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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Das Leben der politischen Verbannten in den Dörfern des Angaragebietes (1915-1917)

Am 30. Januar 1915 wurden Tuntul, Badin, ich und noch etwa elf bis fünfzehn politische Verbannte zusammen mit Strafgefangenen und „Kriegsverbrechern", die sich aus Staatsangehörigen Deutschlands, Österreichs und der Türkei sowie aus Juden der in der Nähe der Front gelegenen Gebiete zusammensetzten (im ganzen etwa 50—60 Mann), von Krasnojarsk nach dem ungefähr 400 Werst entfernten Jenissejsk weiterbefördert. Der Weg musste zu Fuß zurückgelegt werden. Nur schwache Frauen und Kranke durften die Wagen benutzen, die die Sachen der Verbannten mitführten. Man legte täglich 15—25 Werst zurück, je nach der Entfernung des nächsten Dorfes, in dessen Etappenpunkten wir übernachten konnten.
Diese Etappenpunkte waren gewöhnlich einstöckige Bauernhütten mit vergitterten Fenstern, sehr dunkel, kalt und unglaublich schmutzig. Geheizt wurde erst, wenn ein Transport ankam. Aber nicht sauberer als die Etappenpunkte waren die Gefangenen selbst. In dem Transportgefängnis zu Krasnojarsk wurde die Wäsche nicht gewaschen. Versuchten aber die Gefangenen mit dem Wasser, das vom Tee zurückgeblieben war, selbst zu waschen, so nahmen die Aufseher die Wäsche einfach fort. Dabei mussten viele Gefangene monatelang auf den Weitertransport warten! Die finanzielle Lage der Gefangenen war ebenfalls nicht besser. Die Etappenkommune der „Politischen" lebte ausschließlich von den 10 Kopeken, die jeder täglich vom Fiskus erhielt. Schlecht war es auch um die Kleidung bestellt. Es herrschte Frostwetter, außerdem gab es oft Schneestürme, die es unmöglich machten, auf den verschneiten Wegen vorwärtszukommen. Am meisten litten unter dem Wetter die ausländischen „Kriegsverbrecher". Ein deutscher Arbeiter der Obuchow-oder Putilow-Werke, namens Klein, erkrankte unterwegs an Lungenentzündung und starb noch vor der Einlieferung ins Krankenhaus. Langsam und nur mit großer Mühe erreichten wir Jenissejsk. Dort wurden wir in ein dunkles, festungsartiges Gefängnis eingesperrt, dessen Mauern so dick waren, dass die Trojken der russischen Kaufleute von einst bequem auf ihnen zur Faschingszeit hätten spazieren fahren können. Ich habe damals die Insassen des Gefängnisses in Jenissejsk wahrhaftig nicht beneidet. Zum Glück saßen wir (22 Mann) dort nicht lange und wurden bald unter Bewachung von Straschniki und nicht mehr von Begleitsoldaten in das Dorf Bogutschany an der Angara abgeschoben, das 700 Werst von der Stadt Jenissejsk entfernt liegt. Unterwegs fanden wir fast in jedem Dorf einen oder zwei alte politische Verbannte, aber je weiter wir uns von der Jenissejsky-Landstraße entfernten, desto mehr politische Verbannte trafen wir, die erst vor kurzem hierher gekommen waren. Sobald wir die Jenissejsky-Landstraße verlassen hatten, übernachteten wir nur noch in Bauernhäusern. Trafen wir politische Verbannte, so gingen wir natürlich zu ihnen. Auf dem Weg von Jenissejsk nach Pintschuga (Anm.: In Pintschuga befand sich früher das Bezirksamt, von wo es später nach dem Dorf Bogutschany verlegt wurde. Der Amtsbezirk aber nannte sich 1915 noch Pintschug. Das Territorium dieses Bezirks war wohl größer als das der „unabhängigen Republiken" Estland, Lettland oder Litauen.) passierten wir drei Dörfer mit seltsamen Namen: Po-kukuj, Po-toskuj und Po-gorjuj (Ruf „Kuckuck, hab Sehnsucht, leid Kummer" — Der Übersetzer). Die Dörfer hatten ihre Namen wohl von den Verbannten längst vergangener Zeiten bekommen. Diese Namen haben sich denn auch erhalten, obwohl eins der Dörfer — ich weiß nicht mehr welches — offiziell Byck genannt wurde. Der neue Name hatte anscheinend noch keine Verbreitung gefunden. Die Namen dieser drei Dörfer sprechen für sich, aber man kann in jedem von ihnen gleichzeitig sowohl Sehnsucht als Kummer haben, als auch Kuckuck rufen. Es waren ganz kleine Dörfer. Sie bestanden aus einigen sehr armen Bauernhöfen. Die Bewohner lebten von. Fischfang und Jagd. Brot wurde eingeführt. Da es schwer war, in diesen Dörfern Brot zu bekommen, so wurden hier nur wenige Gefangenentransporte hindurchgeführt, und zwar Transporte von nicht mehr als 21—22 Mann. Als wir diese Dörfer passierten, wurde es jedem schwer ums Herz bei dem Gedanken, dass auch wir in einem solchen Loch untergebracht werden würden. Nebenbei gesagt wurden die 22 Mann unseres Transportes alle getrennt, und es kam niemand zusammen mit einem anderen in das gleiche Dorf. Etwas