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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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XVI.

In den letzten Tagen vor Weihnachten hatte Thiele sich wieder ein bisschen zusammengenommen und handelte auf dem Weihnachtsmarkt am Weddingplatz mit Nusshaltern und Lametta. Der Jesusgreifer hatte ihm ein paar Groschen gepumpt, damit er den Flitterkram bei dem Grossisten in der Kleinen Frankfurter Straße einkaufen konnte. Der Markt war förmlich überschwemmt von Männern, Frauen und Kindern, die sich alle in gleicher oder auf ähnliche Weise ein wenig Weihnachtsgeld machen wollten. Leider waren die Käufer für derartige Dinge sehr rar. Die meisten Leute hatten den Putzkram noch vom Vorjahre in irgendeinem Pappkarton, und dann: wer hatte denn heute überhaupt noch die fünf Silbergroschen für'n Baum übrig?
Thieles aber machten sich einen »Boom«. Ihres Kindes wegen. An den Weihnachtsbaum-Verkaufsständen hatte Thiele einen Arm voll Tannenäste aufgesammelt, die er zu Hause in den mit Bohrlöchern versehenen Besenstiel einsetzte. Das nicht verkaufte Lametta wurde darüber gehängt. Damit war die Pracht vollendet. Billig. - aber -na ja!
Am Heiligabend kam der Jesusgreifer, um die Minna zur Bescherung eines frommen Vereins mitzunehmen. Sie brachte eine Tüte nach Hause. Drei blankgeputzte Äpfel, zwanzig Nüsse und ein Stück Pfefferkuchen mit einem Kreuz aus Zuckerguss waren darin. Außerdem hatte sie noch ein Paketchen erhalten. Erst zu Hause, in ihres Mannes Gegenwart, öffnete sie es mit gespannter Miene: ein Paar baumwollene Socken und - ein Gebetbuch kamen zum Vorschein. Während Thiele nüsseknackend in dem Buch herumblätterte, grunzte er boshaft:
»Een Eisbeen mit Sauerkohl wär mir entschieden lieber jewesen!«
Minna rügte seine Bemerkung und sagte, er solle zufrieden sein, dass sie überhaupt etwas erhalten hätten: denn schließlich waren die Leute doch nicht verpflichtet, ihnen Geschenke zu geben...
Nach dem Fest war es aber auch rein »zappendüster« mit dem Verdienen. Die Feiertage hatten die letzten Sechser und Groschen aus den Taschen der Leute herausgeholt. Die paar Menschen, die noch Arbeit hatten, bekamen in der Woche nach Weihnachten weniger an Lohn heraus, weil ja die Feiertage abgingen, und mussten nun selbst zusehen, wie sie sich durchhungerten.
Pünktlich am ersten Januar brachte der Jesusgreifer seine acht Mark Miete für die Küche zu Thiele. Dieser aber brachte das Geld nicht zum Verwalter rauf.
»Schließlich kommt erst det Fressen un denn de Miete!« sagte Thiele kurz zu sich selbst, holte einen Zentner Kohlen und gab das übrige Geld Minna zum Verbrauch.
Mochte der Verwalter warten, ein paar Monate waren sie sowieso schon mit ihrer Miete im Rückstand. Da kam es auf einen Monat mehr nicht an!
Im Laufe des Monats aber kam der Verwalter zu Thieles und drohte energisch mit Exmission. Die Minna lief den ganzen Tag mit dickverweinten Augen herum. Thiele aber hatte den Balg voll Wut und raste durch die Straßen. Als er sich müde gerannt hatte, setzte er sich auf eine vereiste Bank im Kirchenpark. Lange hockte er so da, ohne sich zu rühren. Ein vorbeipatrouillierender Schupobeamter sah aufmerksam hin nach ihm, dann ging er weiter bis zur Ecke, wo er sich wieder nach Thiele umsah. Schließlich machte er kehrt, ging auf die Bank zu und blieb vor Thiele stehen.
»Sie werden sich hier den Tod holen, - gehen Sie lieber nach Hause!« sagte der Beamte nicht unfreundlich zu dem frierend Dasitzenden.
Seit dem niederträchtigen Hieb mit dem Gummiknüppel über die Schulter litt Thiele an einer Art von »Blaukoller«, - er konnte keine Schupouniform mehr riechen, geschweige denn sehen, ohne dass ihm übel wurde vor Groll. Er gab dem Beamten gar keine Antwort, stand mühsam auf und trottete davon.
