Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
http://nemesis.marxists.org

FÜNFTES KAPITEL

Laut rasselnd kroch die Straßenbahn mühsam die steile Funduklejewskaja-Straße hinauf. Beim Operntheater machte sie halt. Eine Gruppe junger Leute stieg aus, und die Straßenbahn rasselte weiter bergan.
Pankratow trieb die Säumigen an:
»Los, Jungs, wir kommen schon zu spät.« Okunew holte ihn erst knapp vor dem Theatereingang ein.
»Kannst du dich noch daran erinnern, Genka, vor drei Jahren sind wir genauso hierher gekommen. Damals fand Dubawa mit der ehemaligen Gruppe der ›Arbeiteropposition‹ zu uns zurück. Ein schöner Abend war das. Und heute werden wir wieder mit Dubawa zu kämpfen haben.«
Pankratow gab Okunew erst im Saal Antwort, nachdem sie den am Eingang postierten Kontrolleuren ihre Mandate vorgewiesen hatten:
»Ja, die alte Geschichte mit Dubawa wiederholt sich von neuem und an demselben Ort.«
Sie wurden zur Ruhe ermahnt und waren gezwungen, sich auf die nächstgelegenen freien Plätze zu begeben. Die Abendsitzung der Konferenz war bereits eröffnet. Auf der Tribüne stand eine Frau.
»Wir sind gerade im richtigen Moment gekommen. Setz dich und hör zu, was dein Frauchen zu sagen hat«, flüsterte Pankratow und stieß Okunew mit dem Ellbogen an.
»… Es stimmt, wir haben viele Kräfte in der Diskussion vertan, doch dafür hat unsere Jugend, die sich an der Aussprache beteiligte, so manches gelernt. Wir stellen mit großer Genugtuung die Tatsache fest, dass die Trotzki-Anhänger in unserer Organisation ganz offensichtlich aufs Haupt geschlagen wurden. Sie können sich nicht beschweren, dass wir ihnen keine Möglichkeit gegeben haben, sich auszusprechen, ihre Meinung frei zu äußern. Nein, im Gegenteil: Die Handlungsfreiheit, die wir ihnen eingeräumt haben, hat zu einer großen Reihe grober Verletzungen gegen die Parteidisziplin geführt.«
Talja war aufgeregt, eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und störte sie beim Sprechen. Mit einem Ruck warf sie den Kopf zurück.
»Wir haben hier viele Genossen aus den Bezirken angehört, und alle erzählten uns von den Methoden, die die Trotzkisten anwenden. Auf unserer Konferenz sind sie in ziemlich großer Anzahl vertreten. Die Bezirke haben
ihnen bewusst Mandate eingeräumt, damit sie hier auf der Stadt-Parteikonferenz noch einmal ihre Meinung äußern können. Es ist nicht unsere Schuld, wenn nur wenige von ihnen auftreten. Ihr völliger Bankrott in den Bezirken und Zellen hat sie ein wenig belehrt. Es ist nicht so einfach, auf dieser Tribüne das zu wiederholen, was sie noch gestern vertreten haben.«
Talja wurde von einer scharfen Stimme unterbrochen, die aus der rechten Ecke des Parterres kam:
»Wir werden schon noch auftreten!« Talja Lagutina wandte sich um:
»Nun, was denn, Dubawa? Tritt doch auf und sag, was du zu sagen hast. Wir werden dich anhören«, schlug sie vor.
Dubawa blickte sie herausfordernd an und verzog nervös den Mund.
»Es kommt die Zeit - da werden wir schon unsere Meinung sagen!« schrie er und erinnerte sich an die gestrige schwere Niederlage, die er in seinem Bezirk, in dem ihn jeder kannte, erlitten hatte.
Im Saal begann man zu murren. Pankratow konnte sich nicht mehr beherrschen und rief:
»Was, ihr wollt noch einmal an unserer Partei rütteln?« Dubawa erkannte seine Stimme. Er wandte jedoch nicht einmal den Kopf, biss sich nur krampfhaft auf die Lippen und starrte zu Boden. Talja fuhr fort:
»Als krasses Beispiel, wie die Trotzkisten die Parteidisziplin verletzen, kann Dubawa dienen. Er ist einer unserer alten Komsomolfunktionäre. Viele kennen ihn, besonders die Arsenalarbeiter. Dubawa ist Student der Charkower Kommunistischen Universität. Wir wissen jedoch alle, dass er sich genauso wie Schkolenko schon fast drei Wochen hier aufhält. Was haben die beiden gerade jetzt, mitten im Semester, hier zu suchen? Es gibt nicht einen einzigen Bezirk in der Stadt, in dem sie nicht aufgetreten wären. Es ist wahr, dass Schkolenko in den letzten Tagen etwas nüchterner zu werden beginnt. Wer hat sie aber hierher geschickt? Außer ihnen gibt es noch eine ganze Reihe anderer Trotzkisten aus verschiedenen Organisationen. Alle haben sie hier einmal gearbeitet und sind jetzt hergekommen, das Feuer des innerparteilichen Kampfes zu entfachen. Ist ihre Parteiorganisation über ihren Aufenthaltsort informiert? Natürlich nicht.«
Die Konferenz erwartete von den Trotzkisten ein öffentliches Bekenntnis ihrer Fehler. Talja versuchte sie zum Eingeständnis dieser Fehler zu bewegen und sprach zu ihnen, als stände sie nicht auf der Rednertribüne, sondern führe eine kameradschaftliche Aussprache mit ihnen.
»Könnt ihr euch noch daran erinnern? Vor drei Jahren fand Dubawa in diesem selben Theater mit der ehemaligen Gruppe der ›Arbeiteropposition‹ zu uns zurück. Erinnert ihr euch noch seiner Worte: ›Niemals werden wir das Banner der Partei beflecken.‹ Kaum sind drei Jahre vergangen, und Dubawa hat es befleckt. Ja, ich behaupte - er hat es befleckt. Denn seine Worte ›Wir werden schon unsere Meinung sagen‹ beweisen, dass er und seine trotzkistischen Gesinnungsgenossen noch weiterzugehen gedenken.«
Von den hinteren Plätzen ließ sich eine Stimme hören:
»Soll doch mal Tufta vom Barometer erzählen, er ist bei ihnen so was wie ein Meteorologe.«
Erregte Stimmen wurden laut:
»Genug der Kindereien!«
»Antworten sollen sie uns, ob sie den Kampf gegen die Partei einstellen wollen oder nicht!«
»Sie sollen uns sagen, wer die parteifeindliche Erklärung verfasst hat!«
Die Erregung steigerte sich immer mehr. Lange schwang der Vorsitzende die Glocke.