leichter wurde uns zu Mute, als wir uns Pintschuga und Irkinejewa näherten. In jedem dieser Dörfer gab es viele politische Verbannte, die uns sehr herzlich aufnahmen. Dort traf ich auch Anna Nikiforowa, die ich von Samara her kannte, den Genossen Malyschew und andere Bolschewiki. Im Dorfe Bogutschany war der Sitz des Polizeikommissars. Bevor wir jedoch zum Polizeikommissar, der uns nach unserem Bestimmungsort weiter zu befördern hatte, geführt wurden, suchten wir das Heim für politische Gefangene auf, das von politischen Verbannten erbaut worden war. Dort machten wir es uns bequem, nahmen Nahrung zu uns und machten uns dann auf den Weg nach den für uns zur Ansiedlung bestimmten Dörfern. Man muss selbst den Weg zwischen Krasnojarsk und Jenissejsk und dann die Straße von Jenissejsk bis Bogutschany (ein Marsch von über einem Monat) zurückgelegt haben, und zwar so wie wir: im Frostwetter, halb-hungrig, müde und schmutzig, — um die Freude eines jeden von uns über den herzlichen Empfang zu verstehen. Nur durch solche Dinge lässt sich vielleicht das kameradschaftliche Zusammenleben der Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Bolschewiki und Menschewiki erklären, die in der Freiheit sich stets bekämpften und unaufhörlich über die Methoden des Kampfes gegen die Feinde der Arbeiterklasse und aller Ausgebeuteten stritten.
In Jenissejsk war bestimmt worden, dass ich mich im Dorfe Fedino anzusiedeln hatte. Das teilte mir der Kommissar nun offiziell mit. Aber meine Weiterbeförderung dahin verzögerte sich etwas. Fedino war das entlegenste Dorf im Tschunskybezirk des Kreises Jenissejsk. Da in meinen Papieren ein Vermerk enthalten war, dass ich Neigung zu Fluchtversuchen habe, so bestimmte man, dass ich dahin kommen sollte. Nun stellte sich heraus, dass Fedino zwar auf der Landkarte das letzte und entlegenste Dorf des Kreises Jenissejsk war, dafür aber näher der Eisenbahn lag als alle anderen Dörfer und sich gerade an der Grenze der Kreise Jenissejsk und Kansk befand. Der Polizeikommissar von Bogutschany kannte die Geographie seines Bezirks nicht allein auf Grund der Karte und wollte deshalb den in Jenissejsk begangenen Fehler wieder gut machen. Er schlug mir vor, dazubleiben bis zum Eintreffen einer Antwort aus Jenissejsk auf seinen Antrag, mir einen anderen Ort zuzuweisen. In Bogutschany war es lustiger, da hier viele politische Verbannte lebten und immer neue Transporte von Verbannten ankamen; hier gab es auch eine Post, ein Krankenhaus und eine Schule. Dann wohnte in Bogutschany fast die ganze Intelligenz des Kreises. Was die Polizei betrifft, so war es dort allerdings schlimmer. Zweimal täglich kam der Straschnik, um die Verbannten zu kontrollieren. Man durfte nicht einmal über den Viehzaun des Dorfes hinausgehen. Die Dörfer dieser Gegend sind alle umzäunt, um zu verhindern, dass das Vieh in die Taiga laufe. Die Verbannten wurden dauernd von den Straschniki überwacht. Mich erlöste der Kreispolizeichef, der gekommen war, um sich einmal in seinem Bereich umzusehen. Er verteidigte seine Beamten gegen den Vorwurf des Polizeikommissars, dass sie die Geographie ihres eigenen Kreises nicht kennen, und befahl, mich unverzüglich nach Fedino zu schaffen. Der Abtransport ging dann so schnell vor sich, dass ich gezwungen war, nasse Wäsche mit mir zu nehmen, da ich sie zum Waschen übergeben hatte, nachdem der Polizeikommissar mir den Vorschlag gemacht hatte, zunächst in Bogutschany zu bleiben. Ein Straschnik begleitete mich bis zum Dorfe Karabulja. Abends suchte ich die dort ansässigen politischen Verbannten auf und übernachtete bei einem von ihnen, nämlich bei dem Genossen Zimmermann. Am frühen Morgen des nächsten Tages überließ mich der Straschnik schon einem einfachen Bauern, an den die Reihe gekommen war, Pferde zu stellen. Und nachts war ich bereits in dem Dorfe Jar, in der Wohnung des Genossen Geliadse. Er war dort der einzige Politische. Am 6. März 1915 passierte ich das Dorf Chaja, das den Po-kukuj-Dörfern sehr glich und gar keine politischen Verbannten hatte. Am Abend desselben Tages traf ich in Fedino ein.
Es dürfte hier nicht überflüssig sein, ein wenig das Leben und Treiben der Bauern in Fedino zu schildern, in dem ich zwei Jahre verbringen musste. Eine solche Beschreibung dürfte schon deswegen nicht unangebracht sein, weil die Lebensweise der Bauern aus Fedino beinahe für alle Bauern der Angara- und Tschunagebiete typisch ist, — mit Ausnahme etwa der von uns erwähnten drei Dörfer mit den seltsamen Namen —, in denen viele politische Verbannte leben mussten.