Wenn man ihn so hinschaukeln sah, hätte man glauben können, einen gebrechlichen, müden Greis zu erblicken. Wie ein alter Zarengeneral mit hervorstehenden krummen Knien, die schlaff herabhängenden Arme bis zu den Ellenbogen in die Hosentaschen versackt, den Buckel haltlos gekrümmt, so torkelte er stumpfsinnig dahin. Sah nicht nach rechts oder links, sondern hielt den Blick ständig auf den Boden gerichtet. Wilhelm Thiele schleppte seinen müden Körper schwankend über den Bürgersteig. Automatisch, wie aufgezogen bewegte er die Beine, Schritt, Schritt. Bei jedem Tritt in den Schneematsch spritzte das Wasser unter seinen zerfetzten Schuhsohlen hervor, er bemerkte es aber gar nicht. Jede seiner Bewegungen hatte etwas unbeschreiblich Schwerfälliges, Ausgestorbenes. In seinen stierblickenden Augen war alles leer.
Ohne die Stullen, die Minna jetzt täglich von ihrer Fahrt nach Hause brachte, hätten Thieles überhaupt nicht mehr gewusst, wovon sie leben sollten. Minna sprach nie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf diesen demütigenden Betteltouren. Er selbst war aber schon viel zu wurstig geworden, um sie darüber zu befragen. Dabei fühlte er mitunter sehr wohl, wie sie unter dieser seiner Teilnahmslosigkeit litt. Dann riss er sich doch wieder etwas zusammen, fasste neue Entschlüsse, lief rüber nach Charlottenburg, nach Spandau und klapperte wie früher Haus für Haus ab. Er musste unbedingt versuchen, ein paar Mark Miete zusammenzuschnorren, um den Hausverwalter wenigstens vorläufig ein wenig zu beruhigen und so das drohende Rausgeschmissen-Werden hinauszuschieben. Thiele war aber körperlich schon zu sehr heruntergekommen, um das mühselige Treppensteigen lange auszuhalten. Oft war er nahe am Zusammenbrechen. In einem solchen Augenblick akuten Schwächeanfalls passierte es ihm, dass es ihm auf der Treppe eines fremden Hauses plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Alles schien sich um ihn zu drehen. Ehe er sich noch am Geländer anklammern konnte, kippte er aus den Latschen und stürzte hintenüber die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz blieb er liegen. Hausbewohner waren durch das Gepolter aufmerksam geworden und kamen aus den Wohnungen herausgestürzt, um zu sehen, was passiert sei. Alle bemühten sich hilfsbereit um den fremden Mann, der da bewusstlos lag. Als sie sahen, dass es offensichtlich ein vor Hunger zusammengebrochener Bettler war, holten einige rasch heißen Kaffee und Stullen.
Thiele hatte sich wieder etwas erholt. Als er sich aufzustehen bemühte, bemerkte er, dass er sich beim Sturz den Fuß abgeschrammt hatte. Er bedankte sich bei den Leuten für ihre freundliche Hilfe und humpelte dann unter ziemlichen Schmerzen im Fußgelenk davon. Unterwegs zählte er die paar Sechser durch, die man ihm mitleidig in die Hand gedrückt hatte: es waren dreißig Pfennige!
Thiele dachte nach. Man musste also tatsächlich erst vor Hunger umkippen, bevor die Leute, von Mitleid gepackt, einen Sechser herausrückten. Solange man krauchen konnte, wenn auch bloß auf allen vieren, war's gut, hielten die Menschen ihre Taschen fest zu. Konnten sie ihr Mitleid noch aufsparen. Das sollte ihm eine Lehre sein!
Von diesem Tag an kippte Wilhelm Thiele oft um. Der Selbsterhaltungstrieb machte ihn zum Schauspieler. Leicht wurde ihm das wahrhaftig nicht, so abgebrüht und dickfellig er auch schon geworden war. Wenn er aber scheinbar so hilflos dalag und die Frauen sich um ihn mit Ausdrücken echten Bedauerns bemühten, hätte er vor Scham am liebsten ersticken mögen. Er ekelte sich vor sich selbst. Und trotzdem: Er machte doch dies alles nur, um nicht tatsächlich vor Hunger umfallen zu müssen. Gewiss wars eine Gemeinheit, die er beging.
Das Leben selbst war doch noch unendlich viel gemeiner, schamloser und brutaler mit ihm ungesprungen, hatte sich so schweinisch gegen ihn benommen, dass man selbst langsam zum Schwein geworden war.
Die paar Pimperlinge, die er den Leuten auf diese Weise abnahm, verdiente er eigentlich noch viel zu schwer, viel zu umständlich.
