Jahres  1905 war nach der Niederlage im Kriege gegen Japan gekommen, und die  Pariser Kommune des Jahres 1871 war nach der Niederlage Napoleons III.  ausgerufen worden. Das war die ganze Analyse der Kriegsfrage, die ich  damals vornahm. 
    Sehr oft wurden an den Abenden in der Gefängniskirche Gottesdienste  abgehalten und dabei die Zarenhymne gesungen, was ich stets für. ein  Zeichen hielt, dass die russischen "Waffen irgendwo siegreich gewesen  waren. Solche Augenblicke bedrückten mich stets sehr, aber später  pflegte sich herauszustellen, dass in der Kirche auch andere „Siege"  gefeiert wurden, die Wiedereinnahme ehemals russischer Städte, wie  Augustowo usw. Schließlich begann man, uns über den Verlauf des Krieges  zu unterrichten, indem man täglich die Telegramme der russischen  Telegraphenagentur unter uns verteilte. Aber diesen Telegrammen  schenkten wir natürlich sehr wenig Glauben. Über die Stellung des  Zentralkomitees, des Zentralorgans und des Genossen Lenin zum Krieg  erfuhr ich indirekt aus einem Telegramm dieser Agentur über die am 14.  November 1914 erfolgte Verhaftung von fünf Mitgliedern der  bolschewistischen Dumafraktion und des Genossen Kamenew. Ich zog damals  den Schluss: verhaftet man die Genossen, so heißt das, dass sie gegen  den Krieg sind, übrigens hatte ich nie im geringsten daran gezweifelt.  Während des Transports nach Krasnojarsk sah ich viele Bundisten,  lettische, polnische Sozialdemokraten und Anhänger anderer Parteien.  Nicht eine einzige von ihnen nahm einen so einheitlichen und klaren  Standpunkt dem Kriege gegenüber ein wie die Bolschewiki, von denen ich  nicht wenigen auf dem Transport begegnete. Obwohl sie aus den  verschiedensten Gegenden Russlands herkamen und miteinander nicht  bekannt waren, nahmen alle die gleiche Stellung zum Krieg ein. In dem  Gefängnis zu Krasnojarsk traf ich den Genossen Burjanow aus Samara, den  Genossen Tuntul aus dem Baltikum, den Genossen Masljannikow und andere.  Wir alle redeten uns vor unserem Weitertransport zum Bestimmungsort  heiser in Diskussionen mit den Anhängern der Vaterlandsverteidigung  unter den Menschewiki, Bundisten und anderen Opportunisten aus den  revolutionären Parteien. 
    An der Angara traf ich sehr viele Bolschewiki, aber das Bild war auch  hier das gleiche: alle waren gegen den Krieg. In dem Dorfe aber, in das  ich zur Ansiedlung gebracht wurde, war unter den dort ansässigen  Anarchisten, Sozialrevolutionären, Maximalisten, polnischen  Sozialdemokraten und Bolschewiki kein Anhänger des Krieges zu finden.  Allerdings gab es bei der Beurteilung der möglichen Folgen des Krieges  verschiedene Schattierungen. Ganz zufällig gelang es mir in der  Verbannung, mit dem Genossen Sefir in Briefwechsel zu treten: Im Sommer  1913 hatte ich ihn in Paris zurückgelassen. Nun war er mit einmal an  der französischen Front, wie viele andere russische Emigranten in  Frankreich und unter ihnen bedauerlicherweise auch Bolschewiki. Ich war  damals sehr darüber erstaunt (und erbittert), dass Genosse Sefir, ein  so erprobter und der Partei ergebener Bolschewik sich als Freiwilliger  zur französischen Armee gemeldet hatte. Trotzdem er mir sehr  ausführliche Briefe schrieb, in denen er mir des langen und breiten  seine Handlungsweise zu erklären suchte, verstand ich ihn doch nicht,  denn er war gegen den Krieg, bedauerte aber nicht den Eintritt in die  französische Armee. Übrigens kamen ihm später die militärischen  Kenntnisse, die er als Korporal bei den Franzosen erworben hatte, an  den Fronten gegen die Weißen zugute. Genosse Sefir kam zu mir im  Oktober 1917, als bereits in Moskau auf den Straßen gekämpft wurde. An  diesen Kämpfen nahm er sofort teil. Aus den Briefen des Genossen Sefir,  die er mir während des Krieges schrieb, erfuhr ich auch einiges über  die Stimmungen und Maßnahmen unserer Auslandszentrale, mit der er eine  gewisse Fühlung hatte.  | 
  
    
    Hinweis:      Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität              der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen.              Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist              nicht gestattet. 
     
    |   |