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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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FÜNFTES KAPITEL

Die Roten bedrängten hartnäckig die Truppen des Hauptatamans Petljura. Golubs Regiment wurde an die Front beordert. In der Stadt blieben nur ein schwacher Etappenverband und die Kommandantur zurück.
Die Menschen atmeten ein wenig auf.
Die jüdische Bevölkerung benutzte die augenblickliche Ruhe, um ihre Toten zu begraben. In den Häusern der jüdischen Stadtviertel erwachte wieder das Leben.
An den stillen Abenden konnte man dumpfes Gedröhn vernehmen. Irgendwo in der Nähe wurde gekämpft.
Die Eisenbahner verließen die Bahnstation und begaben sich auf Arbeitssuche in die umliegenden Dörfer.
Das Gymnasium war geschlossen.
Ü ber das Städtchen wurde der Belagerungszustand verhängt.

Es war eine unfreundliche, finstere Nacht - eine von jenen Nächten, in denen sich Menschen nur blindlings tastend vorwärts bewegen und riskieren, bei jedem Schritt kopfüber in einen Graben zu stürzen.
In solchen Nächten sollte man lieber schön zu Hause bleiben und nicht unnötig Licht brennen, sagen sich die Spießer. Es könnte sonst ein unerwünschter Gast angelockt werden. Am besten ist's, man sitzt im Dunkeln, das ist sicherer. Es gibt Menschen, die stets von Unruhe getrieben werden. Mögen die umherlaufen, den Spießbürger geht das nichts an. Er selbst wird sein Haus nicht verlassen. Da kann man ganz unbesorgt sein.
In einer solchen Nacht hastete ein Mann durch die Straßen.
Vor dem Haus der Kortschagins blieb er stehen. Behutsam klopfte er ans Fenster. Als keine Antwort erfolgte, klopfte er zum zweiten Mal, stärker und nachdrücklicher, dass die Fensterscheiben klirrten.
Pawel sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Vergebens bemühte er sich festzustellen, wer da klopfte. Außer einer dunklen, undeutlichen Silhouette
konnte er nichts erkennen.
Er war allein zu Haus. Die Mutter war zu der ältesten Tochter gefahren, deren Mann in einer Zuckerfabrik als Maschinist angestellt war, und Artjom arbeitete im Nachbardorf als Schmied.
Der da klopfte, konnte nur Artjom sein.
Pawel entschloss sich, das Fenster zu öffnen.
»Wer ist da?« rief er in die Finsternis hinaus.
Jemand trat dicht ans Fenster, und eine raue, gedämpfte Bassstimme erwiderte:
»Ich bin's - Shuchrai. Ich möchte bei dir übernachten. Nimmst du mich auf, Pawluscha?«
»Aber natürlich«, antwortete Pawel herzlich.
»Was gibt's da lange zu reden? Klettere gleich durchs Fenster rein.«
Fjodors schwere Gestalt zwängte sich durch die Fensteröffnung.
Als Shuchrai hinter sich zugemacht hatte, ging er nicht sofort vom Fenster weg.
Er stand und lauschte, und als der Mond aus den Wolken hervortrat und man die Straße sehen konnte, musterte er sie aufmerksam. Dann wandte er sich an Pawel.
»Aber werden wir deine Mutter nicht wecken? Sie schläft doch sicherlich.«
Pawel antwortete, außer ihm sei niemand zu Haus. Darauf fühlte sich der Matrose gleich ein wenig freier und sagte etwas lauter:
»Diese Schinder sind hinter mir her. Sie möchten mit mir wegen der letzten Affäre auf der Station abrechnen. Wenn die Arbeiter besser zusammenhalten würden, hätten wir den Grauröcken während des Pogroms schon den richtigen Empfang bereiten können. Aber, verstehst du, die Leute können sich noch immer nicht zum Kampf entschließen. So ist die Sache in die Brüche gegangen. Jetzt sind sie hinter mir her. Zweimal haben sie schon Jagd auf mich gemacht. Heute war ich ihnen um ein Haar in die Arme gelaufen. Ich komme da, weißt du, nach Haus, natürlich vom Hinterhof her, und bleib am Schuppen stehen, schau mich vorsichtig um, und da bemerke ich einen im Garten, dicht an einen Baum gedrückt, aber ich hab gleich das Bajonett gesehen. Natürlich hab ich mich aus dem Staub gemacht. So bin ich zu dir gekommen. Hier, mein Freund, möchte ich ein paar Tage vor Anker liegen. Du hast nichts dagegen? - Ausgezeichnet!«
Shuchrai zog schnaufend die schmutzstarrenden Stiefel aus.
Pawel freute sich über Shuchrais Erscheinen. In letzter Zeit stand das Elektrizitätswerk still, und Pawel langweilte sich allein in der leeren Wohnung.