Wilhelm Thiele erlangte durch die ständige Wiederholung seiner simulierten Schwächeanfälle bald Routine. Diese Methode fing an, verhältnismäßig einträglich zu werden. Es waren fette Tage für die Thieles gekommen. Nicht nur Brot, nein, auch einige Groschen Bargeld brachte er jeden Tag heim. Die Minna zerbrach sich im stillen den Kopf, wie er es bloß fertig brachte, ihr Tag für Tag beinahe bis zu einer ganzen Mark auf den Tisch zu legen. Er erzählte ihr über seinen Trick kein Sterbenswörtchen.
Thiele trank jetzt nicht mehr. Er hielt die Groschen zusammen und brachte es sogar fertig, einige Mark zum Verwalter hinauftragen zu können.
Die Gastwirtschaft »Zur Weissen Taube« war eröffnet worden. Im frischen Glanze der hellen Farben waren die Wände und die La...

(hier fehlt im Original-Manuskript ein Stück/abgerissen/.)

...Vom Dicken Stern-Albert hatten Thieles kein einziges Lebenszeichen mehr bekommen oder vernommen. Er war und blieb spurlos verschwunden. Thiele konnte sich denken, wo der wohl sein könnte. Er erinnerte sich an Sterns Anspielungen, damals, nicht lange vor seinem Untertauchen. Sicher hockte er jetzt als reumütig heimgekehrter Sünder bei seiner überfetten »Altsche« im Kaffee. Wie er sich da wohl so fühlte? dachte Thiele.
Einmal führte ihn sein Weg in jene Gegend. Ohne den Mut, das Kaffee zu betreten, ging Thiele ein paar Mal an dem Lokal vorbei. Schließlich blieb er vor dem einen der Schaufenster stehen und versuchte, ins Innere zu spähen. Drinnen war's dunkel, er konnte nichts Genaues erkennen. Er glaubte aber doch, hinten in einer molligen Ecke eine dicke Gestalt zu sehen, die mit seinem früheren Intimus, Albert Stern, eine ganz verteufelte Ähnlichkeit hatte. Als Thiele dann vor der Eingangstür überlegte, ob er mal hineingehen solle oder nicht, entdeckte er plötzlich an der unteren Türhälfte ein Schild, ein kleines grauweißes Schild, wie er ähnliche schon tausendmal an anderen Türen gesehen hatte. Er brauchte erst gar nicht genauer hinzusehen; denn die Aufschrift kannte er auswendig:
»Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Bettelei.«
Thiele nickte ein halbes Dutzend Mal wie zur Bestätigung mit dem Kopf. Nachdenklich ging er dann langsam weiter. Der große Unterschied zwischen einem Albert Stern und einem Wilhelm Thiele wurde ihm klar.
Nicht die Not, sondern ein unwiderstehlicher Drang nach persönlicher Ungebundenheit, nach eigenwilliger Lebensgestaltung hatte Stern veranlasst, vielleicht auch gezwungen, der sorglosen Bequemlichkeit eines eigenen Heims zu entfliehen. Dafür hatte er das überaus entbehrungsreiche Leben eines »besseren« Penners, eines so genannten »Keller-Kavaliers« auf sich genommen. Da war es leicht, selbst in den misslichsten Lagen sich seinen Humor zu bewahren und alle Beschwerden mit philosophischem Phlegma zu ertragen. Die Rückkehr zu den vollen Fleischtöpfen in der Mittelstraße war ja jederzeit ganz in sein Belieben gestellt. Mochte alles kommen, wie es wollte: er blieb doch immer Herr der Lage und gewissermaßen, mit Einschränkungen, auch Herr im eigenen Hause!
Wie anders aber sah es mit ihm selbst, mit Wilhelm Thiele aus?! Ganz gegen seinen Willen, nur dem furchtbaren Druck der Verhältnisse nachgebend, war er so geworden, wie er jetzt war. Für ihn gab es kein Zurück, so überaus gern er es auch gewollt hätte, kein Voran, nur ein Abwärts, immer tiefer in Schmutz und Schlamm, in Mist und Jauche hinein. Weder rechts noch links konnte er den Dreckpfützen ausweichen. Mitten hindurch musste er. Und eines Tages wird es soweit sein. Lang liegt er dann in der Jauche, alle viere von sich gestreckt.
Dieses Ende konnte nicht mehr fern sein! Er fühlte es von Tag zu Tag näher heranrücken. Hielt er sich doch schon jetzt nur noch durch gemeinsten Betrug, durch infamste Vortäuschung von mitleiderregenden Schwächeanfällen notdürftig hoch.