Taljas Worte verhallten im Stimmengewirr. Doch der Sturm legte sich bald, und ihre Stimme drang wieder durch.
»Wir erhalten Briefe von unseren Genossen aus entlegenen Bezirken. Sie gehen mit uns, und das feuert uns noch mehr an. Gestattet mir, einen Auszug aus einem dieser Briefe zu verlesen. Der Brief ist von Olga Jurenewa. Viele von
euch kennen sie. Sie ist jetzt Leiterin der Organisationsabteilung eines Kreis-Jugendkomitees.«
Talja zog aus einem Stoß Papiere ein Blatt heraus, überflog es und las vor: »Die praktische Arbeit wird vernachlässigt. Die ganze Jugendleitung ist bereits den vierten Tag in den Bezirken. Die Trotzkisten haben den Kampf mit außergewöhnlicher Schärfe begonnen. Gestern kam es zu einem Vorfall, über den die ganze Organisation empört ist. Die Oppositionszellen, die in der Stadt in keiner einzigen Zelle die Mehrheit erhalten konnten, entschlossen sich, in der Zelle des Kreis-Kriegskommissariats, zu der auch die Kommunisten der Kreis-Plankommission und der Gewerkschaft der Bildungsarbeiter gehören, mit vereinten Kräften eine Schlacht zu liefern. Die Zelle zählt zweiundvierzig Mann, er hatten sich dort aber alle Trotzkisten eingefunden. Noch niemals haben wir derart parteifeindliche Reden wie auf dieser Versammlung zu hören bekommen. Einer von den Kriegskommissariatsleuten meldete sich und erklärte wortwörtlich: ›Wenn der Parteiapparat nicht nachgibt, werden wir ihn mit Gewalt zerschlagen.‹ Diese Erklärung wurde von den Oppositionellen mit Beifall aufgenommen. Da trat Kortschagin auf und sagte: ›Wie konntet ihr als Parteimitglieder diesem Faschisten Beifall klatschen?‹ Man ließ Kortschagin nicht aussprechen, polterte mit den Stühlen und brüllte. Die Zellenmitglieder, empört über dieses pöbelhafte Benehmen, forderten, dass man Kortschagin anhöre. Als jedoch Pawel von neuem zu sprechen begann, wurde abermals Obstruktion getrieben. Pawel rief ihnen zu: ›So sieht also eure Demokratie aus! Und doch werde ich sprechen! ‹ Da packten ihn einige und versuchten ihn von der Tribüne zu zerren. Nun ging etwas Ungeheuerliches vor sich. Pawel wehrte sich und sprach weiter, sie schleppten ihn jedoch von der Bühne, öffneten eine Seitentür und warfen ihn die Treppe hinunter, und irgendein Schuft schlug ihm das Gesicht blutig. Fast die ganze Zelle verließ die Versammlung. Dieser Vorfall hat vielen die Augen geöffnet…« Talja verließ die Tribüne.

Segal arbeitete bereits zwei Monate als Agitpropleiter des Gouvernements-Parteikomitees. Jetzt saß er im Präsidium neben Tokarew und lauschte aufmerksam den Reden der Delegierten der Stadt-Parteikonferenz. Vorläufig sprachen fast ausschließlich junge Genossen, die noch Mitglieder des Jugendverbandes waren.
Wie sie in diesen Jahren gewachsen sind, dachte Segal.
»Den Oppositionellen ist der Boden unter den Füßen schon heiß geworden«, sagte er zu Tokarew, »und dabei haben wir noch nicht einmal die schwere Artillerie auffahren lassen. Jetzt schlägt selbst die Jugend die Trotzkisten kurz und klein.«
Auf die Tribüne sprang Tufta. Im Saal wurde sein Erscheinen mit missbilligenden Rufen und einem kurzen Heiterkeitsausbruch begrüßt. Tufta wandte sich dem Präsidium zu und wollte schon gegen einen derartigen Empfang Protest erheben, doch es herrschte bereits wieder Ruhe.
»Hier hat mich jemand einen Meteorologen genannt. Da kann man gleich sehen, Genossen von der Mehrheit, wie ihr euch über meine politischen Anschauungen lustig macht!« rief er in einem Atemzug aus.
Allgemeines Gelächter folgte seinen Worten. Tufta wies entrüstet auf den Saal.
»Wie ihr auch lachen mögt, ich wiederhole nochmals, dass die Jugend ein Barometer ist. Lenin hat einige Male darüber geschrieben.«
Sofort wurde es still im Saal.
»Was hat er geschrieben?« rief man ihm entgegen.
Tufta wurde lebhafter.
»Als der Oktoberaufstand vorbereitet wurde, gab Lenin die Weisung, die kampfbereite Arbeiterjugend zu sammeln, sie zu bewaffnen und zusammen mit den Matrosen an die verantwortlichen Stellen zu werfen. Soll ich euch Lenins Worte vorlesen? Ich habe alle Zitate katalogisiert.« Tufta griff nach seiner Aktenmappe.
»Wir kennen das!«
»Und was hat Lenin über die Einheit geschrieben?«
»Und über die Parteidisziplin?«
»Und wo hat Lenin die Jugend der alten Garde entgegengestellt?«
Tufta verlor den Faden und ging zu einem anderen Thema über:
»Die Genossin Lagutina hat hier einen Brief der Genossin Jurenewa verlesen. Wir können für Zwischenfälle, die während einer Diskussion vorkommen, keine Verantwortung übernehmen.«
Zwetajew, der neben Schkolenko saß, flüsterte mit verhaltener Wut:
»Der leistet uns ja einen schönen Bärendienst!«
Schkolenko antwortete ebenso leise:
»Ja, dieser Esel wird uns endgültig hereinlegen.«
Tuftas hohe, durchdringende Stimme kreischte weiter.
»Wenn ihr eine Fraktion der Mehrheit organisiert, so haben wir das Recht, eine Fraktion der Minderheit zu organisieren.«
Unten brach ein Sturm los. Tufta wurde von einem Hagel entrüsteter Zwischenrufe überschüttet:
»Was soll das heißen? Wollt ihr etwa wieder Bolschewiki und Menschewiki haben?«
»Die Kommunistische Partei ist kein Parlament!«
»Die legen sich für alle ins Zeug, von Mjasnikow bis Martow!«
Tufta gestikulierte herum, als wollte er schwimmen, und sprudelte in seinem Eifer drauflos:
»Ja, wir verlangen Freiheit der Gruppierungen. Wie wollen wir Andersdenkenden denn sonst für unsere Anschauungen gegen eine so organisierte und geschlossen auftretende, disziplinierte Mehrheit kämpfen?« Im Saal wuchs der Lärm. Pankratow erhob sich und rief:
»Lasst ihn aussprechen. Es ist ganz nützlich, das zu wissen. Tufta quatscht das aus, was andere verschweigen.«
Es trat wieder Ruhe ein.