Sie legten sich schlafen. Pawel schlief sofort ein, Fjodor rauchte noch lange. Dann erhob er sich vom Bett und trat barfuss, wie er war, leise ans Fenster. Lange schaute er auf die Straße. Als er sich wieder niedergelegt hatte, schlief er, von Müdigkeit überwältigt, sofort ein. Seine Hand lag unter dem Kissen auf dem schweren Revolver und erwärmte ihn.
Shuchrais plötzliches Auftauchen in der Nacht und das gemeinsame Leben, das Pawel und er acht Tage lang miteinander führten, war für den jungen Heizer von großer Bedeutung. Er erfuhr zum ersten Mal in seinem Leben von dem Matrosen so viel Erregendes, Wichtiges und Neues, dass diese Tage für ihn entscheidend werden sollten.
Der Matrose, dem von allen Seiten aufgelauert wurde und der sich jetzt so gut wie in einer Mausefalle befand, benutzte die unfreiwilligen Mußestunden, um das ganze Feuer seines Zorns und seines lodernden Hasses gegen die »Gelb-Blauen«, die Würger und Unterdrücker des ganzen Gebiets, dem gierig lauschenden Pawel zu übermitteln.
Shuchrai sprach immer klar, treffend, verständlich und mit einfachen Worten. Ungelöste Probleme gab es für ihn nicht. Der Matrose wusste genau, welchen Weg er zu gehen hatte, und Pawel begann zu begreifen, dass dieser ganze Knäuel verschiedener Parteien mit den wohltönenden Namen - Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Polnische Sozialistische Partei -, dass das alles erbitterte Feinde der Arbeiter waren und dass es nur eine einzige revolutionäre Partei gab,
die unerschütterlich gegen alle Reichen kämpfte - die Partei der Bolschewiki. Der baltische Matrose Fjodor Shuchrai, um dessen Nase so mancher Seesturm gepfiffen hatte und der seit 1915 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) war, zeigte dem jungen Heizer nun die unerbittliche Wahrheit des Lebens.
»Ja, Pawka, als Junge war ich auch so einer wie du«, sagte er. »Ich wusste nicht, wohin mit meinen Kräften. Wir hatten ein Hungerleiderleben, und wenn man sich da die satten, fein herausgeputzten Herrensöhnchen anschaute, packte einen die Wut. So manches Mal habe ich sie erbarmungslos zusammengehauen. Aber dabei kam nichts heraus, außer einer ordentlichen Tracht Prügel von meinem Vater. Wenn man sich als einzelner herumschlägt, kann man das Leben nicht ändern. Du hast das Zeug dazu, Pawluscha, ein guter Kämpfer für die Arbeitersache zu werden. Bist noch sehr jung und hast sehr unklare Vorstellungen vom Klassenkampf. Ich werde dir schon den richtigen Weg zeigen, Pawluscha, weil ich weiß, dass aus dir etwas werden wird. Duckmäuser und solche, die sich einschmeicheln, kann ich nicht leiden. Jetzt ist auf dem ganzen Erdball ein Feuer ausgebrochen. Die Sklaven haben sich erhoben, und mit dem alten Leben wird Schluss gemacht. Aber dazu braucht man tapfere Kerle, keine Muttersöhnchen, sondern Leute von echtem Schrot und Korn, die sich nicht vor dem Kampf wie die Schaben vor dem Licht in einen Winkel verkriechen, sondern die kräftig und unbarmherzig dreinschlagen.« Er hieb mit der Faust auf den Tisch.
Dann stand er auf und schritt, die Hände in den Taschen, grimmig im Zimmer auf und ab.
Die Untätigkeit war für Fjodor eine Qual. Er bedauerte sehr, in diesem Städtchen geblieben zu sein, und da er seinen weiteren Aufenthalt hier als zwecklos betrachtete, war er fest entschlossen, sich durch die Frontlinie zu schlagen und den Roten Truppen entgegenzugehen.
In der Stadt war eine aus neun Parteimitgliedern bestehende Gruppe gebildet worden, die die Arbeit fortsetzen sollte.
Die werden auch ohne mich auskommen. Ich kann nicht mehr mit den Händen im Schoß dasitzen. Genug, dass ich zehn Monate hier totgeschlagen habe, dachte Shuchrai ärgerlich.
»Was bist du eigentlich für einer, Fjodor?« fragte Pawel ihn eines Tages.
Shuchrai begriff nicht sogleich, was Pawel damit meinte.
»Weißt du etwa nicht, was ich für einer bin?«
»Ich denke, dass du ein Bolschewik bist oder ein Kommunist«, antwortete Pawel etwas verwirrt.
Shuchrai lachte auf und schlug sich belustigt an seine breite Brust, die in einem gestreiften Matrosensweater steckte.
»Das ist mir klar, Kleiner! So wie es klar ist, dass Bolschewik und Kommunist ein und dasselbe ist.« Gleich darauf wurde er ernst.