Vom Wohlfahrtsamt hatten sie endlich die Mitteilung erhalten, dass sie die paar Klamotten der verstorbenen Frau Kneschke widerruflich bis auf weiteres benutzen dürften. Thieles freuten sich nicht einmal mehr darüber. Auch damit wurde das drohend bevorstehende Ende, die fast schon zur Gewissheit werdende Katastrophe nicht abgewendet, sondern etwas hinausgezögert. Solche Fürsorgemaßnahmen machten den Kohl, der nicht da war, nicht fett.
Das Kind machte ihnen immer größere Kopfschmerzen. Das arme Wurm konnte nicht leben und nicht sterben. Seine Entwicklung war völlig ins Stocken geraten. Es kränkelte fortgesetzt, hatte immer fieberheiße Händchen und röchelte schwer. Wie die vermeckerte kleine Frau des Jesusgreifers weise bemerkte, war das bei Kindern, die die Schwindsucht hatten, immer so.
»Weeßte, Willem«, sagte Minna zu ihrem Mann, »et wär doch bessa jewesen, man hätte det damals anders jemacht, hätte det Wurm janich uff de Welt komme lassen soll'n.« Kaum aber waren ihr diese Worte entschlüpft, bekam sie einen knallroten Kopf, sie schämte sich schrecklich, weil sie glaubte, eine herzlose Mutter zu sein. Thiele brummte unverständlich etwas vor sich hin.
Für die Aufführung seiner simulierten Anfälle suchte sich Thiele immer wieder andere Stadtteile aus. Jetzt graste er gerade die Pankower Gegend ab. Als er in einem Hause der Florastraße die Treppe emporkletterte, bemerkte er in der zweiten Etage, wie die Tür zu einer Wohnung halboffen stand. An der auf dem Korridor stehenden Flurgarderobe, die er im Vorbeigehen sehen konnte, hingen mehrere Kleidungsstücke. Er dachte sich gar nichts weiter dabei, sondern stieg weiter hinauf und klopfte dort an die Türen. Wieder in der zweiten Etage angelangt, sah er, dass die Tür noch immer, genau wie vorher, offen stand. Er hatte das schon vergessen gehabt. Sein Herz fing plötzlich an, ganz rasend zu klopfen. Kochend heiß stieg ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, in ihm auf. Er war sich auch nicht klar darüber, warum er gerade auf diese offene Tür, die doch von seinem augenblicklichen Standpunkt am entferntesten lag, zuging und an der Klingel riss. In der Wohnung rührte sich trotz des lauten Klingeins nichts. Niemand kam, um nach seinen Wünschen zu fragen. Er klingelte nochmals, wieder vergebens.
Neugierig schob er den Kopf durch die halboffene Tür und blickte sich auf dem Korridor um. Er sah wieder die Kleider an den Haken der Flurgarderobe hängen. Fast in Reichweite! Er brauchte nur den Arm auszustrecken, dann konnte er sie berühren. Mit zitterndem Körper ging er zurück ans Geländer und lauschte angespannt nach unten und oben. Auf der Treppe war es mäuschenstill. Er setzte den Fuß auf die abwärtsführende nächste Stufe, um die Treppe hinabzugehen, da zog er ihn mechanisch, fast unbewusst, wieder zurück. Nochmals spähte er verstohlen in den Korridor hinein. Unter den Kleiderstücken, die da in so verführerisch greifbarer Nähe hingen, erkannte er einen Paletot, ein Ding, das er gerade jetzt im Winter so überaus nötig gebrauchte. Er brauchte ihn nur nehmen. In ihm wurde es ganz ruhig. Dann fasste Wilhelm Thiele zu. Der Aufhänger des Mantels wollte nicht sogleich über den Knopf des Hakens rutschen, hatte sich wohl etwas verdreht. Thiele riss, da hatte er den Mantel in der Hand.
Im gleichen Augenblick überkam ihn eine wahnsinnige Angst. Am liebsten hätte er das Kleidungsstück wieder in die Wohnung geschleudert und wäre davongelaufen. Seine Finger hielten aber die Beute fest, sie wollten den Raub nicht wieder herausgeben. Fort! So rasch wie möglich. Beim Heruntereilen rollte er den Mantel zusammen und klemmte ihn unter den Arm. In seiner Hast wäre Thiele an der Haustür beinahe mit einer Frau zusammengeprallt, die, ein großes Einholenetz in der Hand, gerade den Hausflur betreten wollte. Einen derben Schreck hatte er bekommen. Die Frau sah ihn misstrauisch an. Hastig riss er die Haustür auf und ging eilend über den Damm nach der andern Straßenseite hinüber.
