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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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SECHSTES KAPITEL

Vor dem Eingang zum Konzertsaal des Hotels standen zwei junge Menschen. Der eine, ein langer junger Mann mit einem Zwicker, trug eine rote Binde mit der Aufschrift »Kommandant«.
»Tagt hier die ukrainische Delegation?« erkundigte sich Rita. Der Lange antwortete streng offiziell: »Ja, und Sie wünschen?«
»Ich möchte zur Tagung.«
Der Lange versperrte ihr den Weg. Er musterte Rita und sagte:
»Ihr Mandat, bitte. Nur Delegierte mit beschließender und beratender Stimme sind zugelassen.«
Rita entnahm ihrer Handtasche eine Karte mit Goldaufdruck. Der Lange las:
»Mitglied des Zentralkomitees.« Sofort erwiderte er höflich in freundschaftlichem Ton:
»Bitte, treten Sie ein, dort links sind noch Plätze frei.«
Rita ging die Stuhlreihen entlang, und als sie den ersten freien Platz gewahrte, setzte sie sich. Die Delegiertenberatung schien zu Ende zu gehen. Rita lauschte den Ausführungen des Vorsitzenden. Die Stimme kam ihr bekannt vor.
»Somit, Genossen, sind die Vertreter der Delegationen in den Seniorenkonvent des Allrussischen Kongresses und in den Delegiertenrat gewählt. Die Sitzung beginnt in zwei Stunden. Gestatten Sie mir, noch einmal die Liste der zum Kongress eingetroffenen Delegierten nachzuprüfen.«
Rita erkannte Akim. Er war es, der eilig die Namen verlas. Als Antwort erhoben sich Hände mit roten oder weißen Mandatskarten. Rita lauschte gespannt. Das ist ein bekannter Name: »Pankratow.«
Sie spähte nach der erhobenen Hand. Es gelang ihr jedoch nicht, unter den Sitzenden das vertraute Gesicht des Hafenarbeiters ausfindig zu machen. Ein Name folgte dem anderen. Und wieder wurde ein ihr bekannter Genosse genannt, »Okunew«, und gleich darauf »Sharki«.
Ritas Augen suchten Sharki. Unweit entdeckte sie sein Profil … Zweifellos -Wanja. Schon mehrere Jahre hatte sie ihn nicht gesehen.
Es folgten weitere Namen. Plötzlich ließ sie einer zusammenfahren:
»Kortschagin.«
Irgendwo ganz vorn erhob sich eine Hand, tauchte wieder unter, und - sonderbar - Rita Ustinowitsch hatte den quälenden Wunsch, den Namensvetter ihres verstorbenen Freundes zu sehen. Unverwandt blickte sie dorthin, wo sich die Hand erhoben hatte, aber alle Köpfe schienen einander zu gleichen. Rita stand auf und ging durch den Seitengang zu den vordersten Reihen. Da verstummte Akim. Sofort entstand ein Gescharre mit den Stühlen. Die Delegierten unterhielten sich laut miteinander, und überall schallte es von jugendlichem Lachen. Mit Mühe überschrie Akim den Lärm:
»Nicht zu spät kommen! Punkt sieben Uhr … Großes Theater!«
Alle drängten dem Ausgang zu.
Rita begriff, dass sie in diesem Menschenstrom keinen von denen finden würde, deren Namen sie soeben vernommen hatte. Jetzt galt es, Akim nicht aus den Augen zu verlieren und durch ihn die übrigen zu finden. Sie ließ die letzte Delegiertengruppe vorüber und ging auf Akim zu.
»Nun, Kortschagin, alter Junge, fahren wir also auch!« vernahm sie hinter ihrem Rücken, und eine ihr so bekannte, so vertraute Stimme erwiderte:
»Gut, gehen wir!«
Rita wandte blitzschnell den Kopf.
Vor ihr stand ein hochgewachsener, braungebrannter junger Mann in blauen Reithosen und einer feldgrauen Soldatenbluse, die in der Taille mit einem schmalen kaukasischen Riemen umgürtet war.
Mit weitaufgerissenen Augen starrte ihn Rita an, und erst als ein Paar Arme sie herzlich umschlangen und eine bewegte Stimme leise »Rita« zu ihr sagte, begriff sie, dass dies wirklich Pawel Kortschagin war.
»Du lebst?«
Diese Worte sagten ihm alles. Sie wusste nicht, dass die Nachricht von seinem Tod auf einem Irrtum beruhte.
Der Saal war jetzt leer. Durch das weitgeöffnete Fenster drang der Lärm der Twersliaja, dieser mächtigen Verkehrsader der Stadt. Von einer nahen Uhr dröhnten laut sechs Schläge. Und den beiden schien es, als seien sie sich jetzt erst, vor wenigen Minuten, begegnet. Die rasch vorrückenden Zeiger der Uhr riefen jedoch zum Großen Theater. Rita blickte Pawel nochmals an, als sie über die breite Treppe dem Ausgang zuschritten. Er war einen halben Kopf größer als sie, sonst war er jedoch immer noch der alte, nur männlicher und zurückhaltender war er geworden.