In Fedino gab es nicht mehr als 40 Bauernhöfe, von denen drei bis vier armen, der Rest aber mittleren und sogar reichen Bauern gehörte. Die Einwohner des Dorfes waren miteinander verwandt und hießen alle Rukosojew, nur ein einziger Bauernhof gehörte einer Familie Brjuchanow. Land gab es bei Fedino genug, aber die Äcker lagen alle ziemlich weit vom Dorf entfernt, was bei dem Fehlen von Wegen im Sommer die Bearbeitung dieser Felder sehr erschwerte (Anm.: Im Sommer kam man nur zu Pferde nach Bogutschany, Plachino und Potschet. Gleichfalls nur zu Pferde oder in Booten konnte man die Felder erreichen. (Die Sättel machten sich die Bauern selbst und zwar aus Brettern. Diese Sättel hatten eine viereckige Form; auf den Sattel legte man ein Kissen, darunter aber alles Mögliche, damit das Pferd nicht gedrückt wurde. Auch die Boote machten sich die Bauern selbst aus Baumstämmen von etwa 7 bis 10 Meter Länge.) Im Winter aber, nach den Schneefällen, gab es nach allen Richtungen gute Schlittenwege vom Dorfe aus.). Fast alle Familien bearbeiteten das ihnen gehörende Land stets mit eigenen Kräften, sogar während des Krieges; denn in dieser Gegend wurden aus irgendeinem Grunde keine Rekrutierungen für die Armee vorgenommen. Im Sommer, zur Erntezeit, begab sich die ganze Familie mit den Kindern auf die Felder und kehrte bloß an Feiertagen nach Hause zurück; nur gebrechliche Greise, alte Weiber und Säuglinge blieben zu Hause.
Jeder Bauernhof besaß eine beträchtliche Zahl von Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen und Hühnern. Hätte ein Bauer im europäischen Russland soviel Pferde und Vieh gehabt, so würde man ihn glatt einem Gutsbesitzer gleichgestellt haben. In der Taiga gab es auch genug Holz zum Bauen, zum Feuern und Flößen. Im Frühjahr, Herbst und Winter beschäftigten sich die Bauern mit Fischfang oder gingen wochenlang auf die Jagd nach Elentieren, Bären, Füchsen und Eichhörnchen. Sobald die Flüsse in der ersten Hälfte des Mai eisfrei wurden, brachten viele Einwohner von Fedino auf Flößen ihr Korn und schlecht gemahlenes Mehl nach Jenis-sejsk. Vor dem Kriege verkauften sie es mit 14 Kopeken pro Pud und konnten auch zu diesem Preise oft nicht alles loswerden, so dass 1915 viele Bauern noch große Vorräte hatten. Im Sommer 1916 aber verkauften sie in Jenissejsk den Roggen bereits für 1 Rubel und 10 Kopeken pro Pud. Die Hauptabnehmer dafür waren die Einwohner des Turuchangebiets. Leinen und Tuch erzeugten die Bauern selbst, sogar für den Verkauf, ferner bearbeiteten sie in primitiver Weise Leder für ihren verschiedenen Bedarf.
An Werktagen trugen sie Kleider eigener Herstellung und nur an Sonn- und Feiertagen kleideten sich die erwachsenen Männer in Anzüge und Stiefel von städtischem Schnitt, die sie bei einem Tataren erwarben, der einmal jährlich, und zwar im Sommer auf Flößen ankam, bei den Bauern Pelzwaren, Tuch, Leinen, Butter, Eier usw. einkaufte und ihnen dafür das gab, was sie brauchten. Fast alle Bauern hatten Geld und hielten es versteckt. Während des Krieges kamen in die sibirischen Dörfer Aufkäufer von Goldmünzen, die für den Goldrubel 1,20—1,50 Papierrubel zahlten, und zwar zu einer Zeit, als dieser Papierrubel in Russland nur noch ein Drittel des früheren Wertes hatte. Interessant ist, dass in den Familien Mann und Frau getrennte Kassen führten und sich gegenseitig nicht aushalfen. Die Frauen nehmen Geld ein für Linnen, Tuch, Eier, Milch, Butter und andere Dinge, alle sonstigen Einnahmen gehören den Männern. Die Frau muss von ihrem Gelde für sich und die kleinen Kinder die Feiertagskleidung besorgen.
Die Einwohner des Dorfes waren alle Analphabeten im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Knaben wurden schon sehr früh in die Erwerbsarbeit eingespannt, die Mädchen aber hatten Kenntnisse „nicht nötig". Die nächste Schule befand sich im Dorfe Jar, das 50 Werst von Fedino entfernt war. Soweit ich mich erinnern kann, schickte niemand aus Fedino seine Kinder in diese Schule. Mit Ausnahme der politischen Verbannten war der einzige des Lesens und Schreibens Kundige im Dorfe der Straschnik. In Fedino gab es weder eine Kirche noch eine Kapelle. Ein paar Mal im Jahre erschien der Pope mit seinem ganzen Stab und las dann auf einmal alle Totenmessen, taufte die Neugeborenen usw. Während der seltenen Gastrollen sorgte der Pope schon dafür, dass er nicht zu kurz kam: er nahm alles, Pelzwaren (hauptsächlich Eichhörnchen), Linnen usw.