Der Frau aber schwante nichts Gutes. Der zerlumpte Kerl mit dem Kleidungsstück unterm Arm kam ihr stark verdächtig vor. Wenn der bloß nicht etwa bei ihr...! Bei diesen unsicheren Zeiten konnte man nie wissen! Schnell lief sie nach oben und sah sich in ihrer Wohnung um. Gott sei Dank. Bei ihr war alles in Ordnung. Aber, ja, mein Gott! Was ist denn das? Drüben bei der Köhlern stand ja die Tür so merkwürdig offen??? Sie sprang hinüber und rief laut den Namen ihrer Nachbarin. In der Wohnung blieb alles still. Zufällig kam Frau Köhler, die oben in der Waschküche zu tun gehabt, die Treppe herunter. Auf den erregten Bericht ihrer Nachbarin hin sah sie sich schnell im Korridor um und fand sofort zu ihrem Entsetzen, dass der gute neue Paletot ihres Mannes verschwunden war! Schnell eilten die beiden Frauen die Treppe hinab auf die Straße.
Wilhelm Thiele, der inzwischen schon ein ganzes Stück Weges weg war, sah sich von Zeit zu Zeit scheu nach allen Seiten um. Plötzlich bemerkte er mit Schrecken, dass zwei Frauen hinter ihm herrannten und die Passanten auf ihn aufmerksam machten. Da rief man auch schon.
»Haltet ihn fest!!! Haltet den Dieb!!!«
Ein kurzer Blick nach hinten überzeugte ihn, dass die Menge hinter ihm her war. Er sprang ein paar Schritte vor und raste dann die Straße entlang. In seiner blinden Hast prallte er gegen eine Frau, die ihm nicht mehr ausweichen konnte, sie flog weit zur Seite auf den Boden! Beinahe wäre er selbst mit hingestürzt. Von vorn sprang jemand ihn an, er stieß ihn brutal zur Seite und jagte weiter. Vor ihm tauchte eine blaue Uniform auf! Der Schupobeamte war sofort im Bilde und fing Thiele geschickt ab. Mit kunstgerechtem Jiu-Jitsu-Griff wurde ihm der Arm nach hinten auf den Rücken gedreht und nach oben gedrückt. Thiele war völlig wehrlos. Den Schmerz verbeißend, hielt er ganz still, er wusste, dass er erledigt war! Der gestohlene Mantel war ihm entglitten und zu Boden gefallen.
Eine erregte Menschenmenge hatte sich inzwischen angesammelt und schaute mit teils neugierigen, teils drohenden Blicken auf den zerlumpten Mann, der sich unter dem schmerzhaften Griff des Polizisten krümmte.
Die Zurufe und Fragen prasselten wirr durcheinander:
»Was hat er denn ausjefressen?«
»Hat er einen umjebracht???«
»Ordentlich de Jacke vollhauen müsste man den Hund!!!«
»Wie'n richt'jer Mörder sieht der Kerl aus!«
Wilhelm Thiele verstand von all dem, was um ihn her vorging, nichts. Er war mit seinen Gedanken bei der Minna. Sein Gesicht war kalkweiß und mit kaltem Schweiß bedeckt. Der Polizist wehrte die Umstehenden ab und führte Thiele ab zur Wache. Eine ganze Horde durcheinander redender Männer, Frauen und Kinder begleiteten sie. Was würde die Minna sagen, wenn sie erfuhr, was er angestellt hatte??? Was sollte jetzt aus der Wohnung werden, wo sie monatelang mit der Miete im Rückstand waren??? Auf der Wache wurde Thiele sofort einem Kriminalbeamten zur Vernehmung vorgeführt. Wie ein hilfloser dummer Junge stand er da. Er gab alles freimütig zu, stritt nichts ab. Nur gegen die Unterstellung, die verschlossene Tür gewaltsam geöffnet zu haben, wehrte er sich energisch. Das konnte er selbstverständlich nicht zugeben, sosehr der Beamte in ihn drang, gerade in diesem Punkt doch geständig zu sein. Nein, das konnte er und durfte er nicht, es wäre ja eine glatte Lüge gewesen!