»Ich habe dich ja gar nicht gefragt, wo du eigentlich arbeitest.«
»Ich bin Sekretär eines Kreis-Jugendkomitees oder, wie Dubawa wohl sagen würde, ein ›Amtsschimmel‹.« Pawel lächelte.
»Hast du ihn irgendwo gesehen?«
»Ja, und diese Begegnung hat auf mich einen sehr unangenehmen Eindruck gemacht.«
Sie gingen auf die Straße hinaus. Hupende Autos jagten dahin. Überall zahllose Menschen, ein Gewirr von Stimmen. Auf dem Weg zum Großen Theater wechselten sie nur wenige Worte miteinander. Beide beschäftigte der gleiche Gedanke.
Die Eingänge waren von einem ungestüm brausenden und brandenden Menschenmeer umlagert. Alle strebten dem riesigen Gebäude zu und versuchten in das von Rotarmisten bewachte Theater einzudringen. Die unerbittlichen Rotarmisten gewährten jedoch nur den Delegierten Einlass, die stolz ihr Mandat vorwiesen und so die Kette der Posten durchschritten.
Die Menge, die das Theater umwogte, bestand aus Komsomolzen, denen es nicht gelungen war, eine Besucherkarte zu bekommen, die aber trotzdem versuchten - koste es, was es wolle -, der Eröffnung des Kongresses beizuwohnen. Einige besonders gewandte Komsomolzen drängelten sich mitten in die Delegiertengruppen hinein und zeigten ebenfalls irgendein rotes Papierchen vor, das ein Mandat vorstellen sollte. Manche von ihnen hatten so die Möglichkeit, bis an den Eingang zu kommen; einige schlüpften sogar durch die Türen hindurch. Hier aber landeten sie in den Armen des diensthabenden Zentralkomiteemitglieds oder des Kommandanten, der die Gäste auf die Ränge und die Delegierten ins Parkett wies und von dem sie, zum größten Vergnügen der übrigen draußengebliebenen »kartenlosen Gesellschaft«, wieder hinausexpediert wurden.
Nur etwa der zwanzigste Teil derer, die an dem Kongress teilzunehmen wünschten, fand im Theater Platz.
Mit großer Mühe gelangten Rita und Pawel zur Tür. Immer mehr Delegierte strömten herbei, wurden von Straßenbahnen und Autos herangebracht. Den Rotarmisten, die ebenfalls Komsomolzen waren, fiel es immer schwerer, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Man drückte sie an die Wand, und dicht bei der Tür erschollen laute Rufe:
»Los, vorwärts, Jungs, gebt nicht nach!«
»Los, Bruderherz, dräng nur nach vorn, wir werden's schon schaffen!«
»Lo-os! Lo-os! Feste …!«
Zusammen mit Kortschagin und Rita stürmte ein kleiner flinker Bursche, mit dem Abzeichen des Kommunistischen Jugendverbandes auf der Brust, wie ein Wirbelwind durch die Tür. Er lief an dem Kommandanten vorüber und rannte
Hals über Kopf ins Foyer. Einen Augenblick - und er war im Strom der Delegierten untergetaucht.
»Wir wollen uns hierher setzen«, sagte Rita, als sie das Parkett betraten, und zeigte auf zwei Sessel in den hinteren Reihen. Sie nahmen Platz.
»Ich möchte, dass du mir eine Frage beantwortest«, sagte Rita.
»Obwohl die Sache schon längst veraltet ist, denke ich doch, dass du es mir jetzt erklären wirst: Weshalb hast du damals unseren Unterricht und unsere Freundschaft abgebrochen?«
Von der ersten Minute ihres Wiedersehens an hatte Pawel diese Frage erwartet. Und dennoch verwirrte sie ihn.
Ihre Augen begegneten einander, und Pawel begriff: Sie weiß alles.
»Ich glaube, Rita, dass du es selber weißt. Das war vor drei Jahren, und jetzt kann ich mich dafür nur verurteilen. Kortschagin hat in seinem Leben überhaupt nicht wenige große und kleine Fehler gemacht, und einer davon war der, von dem du jetzt sprichst.« Rita lächelte.
»Das war ein gutes Vorwort. Ich möchte jedoch eine Antwort haben.« Pawel sagte leise:
»Daran bin nicht nur ich schuld, sondern auch der Roman ›Stechfliege‹ und seine revolutionäre Romantik. Bücher, in denen in lebendiger Weise mutige, geistig hoch stehende und willensstarke Revolutionäre geschildert werden, die tapfer und selbstlos unserer Sache ergeben sind, hinterließen in mir stets einen außerordentlich starken Eindruck und riefen in mir den Wunsch wach, ihnen nachzueifern. Da habe ich auch mein Gefühl für dich nach dem Beispiel dieses Romans unterdrückt. Jetzt kommt mir das lächerlich vor, mehr noch, beklagenswert.«
»Und jetzt wird die ›Stechfliege‹ also anders bewertet?«
»Nein, Rita, im Prinzip nicht. Ich bin nur gegen die überflüssige Tragik des qualvollen Herumexperimentierens. mit der eigenen Willenskraft. Ich bin jedoch für das Grundsätzliche in der ›Stechfliege‹: für das Mutige, für die grenzenlose Standhaftigkeit, für diesen Typ eines Menschen, der zu leiden versteht, ohne es immerfort zur Schau zu tragen. Ich bin für diesen Typ eines Revolutionärs, für den das Persönliche gegenüber der Allgemeinheit völlig in den Hintergrund tritt.«
»Es ist aber doch bedauerlich, Pawel, dass dieses Gespräch drei Jahre später stattfindet, als es hätte stattfinden sollen«, sagte Rita nachdenklich.