Die Einwohner von Fedino kannten auch keine Gebete. Ihre ganze Religion bestand fast nur im Bilderkult und darin, dass sie sich vor und nach dem Essen bekreuzigten.
Äußerlich sahen die Bauernhütten erstaunlich sauber aus. Die Bauern von Fedino scheuerten Dielen, Decken und Wände, aber in den Betten, zwischen den Brettern der Wände und den Brettern der Fußböden (die Bauern schliefen meistens auf dem Fußboden) gab es stets eine Unmenge Wanzen. Auch die Schaben waren in nicht geringen Mengen vertreten. Die Bauern schliefen Sommer und Winter in den Kleidern, was natürlich die Sauberkeit nicht erhöhte, obwohl sie sich sehr oft in ihren „schwarzen" Bädern wuschen.
Während der Zeit, die ich in dem Dorfe verbrachte, starben dort sehr viele Säuglinge an Durchfall, da man ihnen gleich nach der Geburt Kuhmilch zu trinken gab. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass in der gleichen Zeit jemand von den Erwachsenen gestorben wäre. Die Leute erreichten dort in der Regel ein sehr hohes Alter. Medizinische Hilfe leistete der Bevölkerung ein Feldscher, der einmal im Jahre angereist kam.
An Sonn- und Feiertagen — im Herbst und Winter — waren alle Bauern betrunken. Sie statteten mit ihren Frauen und Kindern einander Besuche ab, schleppten dabei selbstbereiteten Schnaps mit sich, der in Plachino hergestellt wurde, wo es keinen Straschnik gab. Die Jugend grölte trunkene Lieder. Allerdings muss ich sagen: Raufereien habe ich bei den Trinkgelagen und auch sonst während meiner Anwesenheit in Fedino nicht beobachtet. Hin und wieder fanden Versammlungen der Gemeinde statt zwecks Wahl eines Dorfältesten, eines Bauernamtmanns, zwecks Verteilung der Steuern auf jeden Bauernhof und Festsetzung der Reihenfolge bei der Stellung der Pferde für die Behörden des Landkreises und für die Polizei. In diesen Gemeindeversammlungen wurde viel geschrieen, hin- und hergeredet, und zwar sprachen meistens alle auf einmal, so dass ich nie feststellen konnte, welche Beschlüsse gefasst wurden. In der Regel kamen die reichen Bauern doch zu ihrem Vorteil, indem sie einfach die Zahl ihrer Pferde und ihres Viehs nicht richtig angaben, um weniger Steuern zahlen und nicht so oft Pferde stellen zu müssen. Ihre Wirtschaft führten die Einwohner Fedinos durchweg sehr schlecht. Sie hatten viele Pferde und viel Vieh, ließen es aber im Winter unter freiem Himmel halbhungrig umherlaufen und bauten keine Stallungen, trotzdem unermesslich viel Holz da war. Die Milch der Bauern reichte im Winter kaum für die eigenen Kinder aus, uns verkauften sie nichts. In der nächsten Nachbarschaft dagegen, in dem Dorfe Potschet, befand sich die kleine Wirtschaft des zur Ansiedlung verbannten Polen Koroljtschuk, der uns im Winter so viel gefrorene Milch sandte, wie wir haben wollten, und der uns auch Butter und Käse lieferte. Er hielt seine Kühe gut und warm und fütterte sie in genügendem Maße. Die Bauern sahen, wie er wirtschaftete, ließen aber doch ihr Vieh frieren und zwar bei einem Frost von mitunter 45—48 Grad Reaumur. Bei solch einem Wetter mussten die Kühe unter freiem Himmel stehen und wurden am Fluss getränkt! Die Bauern waren sehr konservativ, und, wie gut und vertrauensvoll sie die „Politischen" auch behandelten, die sie gern empfingen, zu sich einluden, und denen sie sogar einen kleinen Kredit einräumten, — die Verbannten blieben für sie doch Verbrecher!