»Wenn du das aber verstehst, so denke daran, dass du mit niemandem und nirgends darüber sprechen darfst, wenn du nicht willst, dass man mich einen Kopf kürzer macht. Hast du begriffen?«
»Jawohl«, antwortete Pawel fest.
Auf dem Hof wurden Stimmen laut, die Tür wurde ohne vorheriges Klopfen geöffnet. Shuchrais Hand verschwand rasch in der Hosentasche, kam aber gleich wieder zum Vorschein. Im Zimmer erschien Serjosha Brusshak mit verbundenem Kopf, blass und abgemagert. Ihm folgten Walja und Klimka.
»Guten Tag«, sagte Serjosha und reichte Pawel lächelnd die Hand.
»Wir besuchen dich heute zu dritt. Walja lässt mich nicht allein gehen, hat Angst um mich. Und Klimka lässt wieder Walja nicht allein weg, hat auch Angst. Obwohl er ein Dummerjan ist, weiß er doch genau, wo und für wen es gefährlich ist, allein zu gehen.« Walja hielt ihm scherzend mit der Hand den Mund zu.
»Ist das aber ein Quatschkopf.« Sie lachte.
»Er lässt Klimka heute den ganzen Tag keine Ruhe.«
Klimka lachte gutmütig und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne.
»Was kann man schon viel von einem Kranken verlangen. Das Oberstübchen ist beschädigt, und so quatscht er eben.«
Alle lachten.
Serjosha, der sich von dem Säbelhieb noch nicht ganz erholt hatte, machte es sich auf Pawels Bett bequem. Bald waren alle in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Der sonst immer so lustige und muntere Serjosha erzählte jetzt Shuchrai ruhig und bedrückt, wie ihm der Petljura-Mann den Hieb versetzt hatte.
Shuchrai kannte alle drei Besucher. Er war mehr als einmal bei Brusshaks gewesen. Ihm gefiel diese Jugend, die zwar im Strudel des Kampfes ihren Weg noch nicht gefunden, aber die Ziele ihrer Klasse klar erkannt hatte. Aufmerksam hörte er den Erzählungen der jungen Leute zu, erfuhr, wie ein jeder von ihnen geholfen hatte, jüdische Familien bei sich zu verbergen, um sie vor dem Pogrom zu retten. An diesem Abend sprach er viel von den Bolschewiki, von Lenin, und half ihnen, die Ereignisse zu verstehen.
Es war schon spät am Abend, als Pawel seine Gäste hinausgeleitete.
Shuchrai pflegte beim Dunkelwerden die Wohnung zu verlassen und erst nachts zurückzukehren. Er hatte vor seiner Abreise mit den zurückbleibenden Genossen ihre künftige Arbeit zu besprechen.
In dieser Nacht kehrte Shuchrai nicht zurück. Als Pawel am Morgen erwachte, fand er das Bett leer.
Von einer bangen Ahnung gepackt, zog er sich schnell an und verließ das Haus. Er verschloss die Wohnung, legte den Schlüssel auf den vereinbarten Platz und lief zu Klimka. Er hoffte dort etwas über Fjodor zu erfahren. Klimkas Mutter, eine untersetzte Frau mit breitem, pockennarbigem Gesicht, stand gerade am Waschtrog und antwortete auf Pawels Frage, ob sie nicht wüsste, wo Fjodor sei, nur kurz und abgerissen :
»Habe wohl nichts anderes zu tun, als mich darum zu kümmern, wo dein Fjodor steckt? Seinetwegen hat man bei der Sosulicha im ganzen Haus das Oberste zuunterst gekehrt. Was hast du denn mit ihm zu schaffen? Da haben sich gerade die Richtigen gefunden: Klimka, du und …« Wütend bearbeitete sie die Wäsche.
Klimkas Mutter hatte eine böse Zunge.
Pawel ging zu Serjosha und teilte ihm seine Besorgnis um Fjodor mit.
Walja mischte sich ins Gespräch: »Warum bist du so unruhig? Er ist wahrscheinlich bei Bekannten geblieben.« Aber ihre Stimme klang nicht sehr überzeugend.
Pawel hielt es nicht lange bei Brusshaks aus. Trotz der wiederholten Aufforderung, zum Mittagessen zu bleiben, ging er nach Haus, in der leisen Hoffnung, Shuchrai zu treffen.
Die Tür war jedoch verschlossen. Niedergeschlagen blieb er stehen; es widerstrebte ihm, die leere Wohnung zu betreten.
Nachdenklich verweilte er ein paar Minuten auf dem Hof. Irgendein unklares Gefühl trieb ihn zum Schuppen. Er kletterte auf die Dachbalken, zerstörte die vielen Spinngewebe und zog die in Lappen eingewickelte schwere Mannlicher-Pistole aus dem Winkel hervor, wo er sie versteckt hielt.
Dann verließ er den Schuppen und begab sich, die erregende Schwere der Waffe in der Tasche spürend, zum Bahnhof.