Tufta begriff, dass er zu weit gegangen war. Das hätte man jetzt wohl doch nicht sagen dürfen. Sein Gedankengang brach jäh ab, und er warf den Zuhörern zum Schluss seiner Diskussionsrede noch eine Flut von Worten entgegen:
»Ihr könnt uns natürlich ausschließen und uns in die Ecke drängen. Das geht jetzt schon los. Mich hat man bereits aus dem Gouvernements-Jugendkomitee hinausgeworfen. Macht nichts, bald wird sich zeigen, wer im Recht war.« Er sprang von der Tribüne in den Saal hinunter.
Dubawa erhielt von Zwetajew einen Zettel.
»Dmitri, tritt du jetzt auf. Das kann die Sache zwar nicht retten, unsere Niederlage ist hier besiegelt. Man muss jedoch Tuftas Worte abschwächen. Er ist ja ein Dummkopf und Schwätzer.«
Dubawa bat ums Wort, und es wurde ihm auch sofort erteilt.
Als er auf die Bühne stieg, trat im Saal atemlose Stille ein. Aus diesem vor jeder Diskussionsrede üblichen Schweigen wehte Dubawa Kälte der Entfremdung entgegen. Er sprach lange nicht mehr so hitzig, wie er in den Zellen gesprochen hatte. Sein Eifer war von Tag zu Tag abgeebbt, und jetzt glich er einem mit Wasser gelöschten Lagerfeuer, aus dem ätzender Dunst in die Höhe steigt. Dieser Dunst bestand aus dem krankhaften Ehrgeiz, der durch die unverhüllte Niederlage und die derbe Abfuhr, die ihm seine alten Freunde erteilt hatten, verletzt worden war, und dem hartnäckigen Widerwillen, seine Fehler einzugestehen. Er entschloss sich, alles darauf ankommen zu lassen, obwohl er wusste, dass dies die Kluft zwischen ihm und der Mehrheit nur noch vertiefen würde. Er sprach mit dumpfer, aber deutlicher Stimme:
»Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen und durch Zwischenfälle zu stören. Ich will unseren Standpunkt eingehend darlegen, obwohl ich im voraus weiß, dass dies vergebens ist: Ihr seid hier die Mehrheit.«
Als er seine Ausführungen schloss, war es, als sei im Saal eine Bombe explodiert. Ein Sturm von Rufen hallte Dubawa entgegen. Wie Peitschenhiebe trafen Dmitri die zornigen Ausrufe:
»Schande!«
»Nieder mit den Spaltern!«
»Genug! Genug Schmutz aufgewirbelt!«
Unter spöttischem Gelächter verließ Dmitri die Tribüne, und dieses Gelächter kränkte ihn zu Tode. Hätte man empört geschrieen und getobt, so hätte ihn das befriedigt. Man lachte ihn jedoch aus wie einen Künstler, der eine falsche Note anstimmt und dann noch aus dem Takt gerät.
»Das Wort hat Schkolenko«, erklärte der Vorsitzende.
Michail erhob sich.
»Ich verzichte aufs Wort.«
Von den hinteren Reihen ertönte Pankratows Bass:
»Und ich bitte darum!«
Am Klang der Stimme erkannte Dubawa die seelische Verfassung Pankratows. So sprach der Hafenarbeiter, wenn ihn jemand schwer beleidigt hatte. Dubawa begleitete die hohe, etwas nach vorn gebeugte Gestalt Ignats, der schnell zur Tribüne schritt, mit finsterem Blick und spürte eine bedrückende Unruhe in sich aufsteigen. Er wusste, was Ignat sagen würde. Er erinnerte sich an die gestrige Begegnung mit seinen alten Freunden in Solomenka, bei der die Jungen ihn in freundschaftlichem Gespräch zu beeinflussen suchten, seine Verbindung mit der Opposition abzubrechen. Zwetajew und Schkolenko waren mit ihm gewesen. Sie hatten sich bei Tokarew versammelt. Dort waren Ignat, Okunew, Talja, Wolynzew, die Seljonowa, Starowerow und Artjuchin beisammen gewesen. Dubawa war den Versuchen gegenüber, die Einheit wiederherzustellen, stumm und taub geblieben. Als die Diskussion ihren Höhepunkt erreicht hatte, ging er mit Zwetajew weg und brachte damit offen zum Ausdruck, dass er nicht gewillt war, die Fehlerhaftigkeit seines Standpunkts einzugestehen. Schkolenko war geblieben. Und jetzt weigerte er sich aufzutreten.
Dieser schlappschwänzige Intellektuelle! Sie haben ihn bearbeitet, klar, dachte Dubawa boshaft.
In diesem erbitterten Kampf hatte er alle seine Freunde verloren. Auf der Kommunistischen Universität war seine alte Freundschaft mit Sharki in die Brüche gegangen, als dieser auf der Komiteesitzung scharf gegen die Trotzkisten auftrat. Später, als sich die Meinungsverschiedenheiten noch mehr zuspitzten, hörte Dmitri auf, mit Sharki zu sprechen. Einige Male hatte er in seiner Wohnung bei Anna Sharki getroffen. Anna Borchardt und Dubawa waren schon seit einem Jahr verheiratet, hatten jedoch getrennte Zimmer. Dubawa erblickte die Ursache für die Verschlechterung seiner ohnehin gespannten Beziehungen zu Anna, die seine Ansichten nicht teilte, in Sharkis immer häufiger werdenden Besuchen bei ihr. Das war keine Eifersucht, aber Annas Freundschaft mit Sharki, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte, brachte ihn auf. Er sagte dies Anna. Es kam zu einer großen Auseinandersetzung, und ihr Verhältnis zueinander wurde noch schlechter. Auch war er hierher gefahren, ohne ihr ein Wort davon zu sagen.
Der rasche Lauf seiner Gedanken wurde durch Ignats Stimme unterbrochen, der gerade zu reden begann.
»Genossen!« kam es hart von Pankratows Lippen. Er stand jetzt direkt an der Rampe.
