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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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VII.

Wieder begann das Rennen nach dem bisschen Fressen. Die ersten Tage ging es noch, denn er hatte ja noch ein paar Mark in der Tasche gehabt. Das bisschen Kies rann aber durch die Finger wie Wasser, und bald war auch der letzte Sechser ausgegeben. Wieder musste er als Fechtbruder die Treppen rauf, die Treppen runter, musste er sich die Türen vor der Nase zuknallen lassen. Fast noch schwerer als damals bei seinem ersten Anfang fiel Thiele jetzt die Schnorrerei.
»Verdammt noch mal!« fluchte er.
Gab es denn wirklich gar keine andere Möglichkeit, das bisschen Futter herbeizuschaffen? Was zum Henker hatte er denn verbrochen, dass es ausgerechnet ihm so dreckig ergehen musste?
Manchmal stieg er vier Treppen hoch, um dann, ohne an eine einzige Tür zu klopfen, wieder herunterzuklettern. In seiner tiefen Erbitterung kam es auch vor, dass er frech wurde, nicht bat, sondern forderte. Dann wurde er angebrüllt und ihm mit der Polizei gedroht. Nur wenn er es vor Hunger nicht mehr ertragen konnte, wenn die fürchterlich dumpfe Hohlheit seines Innern ihn ganz widerstandslos machte, konnte er sich noch zum Fechten entschließen.
Zehn Tage war er jetzt schon vom »Nassen Dreieck« fort. Er wusste nicht, was aus der ganzen schrecklichen Geschichte eigentlich geworden war, nicht, was Schaler-Hermann machte.
Bei seinem einsamen Herumstromern lernte Thiele eines Tages einen neuen Leidensgefährten kennen. Das kam so. Er war gerade aus einem Parkgebüsch, wo er über Nacht geschlafen hatte, hervorgekrochen und ging nun, sich das Laub und die Erdspuren von den Kleidern klopfend, den Parkweg entlang. Es war noch in aller Frühe, kein Mensch in der Nähe zu sehen. Als Thiele um eine Ecke bog, sah er vor sich einen jungen Mann, der am Boden etwas zu suchen schien, sich dann und wann bückte, um verstohlen etwas aufzuheben. »Aha, een Kippensucher!« dachte Thiele, der selbst auch schon oft genug Zigarren- oder Zigarettenstummel aufgelesen hatte. Der Mann vor ihm hatte wohl seine Schritte gehört, denn er drehte sich jetzt um. Offenbar war er unangenehm berührt durch die Annahme, dass er bei seinem Tun beobachtet worden sei. Den harmlosen Morgenspaziergänger markierend, ging er langsam weiter und pfiff leise vor sich hin. Zweifellos wollte er Thiele an sich vorübergehen lassen, um dann ungestört weitersuchen zu können. Herangekommen, redete Thiele ihn an:
»Guten Morgen! Na - auch schon so früh auf die Beine?«
Verlegen blickte der Gefragte Thiele an und erwiderte leise den Gruß. Sie gingen jetzt nebeneinander her. Thiele sah ihn von der Seite an. Der Fremde war noch jung, höchstens 27 Jahre alt. Er sah blass und mager aus, machte aber sonst keinen verlotterten Eindruck. Seine Kleidung war noch gut erhalten, obwohl man es ihr ansah, dass der Träger die Nacht über darin geschlafen hatte. Nach diesen unauffälligen Feststellungen nahm Thiele das Gespräch wieder auf.