Auch dort konnte er nichts über Shuchrai erfahren. Wieder trat er den Heimweg an. Nicht weit von dem Haus des Oberförsters verlangsamte er seine Schritte. In einer ihm selbst nicht ganz klaren Hoffnung schaute er auf die Fenster, aber Garten und Haus schienen menschenleer. Als er am Haus vorübergegangen war, blickte er noch einmal auf die mit vorjährigem Laub bedeckten Gartenwege zurück. Der Garten machte einen öden und vernachlässigten Eindruck. Es war deutlich zu sehen, dass die sorgsame Hand des Hausherrn fehlte. Diese Stille und Verlassenheit des großen alten Hauses stimmten Pawel noch wehmütiger.
Sein letztes Zerwürfnis mit Tonja war ernst, ernster als alle vorangegangenen. Es war ganz plötzlich gekommen, vor fast einem Monat.
Während Pawel zur Stadt schlenderte, die Hände tief in den Hosentaschen, erinnerte er sich daran, wie es zu dem Streit gekommen war.
Bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße hatte ihn Ton ja aufgefordert, sie zu besuchen:
»Die Eltern sind heute bei Bolschanskis zum Namenstag eingeladen. Ich werde allein zu Haus sein. Komm doch, Pawluscha. Wir werden ein interessantes Buch von Leonid Andrejew, »Saschka Shigulew', zusammen lesen. Ich kenne es schon, aber mit dir lese ich es gern noch einmal. Das wird bestimmt ein netter Abend. Wirst du kommen?«
Unter der weißen Mütze, die fest auf dem dichten kastanienbraunen Haar saß, blickten ein Paar große Augen Pawel erwartungsvoll an.
»Ja, ich werde kommen.«
Und so verabschiedeten sie sich.
Pawel eilte zu seinen Maschinen. Die Aussicht, einen ganzen Abend mit Tonja zu verbringen, gab allem ein festliches Gepräge. Die Feuerung schien heller zu brennen, das Holz fröhlicher zu knistern.
An jenem Abend hatte Tonja selbst die große, breite Haustür geöffnet. Ein wenig verlegen sagte sie:
»Ich habe Besuch bekommen. Ganz unerwartet. Aber du sollst deshalb nicht weggehen, Pawluscha.«
Pawel drehte sich um und wollte sofort wieder verschwinden.
»Nein, komm herein«, sagte sie und hielt ihn fest.
»Es wird für sie ganz nützlich sein, dich kennen zu lernen.« Sie legte den Arm um ihn und führte ihn durchs Esszimmer in ihr eigenes Zimmer.
Beim Eintreten wandte sie sich an die dort sitzenden jungen Leute und sagte lächelnd:
»Darf ich vorstellen? Das ist mein Freund Pawel Kortschagin.«
Um den in der Mitte des Zimmers stehenden kleinen Tisch saßen Lisa Sucharko, eine hübsche, brünette Gymnasiastin mit kapriziös geschnittenem Mund und koketter Frisur, ferner ein ihm unbekannter hoch aufgeschossener Jüngling in einem schwarzen Jackett, mit glatt gekämmtem, von Pomade glänzendem Haar, grauen Augen und gelangweiltem Gesichtsausdruck, und zwischen ihnen Viktor Leszczynski in seiner eleganten Gymnasiastenuniform. Pawel hatte ihn als ersten bemerkt, nachdem Tonja die Tür geöffnet hatte.
Auch Leszczynski erkannte Pawel gleich und hob erstaunt die schmalen, geschwungenen Brauen.
Einige Sekunden stand Pawel schweigend an der Tür und blickte Viktor feindselig an. Tonja beeilte sich, diesem peinlichen Schweigen ein Ende zu bereiten, und bat Pawel einzutreten. Zu Lisa gewandt, sagte sie:
»Macht euch bitte miteinander bekannt.«
Lisa Sucharko, die den Eintretenden neugierig musterte, erhob sich.
Pawel drehte sich jedoch schroff um und schritt hastig durch das halbdunkle Esszimmer zur Haustür. Erst auf der Treppe holte ihn Tonja ein. Sie hielt ihn fest und sagte erregt:
»Weshalb gehst du fort? Mir lag ja gerade daran, dass sie dich kennen lernen.«
Doch Pawel schob ihre Hände weg und antwortete schroff:
»Was stellst du mich zur Schau vor solchen Laffen? Mit dieser Gesellschaft will ich nichts zu tun haben. Dir mögen sie ja sympathisch sein, aber ich kann sie nicht ausstehen. Ich wusste nicht, dass das deine Freunde sind, sonst wäre ich niemals zu dir gekommen.«
Tonja unterbrach ihn und hielt nur mit Mühe ihre Empörung zurück:
»Wer erlaubt dir, so mit mir zu sprechen? Habe ich dich vielleicht gefragt, mit wem du befreundet bist und wer zu dir kommt?«
Während Pawel die Stufen zum Garten hinunterging, warf er böse hin:
»Sollen sie meinetwegen zu dir kommen, aber ich komme nicht mehr zu dir!« Und er lief zur Gartenpforte.