»Genossen! Neun Tage lang haben wir uns die Reden der Oppositionellen angehört. Ich sage ganz offen: Sie sind nicht wie Kampfgefährten, wie revolutionäre Kämpfer, wie unsere Genossen und Klassenbrüder aufgetreten - ihr Auftreten war äußerst feindlich, unversöhnlich, boshaft und verleumderisch. Ja, Genossen, verleumderisch! Uns Bolschewiki versuchte man als Anhänger eines Knüppelregimes in der Partei darzustellen, als Menschen, die die Interessen ihrer Klasse und der Revolution verraten. Den besten, den bewährtesten Vortrupp unserer Partei, die ruhmreiche, alte bolschewistische Garde, diejenigen, die die Kommunistische Partei geschmiedet und erzogen haben, diejenigen, die in den Gefängnissen der zaristischen Despotie geschmachtet, die - mit Genossen Lenin an der Spitze - den unerbittlichen Kampf gegen den internationalen Menschewismus und gegen Trotzki geführt haben, diese Genossen
versuchte man als Vertreter des Parteibürokratismus hinzustellen. Wer anders als der Feind kann solche Worte aussprechen? Sind denn etwa die Partei und ihr Apparat nicht ein einheitliches Ganzes! Woran erinnert dieses Auftreten? Wie muss man diejenigen nennen, die junge Rotarmisten gegen ihre Kommandeure und Kommissare, gegen den Stab aufhetzen, und dies in einem Moment, da die Truppe von Feinden umgeben ist! Wie denken sich denn das die Trotzkisten eigentlich? Wenn ich heute noch Schlosser bin, so zählen sie mich zu den ›Anständigen‹, wenn ich aber morgen Sekretär des Komitees werde, dann bin ich bereits ein ›Bürokrat‹ und ›Apparatschik‹. Ist es nicht eigenartig, Genossen, dass es gerade unter den Oppositionellen, die so scharf gegen den Bürokratismus auftreten und die die Demokratie verteidigen, solche Leute wie Tufta gibt, der vor kurzem wegen Bürokratismus von seiner Arbeit abgesetzt worden ist; wie Zwetajew, der von den Leuten aus Solomenka wegen seines Herumkommandierens und der Unterdrückung jeder Kritik im Podolsker Bezirk dreimal seines Postens enthoben wurde? Ist es doch Tatsache, dass sich im Kampf gegen die Partei alles vereinigt, was von der Partei gemaßregelt wurde. Über Trotzkis ›Bolschewismus‹ mögen die alten Bolschewiki hier sprechen. Es ist notwendig, dass die Jugend Trotzkis hartnäckigen Kampf gegen die Bolschewiki kennen lernt, sein ständiges Überlaufen von einem Lager ins andere. Der Kampf gegen die Opposition hat unsere Reihen nur fester zusammengeschmiedet, hat unsere Jugend ideologisch gefestigt. Die bolschewistische Partei und der Kommunistische Jugendverband wurden im Kampf gegen die kleinbürgerlichen Strömungen gestählt. Die hysterischen Panikmacher von der Opposition prophezeien uns wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch. Unser Morgen wird beweisen, was diese Prophezeiungen wert sind. Sie verlangen, dass wir unsere Alten, wie zum Beispiel Tokarew und Segal, an die Werkbank zurückschicken, und an ihre Stelle ein so schwankendes Element wie Dubawa setzen, der den Kampf gegen die Partei als Heldentum darzustellen versucht. Nein, Genossen, auf so was lassen wir uns nicht ein. Die Alten werden langsam abgelöst, jedoch nicht von denen, die bei jeder Schwierigkeit wütend gegen die Linie der Partei ankämpfen. Die Einheit unserer großen Partei lassen wir nicht zerstören. Niemals wird die alte und junge Garde gespalten werden. Im unversöhnlichen Kampf gegen die kleinbürgerlichen Strömungen schreiten wir unter dem Banner Lenins zum Sieg!« Pankratow verließ die Tribüne unter stürmischem Applaus.

Am nächsten Tag versammelten sich bei Tufta ungefähr zehn Mann. Dubawa erklärte:
»Ich fahre heute mit Schkolenko nach Charkow. Hier haben wir nichts mehr zu suchen. Bemüht euch, Kontakt zu halten. Wir können nichts anderes tun als abwarten, wie sich die Ereignisse weiter gestalten werden. Zweifellos wird uns die Allrussische Konferenz verurteilen, mir scheint jedoch, dass wir vorläufig noch keine Repressalien zu erwarten haben. Die Mehrheit will uns nochmals in unserer praktischen Arbeit prüfen. Jetzt den Kampf offen, besonders nach dieser Konferenz weiterzuführen - das bedeutet, aus der Partei fliegen, und das liegt nicht in unserem Interesse. Schwer auszudrücken, was kommen wird. Wir haben einander, glaube ich, nichts weiter zu sagen.« Dubawa stand auf, um zu gehen. Auch Starowerow, ein hagerer Bursche mit dünnen Lippen, erhob sich.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte er lispelnd und ein wenig stotternd. »Sollen denn die Konferenzbeschlüsse für uns nicht bindend sein?«
Zwetajew unterbrach ihn schroff:
»Formell sind sie natürlich bindend, sonst wird man dir das Parteibuch wegnehmen. Wir wollen jedoch erst mal sehen, woher der Wind weht, und gehen daher jetzt auseinander.«
Tufta rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Düster und bleich, mit dunklen Ringen unter den übernächtigen Augen, saß Schkolenko am Fenster und kaute an den Fingernägeln. Bei Zwetajews letzten Worten unterbrach er seine nervöse Beschäftigung und wandte sich an die Versammelten:
»Ich bin gegen derartige Manöver«, sagte er plötzlich gereizt und dumpf. »Ich bin der Ansicht, dass die Beschlüsse der Konferenz für uns bindend sind. Wir haben unsere Überzeugung vertreten, müssen uns jedoch den Konferenzbeschlüssen fügen.«
Starowerow nickte ihm beistimmend zu.
»Ich bin derselben Meinung«, sagte er lispelnd.
Dubawa maß Schkolenko mit einem gehässigen Blick und zischte mit betontem Spott durch die Zähne: »Dir schlägt überhaupt niemand etwas vor. Dir bleibt noch immer die Möglichkeit, auf der Gouvernementskonferenz in Reue zu machen.«
Schkolenko sprang auf.
»Was ist das für ein Ton, Dmitri! Ich sage dir ganz offen, mich stoßen deine Worte ab und zwingen mich, meine gestern eingenommene Stellung zu überprüfen!«
Dubawa wehrte mit den Händen ab.
»Dir bleibt nur eins übrig. Geh und tue Buße, bevor es zu spät ist.«
Dubawa gab allen die Hand zum Abschied und ging davon.
Kurz darauf verabschiedete sich auch Schkolenko und Starowerow.