»Bedauerst du das deshalb, Rita, weil ich für dich sowieso niemals mehr als ein Genosse hätte sein können?«
»Nein, Pawel, du hättest auch mehr werden können.«
»Das kann man noch gutmachen.«
»Nein, jetzt ist es ein wenig zu spät, Genosse ›Stechfliege‹.« Rita lächelte über ihren Scherz und fügte erklärend hinzu:
»Ich habe ein Töchterchen. Es hat einen Vater, der auch mir ein sehr guter Freund ist. Wir drei halten fest zusammen, und das Trio ist vorerst noch unzertrennlich.«
Ihre Finger berührten Pawels Hand. Es war eine Geste der Besorgnis um ihn. Sie begriff jedoch sofort, dass diese Bedenken überflüssig waren. Pawel war in diesen drei Jahren nicht nur körperlich, sondern auch geistig gewachsen. Sie verstand, dass er jetzt traurig war - das verriet der Ausdruck seiner Augen -, jedoch ohne Pose, aufrichtig und schlicht sagte er:
»Trotz allem bleibt mir noch unvergleichlich mehr, als ich soeben verloren habe.«
Pawel und Rita erhoben sich. Es war Zeit, sich näher zur Bühne zu begeben. Sie gingen zu den Sesselreihen, wo sich die ukrainischen Delegierten niedergelassen hatten. Das Orchester spielte. Überall hingen riesige rote Transparente, und die flammenden Buchstaben riefen ihnen zu:
»Die Zukunft gehört uns!« Tausende von Menschen füllten das Parkett, die Logen und Ränge, und diese Tausende verschmolzen hier zu einem einzigen mächtigen Motor nie erlahmender Energie. Das riesige Theatergebäude hatte in seinen Wänden die Blüte der jungen Garde des mächtigen Proletariergeschlechts aufgenommen. Tausende Augenpaare - und in jedem dieser Augenpaare sprühten und spiegelten sich die Worte wider, die über dem schweren Vorhang geschrieben standen:
»Die Zukunft gehört uns!«
Der Ansturm der Menschen nahm immer noch kein Ende. Nur wenige Minuten - dann öffnete sich langsam der schwere Samtvorhang, und der Sekretär des Zentralkomitees begann, selbst bewegt von dem feierlichen Augenblick:
»Der Sechste Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes der Sowjetunion ist hiermit eröffnet.«
Noch nie in seinem Leben hatte Kortschagin tiefer und klarer die Größe und Macht der Revolution empfunden, noch nie hatte ihn ein größerer Stolz, eine hellere Freude erfüllt als hier, auf dieser Siegesfeier der jungen Garde des Bolschewismus, der auch er als Kämpfer und Erbauer angehörte.
Der Kongress nahm seine Teilnehmer von früh bis spät in Anspruch, und erst auf einer der letzten Sitzungen begegneten sich Pawel und Rita wieder. Er fand sie im Kreis ukrainischer Delegierter.
»Morgen, nach Schluss des Kongresses, fahr ich gleich ab«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob es uns noch gelingen wird, vor der Abreise miteinander zu reden. Deshalb habe ich heute für dich zwei Hefte mit meinen Notizen, die die Vergangenheit betreffen, und einen kurzen Brief herausgesucht. Wenn du das gelesen hast, schicke es mir per Post zurück. Aus diesen Aufzeichnungen wirst du alles erfahren, was ich dir nicht erzählt habe.«
Er drückte ihr die Hand und schaute sie lange an, als wollte er sich ihre Züge fest einprägen.
Sie trafen sich, wie verabredet, am nächsten Tag vor dem Haupteingang, und Rita übergab ihm eine Rolle und ein geschlossenes Kuvert. Die beiden verabschiedeten sich zurückhaltend, denn ringsum standen Menschen. Aus Ritas verschleierten Augen strömte ihm jedoch große Wärme und auch ein wenig Kummer entgegen.
Kurz darauf trugen die Züge sie in verschiedene Richtungen davon.
Die Ukrainer waren in mehreren Eisenbahnwagen untergebracht. Kortschagin fuhr gemeinsam mit den Kiewer Genossen. Am Abend, als schon alle ruhten und neben ihm Okunew schnarchte, rückte Kortschagin näher zum Licht und öffnete den Brief:

Pawluscha, Lieber!