»Sie haben wohl auch keine Bleibe? Haben wahrscheinlich auch draußen kampiert?«
Eine tiefe Röte überzog das Gesicht des Befragten. Schnell wandte er sich Thiele zu und erwiderte erregt:
»Ja doch - ich habe eine Wohnung!«
Dann, nach sekundenlanger Pause, fuhr er fort: »Aber, nun - ich habe keine Wohnung!«
Und, als ob er Angst hätte, dass Thiele ihn falsch einschätzen könnte, fügte er rasch noch hinzu:
»Ich bin aber ein anständiger Mensch - kein
Strolch-, nur durch die wirtschaftlichen Verhältnisse - na, Sie werden ja wissen und verstehen... «
Thiele lachte: »Ja, mein Lieber, warum sollen Sie denn kein anständiger Mensch sein? Nur, weil Sie keine Wohnung haben? Das ist nun mal so. Sicher gibt es sehr viele, die ein Dach, oft ein prunkhaftes Dach über dem Kopfe haben und doch - - -Schweine sind, nicht eine Spur von anständiger Gesinnung in höherem Sinne besitzen, -... oder ist es nicht so?«
Mit einem stummen Kopfnicken bestätigte der Gefragte die Richtigkeit dieser Feststellung. Allmählich taute er auf und erzählte.
Er hieß Franz Kaufmann und war Buchhalter. Die Firma, bei der er mehrere Jahre tätig gewesen war, hatte Konkurs gemacht. Er lag auf der Straße. Seine Eltern lebten in der Provinz. Die hatten selbst schwer zu ringen, um durchzukommen. Solange er Stellung hatte, schickte er ihnen jeden Monat ein paar Mark. Zu denen konnte er also nicht. Aus der »ALU« und dann schließlich auch aus der »KRU« ausgesteuert, hatte er sein Zimmer nicht länger halten können und war nun ohne Quartier. Seit einigen Tagen trieb er sich so herum.
Während Thiele teilnahmsvoll zuhörte, zählte er unauffällig seine letzten paar Pfennige in der Hosentasche durch. Dann lud er seinen Begleiter ein, einen Kaffee mit ihm zu trinken. Sie gingen in eine kleine Kellerkneipe.
Den ganzen Tag über blieben sie zusammen.
Thiele ging in einige Häuser, um etwas zum »Abkochen« anzuschaffen, während der andere vor den Haustüren in der Nähe wartete. Abends gingen sie zum Wedding hinaus. In der Nähe des »Nassen Dreieck« stellte sich Thiele in eine Toreinfahrt, seinen Begleiter schickte er hinüber. Als dieser zögernd die Tür zu dem Saftladen öffnete, schlug ihm ein dicker Dunst entgegen. Zaghaft trat er ein und fragte höflich einen ihm am nächsten stehenden jungen Kerl nach »Herrn Albert Stern«.
»Jeh mal hinter, da wird er woll sin«, wies der ihn zurecht.
Stern saß mit dem Zahmen Willi und einigen anderen beim Kartenspiel. Als Kaufmann auf ihn zutrat, schaute er misstrauisch auf und grunzte: »Nu-u-u?«
»Ich habe Ihnen eine Mitteilung von Herrn Thiele zu überbringen.«
Mit einem Schlage änderte sich des Dicken Stern
Benehmen. »Ach so-------«, sagte er erfreut, erhob
sich und trat mit dem Fremden etwas zur Seite. Als er erfuhr, dass Thiele draußen wartete, ging er mit hinaus.
Thiele stand drüben in der Hauseinfahrt und beobachtete gespannt den Eingang des »Nassen Dreieck«. Als er seinen neuen Bekannten mit Stern heraustreten sah, atmete er etwas erleichtert auf. Im stillen befürchtete er aber doch, jetzt zu hören, dass er polizeilich gesucht würde.
Stern grinste über das ganze Gesicht, als er Thiele bemerkte. Schon von weitem winkte er. Herangekommen, sagte er: »Na, oller Junge, wie geht's? Kannst ruhig kommen, allet ollreit! Keen Hahn hat jekreht ieber det Faktum. Komm man mit rieber... «
Thiele strahlte: »Mensch, Albert, wie ick mir freie! Wenn't bloß alles jut abjeht...«, zweifelte er dann aber doch.