Als ich in Fedino ankam, gab es dort zwei Kriminelle, einen „Kriegsverbrecher" (ein deutscher Meister einer Pulverfabrik in der Nähe Petersburgs) und vier Politische. Einer von ihnen, ein Intellektueller, Chaim Bär aus Odessa, der in einem Prozess der Sozialrevolutionäre zur Verbannung verurteilt worden war, litt an schwerer geistiger Zerrüttung und war aus diesem Grunde fürchterlich heruntergekommen; er wohnte in einer halbzerstörten Hütte und schlief auf dem Ofen. Der zweite Politische, der abgerissene und schmutzige Malergeselle Jakob Grabez aus Polen, war in Sachen der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" zur Verbannung verurteilt worden. Äußerlich war er von den Eingeborenen nicht zu unterscheiden. Er führte genau dasselbe Leben wie diese. Der dritte politische Verbannte, der Lette Paist aus dem Baltikum, lebte abgesondert von den übrigen Politischen. Und der vierte politische Verbannte war eine erst vor kurzem aus dem Zuchthaus in die Verbannung überführte Arbeiterin, die Anarchistin Ida Silberblatt. Unter allen Politischen im Dorfe war sie der einzige wirklich lebendige Mensch. Sogar der Deutsche entpuppte sich als unglaublicher Spießer. Er hatte 25 Jahre in Russland gelebt, hatte es in dieser Zeit aber nicht fertig gebracht, russisch zu lernen, und wusste nichts von den politischen Verhältnissen Russlands oder Deutschlands. Zur Überwachung der Politischen gab es im Dorfe einen Straschnik, Er hieß Roman Petrowitsch Blagodatski, benahm sich gut und wurde von den Politischen fast als „Kamerad" behandelt, weshalb er das Recht zu haben glaubte, während der ersten Tage meiner Anwesenheit in Fedino zu jeder Tages- und Abendzeit mich zu besuchen, bis ich ihn schließlich höflich aufforderte, meine Wohnung zu verlassen. Das Leben der Verbannten war natürlich sehr eintönig. Ende März reiste die Genossin Silberblatt nach Bogutschany, und Paist verließ Fedino überhaupt für immer. Dann blieb die Zusammensetzung der Verbannten ein oder eineinhalb Monate unverändert, da in dieser Zeit wegen der Überschwemmungen keine Verbindung mit Bogutschany besteht. Diese Periode dauert von Mitte April bis Mitte oder Ende Mai. Vor allen Dingen sorgte ich dafür, dass der kranke Chaim Bär in eine kleine Hütte übersiedelte, die den Politischen von den früheren Verbannten als Erbstück zurückgeblieben war. Mit Bär zusammen brachte ich einen alten Mann, einen kriminellen Verbannten, in diese Hütte, damit er auf den Kranken aufpasse und ihn pflege. Dann schrieb ich den Verwandten Bärs in Odessa, die, wie es sich herausstellte, sehr vermögende Leute waren, dass sie ihm Geld zum Leben und die nötigen Kleidungsstücke senden sollten. Ich empfahl ihnen ferner, sich an den Gouverneur von Jenissejsk mit der Bitte zu wenden, den kranken Chaim Bär in ein Krankenhaus unterzubringen, und forderte den Straschnik auf, seiner vorgesetzten Behörde über den Zustand Bärs Meldung zu erstatten. Das half. Sobald die Gegend wieder fahrbar wurde, brachte man den Armen ins Krankenhaus zu Krasnojarsk.
In dem zum Kreise Kansk gehörenden Abanskischen Amtsbezirk, der sich dicht bis an das Dorf Fedino erstreckt, gab es zwei Dörfer, die nicht allzu weit von uns entfernt waren. Das eine, Plachino, lag zwölf Werst von uns entfernt und hatte keine politischen Verbannten, das zweite Dorf Potschet dagegen befand sich in einer Entfernung von 35 Werst von unserem Dorfe; dort wohnten drei Politische. Von den Politischen war der Genosse Nikita Gubenko ein Russe, die beiden anderen Genossen, Foma Goworek und Pjotr Koroltschuk — Polen. Der Genosse Koroltschuk hatte sich eine eigene Landwirtschaft eingerichtet und damit in dem neuen Boden sozusagen fest Wurzel geschlagen. Durch ihn bestellte ich mir Zeitungen und fing an, Briefe aus Russland zu bekommen, denn mit Potschet standen wir selbst in der Zeit der Wegelosigkeit in ständiger Verbindung. Die Bücher, Zeitungen und Briefe, die ich bekam, halfen mir, die entsetzliche Langeweile zu überwinden und mich ein wenig an meine neue Lage zu gewöhnen, die schwer war, da es im Dorf nicht einmal einen Menschen gab, mit dem man sich auch nur hätte unterhalten können. Die Lage änderte sich aber gründlich, als die Zeit der Wegelosigkeit zu Ende war: mit jedem Transport wurden im Jahre 1915 bald ein, bald zwei Verbannte gebracht. Als erste kamen: der Petersburger Student Genosse Petrikowski (Petrenko) — ein Bolschewik, dann ein Sozialrevolutionär aus Charkow — der Angestellte Knyschewski, dann Sochatzky — ein Mitglied der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" mit