Ich hätte Dir das alles persönlich sagen können, aber so ist es besser. Ich wünsche nur eins: dass das, worüber wir vor Beginn des Kongresses gesprochen haben, keine schmerzende Wunde in Deinem Leben hinterlässt. Ich weiß, Du bist willensstark, deshalb glaube ich Deinen Worten. Ich habe keine formale Einstellung zum Leben, und ich denke, dass man in persönlichen Beziehungen manchmal auch eine Ausnahme machen kann, natürlich nur sehr selten, wenn es sich um starke, tiefe Gefühle handelt. Du hättest das verdient. Ich habe jedoch den im ersten Augenblick in mir aufgekommenen Wunsch, unserer Jugend zu geben, was ihr gebührt, unterdrückt. Ich fühlte, dass uns dies nicht viel Freude bringen würde. Pawel, man darf nicht so hart gegen sich selbst sein. Unser Leben ist nicht nur vom Kampf erfüllt, sondern auch von dem freudigen Glück eines starken Gefühls. Was Dein sonstiges Leben betrifft, ich meine seinen eigentlichen Inhalt, so bin ich da nicht im geringsten besorgt. Ich drücke Dir herzlich die Hand.
Rita

In Gedanken versunken, zerriss Pawel den Brief. Er streckte die Hand zum Fenster hinaus und spürte, wie der Wind seinen Fingern die Papierschnitzel entriss und davontrug. Bis zum Morgen waren beide Hefte durchgelesen, wieder eingewickelt und verschnürt.
In Charkow verließ ein Teil der Ukrainer den Zug, darunter Okunew, Pankra-tow und Kortschagin. Nikolai fuhr nach Kiew, um Talja abzuholen, die bei Anna geblieben war. Pankratow, der Mitglied des Zentralkomitees des Jugendverbandes der Ukraine geworden war, hatte dort ebenfalls verschiedenes zu erledigen. Kortschagin entschloss sich, mit ihnen nach Kiew zu fahren und bei dieser Gelegenheit die Freunde aufzusuchen. In Kiew ging er zum Postschalter des Bahnhofs, um Rita die Hefte zurückzuschicken. Als er sich dann nach den Genossen umsah, war keiner mehr da. Die Straßenbahn brachte ihn zu dem Haus, in dem Anna und Dubawa wohnten. Pawel stieg zum ersten Stock hinauf und klopfte an die Tür links, die zu Annas Zimmer führte. Das Klopfen blieb unbeantwortet. Es war noch früh am Morgen, und Anna konnte unmöglich bereits zur Arbeit gegangen sein. Wahrscheinlich schläft sie noch dachte er. Nebenan wurde die Tür geöffnet, und Dubawa trat verschlafen heraus. Sein Gesicht war fahl, mit dunklen Ringen unter den Augen, und ein scharfer Zwiebelgeruch, vermischt mit Branntwein, strömte von ihm aus. Durch die halbgeöffnete Tür bemerkte Kortschagin auf dem Bett eine korpulente Frau, vielmehr nur ihr dickes nacktes Bein und die Schultern.
Dubawa, der Pawels Blick bemerkt hatte, stieß mit dem Fuß die Tür zu.
»Wohin willst du, zur Genossin Borchardt?« fragte er heiser und blickte dabei in irgendeine Ecke.
»Sie wohnt nicht mehr hier. Weißt du das denn nicht?«
Kortschagin schaute ihn mit finsterem Blick prüfend an.
»Das wusste ich nicht. Wo ist sie denn hingezogen?« fragte er. Dubawa wurde plötzlich zornig.
»Das interessiert mich nicht.« Er rülpste und fügte mit unterdrücktem Groll hinzu:
»Willst sie wohl trösten kommen? Da bist du gerade der Rechte. Der Platz ist frei, bitte sehr! Um so mehr, da du keinen Korb zu befürchten hast. Hat sie mir doch des Öfteren gesagt, dass du ihr gefällst oder wie das sonst noch bei den Weibern heißt. Nimm die Gelegenheit beim Schöpf! Da hast du gleich eine Gemeinschaft von Leib und Seele.«
Pawel spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, beherrschte sich aber und sagte leise:
»Wohin bist du nur geraten! Ich hätte nie erwartet, dass du so tief sinken würdest. Du warst doch früher gar kein schlechter Kerl. Wie kann man so auf den Hund kommen?«
Dubawa lehnte sich an die Wand. Ihm war anscheinend kalt geworden, da er mit nackten Füßen auf dem Zementboden stand. Ihn fröstelte. Die Tür ging auf, und in ihrem Rahmen erschien eine verschlafene Frau mit aufgedunsenem Gesicht.
»Schatz, komm doch rein, wozu stehst du da herum …?« Dubawa ließ sie nicht zu Ende sprechen, er schlug die Tür zu und stemmte sich mit dem Körper dagegen.
»Ein viel versprechender Anfang …«, sagte Pawel. »Mit wem hast du dich denn da eingelassen, und wohin soll das alles führen?« Dubawa schien der Unterredung überdrüssig zu sein und schrie:
»Ihr werdet mir noch vorschreiben, mit wem ich ins Bett gehen soll! Lass deine Moralpredigten! Scher dich dorthin, woher du gekommen bist! Geh nur und erzähl allen, dass Dubawa säuft und mit Straßenmädchen schläft.«
Pawel ging auf ihn zu und sagte aufgeregt:
»Dmitri, schmeiß dieses Weib raus. Ich will noch einmal, zum letzten Mal, mit dir sprechen …«
Dubawas Gesicht verfinsterte sich. Er drehte sich um und ging ins Zimmer.