Mit Eiseskälte hielt das Jahr 1924 seinen Einzug. Im Januar wütete grimmiger Frost, und in der zweiten Monatshälfte brausten Stürme über das schneebedeckte Land hinweg.
Auf den südwestlichen Eisenbahnlinien waren die Gleise vom Schnee verweht. Die Menschen kämpften gegen das entfesselte Element. Schneebagger krallten sich mit stählernen Schaufeln in die Berge von Schnee ein und bahnten den Zügen ihren Weg. Frost und Schneegestöber zerrissen die vereisten Telegrafendrähte. Von den zwölf Linien arbeiteten nur noch drei: die indoeuropäische und zwei direkte Leitungen.
Im Telegrafenraum des Bahnhofs Schepetowka I führten die drei Morseapparate ein unaufhörliches, nur dem geübten Ohr verständliches Gespräch.
Die Telegrafistinnen waren jung, und die Länge des von ihnen seit ihrem Dienstantritt abgezogenen Bandes betrug höchstens zwanzig Kilometer, während der Alte, ihr Kollege, bereits das dritte Kilometerhundert begonnen hatte. Er las die Bänder nicht wie sie, mit gerunzelter Stirn mühsam die schwierigen Buchstaben zu Sätzen aneinanderreihend, er schrieb ein Wort nach dem anderen auf ein Formular, indem er nur das Klopfen des Apparates abhörte. Da fing er die Worte auf: »An alle, alle, alle!«
Während der Telegrafist notierte, überlegte er: Wahrscheinlich wieder so ein Rundschreiben über den Kampf gegen Schneeverwehungen. Draußen wirbelte der Schnee, der Wind warf ihn ballenweise immer wieder gegen das Fenster. Dem Telegrafisten schien es, als habe jemand an die Scheibe geklopft. Er wandte den Kopf, und sein Blick wurde unwillkürlich von der Schönheit der Eisblumen gebannt. Niemals hätte Menschenhand diese feingravierten eigenartigen Blätter und Stengel formen können.
Durch den Anblick der Eisblumen abgelenkt, horchte er nicht mehr auf den Apparat und nahm dann, als er die Augen wieder vom Fenster losgerissen hatte, das Band, um die versäumten Worte nachzulesen.
Der Apparat meldete:
»Am 21. Januar, sechs Uhr fünfzig Minuten …«
Rasch notierte der Telegrafist das Gelesene. Dann ließ er das Band fallen und lauschte, den Kopf auf die Hand gestützt.
»Gestern … starb in Gorki …« Der Telegrafist schrieb langsam mit. Wie viele freudige und tragische Nachrichten hatte er schon in seinem Leben vernommen. Als erster erfuhr er von fremdem Kummer und fremdem Glück. Seit langem hatte er aufgehört, sich in den Sinn der kurzen abgerissenen Sätze hineinzudenken. Er fing sie rein akustisch auf und hielt sie dann mechanisch auf dem Papier fest, ohne ihren Inhalt zu beachten.
Eben ist da jemand gestorben, und man teilt es jemandem mit. Der Telegrafist hatte die Anschrift: »An alle, alle, alle!« schon längst vergessen. Der Apparat klopfte weiter.
»W-l-a-d-i-m-i-r I-l-j-i-t-s-c-h« übersetzte der alte Telegrafist das Klopfen der Hämmerchen in Buchstaben. Er saß ruhig, ein wenig müde da. Irgendwo ist da ein Wladimir Iljitsch gestorben, für irgendwen schreibt er heute diese tragischen Worte auf, irgendwer wird vor Verzweiflung und Kummer schluchzen. Ihm aber ist das alles fremd - er ist nur ein abseits stehender Zeuge. Der Apparat klopft Punkte und Striche, und wiederum Punkte und Striche. Er hat aus den bekannten Tönen schon den ersten Buchstaben zusammengesetzt und ihn aufs Papier übertragen. Es war der Buchstabe L. Danach trug er den zweiten Buchstaben E ein, daneben setzte er sorgfältig ein N, wobei er zweimal den Mittelstrich zwischen den beiden Linien zeichnete, dem fügte er sofort ein I hinzu und fing dann schon automatisch das letzte N auf.
Der Telegrafenapparat klopfte jetzt eine Pause, und für den Bruchteil einer Sekunde blieb der Blick des Mannes an dem von ihm geschriebenen Wort haften:
»LENIN.«
Der Apparat klopfte weiter. Aber der an dem bekannten Namen haften gebliebene Gedanke kehrte wieder zu ihm zurück. Der Telegrafist schaute nochmals auf das letzte Wort - »LENIN«. Wie? Lenin? Die Linse seines Auges erfasste plötzlich den gesamten Inhalt des Telegramms. Einige Sekunden lang betrachtete der Telegrafist das Blatt, und zum ersten Male während seiner zweiunddreißigjährigen Tätigkeit traute er seinen Übertragungen nicht.
Dreimal überflog er hastig die Zeilen. Hartnäckig wiederholten sie jedoch dieselben Worte:
»… starb Wladimir Iljitsch Lenin.« Der Alte sprang auf, hob den spiralförmigen Streifen in die Höhe und bohrte seinen Blick in die Schriftzeichen. Der zwei Meter lange Streifen bestätigte, was er nicht glauben wollte. Er wandte sein totenbleiches Gesicht den Kolleginnen zu, und diese vernahmen seinen erschrockenen Aufschrei:
»Lenin ist gestorben!«

Die Nachricht von diesem unersetzlichen Verlust verließ das Telegrafenamt durch die geöffnete Tür und raste mit der Schnelligkeit eines Sturmwindes über den Bahnhof, wirbelte wie Schneegestöber über Gleise und Weichen hinweg und drang mit dem eisigen Zugwind durch die halbgeöffneten eisenbeschlagenen Tore des Depots.
In der Werkstatt stand über der ersten Reparaturgrube eine Lokomotive, die bei der Brigade für leichte Ausbesserungen instand gesetzt wurde. Der alte Politowski war selbst in die Grube unter seine Lokomotive gekrochen und zeigte den Schlossern die reparaturbedürftigen Stellen. Sachar Brusshak bog gemeinsam mit Artjom das verbogene Räderwerk zurecht. Er hielt das Gitter auf den Amboss, und Artjom bearbeitete es mit dem Hammer.
Sachar war in den letzten Jahren stark gealtert. Das Leben hatte ihm eine tiefe Furche in die Stirn gegraben, die Schläfen waren ergraut, sein Rücken war gebeugt, und die tief eingefallenen Augen blickten kummervoll.