Seitdem hatte er Tonja nicht mehr gesehen. In den Tagen des Pogroms, als er und der Monteur geflüchtete jüdische Familien im Elektrizitätswerk versteckt
hielten, hatte er seinen Streit mit Tonja vergessen. Heute hätte er sie gern wieder gesehen.
Shuchrais Verschwinden und die ihn in der Wohnung erwartende Einsamkeit versetzten Pawel in sehr bedrückte Stimmung.
Die graue Fahrstraße, deren zahlreiche Schlaglöcher mit flüssigem braunem Schlamm angefüllt waren, bog rechts ab.
Hinter einem auf die Chaussee weit vorspringenden Haus mit abgebröckelten grindigen Wänden kreuzten sich zwei Straßen.

Am Kreuzweg, bei dem zerstörten Kiosk mit der eingedrückten Tür und dem auf dem Kopf stehenden Schild, das die Aufschrift »Mineralwasser« trug, verabschiedete sich Viktor Leszczynski von Lisa.
Er hielt ihre Hand in der seinen fest, schaute ihr tief in die Augen und fragte:
»Sie werden also kommen? Sie halten mich nicht zum Narren?«
Lisa antwortete mit einem koketten Lächeln:
»Ja, ja, ich werde kommen, Sie können mich erwarten.«
Beim Weggehen lächelte sie ihn abermals mit ihren verschleierten braunen Augen verheißungsvoll an.
Als Lisa etwa zehn Schritte gemacht hatte, sah sie aus der Querstraße zwei Männer auf die Chaussee herauskommen: Voran schritt ein stämmiger, breitschultriger Arbeiter in einem offenen Jackett, aus dem ein gestreifter Matrosensweater hervorlugte. Die dunkle Mütze hatte er tief in die Stirn gedrückt. An einem Auge hatte er einen großen dunkelblauen Fleck.
Er schritt fest aus, mit etwas wiegendem Gang. Seine Füße steckten in kurzen gelben Schaftstiefeln.
Mit geringem Abstand folgte ein Petljura-Mann in grauem Überrock, mit zwei Patronentaschen am Gürtel. Sein Bajonett berührte fast den Rücken des vor ihm gehenden Arbeiters.
Unter der zottigen Pelzmütze hervor schauten zwei Äuglein unverwandt auf den Gefangenen. Der von Machorka gelbe Schnurrbart sträubte sich nach beiden Seiten.
Lisa verlangsamte ein wenig ihre Schritte und ging auf die andere Straßenseite hinüber.
Da tauchte hinter ihr Pawel auf der Chaussee auf.
Als er den Weg nach rechts zu seinem Haus einschlagen wollte, bemerkte auch er die beiden Männer. Seine Füße versagten ihm fast den Dienst - er hatte in dem Vorangehenden sofort Shuchrai erkannt.
Deshalb ist er also nicht zurückgekehrt!
Shuchrai kam immer näher. Pawels Herz hämmerte wild. Tausend Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum. Er konnte sie weder zu Ende denken noch formulieren. Eins schien klar: Shuchrai war verloren.
Pawel blickte auf die Näher kommenden und konnte nicht Herr seiner Gedanken werden.
Was tun?
In letzter Minute erinnerte er sich an die Pistole, die er in der Tasche hatte. Sobald sie an mir vorübergehen, werde ich dem Kerl in den Rücken schießen, und Fjodor ist frei. Als er diesen Entschluss gefasst hatte, begannen sich die Gedanken sogleich zu ordnen. Krampfhaft presste er die Zähne aufeinander. Hatte nicht Fjodor erst gestern gesagt:
»Und dazu braucht man tapfere Kerle …?«
Pawel blickte sich schnell um. Die zur Stadt führende Straße war leer. Keine Menschenseele weit und breit. Vor ihm lief eine weibliche Gestalt in kurzem Frühjahrsmantel. Die konnte seinem Vorhaben nicht hinderlich sein. Nur ganz weit entfernt, auf dem Weg zum Bahnhof, bemerkte er einige Gestalten.
Pawel trat an den Rand der Chaussee. Shuchrai sah ihn erst, als er schon in beträchtlicher Nähe war. Er blickte ihn mit einem Auge an. Seine dichten Brauen zuckten. Er hatte Pawel erkannt und verlangsamte, von dieser unerwarteten Begegnung überrascht, seine Schritte.
Sein Rücken stieß auf das Bajonett.
»Na, los, vorwärts, sonst heiz ich dir mit dem Kolben ein!« schrie der Begleitsoldat.
Shuchrai ging rascher. Er wollte Pawel etwas zuflüstern, beherrschte sich jedoch und winkte nur wie zum Gruß mit der Hand.