»Ach, du Dreckskerl!« zischte Kortschagin und stieg langsam die Treppe hinunter.

Zwei Jahre waren vergangen. Unmerklich verstrichen Tage und Monate. Und das stürmische, vielseitige Leben gab diesen, dem äußeren Anschein nach so eintönigen Tagen immer neuen Inhalt, so dass das Heute nur selten dem Gestern glich. Hundertsechzig Millionen, ein großes Volk, das zum ersten Mal in der Geschichte Herr seines unermesslichen Landes und seiner unerschöpflichen Reichtümer geworden war, baute in heldenhafter und angespannter
Arbeit die vom Krieg zerstörte Volkswirtschaft wieder auf. Das Land erstarkte, es gewann frische Kraft - nirgends mehr waren die rauchlosen Schlote der vor kurzem noch leblosen und in ihrer Verlassenheit finster dreinschauenden Betriebe zu sehen.
Kortschagin hatte diese zwei Jahre in rastloser Arbeit verbracht. Er nahm es nicht einmal wahr, wie schnell sie verflogen. Ein geruhsames Leben zu führen, sich frühmorgens gähnend zu recken und sich abends pünktlich zehn Uhr schlafen zu legen, das entsprach nicht seiner Art. Er hatte es eilig zu leben. Und er eilte nicht nur selbst, er trieb auch die anderen zur Eile an.
Zum Schlafen blieb nur wenig Zeit. Meist waren die Fenster seines Zimmers bis spät in die Nacht erleuchtet, und drinnen saßen über den Tisch gebeugt Menschen und studierten. In den zwei Jahren hatten sie den dritten Band des »Kapitals« durchgearbeitet. Der komplizierte Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung wurde ihnen allmählich klar und verständlich.
In der Stadt, in der Kortschagin arbeitete, tauchte plötzlich Raswalichin auf. Er wurde vom Gouvernementskomitee geschickt, mit dem Vorschlag, ihn als Sekretär eines Bezirks-Jugendkomitees einzusetzen. Pawel war gerade unterwegs, und in seiner Abwesenheit hatte die Jugendleitung Raswalichin in einen der Bezirke kommandiert. Als Kortschagin nach seiner Rückkehr davon erfuhr, verlor er kein Wort darüber.
Nach einem Monat jedoch erschien Pawel plötzlich in Raswalichins Bezirk. Es lag nicht viel schwarz auf weiß gegen Raswalichin vor, aber es handelte sich im allgemeinen um Saufereien, Bevorzugung von Kriechern und Schmeichlern und Zurücksetzung von guten Genossen. Kortschagin setzte den Fall auf die Tagesordnung des Jugendkomitees, und als sich die anderen für die Erteilung einer strengen Rüge aussprachen, erklärte er unvermittelt:
»Mein Vorschlag ist: Ausschluss, ohne Recht auf Wiederaufnahme.«
Pawels Vorschlag setzte alle in Erstaunen, er schien ihnen zu hart. Kortschagin jedoch wiederholte:
»Ausschließen muss man den Halunken. Diesem Gymnasiasten wurde Gelegenheit geboten, ein Mensch zu werden. Er hat sich einfach in unsere Reihen eingeschlichen.« Und Pawel erzählte von Beresdow.
Raswalichin schrie: »Ich protestiere entschieden gegen den Vorschlag Kortschagins. Er hetzt gegen mich aus persönlichen Motiven. Da kann sich ja jeder ausdenken, was ihm passt. Soll doch Kortschagin Beweise, Dokumente, Tatsachenmaterial vorweisen! Ich könnte da auch plötzlich erklären, er habe sich mit Schmuggelei befasst, aber wird man ihn etwa deshalb gleich aus dem Komsomol ausschließen? Nein, soll er doch ein Dokument vorlegen!«
»Warte nur ab. Du kriegst schon dein Dokument!« erwiderte ihm Kortschagin.
Raswalichin verließ das Zimmer. Nach einer halben Stunde setzte Kortschagin die Annahme folgender Resolution durch: »Als fremdes Element ist Raswalichin aus den Reihen des Komsomol auszuschließen.«

Im Sommer gingen die Genossen einer nach dem anderen auf Urlaub. Diejenigen, um deren Gesundheit es schlecht stand, fuhren ans Meer. Alle sehnten sich nach Erholung, und Kortschagin ließ seine Kameraden fahren, verschaffte ihnen Sanatoriumsplätze und materielle Hilfe. Bleich und abgespannt, jedoch freudig erregt, reisten sie ab. Ihre Arbeit lastete jetzt auf Pawels Schultern, er aber bewältigte sie gleich einem braven Arbeitspferd, das geduldig den schweren Karren bergauf zieht. Die Genossen kehrten dann braungebrannt, lebenslustig, voller Energie wieder zurück, und andere traten ihren Urlaub an. So fehlte den ganzen Sommer hindurch immer irgend jemand. Das Leben jedoch ging unaufhaltsam seinen geregelten Gang, und Kortschagins Fernsein von der Arbeit, auch nur für einen Tag, war undenkbar.