Wieder der alte Trott. Nachdem Thieles neuer Bekannter seinen ersten Widerwillen gegen das ihm völlig fremde Milieu überwunden hatte, fühlte er sich im »Nassen Dreieck« ganz wohl. Die Menschen dort waren ja im großen und ganzen sehr kameradschaftlich. In der ersten Zeit nahm Thiele ihn unter seine Fittiche und futterte ihn mit durch. Zum Fechten besaß er kein Talent. Dazu war er überhaupt viel zu schüchtern. Dafür aber machte er sich in anderer Weise nützlich. Muttchen ließ sich gelegentlich die Steuerbücher von ihm führen oder sonstige schriftliche Arbeiten verrichten, und als die Gäste des »Nassen Dreieck« erst wussten, dass er hervorragend zu »fackeln« verstand, hatte er genügend zu tun, Gesuche oder Bettelbriefe und sonstige »Flebben« für sie zu schreiben. Als Entschädigung für seine Tätigkeit bekam er Stullen, Bier, Schnaps, auch Zigaretten. Auch ein Spitzname wurde ihm bald angehängt. Bei den Gästen des »Nassen Dreieck« hieß er nur noch »Fackler«.
Er verstand es ausgezeichnet, sich alle Gäste zum Freund zu machen. Besonders bei den Frauen, mit denen er meistens zusammenhockte, »lag er dick drin«. Er war sozusagen »Hahn im Korbe« bei ihnen.
Vor einiger Zeit war im »Nassen Dreieck« eine neue Frau aufgetaucht. Eines Tages war sie so »hereingeschneit«. Niemand wusste, woher sie kam.
Schätzungsweise gegen die Dreißig, sah sie noch verhältnismäßig frisch und unverbraucht aus. Sie passte nur wenig zu den heruntergekommenen weiblichen Stammgästen, obwohl sie sich in der Kleidung nicht von ihnen unterschied. Ihr fehlte dieses so unendlich Müde und Zertretene, das alle diese Frauen mit sich herumtrugen. Die auffallende Blässe ihres einnehmenden Gesichts wurde noch betont durch die pechschwarze Farbe ihres vollen Haars, das ihr schnell den Spitznamen »Schwarze Minna« verschaffte. Man wusste von ihr nur, dass sie »Hof«-Sängerin war und in der Nähe eine Schlafstelle hatte. Daneben hatte sie ein paar Stellen, wo sie reinemachte. Die Stunde für fünf Groschen.
Mit den Nerven der Schwarzen Minna schien nicht alles in Ordnung zu sein. Bei der geringsten Kleinigkeit schreckte sie zusammen, flackerte es in ihren Augen ängstlich auf. Sie hielt sich abseits von den übrigen, trank für sich allein, manchmal wie ein Kutscher!
Wilhelm Thiele war sie schon des öfteren aufgefallen. Als er eines Abends von der Fahrt zurückkam, fand er sie mit der Einäugigen zusammensitzend. Er trat zu ihnen an den Tisch. Die Schwarze hörte auf zu sprechen und blickte ihn an. Donnerwetter, dachte er, hat die aber schöne Augen!
Er setzte sich neben sie. Nach und nach kamen auch der Zahme, der Dicke Stern und der Fackler. Auch diese nahmen am Tische Platz.
Alle hörten aufmerksam zu, was der Zahme erzählte. Der gebärdete sich ganz aufgeregt und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
»- wir stehn also da vor't Schaufenster und kieken, - mit eenmal dreht sich der Dickbalch um, reißt de Klappe uff un brüllt, seine Brieftasche sei wech. In'n selben Oogenblick schnappt 'a mia -wat soll ick eich sagen - bei't Handgelenk un hält fest. Und dann fängt er an, uff mia inzuschrein -aber janz laut, sage ick eich: >Der Mann hat mir meine Brieftasche gestohlen. Polizei!!!< «
Die Einäugige war blass geworden und schaute angstvoll auf den Zahmen. Dieser fuhr fort:
»Also stellt eich det bloß vor! Ick denke, ick höre nich richtig, ick will mir jrade so'ne Beleidijung va-bitten, da hat mia schon eener bein Kanthaken un - ruff uff de Wache. Oben jing det Theata nu erst richtig los. Der Volljefressene behauptete steif un fest, ick hätte ihn de Brieftasche >Jemacht<. Na, Williken, denke ick bei mia, det kann ja scheen wern'n!«
Der Zahme unterbrach sich, um sich durch einen Kuhschluck zu stärken. Seine Käthe hatte rote Flecken im Gesicht und wusste vor Aufregung nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Der Dicke Stern hustete vielsagend und dehnte wohlig seinen massiven Korpus. Die Schwarze Minna war ganz dicht an Thiele herangerückt und legte ihre Hand wie in Gedanken auf seinen Arm. Er tat, als bemerkte er es gar nicht. Dem Fackler war vor lauter Spannung die Zigarette ausgegangen, schnell steckte er sie wieder an. Der Zahme erzählte nun weiter:
»Also wie jesaacht, der Kerl behauptete, ick hätte seine Brieftasche. Nu wurde mia die Sache doch zu deemlich, un ick schlug Krach. Et half aber nischt. Schließlich krempelten se mia alle Taschen um - konnten aber nischt find'n. Der Dickwanst wa platt. Jetzt wurde ick aber kröötisch un saachte zu det dicke Schwein: Ick werde Sie wejen Beleidijung vaklagen - sehe ick aus wie'n Taschenkrebs, he? Un ieberhaupt: so mir nischt dir nischt eenen fremden Menschen vadächtigen - Sie —, wat denken Sie sich eejentlich? Wer weeß, ob Sie ieberhaupt eene Brieftasche gejabt ha'm! - Ooch die Schutzleute sahen den Dicken jetzt so eejenartig an. Den wurde det unbequem, er kriegte eenen roten Kopp, kloppte sich uff die Arschtasche und schrie: Hier ist sie drin gewesen! Mit eenmal wird er keeseweiß, fängt an se stottern und wird janz kleen. Tja - was ist denn das? ruft er astaunt un, ick denke, mia laust een Affe, holt de Brieftasche hinten raus —— det Schwein!«
Aufrichtig waren alle Hörer über den Dicken empört. Die Einäugige lächelte jetzt beruhigt; der Dicke Stern warf ein: »Na, un du? Hast'n denn eene vor'n Latz jeknallt?«
»Immer abwarten und denn Tee drinken«, erwiderte überlegen der Zahme. »Det dicke Ende kommt erst noch! Jetzt wurde ick keß, sage ick eich, un ooch die Blauen hatten eene Wut uff den Dicken. Also ick valangte, det sofort Anzeije wejen
Beleidijung jemacht wurde. Na, da konntet ihr wat eleb'ne. Der Dickkopp kriegt et mit de Angst zu dun -, mit eenmal wa ick sein Lieber Herr. Also: Mein lieber Herr, saachte er zu mia, nehmen Sie mir das nicht übel, und zieht eene dicke Patte aus de Tasche un legt een Zehnmarkschein vor mia uff den Disch. Da, als Entschädigung! saachte der Lump. Nee, sage ick, ick valange mein jutet Recht, weiter will ick nischt ha'm! - Da zieht er noch eenen Zehner raus und legt'n daneben. Nee! sage ick wieder, woll'n doch mal sehn, ob Sie enen anstend-jen Mann so beleidjen dirfen. - Da nimmt er die beiden Zehner wieder zurück un holt een Fuffziger raus. Ick sehe den Lappen vor mia liejen - janz jrien wird ma vor de Oogen. Donnerlitzken, denke ick, so ville Jeld - wat kann man da nich allens for
koffen: Futterage, Schnaps, un - un der da-------
(er zeigte auf die Einäugige, die erwartungsvoll über das ganze Gesicht strahlte), der da wat Schee-net koofen. Jut, sage ick, ick bin invastanden un will nu det Jeld nehmen. Plötzlich, da werde ick -- - munter un merke, det allens bloß een Traum war. Ik habe mia direkt jeärgert, sage ick eich!... «
Alle Zuhörer lachten laut los. Der Zahme lachte befriedigt mit. Mit vor Lachen nassen Augen blickte Thiele auf die Schwarzhaarige und bemerkte, dass sie allein ernst geblieben war.
»Nanu«, fragte er sie besorgt, »ist dir was?«
Sie zog ihre Hand zurück, sah ihn an und sagte: »Nein, mir ist gar nichts, bloß - die Geschichte gefällt mir nicht!«
»Wieso nich?« fragte er zurück.