Um nicht die Aufmerksamkeit des Kerls mit dem gelben Schnurrbart auf sich zu lenken, wandte Pawel, als Shuchrai an ihm vorüberkam, das Gesicht ab, als wären ihm die beiden völlig gleichgültig.
Im Kopf schwirrte ihm ein beunruhigender Gedanke: Wenn ich schieße, aber mein Ziel verfehle, kann die Kugel Shuchrai treffen …
Aber durfte er denn jetzt noch nachdenken, da der Petljura-Mann bereits neben ihm stand?
Plötzlich warf sich Pawel auf ihn, packte das Gewehr und drückte es mit aller Kraft zu Boden. Klirrend stieß das Bajonett auf die Steine.
Einen Moment lang verlor der völlig überrumpelte Begleitsoldat seine Geistesgegenwart, dann aber riss er sofort mit aller Kraft das Gewehr an sich. Doch Pawel stürzte sich mit dem ganzen Körper darauf und hielt es fest. Ein Schuss ging los. Die Kugel prallte mit quietschendem Laut von den Steinen ab und klatschte in den Graben.
Von dem Schuss alarmiert, sprang Shuchrai zur Seite und wandte sich um. Wütend bemühte sich der Begleitsoldat, Pawel das Gewehr zu entreißen. Er drehte es um und renkte dem Jungen fast die Arme aus. Aber Pawel ließ nicht los. Wutentbrannt schleuderte ihn der Petljura-Mann zu Boden. Aber auch dieser Versuch, das Gewehr freizubekommen, misslang. Im Fallen riss Pawel den Mann mit sich. Es gab keine Kraft, die imstande gewesen wäre, ihm in diesem Augenblick die Waffe zu entwinden.
Mit zwei Sätzen war Shuchrai neben ihm. Seine eherne Faust sauste mit voller Wucht auf den Schädel des Petljura-Soldaten nieder, der in der nächsten Sekunde von dem am Boden liegenden Pawel herumgerissen wurde und zwei bleischwere Fausthiebe ins Gesicht erhielt, so dass er wie ein schwerer Sack in den Graben rollte.
Dann hoben Shuchrais starke Hände Pawel hoch und stellten ihn wieder auf die Beine. Einer nach dem anderen sprang über den Zaun eines Gartens. Doch schon kam ein Reiter die Chaussee entlanggesprengt. Als er den mit dem Gewehr in der Hand davonlaufenden Shuchrai und den Posten, der mühsam aufzustehen versuchte, erblickte, trieb er sein Pferd zum Zaun.
Shuchrai wandte sich um, legte das Gewehr an und schoss auf den Reiter. Dieser prallte zurück.

Viktor hatte sich etwa hundert Schritt von dem Kreuzweg entfernt und schlenderte, die Melodie »Ach, wie so trügerisch sind Weiberherzen« vor sich hin pfeifend, daher. Er stand noch unter dem Eindruck der Begegnung mit Lisa und ihres Versprechens, sich morgen bei der verlassenen Ziegelei mit ihm zu treffen.
Unter den notorischen Schürzenjägern des Gymnasiums ging das Gerücht um, dass Lisa Sucharko in Dingen der Liebe ein sehr kühnes Mädchen sei.
Der freche und überhebliche Semjon Saliwanow hatte Viktor einmal erzählt, dass er Lisa besessen habe. Obwohl Leszczynski die Behauptung Sjomkas nicht so recht glauben wollte, erschien ihm Lisa doch sehr interessant und begehrenswert. Morgen wollte er nun erfahren, ob Saliwanow wirklich die Wahrheit gesagt hatte.
Wenn sie kommt, werde ich sehr resolut vorgehen. Sie lässt sich ja küssen. Und wenn Sjomka nicht gelogen hat … Seine Gedanken brachen ab, er musste zur Seite treten, um zwei Petljura-Leuten auszuweichen. Der eine von ihnen ritt auf einem kurzschwänzigen Pferdchen und schwenkte einen Eimer aus Segeltuch in der Luft. Anscheinend wollte er zur Pferdetränke. Der andere, in einem kurzen Wams und ungeheuer weiten blauen Hosen, hielt sich mit der Hand am Knie des Reitenden fest und schien ihm etwas Lustiges zu erzählen.
Nachdem Viktor die Petljura-Leute vorübergelassen hatte, wollte er seinen Weg fortsetzen, als ihn plötzlich ein Schuss aufschreckte. Viktor wandte sich
um und sah, wie der Berittene sein Pferd herumriss und im Galopp der Richtung zusprengte, aus der der Schuss gekommen war. Der andere rannte hinter ihm her, den Säbel in der Hand.