So verging der Sommer. Herbst und Winter liebte Pawel nicht; sie brachten ihm viele körperliche Leiden.
Diesen Sommer hatte Pawel mit besonderer Ungeduld erwartet. Es war für ihn qualvoll, sich einzugestehen, dass seine Kräfte von Jahr zu Jahr schwanden.
Nur zwei Wege blieben ihm offen: entweder zuzugeben, dass er nicht imstande war, die Mühen angespannter Arbeit zu ertragen, dass er ein Invalide war -oder auf seinem Posten auszuharren, solange die Kräfte reichten.
Er wählte den zweiten Weg.
Eines Tages, auf einer Sitzung des Kreis-Parteikomitees, setzte sich der alte Doktor Bartelik, ein ehemaliger Illegaler, jetzt Leiter des Kreisgesundheitsamtes, zu ihm.
»Du siehst nicht besonders gut aus, Genosse Kortschagin. Hast du dich von der Ärztekommission untersuchen lassen? Wie steht es denn mit deiner Gesundheit? Warst wohl nicht dort - oder hab ich das nur vergessen? Musst dich aber mal untersuchen lassen, Freundchen. Komm am Donnerstagabend.«
Pawel ging nicht zur Kommission - er hatte zu tun. Bartelik hatte ihn aber nicht vergessen und schleppte ihn eines Tages doch mit. Als Ergebnis einer eingehenden ärztlichen Untersuchung, an der Bartelik als Nervenarzt beteiligt war, wurde folgendes festgestellt:
»Die Ärztekommission hält einen sofortigen Urlaub mit längerer Erholung auf der Krim sowie weitere eingehende Behandlung für unbedingt notwendig, andernfalls sind schwere Folgen unausbleiblich.«
Dieser Feststellung ging eine lange Aufzählung verschiedener Krankheiten in lateinischer Sprache voraus, woraus Kortschagin nur das eine entnehmen konnte, dass nicht die Beschwerden in den Füßen sein Hauptleiden waren, sondern eine schwere Störung des zentralen Nervensystems.
Bartelik ließ den Kommissionsbeschluss vom Parteikomitee bestätigen, und niemand hatte etwas gegen Kortschagins unverzügliche Beurlaubung einzuwenden. Pawel selbst schlug jedoch vor, seine Abreise bis zur Rückkehr Sbitnews, des Leiters der Orgabteilung des Kreis-Jugendkomitees, hinauszuschieben, da er das Komitee nicht ohne Leitung lassen wollte. Man erklärte sich damit einverstanden, obwohl Bartelik dagegen war.
In drei Wochen sollte also Pawel zum ersten Mal in seinem Leben auf Urlaub gehen. Der Schein für einen Sanatoriumsaufenthalt in Jewpatoria lag bereits in seiner Schublade.
In diesen Tagen arbeitete Kortschagin besonders intensiv. Er führte eine Plenarsitzung des Kreis-Jugendkomitees durch und bemühte sich, ohne seine Kräfte zu schonen, alles in Ordnung zu bringen, um dann ruhigen Herzens abfahren zu können.
Und gerade am Vorabend seiner Abfahrt ans Meer, das er noch niemals in seinem Leben gesehen hatte, ereignete sich eine widerliche, abstoßende Szene.
Pawel hatte sich nach der Arbeitszeit ins Zimmer der Agitpropabteilung der Partei begeben und setzte sich in Erwartung einer Beratung, die dort stattfinden sollte, auf den Sims eines geöffneten Fensters, das von einem Bücherschrank verdeckt war. Als er eintrat, war das Zimmer leer. Bald darauf kamen einige Leute, die Pawel jedoch wegen des Schrankes nicht sehen konnten. Er erkannte die Stimme Failos, des Leiters der Kreisabteilung für Volkswirtschaft, eines schönen, hochgewachsenen Mannes mit militärischem Auftreten. Oft war Pawel zu Ohren gekommen, dass Failo ein Trinker sei und jedem hübschen Mädchen nachlaufe.
Failo war ein ehemaliger Partisan. Mit selbstzufriedenem Lächeln erzählte er bei jeder Gelegenheit, wie er den Machno-Leuten die Köpfe abgeschlagen hatte, jeden Tag einem ganzen Dutzend.
Kortschagin konnte ihn nicht ausstehen. Einmal kam eine Komsomolzin zu Pawel und erzählte ihm bitterlich weinend, Failo habe ihr versprochen, sie zu heiraten. Nachdem er jedoch eine Woche lang mit ihr gelebt hatte, habe er sie verlassen, ja sogar aufgehört, sie zu grüßen. Vor der Kontrollkommission gelang es Failo, sich herauszureden, denn das Mädchen hatte keine Beweise. Pawel aber glaubte ihr.
Kortschagin horchte auf.
»Nun, Failo, wie steht's mit deinen Erfolgen? Was hast du wieder angestellt?«
Diese Frage stellte Gribow, einer von Failos Freunden, ein Mensch des gleichen Schlages. Aus unerfindlichen Gründen arbeitete Gribow als Propagandist,
obwohl er äußerst unwissend und beschränkt, kurz, ein Dummkopf war. Er tat sich indes mit seinem Propagandistentitel wichtig und brachte ihn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufs Tapet.