seiner Frau (die nicht verbannt war) und nach ihnen die Sozialrevolutionäre Boris Orlow und Pawel Koslow. Schließlich kamen noch: der Maximalist Alexej Theofilaktow mit Frau (die eigentlich nach Plachino verbannt war, aber, da es dort keinen Straschnik gab, oft nach Fedino kam), ein Buchdrucker David Tregubow, aus Homel, der in einem Prozess der Sozialrevolutionäre verurteilt worden war, dann ein Soldat Jakow Blatt, ein Tolstoianhänger Iwan Wychwatnjuk (wegen Militärdienstverweigerung), ein deutscher Arbeiter Adam Stankewitsch und andere. In kurzem wuchs die Kolonie der Verbannten auf 23 Personen an, von denen 14 Politische waren. Wir hatten hier auf administrativem Wege Verbannte, die monatlich acht Rubel erhielten, und zur Ansiedlung Verurteilte, die nichts bekamen. Eine Arbeit in Fedino zu finden, war schwer, fand man aber vorübergehend welche, so musste man für 10 Kopeken von 1 Uhr nachts bis 9 Uhr morgens (beim Dreschen z. B.) bei 30—40 Grad Kälte schuften. Die materielle Lage der Ansiedler wurde noch dadurch verschlimmert, dass sie genau so wie die auf administrativem Wege Verbannten nicht das Recht hatten, sich aus dem Dorfe zu entfernen. Die ungleiche materielle Lage der Verbannten hätte bei dem engen Zusammenleben so vieler Menschen in dem kleinen Dorf Grund genug für eine ganze Reihe von Misshelligkeiten und Missverständnissen abgeben können. Deshalb wurde von der politischen Kolonie in Fedino folgender Modus eingeführt: man richtete eine gemeinsame Küche ein, in der ein jeder Verbannte — der Reihe nach — für alle das Mittagessen zu bereiten hatte. Die Lebensmittel für alle Mahlzeiten wurden gemeinsam eingekauft und unter allen nach einer gleichmäßigen Norm verteilt, die von der Versammlung aller Mitglieder der Kommune festgesetzt wurde. Genau so verfuhr man mit allen übrigen Dingen wie: Petroleum, Seife, Zucker usw. Die Lebensmittel und überhaupt alle Bedarfsartikel kaufte man durch den Genossen Koroltschuk in Aban ein; Käse, Butter, Speck und im Winter auch Milch lieferte er uns selbst aus seiner eigenen Wirtschaft. Für die Wohnung, für Brot und heißes Wasser zahlte jeder von uns anfangs an die Bauern 3 Rubel monatlich. Die Frage der Bekleidung der Mitglieder der Kolonie und die Finanzfrage blieben aber noch unentschieden. Diese beiden Fragen lösten wir schließlich auf folgende Weise. Das ganze Geld, das die Mitglieder der Kommune erhielten, wurde einem gewählten Kassierer abgeliefert, der alle jeweils nötigen Einkäufe machte. Ein jedes Mitglied der Kommune hatte beim Kassierer sein Konto. Am Ende eines jeden Monats wurden sämtliche Ausgaben für die Kommune zusammengerechnet, die Summe durch die Zahl der Mitglieder dividiert und dann das Konto eines jeden Mitgliedes mit dem so erhaltenen Teilbetrag belastet. Den Genossen aber, die kein Geld beim Kassierer hatten, wurde der Betrag als Schuld gebucht. Alle drei Monate wurde eine Generalabrechnung vorgenommen, und dabei zahlten die Genossen, die Geld hatten, in die gemeinsame Kasse jene Summe ein, die eigentlich die Genossen hätten bezahlen müssen, die kein Geld besaßen. Dann fingen die neuen Buchungen bis zur nächsten Generalabrechnung an. Genossen, die mehr als 20 Rubel besaßen, hatten das Recht, ohne Genehmigung der Leitung der Kommune bis zu zwei Rubel für sich auszugeben. Die Leitung der Kommune bestand aus dem Kassierer und noch zwei Genossen. Diese aus drei Genossen bestehende Leitung übte auch die Funktion einer Vertretung aller politischen Verbannten aus. Persönliche Ausgaben von Genossen, die weniger als 20 Rubel besaßen, bedurften der Genehmigung der Leitung. Die Leitung beschäftigte sich auch mit den Fragen der Besorgung von Kleidungsstücken für Genossen, die kein Geld besaßen, aber Kleider brauchten. Durch diese Organisation gelang es der Kolonie in Fedino, die Reibungen zu vermeiden, die infolge materieller Sorgen in manchen Kolonien der Verbannten entstanden waren. Die Verbannten, die von der Regierung gar keine materielle Unterstützung erhielten, verdienten sich das für den eigenen Lebensunterhalt Notwendige auf verschiedene Art und Weise. Im Herbst fingen sie Aalquappen und sammelten Zedernnüsse für den Verkauf. Mitunter gelang es ihnen, auf Eichhörnchen. Jagd zu machen, jedoch selten, da die Verbannten keine Jagdgewehre haben durften. Während des Krieges blieben die Dörfer des Kreises Kansk ohne Arbeiter, weil fast alle eingezogen wurden (aus dem Gebiet der Angara wurden allerdings keine Rekruten genommen). Daraufhin nahmen die Verbannten in diesen Dörfern Arbeit an, denn