Die erboste Kleinbürgersfrau aber, aus deren Wohnung er den Mantel entwendet hatte, behauptete steif und fest, dass sie die Tür zugeschlagen habe, bevor sie auf den Boden gegangen sei. Dieser Behauptung einer ehrbaren Frau gegenüber musste natürlich die Versicherung eines auf frischer Tat ertappten Diebes als freche Lüge, als hartnäckiges Leugnen erscheinen. Seine Aussage war unwahrscheinlich und deshalb einfach unglaubwürdig. Man hatte ja seine Erfahrungen in diesen Dingen!
Möglicherweise hatte die gute Frau Köhler nachher ein paar Minuten lang so etwas wie Gewissensbisse über ihre falsche Behauptung. Aber was machte das! Das war noch immer leichter zu ertragen als der unvermeidliche Krach mit ihrem Alten, wenn der erfahren würde, dass ihre leichtsinnige Nachlässigkeit die Hauptschuld hatte an dem ganzen ärgerlichen Vorkommnis.
Nach seiner ersten Vernehmung wurde Thiele in eine halbdunkle schmutzige Zelle eingesperrt, deren ganzes Inventar aus einer Holzbank bestand. Hoch oben unter der Decke war ein schmales kleines Fenster, das durch dicke Eisenstäbe gut gesichert war. Völlig apathisch hatte er sich in einer Ecke hingekauert und blickte wie geistesabwesend vor sich hin. Als seine Augen sich an das Halbdunkel etwas gewöhnt hatten, entdeckte er, dass die Wände ringsum mit zahllosen Monogrammen, geheimnisvollen »Zinken« und mit Inschriften bedeckt waren. Auf einer solchen blieb sein Blick haften. Es sollte wahrscheinlich ein »Trost-Wort« sein und lautete:
»Allet is verjänglich - ooch lebenslänglich!!!«
Minna Thiele saß den ganzen Abend in ihrer kalten Bude und wartete vergeblich auf ihren Mann. Es war bereits über zehn Uhr und die Haustür längst abgeschlossen. Sie wusste, dass er nicht einmal einen Hausschlüssel bei sich hatte. In ihrer angstvollen Spannung hörte sie eine Viertelstunde nach der anderen von der nahen Kirchenuhr schlagen. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr, und ihr Mann kam nicht! Minna hatte noch kein Auge zugemacht. Sie machte sich Gedanken um ihn. Sollte ihm was passiert sein? Oder, wenn er sich was angetan hatte, Schluss gemacht hatte mit sich und dem ganzen Dreck. Er sollte sie mit dem Kinde so ganz allein zurückgelassen haben? Nee, das würde ihr Wilhelm doch nicht tun, das traute sie ihm doch nicht zu!
Vor quälender Ungewissheit hielt sie es im Bett nicht länger aus, sie sprang auf, zog sich rasch einen Rock über und lief hinaus auf die Straße. Wo sollte sie ihn suchen? Planlos lief sie bis zur Ecke, spähte die Straße nach beiden Seiten entlang und kehrte dann noch mutloser wieder um. Es hatte ja keinen Zweck! Wenn er zurückkam, würde er seinen Weg auch allein finden. Minna schlich sich in ihre Bude zurück und kroch wieder ins Bett.
Erst gegen Morgen fiel sie übermüdet in einen unruhigen Schlaf. Als sie wieder erwachte, war es schon hellichter Tag. Ihr Wilhelm aber war immer noch nicht gekommen.
Gegen elf Uhr erschien ein Polizeibeamter vom Revier, schnüffelte in der kalten Bude herum und stellte sehr neugierige und sehr verfängliche Fragen. Wovon sie eigentlich lebten, wollte er wissen. Minna antwortete.
»Von so jut wie ja nischt?« fragte er mit einem zweifelnden Lachen. »Na - det erzählen Sie man Ihrer Jroßmutter, aber nich de Polizei! Von nischt, oder so jut wie nischt kann keener nich leben!«
Auf Minnas angstvolle Frage ließ er sich herab, ihr zu sagen, was mit ihrem Mann passiert war. Verständnislos glotzte sie den gesunden, von Kraft strotzenden Menschen an. Regungslos stand sie mitten in der Stube. Die Arme hingen ihr schlaff am Leibe herab. Kein Laut kam über ihre fest zusammengepressten Lippen. Die aufsteigenden Tränen hielt sie gewaltsam zurück.
Als sich die Tür hinter dem Beamten geschlossen hatte, sackte die Frau zusammen und fing fassungslos an zu schluchzen.
Wilhelm Thiele war ins Untersuchungsgefängnis Moabit eingeliefert worden. Er konnte noch immer nicht recht begreifen, wie das alles möglich geworden war. Seltsamerweise fühlte er nicht eine Spur von Reue oder von Bedauern über seine Tat an sich. Ja, im Grunde genommen war er eigentlich froh, dass es so gekommen war! Was ihn quälte und peinigte, war nur der Gedanke an die Frau und an das Kind. Wenn die nicht gewesen wären, dann hätte er sich freuen können, der zermürbenden Sorge um das tägliche bisschen Fressen enthoben zu sein. Genau auf den Stundenschlag brauchte er nur den leeren »Bimmel« hinhalten und bekam ihn dann gefüllt wieder zurück!!!
Aber wie gesagt, die unaufhörlichen Gedanken an seine Minna und an das Kleine verbitterten ihm jeden Bissen, den er zu sich nahm. Er fühlte dumpf, dass er jetzt das letzte bisschen Hoffnung auf andere Zeiten, das trotz allem und allem noch immer in ihm geschwungen, zerstört und zertreten hatte. Nun war es für sie und für ihn vorbei mit all den stillen Träumereien von wegen Wiederhochkommen und so. Der schöne weiße Küchenschrank, der als Symbol künftigen Wohlstandes immer vor ihren inneren Augen geschwebt und an dessen endliche Erlangung Minna im tiefsten Winkel ihres Herzens unerschütterlich geglaubt hatte, er war jetzt in unendliche, ewig unerreichbare Ferne entrückt!!!
Die geballten Fäuste gegen die Stirn bullernd, raste Wilhelm Thiele von morgens bis abends in seiner Zelle umher, unermüdlich hin und her, immer sechs Schritte von der Tür bis zum Fenster. Wie ein sich ungestüm nach Freiheit sehnendes Raubtier im Käfig kam er sich vor.
Auf einen Brief ihres Mannes machte Minna sich mit dem Kind auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis. Besuchserlaubnis hatte sie beim Untersuchungsrichter eingeholt. Durch stummen Händedruck begrüßten sich die beiden Menschen. Nur ihre Augen sprachen zueinander. Das Kleine hatte Minna auf den Tisch im Besuchszimmer vor sich hingesetzt. Es spielte mit ein paar Knöpfen, die Frau Thiele aus der Tasche gekramt und vor das ahnungslose kleine Wurm hingelegt hatte, um es abzulenken. Still, nur ganz wenige Worte wechselnd, saßen die Eltern beieinander.
Als die vorgeschriebene Besuchszeit abgelaufen war, legte Thiele seiner Frau den Arm um die Schulter und sah ihr tief in die Augen.
»Sage mal, Minnakin, aber ganz ehrlich, biste mir sehr böse, det ick det jemacht habe???«
Mit festem Blick und sicherer Stimme erwiderte sie sofort:
»Ick dir böse sein??? Ibewahre, Willem!!! Warum sollte ick denn det???«
War es der Tonfall, etwas in ihrem Blick oder irgend etwas anderes? Thiele wurde misstrauisch, eine ungeheure Angst kroch plötzlich in ihm hoch.
»Minnakin!« sagte er mit tränenverhaltener Stimme, »Mädel! Mach mir bloß keene Dummheiten! Wenn ick wieder bei dia bin - wird allens noch jut! Ja, janz bestimmt! Et müssen doch mal wieda andre Zeiten kommen!«
Er wusste selbst nicht recht, wie er dazu kam, das so zuversichtlich zu sagen. Sie suchte ihn zu beruhigen und ging.
Der Untersuchungsrichter, dem Thiele vorgeführt worden war, wollte durchaus die »Wahrheit« aus ihm herausholen. Er wollte, dass Thiele zugab, die Wohnungstür in rechtswidriger Weise geöffnet zu haben. Durch immer erneute, erregte Zwischenfragen wollte er ihn offenbar in Widersprüche verwickeln, wollte er ihn noch nervöser machen, als er an sich schon war. Thiele war und blieb aber »ein verstockter Sünder«. Als alle seine Beteuerungen nichts fruchteten, wurde er schließlich patzig und verweigerte jede weitere Antwort. Er wurde wieder abgeführt, man wusste jetzt Bescheid.
Dann kam der Tag der Hauptverhandlung. Noch vor Beendigung der gerade stattfindenden Verhandlung wurde Thiele von hinten her in die Anklagebank hineingeführt. Der Angeklagte, gegen den verhandelt worden war, ein politischer Redakteur, saß außerhalb der Anklagebank vor dem Tische seines Rechtsanwalts. Der Gerichtshof hatte sich ins Beratungszimmer zurückgezogen. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf Thiele, als seine bleiche, zerlumpte Jammergestalt in der Anklagebank auftauchte. Wie Messerstiche, die ihm durch die Seele drangen, fühlte Thiele diese neugierigen Blicke auf sich ruhen. Er musste es schweigend erdulden.
Das Richterkollegium kam jetzt aus dem Beratungszimmer, feierlich, in streng eingehaltener Reihenfolge ihrer Amtswürde. Unter lautlosem Schweigen aller Zuhörer verkündete der Vorsitzende das Urteil und verlas dann die Begründung.
Eilig rafften die Presseleute ihre Papiere zusammen und verließen den Sitzungssaal. Ein so gewöhnlicher kleiner Kriminalfall wie der nächste zur Verhandlung stehende interessierte sie nicht
im mindesten.
Auch der Zuhörerraum hatte sich stark geleert. Nur ein paar Menschen, vermutlich Arbeitslose, die die Zeit totschlagen wollten, blieben zurück.
Ganz unauffällig war Minna Thiele in den Zuhörerraum hereingehuscht. Scheu und verängstigt nahm sie auf der hintersten Bank in einer Ecke Platz. Als Thiele, der zusammengesunken dasaß, sie bemerkte, suchte er ihren Blick. Stumm, aber mit warmer Herzlichkeit ihn grüßend, schaute Minna ihn an. Er fand, dass sie furchtbar mager und blaß aussah. In ihren Augen sah Thiele wieder die flackernde Angst, die er damals, als er Minna kennen gelernt, so oft mit Verwunderung bei ihr wahrgenommen hatte.
Die Verhandlung gegen Thiele nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Nach Auffassung des Vertreters der Anklage und auch nach Ansicht des Gerichts lag der wahre Sachverhalt ja klar zutage. Der Staatsanwalt sprach deshalb kaum zwei Minuten. Er war sich seiner Sache absolut sicher.
Mit hilflos ungläubigem Staunen musste Thiele mitanhören, was für ein »schwerer Junge« er war. Nicht genug, dass er jetzt als überführter Einbrecher vor den Schranken des Gerichts stand, nein, auch sein Vorleben belastete ihn in der übelsten Weise! Wegen versuchten Betruges war ihm die Erwerbslosenunterstützung entzogen worden!!! Wegen Sachbeschädigung war er mit drei Tagen Gefängnis vorbestraft!!! Was er sonst noch alles auf dem Kerbholz hatte, konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, gab aber gewissen Vermutungen weitesten Spielraum. Bei solchem Vorleben war eben alles möglich!!!
Der Offizialverteidiger gab sich wirklich große Mühe, die ganze Sache ins wahre Licht der Tatsachen zu rücken, versuchte mit warmen Worten, die furchtbare Notlage, in der sich der Angeklagte bei Begehung der Tat unbestreitbar befunden hatte, als Milderungsgrund in die Waagschale zu werfen. Dann wurde Thiele gefragt, ob er selbst noch etwas zu seinen Gunsten zu sagen habe. Stumm schüttelte er den Kopf.
Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Thieles Verteidiger, der im Gespräch mit dem Staatsanwalt auf dem Korridor hin und her wandelte, musste seine erst halbgerauchte Zigarette in einen Spucknapf werfen, so schnell war die Beratung zu Ende. Beide eilten wieder in den Saal zurück. In feierlicher Prozession kamen die Richter gerade aus dem Beratungszimmer heraus.
In geschäftsmäßigem Tone verkündete der Vorsitzende das Urteil. Es lautete: Zwei Jahre Gefängnis!!!
In der kurzen Begründung hieß es wortwörtlich: »Die Arbeitslosigkeit und die Not des Angeklagten kann nicht als Milderungsgrund gewertet werden. Der Angeklagte kann sich nicht auf eine besondere Notlage berufen, sondern teilt nur das Schicksal von zwei Millionen Deutschen. Die meisten von denen halten sich auf ordentliche Art und Weise über Wasser, und ganz wenige, von einem verbrecherischen Trieb besessene, gehen vor die Hunde! Deshalb: bei aller Würdigung der Tragödie der Arbeitslosigkeit muss doch gegen Straftaten, die aus ihr entsprungen sind, mit fühlbaren Strafen eingeschritten werden.«
Ohne den eigentlichen, tieferen Sinn der ganzen Prozedur begriffen zu haben, wurde Thiele in seine Zelle abgeführt. Den Absichten des Gesetzgebers entsprechend, sollte er jetzt durch Verbüßung seiner Strafe sühnen, was die Gesellschaft an ungeheurem Unrecht ihm zugefügt hatte!!!

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