Im hellen Spalt der Tür tauchte ein Mensch auf, der dann im Dämmerlicht der Werkstatt wieder verschwand, Sein erster Ruf wurde von Hammerschlägen übertönt, doch als er zu den Leuten an der Lokomotive kam, blieb Artjom mit erhobenem Hammer stehen.
»Genossen! Lenin ist gestorben!«
Der Hammer sank langsam nieder, lautlos ließ ihn Artjom zu Boden gleiten.
»Was hast du gesagt?«
Krampfhaft krallte sich seine Hand in den Halbpelz des Menschen ein, der die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Er sah ihn an und erkannte den Parteisekretär.
Jener aber rang nach Atem und wiederholte mit gebrochener, dumpfer Stimme:
»Ja, Genossen, Lenin ist gestorben.«
Jetzt begann Artjom die grausame Wahrheit zu begreifen.
Die Arbeiter krochen aus der Grube und vernahmen schweigend die Botschaft vom Tode des Mannes, dessen Name in der ganzen Welt bekannt war.
Am Tor heulte eine Lokomotive auf. Alle zuckten zusammen ….. Vom anderen Ende des Bahnhofs antwortete eine zweite, eine dritte … Zu ihren mächtigen und alarmierenden Rufen gesellte sich die Sirene des Kraftwerks, hoch und durchdringend wie der Flug von Schrapnellen, und wurde noch von den hellen Pfiffen der prächtigen Schnellzuglokomotive »S« übertroffen, die zur Abfahrt des nach Kiew gehenden Zuges bereitstand.
Der GPU-Mitarbeiter fuhr verblüfft zusammen, als der polnische Lokomotivführer der Linie Schepetowka-Warschau, der den Grund der Alarmsignale erfahren hatte, kurz aufhorchte, dann ebenfalls das Kettchen nach unten zog und das Dampfventil öffnete. Er wusste, dass er dieses Signal zum letzten Male gab, dass er nie mehr eine Lokomotive bedienen wird. Seine Hand hielt jedoch die Kette fest, und das Pfeifen seiner Lokomotive ließ die erschrockenen polnischen Kuriere und Diplomaten von ihren weichen Coupesitzen auffahren.
Im Depot sammelten sich die Menschen; durch alle Tore strömten sie herbei.
Als das große Gebäude überfüllt war, erklangen aus dem traurigen Schweigen die ersten Worte.
Es sprach der Sekretär des Kreis-Parteikomitees von Schepetowka, Scharabin, ein alter Bolschewik.
»Genossen! Der Führer des Weltproletariats, Genosse Lenin, ist nicht mehr. Die Partei hat einen unersetzlichen Verlust erlitten. Es starb der Schöpfer der bolschewistischen Partei, der Mann, der die Partei zur Unversöhnlichkeit ihren Feinden gegenüber erzogen hat.…. Der Tod des Führers der Partei und der Arbeiterklasse ruft die besten Söhne des Proletariats in unsere Reihen … «.«
Ein Trauermarsch ertönte. Hunderte entblößten die Häupter, und Artjom, der schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr geweint hatte, spürte, dass ihm ein Schluchzen die Kehle zuschnürte, und seine mächtigen Schultern bebten.
Die Wände des Eisenbahnerklubs schienen dem Andrang der Menschenmassen nicht standhalten zu können. Draußen herrschte bittere Kälte. Die zwei mächtigen Tannen am Eingang standen im Schneeornat und mit Eiszapfen behängt. Im Saal war es jedoch heiß und schwül, vom rotglühenden Ofen und vom Atem der sechshundert Menschen, die an der Trauersitzung der Parteiorganisation teilnahmen.
Heute war der Saal nicht von dem üblichen Lärm erfüllt. Tiefe Trauer dämpfte alle Stimmen. Die Leute sprachen nur flüsternd miteinander, und in den vielen hundert Augenpaaren lag traurige Besorgnis. Es war, als hätte sich hier die Mannschaft eines Schiff es versammelt, dem Wind und Wellen plötzlich seinen erprobten Steuermann entrissen hatten.
Geräuschlos nahmen die Mitglieder des Parteikomitees ihre Plätze am Tisch des Präsidiums ein. Der stämmige Sirotenko nahm behutsam die Glocke, ließ sie kurz ertönen und stellte sie wieder auf ihren Platz. Allmählich trat im Saal drückende Stille ein.
Gleich nach der Ansprache erhob sich der Parteisekretär Sirotenko.
Das, was er berichtete, setzte niemanden von den Anwesenden in Erstaunen, obwohl es für eine Trauerkundgebung ungewöhnlich war. Sirotenko sagte:
»Siebenunddreißig Arbeiter bitten die auf der Sitzung Anwesenden, ein Gesuch zu erörtern, das sie alle unterzeichnet haben.« Und er verlas:
»An das Eisenbahnerkollektiv der Kommunistischen Partei der Bolschewiki, Bahnhof Schepetowka, Südwestliche Eisenbahnlinie.
Der Tod Lenins hat uns in die Reihen der bolschewistischen Partei gerufen. Wir bitten darum, uns nach Prüfung des Antrags auf der heutigen Sitzung in die Partei Lenins aufzunehmen.«
Den kurzen Worten folgten zwei lange Reihen Unterschriften. Sirotenko las sie vor und machte nach jedem Namen eine kurze Pause, damit ihn sich die Anwesenden einprägen konnten:
»Politowski, Stanislaw Sigmundowitsch, Lokomotivführer, sechsunddreißig Jahre berufstätig.«
Durch den Saal ging beifälliges Gemurmel.
»Kortschagin, Artjom Andrejewitsch, Schlosser, siebzehn Jahre berufstätig.«
»Brusshak, Sachar Filippowitsch, Lokomotivführer, einundzwanzig Jahre berufstätig.«
Das Stimmengewirr wuchs an. Der Mann am Präsidiumstisch verlas immer weitere Namen; es waren die der vorbildlichsten, besten Eisenbahnarbeiter.
Ganz still wurde es im Saal, als der erste derer, die das Gesuch unterschrieben hatten, zum Präsidiumstisch trat. Nicht ohne Erregung erzählte nun der alte Politowski den Versammelten die Geschichte seines Lebens.