Leszczynski eilte ihnen nach und vernahm, als er bereits in der Nähe der Chaussee war, einen zweiten Schuss. Hinter der Wegbiegung hervor sprengte der Berittene in rasendem Galopp Viktor wieder entgegen. Er bearbeitete sein Pferd mit den Beinen und dem Eimer, ritt ins erstbeste Tor hinein und schrie den Leuten im Hof zu:
»Jungs, an die Gewehre; sie haben dort einen von den Unseren ermordet!«
Eine Minute später rannten mehrere Soldaten aus dem Hof; ihre Gewehrschlösser knackten.
Viktor wurde festgenommen.
Auf der Chaussee hatten sich einige Leute angesammelt. Unter ihnen befand sich außer Viktor auch Lisa, die als Zeugin angehalten und befragt wurde.
Sie war, als Shuchrai und Kortschagin an ihr vorüberrannten, vor Schreck wie angewurzelt stehen geblieben. Mit Staunen hatte sie in dem Jungen, der den Petljura-Mann überfallen hatte, den jungen Menschen wieder erkannt, den ihr Ton ja kürzlich vorstellen wollte.
Nur mit Mühe bewegte der Geleitsoldat die zerschlagenen Lippen, als er über die Vorgänge berichtete.
»Na, du Blödian! Hast den Verhafteten vor deiner Nase weglaufen lassen. Dafür gibt's fünfundzwanzig mit dem Ladestock auf den Hintern!«
Wütend fuhr der Soldat auf:
»Du hast natürlich gut reden. Vor der Nase weglaufen lassen! Konnte ich denn riechen, dass sich dieses Biest wie besessen auf mich stürzen würde?«
Lisa wurde ebenfalls befragt. Sie erzählte genau das gleiche, was der Geleitsoldat berichtet hatte, verhehlte jedoch, dass ihr der Täter bekannt war. Trotzdem brachte man sie wie auch Viktor zur Kommandantur.
Erst am Abend wurden sie auf Befehl des Kommandanten freigelassen. Er bot Lisa sogar an, sie nach Hause zu begleiten. Sie lehnte das jedoch ab. Der Kommandant strömte Wodkadunst aus, und sein Angebot schien ihr nichts Gutes zu verheißen.
Sie wurde von Viktor nach Hause gebracht.
Der Weg bis zur Station war weit, deshalb freute sich Viktor, der jetzt Arm in Arm mit Lisa einherging, über das Vorgefallene.
»Und wissen Sie auch, wer den Verhafteten befreit hat?« fragte Lisa, als sie sich bereits ihrem Haus näherten.
»Nein, woher soll ich denn das wissen?«
»Können Sie sich noch an jenen Abend erinnern, an dem uns Tonja einen jungen Mann vorstellen wollte?« Viktor blieb stehen.
»Pawel Kortschagin?« fragte er verwundert.
»Ja, ich glaube, er hieß Kortschagin. Entsinnen Sie sich noch, er verhielt sich damals so komisch? Also, der war es.«
Viktor blieb verblüfft stehen.
»Und Sie irren sich nicht?« fragte er.
»Nein, ich habe sein Gesicht noch sehr gut im Gedächtnis.«
»Warum haben Sie das nicht dem Kommandanten gesagt?« Lisa erwiderte empört:
»So eine Gemeinheit trauen Sie mir zu?«
»Wieso halten Sie das für eine Gemeinheit? Zu erzählen, wer den Geleitposten überfallen hat, ist nach Ihrer Meinung eine Gemeinheit?«
»Und Sie meinen, dass das anständig wäre? Haben Sie denn schon ganz vergessen, was diese Kerle alles anrichten? Wissen Sie denn nicht, wie viel jüdische Waisen es in unserem Gymnasium gibt? Und Sie wollen, dass ich Kortschagin verrate? Nein, das habe ich von Ihnen nicht erwartet.«
Auf eine solche Antwort war Leszczynski nicht gefasst gewesen. Es lag nicht in seiner Absicht, es mit Lisa zu verderben. Deshalb war er bemüht, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.
»Regen Sie sich doch nicht auf, Lisa. Ich habe doch nur gescherzt. Ich wusste nicht, dass Sie so prinzipienfest sind.«
»Das war kein guter Scherz«, erwiderte Lisa trocken.
Als sich Viktor dann vor dem Haus der Sucharkos verabschiedete, fragte er:
»Also, Sie kommen morgen, Lisa?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Lisa unbestimmt.
Während Viktor in die Stadt zurückging, überlegte er: Nun, mein Fräulein, wenn Sie das für eine Gemeinheit halten, so bin ich darüber ganz anderer Ansicht.
Natürlich war es ihm ganz schnuppe, wer da wen befreit hatte. Ihm, einem Leszczynski, dem Sprössling eines alten polnischen Adelsgeschlechts, waren sowohl die einen wie die andern verhasst. Bald würden sowieso die polnischen Legionen kommen. Dann erst werden die Richtigen an der Macht sein; das wird die Macht der polnischen Schlachta, des polnischen Adels, sein. Einstweilen aber bot sich die Gelegenheit, diesen Schuft, den Kortschagin, zu erledigen. Die werden schon kurzen Prozess mit ihm machen.