»Kannst mir gratulieren. Gestern hatte ich es mit der Korotajewa. Du hast zwar gesagt, dass bei ihr nichts zu machen ist, aber wenn ich mal eine aufs Korn nehme, mein Lieber, dann kannst du schon sicher sein …«, und Failo machte noch eine schmutzige Bemerkung.
Kortschagin lief ein nervöses Kribbeln über den Rücken - ein Zeichen höchster Gereiztheit. Korotajewa war die Leiterin der Frauenabteilung des Kreis-Parteikomitees. Sie war gleichzeitig mit Pawel in die Stadt gekommen, und er hatte sich mit dieser sympathischen Genossin angefreundet, die aufmerksam und teilnahmsvoll zu jeder Frau und überhaupt zu jedem war, der von ihr Rat und Hilfe erhoffte.
Unter den Mitarbeitern des Komitees genoss die Korotajewa große Achtung. Sie war unverheiratet, und Failo sprach zweifellos von ihr.
»Und lügst du auch nicht, Failo? Das sieht ihr doch gar nicht ähnlich.«
»Ich und lügen! Für wen hältst du mich denn eigentlich? Ich bin noch mit ganz anderen fertig geworden. Man muss es nur richtig anpacken. Jede verlangt ihre eigene Behandlung. Die eine gibt gleich am ersten Tag nach, aber die taugen meist nicht viel, einer anderen muss man erst einen ganzen Monat lang nachlaufen. Man muss sich eben in ihrer Psyche auskennen. Ja, mein Lieber, das ist eine ganze Wissenschaft, aber in diesem Fach bin ich ein Meister. Hahahaha …!«
Failo schwoll der Kamm vor Selbstzufriedenheit, und das Häufchen Zuhörer spornte ihn an, weiterzuerzählen. Sie waren begierig, Einzelheiten zu erfahren.
Kortschagin stand auf, ballte die Fäuste und spürte, wie sein Herz erregt klopfte.
»Die Korotajewa einfach so auf den ersten Anhieb zu bekommen, daran war gar nicht zu denken. Laufen lassen wollte ich sie aber auch nicht, um so weniger, als ich mit Gribow um ein Dutzend Flaschen Portwein gewettet hatte. So legte ich mich also ins Zeug. Ich besuchte sie ein-, zweimal, merkte aber, dass sie mich scheel ansah. Man schwatzt da so verschiedenes über mich - vielleicht ist ihr was zu Ohren gekommen ….. Mit einem Wort: in den Flanken ein richtiger Misserfolg. Da musste also ein Umgehungsmanöver herhalten. Haha! -›Verstehst du‹, sage ich zu ihr, ›da habe ich nun gekämpft, unzählige Feinde habe ich zu Brei zermalmt, habe mich in der Welt herumgetrieben, nicht wenig Kummer erlebt, habe so manches durchmachen müssen, aber eine Frau, eine richtige Lebensgefährtin, habe ich nicht gefunden. So lebe ich denn wie ein obdachloser Hund, ohne Zärtlichkeit, ohne Liebe …‹ Und so weiter und so fort, immer dieselbe Leier. Mit einem Wort, ich packte sie immerzu an ihren schwachen Seiten. Viel habe ich mich mit ihr abplagen müssen. Eine Zeitlang wollte ich schon die Sache fahren lassen und mit der ganzen Komödie Schluss machen. Hol sie der Teufel! Aber nun war das für mich schon eine prinzipielle Sache geworden. Aus prinzipiellen Gründen musste ich durchhalte .…Schließlich habe ich sie doch kirre gemacht, und meine Geduld hat sich gelohnt: bin statt auf ein Weib auf eine Jungfrau gestoßen. Haha! Ach, zum Totlachen!«
Und Failo setzte seine abscheuliche Erzählung fort.
Kortschagin konnte sich später nur schwer entsinnen, wie es gekommen war, dass er plötzlich vor Failo stand.
»Du Schweinehund!« schrie Pawel wütend.
»Wer ist ein Schweinehund, ich oder du, der fremde Gespräche belauscht?«
Anscheinend hatte Pawel noch irgend etwas geantwortet, denn Failo packte ihn plötzlich an der Brust.
»Beleidigen willst du mich auch noch?« schrie der angetrunkene Failo und versetzte Kortschagin einen Faustschlag.
Kortschagin griff nach einem Holzschemel und streckte Failo mit einem Schlag nieder. Pawel hatte keine Waffe bei sich, und nur dieser Umstand rettete Failo das Leben.
Diese Angelegenheit aber hatte zur Folge, dass Pawel an dem Tag, an dem er nach der Krim fahren sollte, vor dem Parteigericht stand.
Im Stadttheater war die gesamte Parteiorganisation versammelt. Der Vorfall in der Agitpropabteilung hatte allgemeines Aufsehen erregt, und das Gerichtsverfahren entwickelte sich zu einer heftigen Diskussion über Fragen des persönlichen Lebens. Die Probleme der neuen Lebensformen, der persönlichen Beziehungen und der Partei-Ethik drängten die zu behandelnde Sache in den Hintergrund. Der Vorfall wurde zu einem Signal. Failo benahm sich vor dem Parteigericht herausfordernd. Er lächelte frech und erklärte, dass er seine Angelegenheit dem Volksgericht übergeben und dass für seinen zerschlagenen Kopf Kortschagin noch mit Zwangsarbeit büßen werde. Die Beantwortung der an ihn gestellten Fragen lehnte er kategorisch ab.