»… Was kann ich euch da viel sagen, Genossen? Ihr wisst ja selbst, wie das Leben eines Arbeiters in früheren Zeiten verlief. Die reinste Fronarbeit, und das Alter verbrachte er in Hunger und Elend. Nun, ich bekenne, als die Revolution kam, fühlte ich mich schon als alter Mann. Die Sorge um die Familie lastete schwer auf mir, und ich übersah den Weg in die Partei. Obwohl ich niemals dem Feind Beistand geleistet habe, nahm ich doch nur selten selber am Kampf teil. Im Jahre 1905 war ich Mitglied des Streikkomitees in den Warschauer Depotwerkstätten, und da habe ich zu den Bolschewiki gehalten. Jung war ich noch und ein Hitzkopf. Aber wozu die Vergangenheit ausgraben! Der Tod Iljitschs hat mich mitten ins Herz getroffen. Wir haben unseren Freund und Wohltäter für immer verloren, und da hab ich kein Recht, an mein Alter zu denken …! Vielleicht wird ein anderer das besser ausdrücken können als ich, ich bin eben kein Redner. Eins möchte ich nur noch sagen: Einen anderen Weg als den der Bolschewiki gibt es für mich nicht.«
Das graue Haupt des Lokomotivführers beugte sich trotzig vor, und seine Augen unter den grauen Brauen blickten fest und klar in den Saal, aus dem die Entscheidung kommen sollte.
Keine einzige Hand erhob sich, um gegen die Aufnahme dieses kleinen grauhaarigen Mannes in die Partei etwas einzuwenden, und es enthielt sich niemand der Stimme, als die Parteileitung die Parteilosen um ihre Stellungnahme befragte … Politowski verließ die Rednertribüne als Mitglied der Kommunistischen Partei.
Jedem im Saal war es klar, dass etwas Ungewöhnliches geschah.
Dort, wo soeben noch der Lokomotivführer gestanden hatte, sah man jetzt die kräftige Gestalt Artjoms. Der Schlosser schien nicht recht zu wissen, was er mit seinen großen Händen anfangen sollte, und so drückte und quetschte er seine Pelzmütze zusammen. Die an den Borten schon abgeschabte Schafpelzjacke stand offen. Die graue Feldbluse, die am Kragen von zwei Messingknöpfen zusammengehalten wurde, gab dem Schlosser ein feierliches Aussehen. Artjom blickte in den Saal und bemerkte plötzlich das vertraute Gesicht einer Frau: Zwischen ihren Kolleginnen aus der Schneiderwerkstätte saß Galina, die Tochter des Steinmetzen. Sie lächelte ihm ermunternd zu. Aus diesem Lächeln las er Zustimmung und noch etwas Unausgesprochenes, was sich in ihren Mundwinkeln verbarg.
»Erzähl deinen Lebenslauf, Artjom!« sagte Sirotenko.
Mühsam begann der ältere Kortschagin seine Erzählung, denn er war es nicht gewohnt, auf großen Versammlungen zu sprechen. Erst jetzt spürte er, dass er all das, was sich in seinem Leben zugetragen hatte, nicht in Worte zu kleiden vermochte. Nur mühselig reihten sich die Sätze aneinander, und seine Erregung machte ihm das Reden noch schwerer. Noch nie hatte er etwas Ähnliches empfunden. Es war ihm völlig klar, dass sein Leben jetzt an einem Wendepunkt stand, dass er im Begriff war, den letzten Schritt zu tun, um seinem harten Dasein Inhalt und Sinn zu geben.
»Wir waren vier Kinder zu Hause«, begann Artjom.
Im Saal herrschte Stille. Sechshundert Menschen lauschten gespannt dem stämmigen Arbeiter mit der Adlernase und den Augen, die unter dichten dunklen Brauen versteckt lagen.
»Die Mutter arbeitete als Köchin bei den Herrschaften. An meinen Vater kann ich mich kaum erinnern. Er lebte nicht gut mit meiner Mutter. Goss mehr hinter die Binde als nötig war. Wir waren immer mit der Mutter zusammen. Es ging über ihre Kraft, so viele Münder zu stopfen. Die Herrschaften zahlten ihr im Monat vier Rubel samt Kost, und dafür musste sie vom frühen Morgen bis spät in die Nacht schuften. Ich hatte das Glück, zwei Winter lang die Schule besuchen zu dürfen. Man brachte mir dort das Lesen und Schreiben bei. Als ich jedoch neun Jahre alt war, blieb der Mutter nichts anderes übrig, als mich in eine Schlosserwerkstatt in die Lehre zu geben. Drei Jahre lang arbeitete ich ohne Lohn für die bloße Kost. Der Besitzer der Werkstatt war ein Deutscher, er hieß Förster. Zuerst wollte er mich nicht nehmen, weil ich noch so jung war. Ich war aber ein kräftiger Bursche, und die Mutter machte mich um zwei Jahre älter. Drei Jahre war ich bei diesem Deutschen. Das Handwerk konnte ich bei ihm nicht erlernen. Ich musste den ganzen Tag in der Hauswirtschaft helfen, überall hinlaufen, ihm Schnaps bringen. Er soff bis zur Bewusstlosigkeit….. Man jagte mich auch nach Kohlen und Eisen … Die Hausfrau machte mich zu ihrem Diener: Töpfe musste ich für sie schleppen und Kartoffeln schälen. Jeder hatte es darauf abgesehen, mich mit Fußtritten zu traktieren, oft ganz ohne jeden Grund - einfach so, aus Gewohnheit. Tat ich der Hausfrau irgend etwas nicht recht - die Trunksucht ihres Mannes hatte sie verbittert -, so haute sie mir einfach eine runter. Und wenn ich mich auch von ihr losmachte und auf die Straße lief, wohin sollte ich denn gehen, bei wem mich beschweren? Die Mutter wohnte vierzig Werst entfernt, und auch bei ihr war kein Unterkommen … In der Werkstatt war es nicht besser. Der Bruder des Meisters führte dort das große Wort. Dieser Halunke liebte es, sich über mich lustig zu machen. ›Gib mir diese Scheibe dort‹, sagte er zu mir und zeigte in eine Ecke, wo sich die Schmiedeesse befand. Ich ging hin, griff mit der Hand danach: Er hatte sie jedoch soeben erst geschmiedet und aus der Esse geholt. Auf dem Boden sah sie schwarz aus - fasste man sie aber an, so verbrannte man sich die Finger bis auf die Knochen. Ich schrie vor Schmerz, er aber grinste und hatte noch seine Freude daran. Diese Quälereien konnte ich nicht mehr ertragen und lief zur Mutter. Aber sie wusste nicht, was sie mit mir anfangen sollte, und brachte mich zu dem Deutschen zurück. Brachte mich zurück und weinte dabei während des ganzen