Viktor war allein in der Stadt zurückgeblieben. Er wohnte bei seiner Tante, der Frau des Vizedirektors der Zuckerfabrik. Seine Eltern und Nelly lebten schon längst in Warschau, wo sein Vater Leszczynski eine angenehme Stellung bekleidete.
Bei der Kommandantur angelangt, trat Viktor durch die offen stehende Tür.
Nach einiger Zeit ging er in Begleitung von vier Petljura-Leuten zum Hause Kortschagins.
Er wies auf ein hell erleuchtetes Fenster und flüsterte:
»Dort wohnt er.« Dann wandte er sich an den neben ihm stehenden Kosakenfähnrich und fragte: »Kann ich jetzt gehen?«
»Bitte sehr. Wir werden schon allein mit ihm fertig werden. Danke für Ihren Dienst.«
Viktor ging eilig davon.

Ein Stoß in den Rücken schleuderte Pawel an die Wand des dunklen Raumes, in den man ihn gebracht hatte. Seine Hände stießen auf eine Pritsche. Er setzte sich nieder, geschunden, zerschlagen und bedrückt.
Er hatte es nicht erwartet, dass man ihn verhaften könnte. Wie hatten nur die Petljura-Leute erfahren, dass er es gewesen war? Er war doch von niemandem gesehen worden? Was sollte nun werden? Wo steckte Shuchrai?
Pawel hatte sich in Klimkas Wohnung von dem Matrosen verabschiedet. Dann war er zu Serjosha gegangen, und Shuchrai wollte auf die Dunkelheit warten, um ungesehen aus der Stadt verschwinden zu können.
Wie gut, dass ich die Pistole in dem Krähennest versteckt habe, dachte Pawel. Wenn sie die gefunden hätten, dann wär's aus mit mir. Aber wie konnten sie nur etwas über mich erfahren? Diese Frage quälte ihn ganz besonders.
Bei der Durchsuchung des Kortschaginschen Hauses hatten die Petljura-Leute nicht viel erbeuten können. Artjom hatte seinen Anzug und die Ziehharmonika mit ins Dorf genommen. Die Mutter hatte ihr Köfferchen ebenfalls bei sich. So fiel den in allen Ecken und Winkeln herumstöbernden Petljura-Soldaten nur sehr wenig in die Hände.
Aber niemals in seinem Leben wird Pawel den Weg von zu Hause bis zur Kommandantur vergessen. Die Nacht war stockfinster, der Himmel mit schwarzen Wolken bedeckt. Die ununterbrochenen, erbarmungslosen Stöße in den Rücken und in die Seiten hatten ihn in einen Zustand dumpfer Betäubung versetzt.
Hinter der Tür wurden Stimmen laut. Im Nebenraum befand sich die Kommandanturwache. Ein heller Lichtstreif drang unter der Tür hindurch. Pawel stand auf und tappte an den Wänden entlang durch den Raum. Gegenüber der Pritsche war ein mit festen Eisenstäben vergittertes Fenster. Er fühlte das Gitter mit der Hand ab - es war sehr stabil gemacht. Hier war wohl früher ein Lagerraum gewesen.
Er tastete sich bis zur Tür, stand eine Minute lang still und lauschte. Dann drückte er leicht auf die Klinke - die Tür quietschte unüberhörbar.
»Verdammt«, fluchte Pawel.
Durch einen schmalen Ritz erblickte er am Rand einer Pritsche ein Paar schmutzige Füße mit gespreizten Zehen. Ein zweiter leichter Druck auf die Klinke, und jetzt knarrte die Tür ganz vernehmlich. Von der Pritsche erhob sich eine struppige, verschlafene Gestalt und stieß einen Schwall von Flüchen hervor. Nachdem das mörderische Schimpfen verstummt war, griff die Gestalt nach dem am Kopfende stehenden Gewehr und erklärte phlegmatisch:
»Mach mal schleunigst die Tür zu, und wenn du noch mal reinschaust, kriegst du fünfe in den … «
Pawel schloss die Tür.
Aus dem Nebenraum schallte Gelächter.
In dieser Nacht dachte Pawel über vieles nach. Sein erster Versuch, am Kampf teilzunehmen, hatte kein gutes Ende genommen. Gleich beim ersten Schritt hatten sie ihn erwischt und wie eine Maus in den Kasten gesperrt.
Er hatte sich hingehockt und wurde vom Schlaf übermannt. Immer wieder schreckte er auf.
Im Halbschlaf tauchte die Gestalt seiner Mutter vor ihm auf, ihr mageres runzliges Gesicht mit den lieben vertrauten Augen. Und es ging ihm durch den Kopf: Gut, dass sie nicht da war, so hatte sie weniger Kummer.
Ein graues Quadrat zeichnete sich vom Fenster auf dem Boden ab.
Die Dunkelheit begann sich zu lichten; der Morgen dämmerte.

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