»Ihr wollt eure Zungen auf meine Kosten wetzen? Da seid ihr auf dem Holzweg! Ihr könnt mir ja schließlich anhängen, was ihr wollt. Und wenn mich die Weiber jetzt attackieren, so geschieht das, weil ich ihnen keine Beachtung schenke. Die ganze Sache ist keinen Pfifferling wert. Wäre das im Jahre 1918 geschehen, dann hätte ich mit diesem Idioten Kortschagin auf andere Art abgerechnet. Aber jetzt wird man hier auch ohne mich auskommen können.«
Wütend verließ er den Raum.
Als Kortschagin vom Vorsitzenden ersucht wurde, über die Angelegenheit zu berichten, sprach Pawel ruhig. Man spürte jedoch, dass er sich nur mühsam beherrschte.
»Der Vorfall, um den es sich hier handelt, hat sich nur deshalb so abgespielt, weil ich mich nicht in der Hand hatte. Die Zeit ist schon längst vorbei, da ich mehr von meiner Faust als von meinem Kopf Gebrauch machte. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber ehe ich mich besann, hatte Failo eins auf den Schädel bekommen. Seit Jahren ist das der einzige Fall, wo der Partisan in mir durchgegangen ist. Ich verurteile mein Handeln, obwohl der Schlag eigentlich völlig angebracht war. Solche Leute wie Failo sind abstoßende Erscheinungen in unserem kommunistischen Leben. Ich kann es nicht begreifen und werde mich niemals damit abfinden können, dass ein Revolutionär, ein Kommunist, zugleich eine niederträchtige Bestie und ein Schuft sein kann. Dieser Vorfall hat uns dazu gebracht, die Fragen des persönlichen Lebens auf die Tagesordnung zu stellen, und das ist das einzig Positive an der ganzen Geschichte.«
Die überwiegende Mehrheit des Parteikollektivs stimmte für Failos Ausschluss aus der Partei. Gribow wurde wegen falscher Aussagen eine strenge Rüge mit Verwarnung ausgesprochen. Die übrigen, die an der Unterhaltung beteiligt gewesen waren, gestanden, wie sich alles zugetragen hatte. Ihnen wurde ein Verweis erteilt.
Bartelik berichtete über Pawels Nervenzustand, und die Versammelten protestierten stürmisch, als das Parteigericht den Vorschlag machte, Kortschagin eine Rüge zu erteilen. Der Vorschlag wurde zurückgezogen und Pawel rehabilitiert.
Einige Tage später brachte der Zug Pawel nach Charkow. Auf seine beharrliche Bitte hatte sich das Kreiskomitee der Partei damit einverstanden erklärt, ihn dem Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Man gab ihm eine gute Charakteristik mit, und er reiste ab. Einer der Sekretäre des ZK war Akim. Pawel ging zu ihm und erzählte ihm alles.
Akim las die Charakteristik. Nach den Worten »der Partei getreu ergeben« stand weiter:
»… ist diszipliniert, nur in äußerst seltenen Fällen jähzornig, kann dabei sogar seine Selbstbeherrschung verlieren. Schuld daran ist eine schwere Störung des Nervensystems.«
»Hat man sich's doch nicht verkneifen können, das in deine Charakteristik einzutragen, Pawluscha. Aber sei darüber nicht betrübt, so etwas kommt
sogar bei gesunden Menschen vor. Fahr nach dem Süden und erhol dich ordentlich. Wenn du zurückkehrst, werden wir schon besprechen, wo du arbeiten kannst.« Akim drückte ihm zum Abschied fest die Hand.

Das Sanatorium des Zentralkomitees »Kommunar«. Üppige Rosenbeete, in der Sonne glitzernde Springbrunnen, weinumrankte Gebäude mitten im Garten. Menschen in weißen Kitteln und in Badeanzügen. Eine junge Ärztin trägt die Namen der Kurgäste ein. Ein geräumiges Zimmer im Eckgebäude, blendendweiße Betten, Sauberkeit und Ruhe, die durch nichts gestört wird.
Vom Bad erfrischt und umgekleidet, ging Kortschagin ans Meer.
Überall, wohin das Auge reichte, Meer, nichts als Meer. Majestätisch und friedlich, blauschwarz wie polierter Marmor lag es da. Irgendwo im fernen himmelblauen Dunst verloren sich seine Grenzen. Wie blitzende Feuerfunken spiegelte sich die strahlende Sonne in den Wellen. Am Horizont zeichneten sich im Morgennebel die hohen Bergmassive ab. Die Brust sog die belebend frische Brise ein, und das Auge konnte sich nicht von der erhabenen Stille des blauen Meeres trennen.
Liebkosend benetzte eine leichte Welle den goldenen Meeressand und Pawels Füße.

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