Weges. Im dritten Lehrjahr begannen sie mir etwas vom Schlosserhandwerk beizubringen, aber die Prügelei hörte nicht auf. Ich lief wieder davon, diesmal nach Starakonstantinow. In dieser Stadt arbeitete ich in einer Fleischerei und wusch dort anderthalb Jahre lang die Tierdärme. Unser Unternehmer verspielte seine ganze Habe, blieb uns den Lohn für mehr als vier Monate schuldig und ging dann auf und davon. So kam ich aus dieser Spelunke heraus. Ich setzte mich in den Zug, stieg in Shmerinka aus und begab mich auf Arbeitssuche. Zu meinem Glück fand sich ein Depotarbeiter, der Mitleid mit mir hatte und mir half. Als er erfuhr, dass ich etwas von der Schlosserei verstand, gab er mich für seinen Neffen aus und setzte sich für mich bei seinem Chef ein. Meiner Größe nach schätzte man mich auf siebzehn Jahre, und so wurde ich Schlossergehilfe. Und hier in Schepetowka arbeite ich schon seit neun Jahren. Das ist alles über meine Vergangenheit, und mein jetziges Leben kennt ihr ja.«
Artjom fuhr sich mit der Mütze über die Stirn und atmete tief auf. Es galt noch, das Wichtigste zu sagen, was ihm am allerschwersten fiel. Ja, das Allerschwerste, und er musste es sagen, bevor man ihn danach fragte. Er runzelte die dichten Brauen und fuhr in seiner Erzählung fort:
»Man kann mich fragen, warum ich bis jetzt noch nicht Bolschewik geworden bin, schon damals, als die Revolution ausbrach. Was soll ich darauf antworten? Nun, bis zum Altwerden hat's noch Zeit, und ich habe eben erst heute den richtigen Weg gefunden. Wozu soll ich das verhehlen? Wir haben diesen Weg übersehen, schon im Jahre 1918 hätten wir ihn einschlagen sollen, als wir
gegen die Deutschen streikten. Der Matrose Shuchrai hat oftmals mit uns darüber gesprochen. Erst 1920 ergriff ich das Gewehr. Nachdem dann das Durcheinander zu Ende war und wir die Weißen ins Schwarze Meer getrieben hatten, kehrten wir zurück. Da fing es an … die Familie, Kinder … Ich hab mich in die häuslichen Sorgen vergraben. Jetzt aber, da unser Genosse Lenin von uns gegangen ist und die Partei ihren Ruf erschallen ließ, hab ich über mein ganzes Leben nachgedacht und hab gefunden, was da nicht stimmt. Es genügt nicht, die Sowjetmacht zu verteidigen, wir müssen alle zusammen wie eine große Familie an Lenins Stelle treten, damit unsere Sowjetmacht wie eine eherne Festung dasteht. Wir müssen Bolschewiki werden - es ist ja unsere Partei!«
Einfach, aber mit großer Aufrichtigkeit, verlegen über die für ihn ungewöhnlichen Worte, beendete der Schlosser seine Rede. Es war ihm plötzlich, als hätte er eine drückende Last von sich geworfen, er richtete sich in seiner ganzen Größe auf und wartete auf die Fragen.
»Vielleicht möchte jemand eine Frage stellen?« unterbrach Sirotenko die eingetretene Stille.
In die Menschenreihen kam Bewegung, aber niemand ergriff sogleich das Wort. Ein pechschwarzer Heizer, der direkt von der Lokomotive zur Versammlung gekommen war, rief entschlossen:
»Was gibt's da viel zu fragen? Kennen wir ihn denn etwa nicht? Bestätigt ihn und basta!«
Der Schmied Giljaka, untersetzt, von Hitze und Anstrengung ganz rot im Gesicht, stieß heiser hervor:
»So einer kommt nicht unter die Räder, er wird ein standhafter Genosse sein. Lass abstimmen, Sirotenko!«
In den hinteren Reihen, in denen die Komsomolzen saßen, erhob sich einer, der im Halbdunkel nicht zu erkennen war, und fragte:
»Soll Genosse Kortschagin sagen, warum er sich auf dem Lande niedergelassen hat und ob ihn nicht die Bauernwirtschaft der proletarischen Psychologie entfremdet.«
Im Saal ließ sich ein leises, unzufriedenes Gemurmel vernehmen, und irgend jemand protestierte:
»Drück dich einfacher aus! Gerade der richtige Ort zum Phrasendreschen …«
Aber Artjom beantwortete die Frage schon:
»Lasst nur, Genossen. Der Junge hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich habe mich aufs Land verkrochen. Das stimmt. Aber mein Arbeitergewissen habe ich noch immer behalten. Und von heute an ist es mit dem Landleben aus. Ich ziehe mit meiner Familie in die Nähe des Depots, das wird richtig sein. Denn dort auf dem Lande fühle ich mich nicht in meinem Element.«
Und als Artjom die Hände sah, die wie ein Wald emporragten, erbebte sein Herz aufs neue. Dann schritt er, ohne seinen Körper zu spüren, erhobenen Hauptes auf seinen Platz.
Hinter ihm tönte Sirotenkos Stimme:
»Einstimmig.«
Sachar Brusshak stand als dritter vor dem Präsidiumstisch. Der wortkarge alte Gehilfe Politowskis, der inzwischen schon lange selber Lokomotivführer geworden war, schloss die Erzählung über sein Arbeitsleben mit den leise gesprochenen, jedoch allen verständlichen Worten:
»Ich habe die Pflicht, für meine Kinder das Werk zu Ende zu führen. Nicht deshalb sind sie zugrunde gegangen, damit ich mich in meinem Schmerz vergrabe. Nach ihrem Tod bin ich nicht für sie eingesprungen. Aber der Tod Lenins hat mir die Augen geöffnet. Über meine Vergangenheit fragt mich nicht. Unser wirkliches Leben beginnt erst jetzt.«
Von Erinnerungen überwältigt, blickte Sachar düster, mit gerunzelten Brauen vor sich hin. Als jedoch die Anwesenden einstimmig seine Aufnahme in die Partei beschlossen, hellte sich sein Gesicht auf, und der graue Kopf hob sich zuversichtlich.
Bis spät in die Nacht wurde im Depot Heerschau gehalten. Nur die Besten derer, die sich zum Lenin-Aufgebot gemeldet hatten, jene, die man gut kannte
und die sich ihr Leben lang bewährt hatten, wurden in die Partei aufgenommen.
Durch Lenins Tod wurden Hunderttausende Arbeiter Bolschewiki. Die Partei blieb auch nach dem Ableben Lenins so unerschütterlich wie ein Baum, dessen Wurzelwerk tief in der Erde verwachsen ist. Er wird nicht verkümmern, sägt man ihm auch die Spitze ab.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur