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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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Ein Kommunist fürchtet nichts - das ist die Schlussfolgerung aus diesem Buch, das ist die Bilanz des Lebens des Verfassers.
JULIUS FUCIK

ERSTES KAPITEL

Mitternacht. Die letzte Straßenbahn mit ihren arg beschädigten Wagen war schon längst vorübergepoltert. Der Mond ergoss sein fahles Licht aufs Fensterbrett. Ein bläulicher Schein lag über dem Bett und ließ den übrigen Teil des Zimmers im Halbschatten. In der Ecke verbreitete die Tischlampe einen hellen Lichtkegel. Rita saß tief gebeugt über einem dicken Heft, ihrem Tagebuch.
»24. Mai«, schrieb sie mit scharfgespitztem Bleistift nieder.
»Wiederum versuche ich meine Eindrücke festzuhalten. Wieder eine Lücke. Anderthalb Monate sind vergangen, und ich habe kein einziges Wort geschrieben. So muss ich mich eben mit diesem Fragment begnügen.
Woher soll ich denn die Zeit nehmen, ein Tagebuch zu führen. Erst jetzt, in der Nacht, kann ich mich niedersetzen und schreiben. Ich finde keinen Schlaf. Genosse Segal ist zur Arbeit ins Zentralkomitee der Partei berufen worden. Schade, dass er weggeht, er ist so ein prächtiger Mensch. Erst jetzt empfinde ich, wie wertvoll seine Freundschaft für uns alle war. Leider wird mit der Abreise Segals unser Zirkel zum Studium des dialektischen Materialismus auseinander fallen. Gestern waren wir bis spätnachts bei ihm und prüften die Fortschritte unserer Schüler. Der Sekretär des Gouvernements-Jugendkomitees, Akim, war ebenfalls da und auch der widerliche Leiter der Personalabteilung, Tufta. Nicht ausstehen kann ich diesen Besserwisser! Segal strahlte. Sein Schüler Kortschagin legte den Tufta in Parteigeschichte gehörig herein. Ja, diese zwei Monate sind nicht ungenutzt geblieben. Wenn die Arbeit solche Erfolge zeitigt, tut einem die aufgewandte Mühe nicht leid. Man sagt, dass Shuchrai in die Sonderabteilung des Militärbezirks versetzt wird. Weshalb - ist mir unbekannt.
Genosse Segal hat mir seinen Schüler anvertraut.
› Führt das Begonnene zu Ende‹, sagte er zu mir, ›bleibt nicht auf halbem Weg stehen, Sie, Rita, und er, ihr könnt manches voneinander lernen. In dem Jungen steckt noch zuviel Spontaneität. Ihn beherrschen stürmische Empfindungen, und seine Gefühle gehen oft mit ihm durch. Soweit ich Sie kenne, Rita, werden Sie ihn auf die richtigen Bahnen lenken können. Ich wünsche Ihnen Erfolg. Und vergessen Sie nicht, mir nach Moskau zu schreiben‹, sagte mir Segal zum Abschied.
Heute wurde uns aus dem ZK ein neuer Sekretär für das Bezirkskomitee von Solomenka geschickt. Sein Name ist Sharki. Ich kenne ihn noch von der Armee her …
Dmitri Dubawa soll morgen Kortschagin herbringen. Ich will Dubawa beschreiben. Er ist mittelgroß, stark, muskulös. Seit 1918 ist er Mitglied des Komsomol, und seit 1920 gehört er zur Partei. Er ist einer von den dreien, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu der parteifeindlichen Gruppierung, die sich ›Arbeiteropposition‹ nannte, aus dem Gouvernements-Jugendkomitee ausgeschlossen wurden. Der Unterricht mit ihm war alles andere als leicht. Jeden Tag warf er unseren Plan über den Haufen, indem er mich mit Fragen bestürmte, die uns vom Thema ablenkten. Zwischen Olga Jurenewa, meiner
zweiten Schülerin, und Dubawa kam es häufig zu Auseinandersetzungen. Am ersten Abend musterte er Olga von Kopf bis Fuß und sagte:
› Deine Uniform ist noch nicht vollständig, Alte. Du musst dir noch Lederhosen, Sporen, einen Budjonny-Helm und einen Säbel zulegen, sonst bist du weder Fisch noch Fleisch.‹
Olga blieb ihm keine Antwort schuldig, und ich musste die beiden trennen. Dubawa ist, soviel ich weiß, ein Freund Kortschagins ….. Nun, genug für heute. Ich muss schlafen.«

Dumpfe Hitze lag über dem Land. Das eiserne Geländer der Bahnüberführung glühte fast. Matte, von der Sonnenglut erschöpfte Menschen erklommen die Stiegen zur Überführung. Es waren keine Reisenden, sondern hauptsächlich Leute, die vom Bahnhofsviertel in die Stadt wollten.
Pawel hatte Rita von der obersten Stufe aus bemerkt. Sie war früher als er zum Zug gekommen und schaute die Treppe hinauf.
Drei Schritt von Rita entfernt machte Kortschagin halt. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Pawel betrachtete sie mit seltsamer Neugier. Rita trug eine gestreifte Bluse und einen kurzen blauen Rock aus einfachem Stoff. Die weiche Chromlederjacke hatte sie über die Schulter geworfen. Dichte, widerspenstige Locken umrahmten das gebräunte Gesicht. Den Kopf leicht zurückgeworfen, stand sie blinzelnd im hellen Sonnenschein. Zum ersten Mal sah Kortschagin seine Freundin und Lehrerin mit solchen Augen, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Rita nicht nur ein Mitglied des Büros des Gouvernementskomitees, sondern auch … Und als er sich bei derart »sündhaften« Gedanken ertappte, rief er ihr, über sich selbst ärgerlich, zu:
»Ich bin schon eine ganze Stunde hier und schaue dich an, und du siehst mich gar nicht. Es ist Zeit, dass wir gehen, der Zug steht schon da.«
Rita war gestern vom Gouvernementskomitee als Vertreterin zu einer Kreiskonferenz delegiert worden. Zur Begleitung hatte man ihr Kortschagin beigegeben. Heute mussten sie unbedingt mit dem Zug mitkommen, was durchaus keine leichte Sache war. Bei der Abfertigung der damals äußerst selten fahrenden Züge stand der Bahnhof unter Kontrolle des allmächtigen Fünferausschusses zur Regelung des Bahnhofsverkehrs, und ohne einen Passierschein dieses Ausschusses hatte niemand das Recht, den Bahnsteig zu betreten. Alle Ein- und Ausgänge waren von der Sperrabteilung des Ausschusses abgeriegelt. Der völlig überfüllte Zug konnte nur den zehnten Teil derer fassen, die mitfahren wollten. Niemand hatte Lust zurückzubleiben, er hätte tagelang auf einen zufällig durchfahrenden Zug warten müssen. Tausende von Menschen stürmten die Durchgänge und versuchten zu den grünen Waggons zu gelangen. An solchen Tagen erlebte der Bahnhof eine regelrechte Belagerung, und nicht selten kam es sogar zum Handgemenge.
Rita und Pawel mühten sich vergebens, zum Bahnsteig vorzudringen.
Pawel, der alle Ein- und Ausgänge des Bahnhofs kannte, führte seine Reisegefährtin durch die Gepäckabfertigungsstelle. Mühsam drängten sie sich bis zum Wagen Nr. 4 vor. An dessen Tür stand ein schweißtriefender Tschekist, der, die dichte Menschenmenge zurückhaltend, wohl zum hundertsten Male wiederholte:
»Ich habe euch doch schon gesagt, der Waggon ist überfüllt. Und laut Befehl dürfen wir niemanden auf die Puffer und Dächer lassen.«
Die erregten Menschen stürmten auf ihn ein und hielten ihm die vom Fünferausschuss für den Wagen Nr. 4 ausgestellten Fahrkarten vor die Nase. Wütendes Schimpfen und Schreien überall, Gedränge vor jedem Waggon. Pawel sah, dass es unmöglich war, auf dem üblichen Weg einzusteigen. Sie mussten jedoch unbedingt fahren, sonst würde die Konferenz scheitern.
Er rief Rita beiseite und weihte sie in seinen Aktionsplan ein. Er wollte sich in den Waggon drängen, das Fenster öffnen und Rita durch das Fenster hereinziehen. Auf andere Weise würden sie ihr Ziel nie erreichen.
»Gib mir deine Lederjacke, die ist besser als jedes Mandat.«
Pawel zog Ritas Lederjacke an, steckte in eine der Taschen seine Pistole und ließ absichtlich den Griff mit dem Riemen herausschauen. Den Rucksack mit den Lebensmitteln legte er neben Rita auf den Boden und ging auf den Waggon zu. Brüsk zwängte er sich durch die Masse der Passagiere hindurch und fasste schon nach der Griffstange, als der breitschultrige Tschekist ihn anhielt:
»Heda, Genosse, wohin?«
»Ich bin von der Sonderabteilung des Militärbezirks. Wollen mal kontrollieren, ob alle Passagiere Fahrkarten des Fünferausschusses haben«, sagte Pawel in einem Ton, der keinen Zweifel an seinen Vollmachten zuließ.
Der Tschekist warf einen Blick auf Pawels Jackentasche, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und antwortete ziemlich gleichgültig:
»Nun, kontrollier, wenn du reinkommst.«
Pawel drang unter einem Hagel von Schimpfworten bis in die Mitte des Wagens vor. Während er mit den Ellbogen, Schultern und, wo es Not tat, auch mit den Fäusten arbeitete, kletterte er über fremde Schultern hinweg, zog sich mit den Händen hoch und klammerte sich dann an den oberen Pritschen fest.
»Wohin, zum Teufel, willst du? Verflucht noch mal!« schrie ihn eine dicke Tante an, als er sich von oben herunterließ und ihr dabei aufs Knie trat. Das Weib hatte sich - üppig wie sie war - auf das Ende der unteren Pritsche gezwängt und hielt eine große Ölkanne zwischen den Beinen. Solche Kannen, Kisten, Säcke und Körbe standen überall, auf sämtlichen Pritschen. Im Waggon konnte man kaum Luft holen. Auf das Gezeter der Frau antwortete Pawel mit der Frage:
»Ihre Fahrkarte, Bürgerin?«
»Was willst du?« fuhr jene den ungebetenen Kontrolleur an.
Von der obersten Gepäckbank schaute eine richtige Gaunervisage herab, und eine tiefe Bassstimme brummte:
»Waska, was ist denn das hier für'n Früchtchen? Gib ihm mal 'nen Passierschein auf den Friedhof.«
Unmittelbar über Kortschagins Kopf tauchte jemand auf, ein baumstarker Kerl, die Brust voller Haare, und starrte Kortschagin mit Glotzaugen an:
»Was willst du von dieser Frau? Was für 'ne Fahrkarte?« Von der Seitenpritsche baumelten vier Paar Beine herunter. Die Eigentümer dieser Beine saßen eng umschlungen und knackten Sonnenblumenkerne. Allem Anschein nach war hier ein Rudel durchtriebener Spekulanten und Schieber beisammen, die in den Eisenbahnzügen ihr Handwerk trieben. Pawel hatte jedoch keine Zeit, sich mit ihnen einzulassen. Es galt, Rita in den Wagen zu bringen.
»Wem gehört diese Kiste?« fragte er einen älteren Eisenbahner und zeigte auf eine am Fenster stehende Holzkiste.
»Der Jungfer dort«, erwiderte dieser, auf ein Paar dralle Beine in braunen Strümpfen weisend.
Das Fenster musste geöffnet werden, aber die Kiste hinderte ihn daran. Kein Platz, wo man sie unterbringen konnte. Pawel hob die Kiste auf und reichte sie ihrer Besitzerin, die sich auf der oberen Pritsche breit gemacht hatte.
»Halten Sie mal, Bürgerin, nur ein Weilchen, ich will das Fenster öffnen.«
»Was hast du fremde Sachen anzurühren?« fuhr ihn die plattnasige Frau an, als er ihr die Kiste auf den Schoß stellte.
»Motka, was gibt dieser Bürger hier so groß an?« wandte sie sich hilfesuchend an ihren Nachbarn. Der stieß Pawel, ohne sich auch nur von seinem Platz zu erheben, mit einem in einer Sandale steckenden Fuß in die Rippen.
»He, du Mistvieh, mach, dass du wegkommst, sonst kriegst du eins in die Fresse!«
Pawel ertrug schweigend den Rippenstoß, biss sich auf die Lippen und öffnete das Fenster.
»Bitte, Genosse, rück ein wenig zur Seite«, bat er den Eisenbahner. Er verschaffte sich wiederum etwas Platz, indem er eine Kanne beiseite schob, und stellte sich dicht ans Fenster. Rita reichte ihm von draußen schnell den Rucksack herein. Pawel warf ihn dem üppigen Weib mit der Kanne auf den Schoß, beugte sich zum Fenster hinaus, fasste Rita bei den Händen und zog sie
ins Innere. Noch ehe der Rotarmist der Sperrabteilung diese ordnungswidrige Handlung bemerken und verhindern konnte, war Rita bereits im Wagen. Dem Rotarmisten blieb nichts anderes übrig, als fluchend umzukehren. Im Wagen wurde Rita von der Spekulantenbande mit einem solchen Hallo empfangen, dass sie verlegen und unruhig wurde. Sie konnte nirgends hintreten, stand auf dem äußersten Rand der unteren Pritsche und hielt sich am Brett der oberen fest.
Von allen Seiten hagelte es Schimpfworte. Der Bass von oben ließ sich vernehmen:
»So ein Geschmeiß, quetscht sich selber hier herein und schleppt auch noch ein Weibsbild nach!«
Und noch irgendein Unsichtbarer piepste:
»Motka, gibt ihm doch mal eins in die Schnauze!« Die plattnasige Frau schickte sich an, die Holzkiste auf Kortschagins Kopf zu stellen. Ringsum nichts als fremde, hämische Gesichter. Pawel bedauerte, dass Rita dabei war. Aber sie mussten doch irgendwo Platz finden.
»Bürger, räum mal deine Säcke vom Gang weg, hier wird sich die Genossin hinstellen«, wandte er sich an jenen, der mit Motka angeredet wurde. Dieser antwortete derartig ordinär, dass Pawel das Blut ins Gesicht schoss. Über der rechten Braue verspürte er einen stechenden Schmerz.
»Na warte, du Schurke, mit dir werde ich noch abrechnen«, erwiderte er dem frechen Kerl, sich mühsam beherrschend, aber sofort setzte es von oben einen gehörigen Fußtritt gegen den Kopf.
»Lang ihm doch noch eine, Waska!« Von allen Seiten wurde gegrölt und geschrieen.
Was Pawel so lange mühsam zurückgehalten hatte, das brach nun hervor, und wie immer in solchen Momenten, handelte er rasch und entschlossen. Er zog sich an den Händen federleicht in die Höhe, kletterte auf die zweite Pritsche und schlug mit der Faust in Motkas freche Visage. Der Hieb war so stark, dass der Schieber von der Pritsche auf die Köpfe der anderen Reisenden im Gang hinunterplumpste.
»Los, herunter von der Bank, Gesindel, sonst schieß ich euch wie Hunde über den Haufen!« schrie Kortschagin wütend und hielt den vier Krakeelern die Pistole vor die Nase.
Die Sache nahm sofort eine andere Wendung. Rita verfolgte die Vorgänge mit gespannter Aufmerksamkeit, bereit, auf jeden zu schießen, der es wagen würde, Kortschagin anzugreifen. Die obere Pritsche wurde schnell geräumt. Die Gaunerbande verzog sich schleunigst in ein benachbartes Abteil. Als Rita den frei gewordenen Platz eingenommen hatte, flüsterte ihr Pawel zu:
»Bleib hier ruhig sitzen, ich will noch mit denen da abrechnen.«
Rita hielt ihn zurück:
»Willst du dich wirklich mit ihnen prügeln?«
»Nein, ich komme gleich zurück«, beruhigte er sie.
Er öffnete das Fenster und kletterte auf den Bahnsteig hinaus. Nach wenigen Minuten stand er vor dem Chef der Distrikts-Tscheka, seinem früheren Vorgesetzten. Der hörte ihn an und gab sogleich Anweisungen, sämtliche Passagiere des Wagens zu prüfen.
»Ich habe doch schon immer gesagt, dass die Züge bereits mit Spekulanten im Bahnhof einlaufen«, brummte er.
Ein aus einem Dutzend Tschekisten bestehender Trupp säuberte den Waggon. Nach alter Gewohnheit half Pawel bei der Kontrolle des gesamten Zuges. Obwohl er nicht mehr in der Tscheka arbeitete, war die Verbindung mit seinen Freunden noch sehr eng, und als Sekretär des Jugendkollektivs hatte er viele seiner besten Komsomolzen zur Arbeit in die Tscheka geschickt.
Nach Beendigung der Kontrolle ging Pawel zu Rita zurück. Neue Passagiere füllten jetzt den Waggon - Rotarmisten und Genossen, die dienstlich unterwegs waren.
Für Rita blieb nur noch auf der obersten Bank ein Plätzchen frei. Alles übrige wurde mit Zeitungspaketen belegt.
»Macht nichts«, meinte Rita, »irgendwie werden wir uns schon einrichten.«
Der Zug setzte sich in Bewegung.
An den Fenstern schwebte das auf einem riesigen Haufen von Säcken thronende Spekulantenweib vorüber.
»Manka, wo ist meine Kanne?« hörte man sie schreien.
Durch die Zeitungspakete von den Nachbarn getrennt, saßen Rita und Pawel auf ihrem engen Plätzchen und kauten mit vollen Backen Brot und Äpfel. Jetzt konnten sie über den Vorfall lachen, der ihnen noch vor kurzem gar nicht so lustig erschienen war.
Langsam kroch der Zug dahin. Die überladenen, altersschwachen Eisenbahnwagen ächzten und knarrten in allen Fugen. Draußen begann es graublau zu dämmern, dann verhängte die Nacht die offenen Fenster mit ihrem schwarzen Schleier. Im Waggon war es dunkel.
Rita schlummerte, den Kopf auf dem Rucksack, vor Ermüdung ein. Pawel saß am Rande der Bank, ließ die Beine baumeln und rauchte. Auch er war müde, konnte sich jedoch nirgends hinlegen. Erfrischende Nachtluft wehte durchs Fenster. Ein Stoß ließ Rita erwachen. Sie bemerkte die glimmende Zigarette Pawels. Der ist imstande, bis morgen früh so dazusitzen, dachte sie.
»Genosse Kortschagin! Lassen Sie die bürgerlichen Vorurteile und legen Sie sich doch nieder«, sagte sie scherzhaft.
Pawel legte sich neben sie und streckte erleichtert seine müden Beine aus.
»Morgen haben wir eine Menge Arbeit. Schlaf, du Raufbold.« Ihr Arm umfasste vertrauensvoll den Freund, und er spürte ihr Haar an seiner Wange.
Für ihn war Rita unantastbar. Sie war seine Freundin, seine Genossin im Kampf, sein politischer Leiter. Dass sie auch eine Frau war, hatte er zum ersten Mal heute auf der Brücke empfunden, und deshalb erregte ihn diese Umarmung sehr. Pawel spürte ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge, irgendwo ganz nahe waren ihre Lippen. Diese Nähe erweckte in ihm den unüberwindlichen Wunsch, ihre Lippen zu suchen, und nur mit äußerster Willensanstrengung konnte er sich bezwingen. Rita, die seine Gefühle zu erraten schien, lächelte in der Dunkelheit. Sie hatte bereits die Freuden der Liebe und den Schmerz des Verlustes erlebt. Zweimal in ihrem Leben hatte sie geliebt, und die Menschen, denen sie ihre Liebe geschenkt, waren ihr alle beide durch weißgardistische Kugeln entrissen worden: der eine ein tapferer Riese, ein Brigadekommandeur, der andere ein junger Bursche mit klaren Augen; zwei Bolschewiki.
Bald wiegte das Rattern der Räder Pawel in den Schlaf. Erst gegen Morgen weckte ihn ein Pfiff der Lokomotive.

Rita kehrte jetzt immer erst spätabends heim. In ihrem Tagebuch, das sie nur selten aufschlug, erschienen nur noch spärliche Notizen.

11. August
Die Gouvernementskonferenz ist zu Ende. Akim, Michail und andere sind nach Charkow gefahren, wo die Republikskonferenz stattfindet. Nun lastet die ganze technische Arbeit auf mir. Dubawa und Pawel sind ins Gouvernementskomitee gewählt worden. Seitdem Dmitri zum Sekretär des Petschersker Bezirks-Jugendkomitees bestimmt worden ist, nimmt er an unserem Abendzirkel nicht mehr teil. Er ist mit Arbeit überladen. Pawel möchte noch lernen, aber entweder habe ich keine Zeit, oder er wird irgendwohin geschickt. Wegen der gespannten Lage bei der Eisenbahn sind sie dort ständig in Bereitschaft. Sharki war gestern bei mir. Er ist unzufrieden, dass wir ihm die Jungen weggenommen haben. Er sagt, dass er sie selber dringend braucht.

23. August
Als ich heute durch den Korridor ging, sah ich an der Tür der Geschäftsleitung Pankratow, Kortschagin und noch einen Unbekannten stehen. Ich ging zu ihnen und hörte, wie Pawel erzählte:
»Dort sitzen Kerle, für die sogar eine Kugel noch zu schade wäre. - ›Ihr habt kein Recht‹, sagt er, ›euch in unsere Verordnungen einzumischen. Hier hat nur das Eisenbahnforstkomitee zu bestimmen, nicht irgendein Jugendverband.‹ -Und eine Fresse hat dieser Kerl … Da sieht man's, wo sich die Parasiten eingenistet haben!«
Seinen Worten folgte eine Flut unflätigster Schimpfworte. Pankratow, der mich bemerkt hatte, gab Pawel einen Rippenstoß. Jener wandte sich um und wurde ganz blass, als er mich erblickte. Ohne mir in die Augen zu schauen, ging er sofort davon. Jetzt werde ich ihn lange nicht zu sehen bekommen. Er weiß ja, dass ich das Fluchen nicht ausstehen kann.

27. August
Wir hatten eine Komiteesitzung. Die Lage wird immer komplizierter. Vorläufig kann ich noch nicht alles eintragen - ich darf es nicht. Akim ist früher aus dem Bezirk zurückgekehrt. Gestern ist bei Teterew wieder ein Güterzug mit Lebensmitteln zum Entgleisen gebracht worden. Ich werde wohl besser keine Aufzeichnungen mehr machen, denn es sind ja sowieso nur ganz zusammenhanglose Notizen. Jetzt warte ich auf Kortschagin. Er, Sharki und drei andere haben eine Kommune gegründet…

Eines Tages wurde Pawel in der Werkstatt ans Telefon gerufen. Rita teilte ihm mit, dass sie einen freien Abend habe und gern mit ihm das früher in Angriff genommene Thema: »Die Ursachen der Niederlage der Pariser Kommune« weiterbearbeiten möchte.
Abends, als sich Pawel dem Haus in der Kruglo-Universitätskaja-Straße näherte, blickte er hinauf. Ritas Fenster war erleuchtet. Wie immer stürmte er die Treppe empor, klopfte mit der Faust kurz an die Tür und trat ins Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten.
Auf dem Bett, auf das sich keiner der Jungen auch nur setzen durfte, sah er einen Mann in Uniform. Eine Pistole, die Feldtasche und eine Mütze mit Sowjetstern lagen auf dem Tisch. Rita saß neben dem Mann und hielt ihn fest umschlungen. Die beiden unterhielten sich lebhaft über irgend etwas … Rita wandte Pawel ihr glückstrahlendes Gesicht zu.
Der Mann riss sich aus ihrer Umarmung und stand auf.
»Macht euch bekannt«, sagte Rita und begrüßte Pawel, »das ist…«
»David Ustinowitsch«, unterbrach sie der Gast ungezwungen und drückte Kortschagin fest die Hand.
»Er kam überraschend hereingeschneit.« Rita lachte. Kühl erwiderte Kortschagin den Händedruck. In seinen Augen blitzten Funken unaussprechlicher Kränkung.
Rita wollte etwas sagen, aber Kortschagin unterbrach sie.
»Ich bin nur auf einen Sprung heraufgekommen, um dir zu sagen, dass ich heute im Hafen beim Abladen von Brennholz arbeite, damit du nicht umsonst wartest … Du hast ja sowieso einen Gast bei dir. Ich muss mich beeilen, unten warten die Jungen.«
Pawel verschwand ebenso plötzlich, wie er gekommen war. Seine raschen Schritte verhallten im Treppenhaus … Unten schlug dumpf die Tür ins Schloss. Dann wurde es still.
»Mit ihm muss irgend etwas nicht in Ordnung sein«, sagte Rita unsicher auf Davids verständnislosen Blick.

Unter der Brücke fauchte schwer atmend eine Lokomotive und spie aus ihrer mächtigen Brust einen Schwärm goldener Leuchtkäfer in die Nacht hinaus. Sie schwirrten in phantastischen Reigen empor und verlöschten dann im Rauch.
Auf das Geländer gestützt, beobachtete Pawel die flimmernden vielfarbigen Lichter der Signallaternen an den Weichen. Er schloss einen Augenblick lang die Augen.
Und doch ist es nicht zu verstehen, Genosse Kortschagin, warum Sie es so schmerzhaft empfinden, dass Rita verheiratet ist. Hat sie denn jemals das
Gegenteil behauptet? Und selbst wenn - was hätte das zu bedeuten? Weshalb hat Sie das denn plötzlich so empfindlich getroffen? Waren Sie, teurer Genosse, denn nicht bisher der Ansicht, dass nichts anderes zwischen euch sei als geistige Freundschaft … Wie haben Sie das nur außer acht lassen können? So nahm sich Kortschagin selbst ironisch ins Gebet. Und wie, wenn es nun gar nicht ihr Mann ist? David Ustinowitsch kann ja ebenso gut ihr Bruder oder ihr Onkel sein .…. Dann bist du verrückter Kerl ganz grundlos auf einen Menschen wütend gewesen. Du bist anscheinend genauso ein Schweinehund wie jedes andere Mannsbild. Ob es ihr Bruder ist, das kann man ja erfahren. Angenommen, es ist ihr Bruder oder ihr Onkel, wie willst du ihr dann dein Benehmen erklären? Nein, genug, du gehst nicht mehr zu ihr!
Seine Gedanken wurden von dem schrillen Pfeifen einer Lokomotive unterbrochen.
Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Genug Trübsal geblasen.

In Solomenka (so hieß das Eisenbahnerviertel) hatten fünf Genossen eine kleine Kommune gegründet. Ihr gehörten an: Sharki, Pawel, der immer lustige blonde Tscheche Klavicek, Nikolai Okunew, der Komsomolsekretär des Depots, und Stjopa Artjuchin, ein Mitarbeiter der Eisenbahntscheka, vor kurzem noch Kesselschmied in der Reparaturwerkstätte.
Sie hatten ein Zimmer bekommen. Drei Tage wurde dort nach Arbeitsschluss geweißt, gewischt und geschrubbt. Sie spektakelten derart mit ihren Eimern, dass die Nachbarn schon dachten, es wäre Feuer ausgebrochen. Sie zimmerten sich Bettstellen, die aus Säcken zusammengenähten Matratzen wurden in der Parkanlage mit Ahornblättern voll gestopft, und am vierten Tag strahlte das mit einem Petrowski-Porträt und einer Landkarte geschmückte Zimmer vor Sauberkeit.
Zwischen den beiden Fenstern hing ein Bücherbrett mit einem Stapel Bücher. Zwei mit Karton beschlagene Kisten wurden zu Stühlen, eine etwas größere Kiste bildete den Schrank. Mitten im Zimmer stand ein riesiger unbezogener Billardtisch, den man aus dem Haus der Kommunalverwaltung hierher geschleppt hatte. Tagsüber diente er als Tisch und nachts als Bett für Klavicek. Die fünf trugen alle ihre Habseligkeiten zusammen. Der haushälterische Klavicek stellte eine Liste des gesamten Kommuneeigentums auf und war schon drauf und dran, sie an der Wand zu befestigen, ließ jedoch nach einmütigem Protest von diesem Vorhaben ab. Alles, was in der Stube war, wurde Gemeingut. Die Gehälter, die Lebensmittelrationen sowie zufällige Lebensmittelpakete - alles wurde gleichmäßig verteilt. Persönliches Eigentum blieben nur die Waffen. Einstimmig wurde beschlossen: »Mitglieder der Kommune, die das Gesetz über die Abschaffung des Eigentums verletzen und das Vertrauen der Genossen missbrauchen, werden aus der Kommune ausgeschlossen.« Okunew und Klavicek bestanden noch auf der Ergänzung »und ausgesiedelt«.
Zur Eröffnung der Kommune hatten sich sämtliche Komsomolfunktionäre des Stadtviertels eingefunden. Man borgte sich im Nachbarhaus einen riesigen Samowar und bewirtete die Gäste mit Tee, wobei der ganze Sacharinvorrat draufging. Als der Samowar leergetrunken war, stimmte man im Chor ein Lied an:
Des Volkes Blut verströmt in Bächen,
und bittre Tränen rinnen drein,
doch kommt der Tag, da wir uns rächen,
dann werden wir die Richter sein!

Talja aus der Tabakfabrik dirigierte den Chor. Ihr rotes Kopftuch hatte sich etwas verschoben, und ihre Augen blitzten wie die eines übermütigen Jungen. Bis jetzt war es noch niemandem gelungen, tief in diese Augen zu schauen.
Ihre Hand flog nach oben, und gleich einem Fanfarenstoß setzte der Gesang ein:
Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!
Die Fahne trägt des Volkes Grollen
ü ber Zwingburgen stolz himmelan.
Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!
Der Freiheit Morgenrot bricht an.
Rot ist das Tuch, das wir entrollen,
klebt doch des Volkes Blut daran.

Es war schon spät, als sie auseinander gingen und die schweigenden Straßen mit ihren lauten Zurufen weckten.

Sharki griff nach dem Telefonhörer.
»Seid doch ruhig, Jungs, ich verstehe ja nichts!« rief er den lärmenden Komsomolzen zu, die ins Zimmer des verantwortlichen Sekretärs stürmten.
Das Stimmengewirr wurde schwächer.
»Hallo! Ach, du bist da! Ja, ja, sofort. Die Tagesordnung? Immer noch dieselbe - die Holzzustellung aus dem Hafen. Was? Nein, er ist nirgends hingeschickt worden. Er ist hier. Soll ich ihn rufen? Gut.«
Sharki winkte Kortschagin heran.
»Genossin Ustinowitsch möchte dich sprechen.« Er übergab ihm den Hörer.
»Ich dachte schon, du seiest nicht hier. Ich habe heute zufällig einen freien Abend. Komm doch zu mir. Mein Bruder war gerade auf der Durchreise bei mir, wir hatten uns zwei Jahre nicht gesehen …..« Ihr Bruder .….!
Pawel hörte ihre Worte nicht mehr. Ihm kam jener Abend in Erinnerung und das, was er sich in jener Nacht so ernsthaft vorgenommen hatte. Ja, heute muss er zu ihr gehen, um alle Brücken abzubrechen. Die Liebe bringt einem zuviel Unruhe und Leid. Und ist denn jetzt die richtige Zeit für solche Dinge?
Die Stimme im Hörer fragte:
»Was ist denn, hörst du mich nicht?«
»Doch, doch. Also nach der Komiteesitzung.« Er legte auf.

Pawel schaute ihr fest in die Augen und sagte, indem er die Kante des Eichentisches presste:
»Wahrscheinlich werde ich nicht mehr zu dir kommen können.«
Er sagte es und sah, wie ihre dichten Wimpern zuckten. Ihre Hand hielt im Schreiben inne und blieb reglos auf dem geöffneten Heft liegen.
»Weshalb?«
»Es wird immer schwieriger, die Zeit dafür aufzubringen. Du weißt ja selbst, was für schwere Tage wir jetzt erleben. Es ist schade, aber man muss es eben aufschieben …«
Er lauschte seinen eigenen Worten und spürte die Unsicherheit in ihnen.
Was gehst du da wie die Katze um den heißen Brei herum? Es fehlt dir an Mut, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen!
Hartnäckig setzte er hinzu:
»Außerdem wollte ich dir schon lange sagen, dass ich dich nicht richtig verstehe. Als Segal mich unterrichtete, blieb mir alles im Gedächtnis haften. Aber bei dir fasse ich gar nichts. Jedes Mal musste ich von dir zu Tokarew laufen, weil ich mich nicht zurechtfand. Ich bin eben schwer von Begriff. Du musst dir jemanden aussuchen, der mehr Grütze im Kopf hat.«
Er wich ihrem aufmerksamen Blick aus und fügte eigensinnig, um sich den letzten Rückzug zu dem Mädchen zu versperren, hinzu:
»Da ist es wohl sinnlos, dass wir beide weiterhin Zeit miteinander verlieren.«
Er erhob sich, schob mit dem Fuß vorsichtig den Stuhl beiseite und schaute auf den gebeugten Kopf herunter, in das vom Lampenlicht beschienene, blass gewordene Gesicht.
Dann setzte er die Mütze auf.
»Leb wohl, Genossin Rita. Es tut mir leid, dass ich dich so viele Tage hingehalten habe. Ich hätte dir das gleich sagen sollen. Das ist schon meine Schuld.«
Mechanisch reichte ihm Rita die Hand, und durch seine unerwartete Kälte verwirrt, brachte sie nur mühsam hervor:
»Ich gebe dir keine Schuld, Pawel. Da ich nicht den richtigen Weg gefunden habe, mich dir verständlich zu machen, habe ich deine heutigen Worte wohl verdient.«
Schwer rissen sich seine Füße vom Boden los … Lautlos schloss er die Tür hinter sich. Am Hauseingang zögerte er - jetzt könnte er noch zurückkehren, ihr alles sagen .…. Aber wozu? Um von ihr nebst ironischen Worten eine Ohrfeige einzuheimsen und wieder unten an der Tür zu landen? Nein.

Auf dem Rangierbahnhof wuchs der Friedhof rostender Eisenbahnwagen und verlassener Lokomotiven. Der über die leeren Holzplätze fegende Wind wirbelte nur winzige Sägespäne in die Luft.
Rings um die Stadt trieb sich auf Waldpfaden, in tiefen Schluchten, wie ein raubgieriger Luchs, die Orlik-Bande herum. Tagsüber hielt sie sich in den umliegenden Einzelgehöften, in den Waldimkereien auf. Nachts jedoch schlich sie sich an die Eisenbahnlinien heran, zerstörte sie mit ihren Raubtiertatzen und verkroch sich nach Verrichtung ihres unheimlichen Werkes wieder in ihren Unterschlupf.
Häufig stürzten Züge die Böschung hinab. Die Eisenbahnwagen zerbarsten, die verschlafenen Menschen wurden zermalmt, und das kostbare Getreide vermischte sich mit Blut und Erde.
Oft überfiel die berittene Bande die stillen Ortschaften der Umgebung. Mit erschrockenem Gackern flüchteten die Hühner von den Straßen. Ein verirrter Schuss krachte. Vor dem weißen Häuschen des Ortssowjets entspann sich ein kurzes Geplänkel, das Knattern der Schüsse erinnerte an das Knistern von trockenem Reisig unter den Füßen. Auf gutgenährten Pferden jagten die Banditen durchs Dorf und hieben mit den Säbeln auf die von ihnen festgenommenen Leute ein. Sie hieben mit pfeifendem Schwung, so wie man Holz spaltet. Geschossen wurde nur selten - sie sparten mit Patronen.
Ebenso schnell, wie die Bande aufgetaucht war, verschwand sie wieder. Sie hatte überall ihre Augen und Ohren. Diese Augen suchten das weiße Häuschen des Ortssowjets zu durchbohren, sie beobachteten es vom Hof des Popen und von dem großen Haus eines Kulaken aus. Von diesen Gehöften spannen sich unsichtbare Fäden in das Waldesdickicht. Dorthin wurden von hier aus Patronen, Stücke frischen Schweinefleisches, Flaschen mit dem bläulichen »Perwatsch«, selbstgebranntem Schnaps, geliefert, dorthin ging auch das, was geheimnisvoll den kleinen Atamanen ins Ohr geflüstert wurde und dann über ein äußerst kompliziertes Netz bis zu Orlik selbst gelangte.
Die Bande zählte insgesamt nur zwei- bis dreihundert Halsabschneider, aber die Versuche, sie zu erledigen, misslangen. In mehrere Abteilungen gruppiert, operierten die Banditen gleichzeitig in zwei bis drei Bezirken. Es war unmöglich, alle aufzuspüren. Nachts ein Bandit, war er am Tag ein friedlicher Bauer, der sich auf seinem Hofe betätigte, den Pferden Futter gab oder vor dem Tor grinsend seine Pfeife rauchte und den vorüberreitenden Patrouillen boshafte Blicke hinterherschickte.
Rastlos streifte Alexander Pusyrewski Tag und Nacht mit seinem Regiment in den drei Bezirken umher. Durch unermüdliche, hartnäckige Verfolgung, holte er auch manchmal die Nachhut der Banditen ein.
Nach einem Monat musste Orlik mit seiner Bande aus zwei Bezirken weichen. Auf einen kleinen Raum beschränkt, zog er ziellos hin und her.

Das Leben in der Stadt ging seinen gewohnten schleppenden Gang. Auf den fünf Märkten wimmelte es von lärmenden Menschen. Hier herrschten zwei Tendenzen: die eine - soviel wie möglich herauszuschinden, die andere -sowenig wie möglich zu zahlen. Gauner jeden Kalibers trieben hier nach Kräften und Fähigkeiten ihr Werk. Wie die Ameisen wimmelten da Hunderte geschäftiger Leutchen umher, mit Augen, in denen alles, nur kein Gewissen, zu lesen war. Wie auf einem Düngerhaufen sammelte sich hier der ganze Unrat
der Stadt in dem einzigen Bestreben, den harmlosen Neuling zu schröpfen. Die selten einlaufenden Züge spien aus ihren Leibern Haufen von Menschen aus, die mit Säcken beladen waren. Und dieses ganze Gesindel strömte zu den Märkten.
Am Abend waren die Märkte verödet, und die Handelsgassen, die dunklen Reihen der Verkaufsstände und Läden standen verlassen da.
Nicht jeder Waghals riskierte es, in der Dunkelheit dieses ausgestorbene Stadtviertel aufzusuchen, wo hinter jeder Verkaufsbude Gefahr lauerte, denn nicht selten knallte hier nachts ein Schuss, und irgend jemand sank getroffen zu Boden, röchelte in seinem Blute. Und wenn dann endlich ein Trupp Milizionäre (denn allein wagte sich niemand dorthin) am Tatort ankam, fand er nichts als einen verkrampften Leichnam … Die Bande hatte sich längst aus dem Staub gemacht, und der Lärm hatte auch die anderen Nachtvögel des Marktviertels in alle Winde zerstreut.

Gegenüber dem Markt lag das Kino »Orion«. Fahrdamm und Fußweg schimmerten im elektrischen Licht. Menschengedränge. Im Zuschauerraum des Kinos ratterte der Filmapparat. Auf der Leinwand erschlugen zwei unglückliche Liebhaber einander. Wenn der Filmstreifen abriss, reagierte das anwesende Publikum mit wildem Gejohle.
Im Zentrum wie auch in den Vororten der Stadt schien das Leben in den alten Bahnen zu verlaufen.
Und selbst dort, wo sich das Hirn der revolutionären Macht befand - im Gouvernements-Parteikomitee -, ging alles seinen gewohnten Gang. Diese Ruhe war jedoch nur äußerlich.
In der Stadt reifte ein Sturm heran.
Das Herannahen dieses Sturmes ahnten viele von denen, die mit dem Gewehr unter dem Bauernrock, aus allen Richtungen der Stadt zuströmten. Auch jene wussten Bescheid, die scheinbar als Hamsterer auf den Zugdächern in die Stadt fuhren, dann aber den Weg nicht zum Markt einschlugen, sondern ihre Säcke in die Straßen und Häuser der Stadt trugen, die in ihrem Gedächtnis verbucht waren.
Aber die Arbeiterbezirke, und sogar die Bolschewiki, hatten von der nahenden Gefahr keine Ahnung.
Es gab in der Stadt nur fünf Bolschewiki, die über das, was vor sich ging, unterrichtet waren.
Die Reste der von der Roten Armee nach Polen verjagten Petljura-Leute trafen in engem Kontakt mit ausländischen Missionen in Warschau Vorbereitungen, um an dem geplanten Aufstand teilzunehmen.
Aus den Resten der Petljura-Regimenter wurde in aller Stille ein Trupp für Streifzüge formiert.
Auch in Schepetowka besaß das zentrale Aufstandskomitee seine Organisation. Ihr gehörten siebenundvierzig Personen an, von denen die meisten ehemalige aktive Konterrevolutionäre waren, die aber die örtliche Tscheka in ihrer Vertrauensseligkeit auf freiem Fuß gelassen hatte.
Geleitet wurde diese Organisation von dem Popen Wassili, dem Fähnrich Winnik und dem Petljura-Offizier Kusmenko. Winniks Bruder und Vater, die beiden Popentöchter sowie Samotya, der sich als Geschäftsführer ins Exekutivkomitee eingeschlichen hatte, leisteten für sie Spionagedienste.
Sie beabsichtigten, in der für den Aufstand festgesetzten Nacht die Spezialabteilung der Grenztruppen mit Handgranaten zu überfallen, die Verhafteten zu befreien und, wenn möglich, auch den Bahnhof zu besetzen.
In der großen Stadt - dem Zentrum des geplanten Aufstands - wurden in aller Heimlichkeit die Offiziere zusammengezogen, und in den Wäldern sammelten sich die verschiedenen Banden. Von hier aus wurden die verlässlichsten Vertrauenspersonen nach Rumänien und zu Petljura persönlich geschickt.
Der Matrose aus der Sonderabteilung des Militärbezirks hatte schon die sechste Nacht kein Auge zugetan. Er war einer von den wenigen Bolschewiki, die über alles genau unterrichtet waren. Shuchrai hatte das Gefühl eines Menschen, der ein Raubtier aufgespürt hat, das sich gerade zum Sprung anschickt.
Man darf keinen Lärm schlagen, muss die blutgierige Meute vernichten, dann erst wird man ruhig arbeiten können, ohne dass Gefahr hinter jedem Baum und Strauch lauert. Die Bestie darf nicht aufgeschreckt werden. In diesem Kampf auf Leben und Tod verbürgen nur Ausdauer und eine eiserne Hand den Sieg.
Der Zeitpunkt des Kampfes rückte heran.
Irgendwo hier in der Stadt, im Labyrinth der Konspiration und geheimer Treffpunkte, ist beschlossen worden: Morgen Nacht!
Jene fünf Bolschewiki, die alles wussten, beeilten sich, dem zuvorzukommen. Nein, nicht morgen, heute Nacht!
Leise, ohne Signale, verließ der Panzerzug abends das Eisenbahndepot, und ebenso leise schlossen sich hinter ihm die riesigen Tore des Depots.
Auf direkten telegrafischen Leitungen wurden chiffrierte Telegramme durchgegeben. Und überall, wo sie einliefen, vergaßen die Hüter der Republik Schlaf und Ruhe und hoben die Wespennester aus.
Akim rief Sharki an.
»Sind alle Zellenversammlungen gesichert? Ja? Gut. Komm dann sofort mit dem Sekretär des Bezirks-Parteikomitees zur Beratung. Mit der Holzbeschaffung steht es schlechter, als wir annahmen. Wenn du hier bist, werden wir alles besprechen.« Akim sprach hastig, aber bestimmt.
»Ja, dieses Holz bringt uns noch alle um den Verstand«, brummte Sharki, als er den Hörer anhängte.
Beide Sekretäre sprangen aus dem Auto, mit dem Litke sie in Windeseile an Ort und Stelle gebracht hatte. Als sie zum zweiten Stock hinaufstiegen, begriffen sie sofort, dass es sich hier nicht um Holz handelte.
Auf dem Tisch des Geschäftsführers stand ein »Maxim«, an dem sich einige Maschinengewehrschützen aus der Sonderabteilung zu schaffen machten. In den Korridoren hielten schweigsame Posten, Partei- und Komsomolfunktionäre der Stadt, Wache.
Hinter der breiten Tür zum Arbeitszimmer des Sekretärs ging die außerordentliche Sitzung des Gouvernements-Parteikomitees ihrem Ende zu.
Durch die Fensterklappe führten von der Straße her Drähte zu zwei Feldtelefonen. Alle Gespräche wurden halblaut geführt.
Sharki traf in Akims Zimmer Rita und Michail an. Rita trug - wie zur Zeit, als sie Politleiter einer Kompanie gewesen war - einen Rotarmistenhelm, einen feldgrauen Rock und über ihrer Lederjacke einen Riemen, an dem eine schwere Mauserpistole hing.
»Was soll das alles bedeuten?« fragte Sharki verblüfft.
»Probealarm, Wanja. Wir fahren jetzt sofort zu euch in den Bezirk hinaus. Sammelpunkt in der fünften Infanterieschule. Die Jungen kommen von den Zellenversammlungen direkt dorthin. Die Hauptsache ist, dass alles möglichst unauffällig vor sich geht«, antwortete Rita.
Im »Kadettenhain« war es still.
Die hohen Eichen, hundertjährige Riesen, rauschten ganz leise. Der Teich schlief unter einer Decke von Wasserrosen und Algen, die breiten Alleen waren verwildert. Mitten im Hain, hinter hohen Mauern, lag das Gebäude der Kadettenanstalt. Hier war jetzt die fünfte Infanterieschule der Roten Kommandeure untergebracht. Es war spät am Abend. Im oberen Stockwerk brannte kein Licht. Nach außen hin schien alles ruhig. Jeder, der hier vorüberging, musste annehmen, jenseits der Mauern lägen die Bewohner in tiefstem Schlaf. Aber warum ist denn das eiserne Tor geöffnet, und was sind das für Dinger, die, zwei riesigen Fröschen ähnlich, am Tor hocken? Die Leute jedoch, die aus den verschiedenen Ecken des Eisenbahnerviertels hier zusammenströmten, wussten, dass man in der Schule bestimmt nicht schläft, wenn Nachtalarm angesagt ist. Sie kamen nach kurzer Instruktion direkt aus den Zellenversammlungen
hierher, sie schritten schweigend dahin, einzeln oder zu zweit, höchstens zu dritt, und jeder von ihnen trug in seiner Tasche ein Mitgliedsbuch mit dem Aufdruck »Kommunistische Partei (Bolschewiki)« oder »Kommunistischer Jugendverband der Ukraine«. Das eiserne Tor konnte nur passieren, wer ein solches Büchlein vorwies.
Im Hörsaal hatten sich bereits viele Menschen eingefunden. Hier war es hell, die Fenster waren mit Zeltbahnen aus Segeltuch verhängt.
Die versammelten Bolschewiki scherzten über die Alarmformalitäten und rauchten seelenruhig ihre selbstgedrehten Zigaretten. Niemand verspürte Unruhe. Man hatte sie nur zusammengerufen, um die Disziplin der Sonderabteilung für alle Fälle zu erproben. Die erfahrenen Frontkämpfer wussten jedoch gleich, als sie den Schulhof betraten, dass es sich hier nicht um einen bloßen Probealarm handelte; dafür ging alles viel zu geräuschlos vor sich. Schweigend traten die Züge der Kursanten auf die im Flüsterton gegebenen Befehle an. Maschinengewehre wurden hinausgetragen; von außen her war im ganzen Häuserblock kein einziger Lichtschein zu bemerken.
»Wird etwas Ernstes erwartet, Dmitri?« erkundigte sich Kortschagin leise und ging auf Dubawa zu.
Der saß auf der Fensterbank mit einem Mädchen, das Pawel vorgestern nur flüchtig bei Sharki gesehen hatte.
Dubawa klopfte Pawel scherzhaft auf die Schulter.
»Ist dir das Herz in die Hose gerutscht? Das macht nichts. Wir werden euch das Kämpfen schon beibringen. Ihr kennt euch wohl nicht?« sagte er mit einem Kopfnicken zu dem Mädchen hin.
»Sie heißt Anna. Ihren Familiennamen kenne ich nicht. Ihr Amt - Leiter einer Agitationsstelle.«
Das Mädchen hörte sich diese drollige Vorstellung schweigend an und musterte Kortschagin aufmerksam. Mit der Hand strich sie eine Locke zurück, die unter dem fliederfarbenen Kopftuch hervorlugte. Ihre Augen begegneten denen Kortschagins, und das stumme Duell währte einige Sekunden. Ihre tiefschwarzen Augen, von dichten langen Wimpern umschattet, funkelten herausfordernd. Pawel sah Dubawa an, fühlte, wie er unwillkürlich errötete, und das stimmte ihn ärgerlich.
»Wer von euch agitiert hier nun eigentlich?« fragte Pawel und lächelte gezwungen.
Im Saal wurde es unruhig. Ein Kompanieführer war auf einen Stuhl gestiegen und rief laut:
»Kommunarden der ersten Kompanie, hier im Saal antreten! Los, los, schneller, Genossen!«
Nun erschienen Shuchrai, der Vorsitzende des Gouvernements-Exekutivkomitees, und Akim. Sie waren soeben eingetroffen. Der Raum war voller Menschen, die bereits in Reih und Glied standen.
Der Vorsitzende des Gouvernements-Exekutivkomitees schwang sich auf den Standplatz eines Übungsmaschinengewehrs, hob die Hand und begann laut und deutlich zu sprechen:
»Genossen, wir haben euch zu einer ernsten und verantwortungsvollen Aufgabe hierher gerufen. Jetzt können wir euch mitteilen, wovon gestern noch nicht gesprochen werden durfte, da es bis dahin noch tiefes militärisches Geheimnis war. Morgen Nacht soll hier in der Stadt und in der gesamten Ukraine ein konterrevolutionärer Aufstand ausbrechen. Die Stadt ist voller Offiziersgesindel. Rings herum ziehen sich die Banden zusammen. Einer Anzahl Verschwörern ist es gelungen, sich in die Panzerabteilung einzuschleichen, wo sie als Chauffeure tätig sind. Die Verschwörung wurde jedoch von unserer Tscheka aufgedeckt, und nun stellen wir die gesamte Parteiorganisation und den Jugendverband unter Waffen. Das erste und zweite kommunistische Bataillon werden gemeinsam mit den erfahrenen Lehrgangsteilnehmern und den Abteilungen der Tscheka vorgehen. Die Kursanten sind schon in Aktion getreten. Jetzt ist die Reihe an euch, Genossen. Fünfzehn Minuten stehen euch für den Waffenempfang und zur Aufstellung zur Verfügung. Die Operation wird vom Genossen Shuchrai geleitet. Von ihm erhalten die Kommandeure genaue Anweisungen. Ich halte es für überflüssig, ein kommunistisches Bataillon auf den Ernst der gegenwärtigen Lage aufmerksam zu machen. Der für morgen angesetzte Aufstand muss von uns schon heute im Keim erstickt werden.«
Eine Viertelstunde später trat auf dem Schulhof das bewaffnete Bataillon an.
Shuchrai musterte die reglos verharrenden Reihen.
Drei Schritt vor den Formationen standen der Bataillonskommandeur Menailo, ein Gießer aus dem Ural, und neben ihm Akim, der Kommissar. Links gruppierten sich die Züge der ersten Kompanie, zwei Schritt vor ihnen standen der Kompanieführer und der Politleiter, hinter ihnen die schweigenden Reihen des kommunistischen Bataillons, dreihundert Bajonette.
Fjodor gab das Zeichen zum Aufbruch.
Die dreihundert marschierten durch die menschenleeren Straßen.
Die Stadt schlief.
In der Lwowskaja-Straße, gegenüber der Dikaja-Straße, unterbrach das Bataillon seinen Marsch. Hier begann die Aktion.
Geräuschlos wurde ein Häuserblock nach dem andern abgeriegelt. Der Bataillonsstab richtete sich im Treppenhaus eines Geschäftseinganges ein.
Die Lwowskaja-Straße hinunter raste ein aus dem Zentrum kommendes Auto heran. Vor dem Stab machte es halt.
Diesmal hatte Litke seinen Vater gebracht. Der Tschekist sprang auf das Pflaster und rief seinem Sohn einige kurze Sätze in lettischer Sprache zu. Das Auto setzte sich wieder in Bewegung und verschwand sofort um die Ecke in der Dmitrijewskaja-Straße. Hugo Litke blickte angespannt auf die Fahrbahn, die Hände schienen mit dem Lenkrad verwachsen, rechts-links, rechts-links ging es.
Aha, endlich einmal war seine tollkühne Fahrerei doch zu etwas nütze. Heute würde es niemandem einfallen, ihm für diese halsbrecherische Raserei zwei Nächte Arrest aufzubrummen.
Und Hugo flog gleich einem Meteor durch die Straßen.
Shuchrai, den der junge Litke blitzartig von einem Ende der Stadt zum anderen gebracht hatte, konnte nicht umhin, ihm seine Anerkennung auszusprechen.
»Hugo, wenn du bei dieser Raserei heute keinen ins Grab bringst, bekommst du morgen eine goldene Uhr.«
Hugo triumphierte.
»Und ich dachte schon, dass ich zehn Tage Arrest dafür erhalten würde.«
Die ersten Schläge waren gegen das Hauptquartier der Verschwörer gerichtet. In der Sonderabteilung wurden bereits die ersten Verhafteten und beschlagnahmten Dokumente eingeliefert. In einem Seitengässchen der Dikaja-Straße wohnte im Haus Nr. 11 ein gewisser Zürbert. Nach den Angaben der Tscheka spielte er bei der Verschwörung der Weißen keine geringe Rolle. Bei ihm wurden die Listen der Offiziersgruppen aufbewahrt, die im Podoler Bezirk vorgehen sollten.
Jan Litke fuhr selbst in die Dikaja-Straße, um Zürbert zu verhaften. In der Wohnung, deren Fenster auf einen durch eine Mauer vom ehemaligen Frauenkloster abgeteilten Garten hinausgingen, war Zürbert nicht aufzufinden. Nach den Aussagen der Nachbarn war er an diesem Tag nicht zurückgekehrt. Man nahm eine Haussuchung vor, bei der nebst einer Kiste voller Handgranaten auch die Listen und Adressen gefunden wurden. Litke, der befohlen hatte, im Garten einen getarnten Posten aufzustellen, hielt sich noch einen Augenblick lang am Tisch auf, um die vorgefundenen Materialien zu überfliegen.
Im Garten hielt ein junger Rotarmist Wache. Er hatte Befehl bekommen, die Mauer zu beobachten. Im Dunkel scheinen die Sträucher lebendig zu werden. Der Soldat tastete sie mit seinem Bajonett ab - niemand ist da. Unheimlich ist es allein in der Dunkelheit.
Wozu hat man mich eigentlich hier hingestellt? Auf diese Mauer klettert doch sowieso niemand rauf, die ist viel zu hoch. Ich will mal ans Fenster
herangehen, dort hineinschauen, überlegte der Posten. Er warf noch einmal einen Blick auf die Mauer und ging zum Fenster. Litke sammelte gerade die Papiere zusammen. In demselben Moment erschien auf der Mauer der Schatten eines Menschen. Mit katzenartiger Gewandtheit sprang der Schatten auf einen Baum hinüber und ließ sich dann zu Boden gleiten. Wie ein Raubtier schlich er sich lautlos an sein Opfer heran, holte aus, und der Posten sackte zusammen. Bis zum Griff steckte die Klinge eines Dolches in seinem Hals.
Ein aus dem Garten gellender Schuss traf die den Häuserblock umzingelt haltenden Menschen wie ein elektrischer Schlag .….
Sechs Mann rannten mit polternden Stiefeln dem Haus zu.
Blutüberströmt, den Kopf auf den Tisch gesenkt, saß Litke tot in einem Sessel. Eine Fensterscheibe war eingeschlagen. Die Dokumente hatte der Feind jedoch nicht wieder an sich reißen können.
Von der Klostermauer tönte ein Schuss nach dem anderen. Der Mörder war auf die Straße hinabgesprungen und versuchte, fortgesetzt feuernd, nach der Lukjanowsker Halde zu flüchten. Doch er entkam nicht, eine Kugel holte ihn ein.
Die ganze Nacht hielten die Haussuchungen an. Hunderte von Personen, die Waffen besaßen, zweifelhafte Papiere hatten oder die bei keiner Hausverwaltung angemeldet waren, wurden in die Tscheka eingeliefert. Dort arbeitete eine Untersuchungskommission, die jeden Verhafteten verhörte. An einigen Stellen leisteten die Verschwörer bewaffneten Widerstand. In der Shiljanskaja-Straße wurde bei einer Haussuchung Antoscha Lebedew hinterrücks erschossen.
Das Bataillon des Bezirks Solomenka hatte in dieser Nacht fünf Kämpfer verloren und die Tscheka Jan Litke, einen alten Bolschewiken und treuen Hüter der Republik.
Der Aufstand war rechtzeitig niedergeschlagen worden.
Noch in derselben Nacht wurde in Schepetowka der Pope Wassili samt seinen Töchtern und der gesamten übrigen Sippschaft festgenommen.
Bald ging das gewohnte Leben weiter.
Aber schon bedrohte ein neuer Feind die Stadt - die Stockung des Eisenbahnverkehrs, und mit ihr Hunger und Kälte.
Getreide und Holz waren jetzt von entscheidender Bedeutung.

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