aus Mangel an Arbeitskräften hatte man 1916 den Verbannten erlaubt, ihren Wohnort auf dem Territorium ihres Gouvernements oder Kreises nach Belieben zu wechseln. Im Sommer beschäftigten sich viele Verbannte mit Holzfällen. Die Stämme flösten sie nach Jenissejsk, wo sie zu Bauzwecken verwandt wurden oder in die Sägemühlen kamen. Für jeden Baumstamm konnte man 1—1.20 Rubel bekommen, dafür aber musste man bei der Rückreise auf dem Jenissej den Dampfer benutzen, dann in Booten die Angara stromaufwärts fahren und schließlich bis nach Fedino Pferde nehmen. Die Reise aber kam nicht billig zu stehen. Die Bauern von Fedino beschäftigten sich im Frühjahr ebenfalls mit Fällen und Flößen von Holz, aber sie pflegten über Kansk zurückzukehren, was näher und billiger war, da man außer dem Dampfer noch den Zug benutzen konnte und nur wenig auf Pferde angewiesen war. Auf diese oder jene Weise gelang es den Verbannten, sich ihren Lebensunterhalt zu erwerben, ohne anderen zur Last zu fallen. Die von mir oben beschriebene Lebensweise kam jedem — ohne Bekleidung — im Jahre 1915 durchschnittlich auf 6—7 Rubel monatlich zu stehen, im Jahre 1916 aber bereits auf 10—12 Rubel. Als man nach Fedino Österreicher, Deutsche, Türken und Juden als „Kriegsverbrecher" zu bringen begann, wurde es eng im Dorfe. Die Bauern versuchten, die Mieten zu erhöhen und, was noch schlimmer war, — sie fingen an, auch in jenen Räumen den Herrn zu spielen, die von ihnen an die Politischen vermietet worden waren. Deshalb kauften wir von dem Genossen Paist für 12 Rubel eine Hütte, erwarben dann bei einem Bauer eine zweite und schafften diese zu der ersten. Wir bauten sie etwas aus, erweiterten die Fenster und richteten sie mit eigenen Kräften ganz nett und wohnlich ein. Auf diese Weise konnten wir in drei Hütten acht Genossen unterbringen.
Wir erhielten die Zeitungen und Zeitschriften aus der Hauptstadt, ferner Bücher, die schließlich eine ganz schöne Bibliothek ausmachten. Zeit zum Lesen hatten wir genug, besonders im Winter, und es wurde auch wirklich gelesen. Wir veranstalteten auch Vortragsabende, die stets zu einem sehr regen Meinungsaustausch führten, da unter uns Genossen waren, die den verschiedensten Parteien und Strömungen angehörten. Mitunter veranstalteten wir feierliche Versammlungen aus Anlass des 1. Mai, 22. Januar, 17. April, des Jahrestages des Moskauer Dezemberaufstandes und am Silvesterabend. Zu diesen Versammlungen kamen gewöhnlich auch Verbannte, die 50 bis 80 Werst von uns entfernt wohnten: aus Malajewo, Jar, Potschet und anderen Dörfern.
Der Genosse Alexej Theofilaktow, der später im Partisanenkrieg gegen Koltschak im Gouvernement Jenissejsk ums Leben kam, entdeckte sein Talent als Dirigent. Er setzte einen ziemlich guten Chor aus Genossen zusammen, die nie auf den Gedanken gekommen wären, dass sie eine gute Stimme hätten. Auf diese Weise verbrachten wir unsere Zeit. Wenn aber Schwermut und Heimweh Überhand nahmen, was nicht selten vorkam, dann begab man sich in die Nachbardörfer, um die dort ansässigen Verbannten zu besuchen. Das taten wir, obwohl unser Schutzengel, der Straschnik Blagodatzki, oft Hetzjagden hinter uns her veranstaltete und jedes eigenmächtige Verlassen des Dorfes bestrafte. Am 16. Februar 1917 wurde ich aus einem solchen Anlass zu drei Tagen Arrest verurteilt. Wie aber sollte man, obwohl man sich eigentlich in „Freiheit" befand, nicht der Schwermut und Langeweile anheim fallen, wenn man keine befriedigende Tätigkeit hatte und keinen Menschen, mit dem man sich hätte aussprechen können. Acht volle Monate ringsherum Schnee, von dessen Anblick die Augen schmerzten; man konnte nur die Wege entlang gehen, weil man sonst riskierte, in dem mehrere Meter hohen Schnee zu versinken. Der langersehnte Sommer aber brachte eine so ungeheure Menge von Mücken und Fliegen mit sich, dass man ohne Mückennetz gar nicht auf die Straße gehen konnte.
An der Angara hatten die politischen Verbannten ihre eigene Organisation, deren Aufgabe darin bestand, minderbemittelte Verbannte zu unterstützen, Fluchtpläne durchzuführen, die Verbannten über die politischen Verhältnisse in Russland zu informieren usw. Dieselbe Organisation fungierte auch als Schiedsgericht, füllte die Bibliotheken der Verbannten auf und sandte ihnen legale und illegale Neuerscheinungen zu. Diese Organisation umfasste alle Dörfer der Amtsbezirke Pintschuga und Keschma.
Alle neben Fedino gelegenen Dörfer hatten Fedino als Zentralpunkt und bildeten zusammen den Unterbezirk Tschuna der Organisation der Verbannten des Angaragebiets.
Während der Zeit, die ich in Sibirien verbrachte, fanden Konferenzen der Verbannten des Angaragebiets statt, an denen fast alle Kolonien teilnahmen. Diese Konferenzen wählten den Zentralausschuss der Verbannten des Angaragebiets. Alle Mitglieder der Organisation zahlten einen Monatsbeitrag von 10 Kopeken. Ich wurde zum Sekretär des Unterbezirks Tschuna gewählt und führte einen intensiven Briefwechsel mit dem Bevollmächtigten des Zentralausschusses. Im Jahre 1916 war der Genosse Grigori Aronstamm Bevollmächtigter. Mit ihm habe ich nach der Februarrevolution in dem Parteikomitee des Eisenbahnbezirks Moskau längere Zeit zusammengearbeitet. Von dem Zentralausschuss der Verbannten erhielten wir illegale Literatur, regelmäßige Abrechnungen und außerdem Berichte über den Gang der Dinge innerhalb der Organisation.
Da Fedino gerade zwischen Bogutschany und Kansk lag, so kamen zu uns sowohl Flüchtlinge als auch Genossen, deren Verbannungsfrist zu Ende war. Im Winter 1916 floh Ida Silberblatt ins Ausland, im Sommer 1916 aber wurden die Genossen Petrikowski und Knyschewski zur Armee eingezogen. Viele Verbannte machten sich das Recht der Bewegungsfreiheit zunutze und siedelten mehr in die Nähe von Kansk und sogar nach Kansk selbst zur Arbeit über. In Fedino blieben nur wenige Politische. Im Herbst 1916 und zu Anfang des Winters 1917 war es unerträglich langweilig. Fortdauernd zu lesen, war unmöglich, und so machte ich mich denn an eine illegale Arbeit — ich brachte den Kindern einer Bauernfamilie Lesen und Schreiben bei, was den Politischen streng verboten war. Außerdem begann ich an dem kümmerlichen, öffentlichen Leben der dortigen Bauern teilzunehmen und half ihnen eine Konsumgenossenschaft zu organisieren. Auch die Bauern bekamen bereits den Krieg zu spüren, denn die wenigen Bedarfsgegenstände, die sie in der Stadt zu kaufen pflegten, verschwanden vom Markt, und es fehlte ihnen daher an Petroleum, Seife, Zucker, Geschirr und Schrot für die Jagd. Den Anstoß zur schleunigen Organisation einer Konsumgenossenschaft gab folgender Umstand. In Fedino bestanden keine wirklichen Läden. Im Herbst pflegten die reichen Bauern Petroleum, Zucker, Seife und Streichhölzer einzukaufen und sie dann an die anderen Bauern zu verkaufen. Diese Produkte verkauften sie zu sehr hohen Preisen. Wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass die Preise unverschämt hoch waren, dann pflegte so ein Bauer zu antworten: „Wenn Du die Ware willst, kannst Du sie haben, wenn nicht — dann ist's auch gut; ich habe sie für mich gekauft." Da war nun nichts zu machen, und die armen Bauern mussten die hohen Preise zahlen. Als aber die reichen Bauern die Preise zu hoch hinaufzuschrauben anfingen, weil in Kansk und in Aban die Ware zu verschwinden begann, da entstand im Jahre 1916 der Gedanke, eine Konsumgenossenschaft im Unterbezirk Tchuna zu schaffen. Es wurde sehr viel hin und her geredet, bis man sich dazu entschloss, denn die reichen Bauern waren entschieden gegen die Genossenschaft. Wir Politischen gingen aber energisch an die Arbeit. Bald war die Konsumgenossenschaft organisiert, und wir traten ebenfalls als Mitglieder ein. Ein Bauer und ich wurden durch die Gemeindeversammlung als Delegierte nach Jar gesandt, wo die Versammlung der Vertreter der Konsumvereine des Unterbezirks Tschuna stattfand, die ihrerseits auch einen politischen Verbannten als Vertreter des Unterbezirks zur Konferenz der Konsumvereine des Gouvernements delegierte.
Wenn man von der Kulturlosigkeit und schlechten Wirtschaftsführung der Bauern jener Gegend spricht, so entsteht unwillkürlich die Frage, ob denn die politischen Verbannten nicht in der Lage waren, auf die Bauern einen heilsamen Einfluss auszuüben, da sie doch fortwährend in engster Berührung mit ihnen standen. Leider muss man auf diese Frage mit einem Nein antworten. Ja, noch mehr: recht oft geschah es, dass die Politischen selbst die „Kultur" der Bauern annahmen.
Gewiss, die Bauern besuchten uns häufig, und wir sprachen viel mit ihnen, besonders mit der Jugend. Aber oft geschah es, dass sie, nachdem sie uns aufmerksam zugehört hatten, sich zum Straschnik begaben und ihn fragten, ob die Dinge wirklich so ständen, wie die Politischen sie ihnen geschildert hätten. Das taten sie, weil sie, wie ich schon erwähnt habe, uns doch für Verbrecher hielten. Bemerkenswert ist, dass nach dem Februarumsturz die Bauern zu mir kamen, mir das Dorfsiegel und alle Attribute des Straschniks aushändigten, ja mir sogar vorschlugen, im Dorfe das Regiment zu übernehmen. Auf einmal waren wir in ihren Augen keine Verbrecher mehr. Unter der Herrschaft Koltschaks haben die Bauern aus Fedino unter Führung einiger dort zurückgebliebenen politischen Verbannten sehr aktiv am Partisanenkrieg gegen die Truppen Koltschaks teilgenommen.

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