»Weil sie bloß geträumt war... «
Der Fackler war nach und nach ein Stück Vertrauensmann von Muttchen geworden. Oft saß er mit ihr in dem Zimmer, dessen Tür durch die Aufschrift: »Privat« für alle übrigen Gäste gesperrt war. Wenn Muttchen jetzt mit Thiele sprechen musste, blickte sie an ihm vorbei. Es war ihr unbequem.
Wilhelm Thiele machte sich nichts daraus. Er saß viel mit der Schwarzen Minna zusammen. Abends gingen beide oft spazieren. Der Dicke Stern machte seine Glossen darüber.
Jetzt machte sich die Sonnenhitze bereits unangenehm bemerkbar. Die Bäume waren längst grün geworden. Durch die staubigen Straßen fuhren die Sprengautos und milderten ein wenig die stickige Glut, die von dem dampfenden Asphalt zurückgestrahlt wurde. Der Himmel war vor lauter Hitze ohne Farbe. In einem leuchtenden Dunst war er über der Riesenstadt ausgespannt. Träge und matt schlichen die Menschen dahin...
Thiele schlenderte durch die Anlagen, in denen alle Bänke dicht besetzt waren. Er bekam plötzlich eine heiße Sehnsucht nach Wald, nach Wasser und Wiese. Fühlte förmlich den Kieferngeruch in seine Nase steigen, sehnte sich nach wuchernden Hecken und frech herumspringenden Eichhörnchen. Mit einemmal erinnerte er sich an jenen Spaziergang, den er einen Tag vor der Katastrophe beim Kupferdiebstahl mit dem alten Schaler-Hermann und diesem Pechvogel, der Kalten Hand, unternommen hatte - überhaupt, was mochte der Alte jetzt wohl machen? Er hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Thiele beschloss, ihn aufzusuchen.
Auf der Lumpenstampfe erfuhr er, was er nicht erwartet hatte. Das furchtbare Unglück war dem alten »Naturforscher« so auf die Nieren gegangen, dass er anfing zu kränkeln. Als Unheilbarer kam er bald darauf ins Siechenhaus, nach der Fröbelstraße, wo er einige Wochen später gestorben war.
Traurig ging Thiele von dannen. Er hatte vor seinen Augen den Hermann - nicht den alten, sondeern den Hermann als Kind, der mit heraushängender Zunge neben der Pferdebahn herlief, in der seine Mutter vom Besingepflücken heimwärts fuhr.
Wenn Thiele mitunter Glück gehabt und etwas Geld verdient oder »geerbt« hatte, brachte er der Schwarzhaarigen, in die er verschossen war, kleine Geschenke mit. Einmal gingen sie zusammen in ein Vorstadtkino. Im Dunkeln nahm er ganz vorsichtig ihre Hand und streichelte diese. Leise lehnte sie darauf ihren Kopf an seine Schulter und summte verträumt die Melodie mit, die der Klavier-Spieler aus seinem verstimmten Klimperkasten heraustrommelte. Nach der Vorstellung suchten sie einen Park auf und setzten sich dort eng aneinandergerückt auf eine Bank. Artig und lieb wie zwei Kinder hielten sie gegenseitig ihre Hände gefasst und schauten sich lächelnd an. Die Minna lehnte ihren Kopf nach hinten über und sah träumerisch zum nächtlichen Himmel empor, der sich über ihnen in einem tiefen ruhigen Schwarzviolett dehnte.
»Ach, die vielen, vielen Sterne - wie sie flimmern und funkeln, so mächtig viel -, die kann kein Mensch zählen... det sieht fast aus, als ob sie uns zuwinkten - wie schön das ist! Weißt du, Wilhelm, so könnte ich mit dir sitzen immerzu - nich an morgen und nich an übermorgen denken-, bloß still dasitzen und jar nich denken.«
Heftig drückte Thiele ihre Hand und schaute sie forschend an.
»Sag mal, - haste nich auch manchmal den Wunsch, - ich meine so das Verlangen, dir einen Menschen jejenüber so richtig auszusprechen, so janz rückhaltlos, - damit man nich immer alles so alleine mit sich rumtragen muss?« fragte die Schwarze ihn leise.
Er zog sie fest an sich und sagte herzlich:
»Ich kann das janz gut verstehen, Minna!«
Ermutigt begann sie von neuem:
»Wie ich damals dazu kam, das kann ick jar nicht allens erzählen, et ist 'n janzer Roman - - - Ich wohnte, als ich det machte, bei 'ner Frau, die einen Schlafburschen hatte. Pulverkopp nannten ihn alle. Er hatte keine Arbeit, ging aber gut angezogen, und Geld hatte er auch immer. Als ich mal todmüde nach Hause kam, traf ich ihn vor der Haustür. Na, Minna, sagte er zu mir so ganz treuherzig. Wie geht es dir denn?, und fragte mir nach meine Gesundheit und so, bis wir richtig in't Gespräch kommen, dann geht er mit mir nach oben. Ich koche Kaffee, und er holt aus seiner Stube Brot - et war alles so jemütlich. Die Nacht jing er nich mehr raus aus mein Zimmer.
'n andern Tag, als ich kam, lag er schon in mein Bett. Ick musste ja lachen über den frechen Kerl -was sollte ick auch machen? Ick war eijentlich janz froh, dass er da war, det ick einen Menschen um mir hatte, immer so alleine...
Ich verdiente für beide jenug. Aber nach een paar Wochen, da wurde er janz anders - so richtig jemein wurde er. Jeschlagen hat er mir, wenn ick nich genug brachte. Da habe ick manchmal vor mir hingeschluchzt. Wenn ick nur een Wort sagte, schlug er los, er war fürchterlich grob. Na, ick habe mir auch an die Prüjel gewöhnt, denn wenn ick mir nich daran jewöhnt hätte, wär's jar nicht jejangen.
Manchmal schlug er den Tag een paar Mal auf mir ein, - dann jing er los, und wenn er wiederkam, haute er wieder los.
Einen Abend regnete es mächtig, und det Jeschäft jing schlecht. Da lief ick zu ihm in die Kneipe. Als ick an seinen Tisch komme, wo er Karten spielte, brüllte er mir an: >Raus! Hier sitzen -is nich... < Ich will nur ein Wort sagen, - da schmeißt er een Bierglas nach mir. Warte, du Aas,
sagte er, wenn ick nach Hause komme--------Ich
war schon so müde, det ick kaum noch konnte, nass gemacht hatte ick mir vor lauter Angst. Als er dann nach Hause kam, nahm er mir unter seine Füße...«
Thiele zitterte vor Empörung und Mitgefühl. Teilnahmsvoll drückte er der Schwarzen Minna die Hand.
»Ick habe nie einen Menschen denunziert, aber nach dieser viehischen Misshandlung jing ich am anderen Tag zum Alex.
Als die Polizei kam, schon janz früh um fünf Uhr, war ick nich zu Hause. An der Ecke habe ick in einen Hausflur jestanden und habe jesehen, wie sie ihn rausjebracht, - jeknebelt. Da habe ich doch wieder Angst um ihn gekriegt und bin am andern Tag zum Polizeipräsidium jejangen. Ick wollte alles wieder zurücknehmen, alles widerrufen. Aber die haben jesagt: Das kennen wir schon.
Auch bei die Jerichtsverhandlung wollte ick ihn entlasten, aber es war alles umsonst: Er hatte schon mal wejen Zuhälterei jesessen.«
Thiele fühlte das Bedürfnis, der Frau neben sich etwas Gutes zu sagen: »Na, Minna, paß mal auf, -wie schön das noch alles wird, - wenn die Zeiten erst mal wieder besser sind und ich Arbeit habe. Wir mieten uns dann Stube und Küche, und ich kaufe dir einen weißen Küchenschrank. Und wenn ich morjens nach Arbeit jehe, dann winkst du mir vom Fenster nach, - und wenn ich abends komme, - hast du alles schön sauber jemacht, und das Essen steht auf dem Tisch. Minneken, wenn ich mir das vorstelle-------das wird ein Leben!!!«

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