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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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XIV.

Schon Monate lang waren Thieles mit der Miete im Rückstand. Machen konnte er, was er wollte, das Geld war einfach nicht mehr aufzubringen. Tage gab es, wo Thiele ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche nach Hause kam, obwohl er durch seine Rumrennerei nach Verdienst hundertmal ermüdeter war, als wenn er den ganzen Tag in der Fabrik geschuftet hätte.
Sein sich im fortgesetzt sich drehenden Karussell des täglichen Sorgens und Mühens marternder Geist wurde von einer lähmenden Gleichgültigkeit befallen: der ganze Mist ekelte ihn an. Das »Leben«, dieses blödsinnige hundsgemeine Zerrbild des Lebens, zu dem er schuldlos verurteilt war, mit Weib und Kind zugleich verurteilt war, weil die Ordnung das so wollte, hing wie eine zentnerschwere Sklavenkette an ihm und scheuerte ihm an tausend Stellen die müde, verkrümmte Seele wund. Oft war er nahe daran, unter dieser alles menschliche Maß übersteigenden Last zusammenzubrechen und liegenzubleiben. Öfters und öfters ließ er sich gehen, dann kam es vor, dass er die Minna ohne Grund anbrüllte. Wenn das Kind schrie, riss er die Mütze vom Nagel und lief auf die Straße hinaus.
Thieles hungerten! Im Magen war's ihnen hohl, und im Kopf saß ein solch schmerzender Druck. Mehr als einmal blieb Thiele im vierten Stock an einem Treppenfenster stehen und sah auf den Hof hinunter. Er bekam dann Angst vor sich selbst und machte, dass er schnell die Treppe hinunter kam.
In dieser lebensmüden Stimmung, matt vor Hunger, mit schmerzendem Magen und Kopf eben nach Hause gekommen, teilte seine Frau ihm mit, dass ein Beamter vom Wohlfahrtsamt dagewesen sei. Nach dem Verbleib der von Frau Kneschke hinterlassenen Möbel hatte er geforscht. Die Behörde erhob Anspruch auf die armseligen paar Klamotten, weil die Kneschken mal eine Zeitlang aus Mitteln der öffentlichen Wohlfahrtspflege unterstützt worden war. Die Minna hatte verheulte Augen und jammerte: »Pass uff, die holen uns det Bett unterm Hintern wech!«
Thiele wurde wild: »Lass se bloß kommen!« knurrte er, »ick jage ihnen det Messa in de Kaidaunen...«
Am andern Tage schrieb er aber doch einen Antrag auf Belassung der paar Möbelstücke und brachte ihn selbst zum Wohlfahrtsamt. »Sie bekommen Bescheid!« wurde ihm kurz entgegnet.
In angstvoller Sorge warteten sie nun von Tag zu Tag auf diesen Bescheid.
»Gottesseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des jenseitigen Lebens!« Dieser schöne Bibelspruch war das Leitmotiv für den Jesusgreifer, wenn er in »frommer« Weise auf die Tränendrüsen und damit gleichzeitig auf den Geldbeutel der ihn von Zeit zu Zeit besuchenden Betschwestern spekulierte. Auch jetzt musste seine Spekulation wohl wieder erfolgreich gewesen sein, denn - seit einigen Tagen schien er chronisch besoffen zu sein. Da sich das kleine rothaarige Luder in seinem deliriumartigen Zustand wie ein Held vorkam, tobte er herum, verprügelte die kleine Frau und das Kind und schlug das bisschen Geschirr, das sie besaßen, kurz und klein. Als die Toberei des alkoholseligen Knirpses gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte und Thiele aufspringen wollte, um sich Ruhe auszubitten, wurde plötzlich seine Stubentür aufgerissen. Hilfesuchend stürzte Frau Kleist mit ihrem Mädel in die Stube hinein. Der Jesusgreifer wollte in blinder Wut hinter ihnen her, Thiele nahm ihn kurzerhand beim Schlafittchen, warf ihn in die Küche hinaus und riegelte die Stubentür ab. Wieder hörten sie Geschirr krachend auf den Fußboden der Küche aufschlagen.
Frau Kleist und ihr Mädel zuckten bei jedem Aufschlag zusammen und verkrochen sich angstvoll in die äußerste Ecke der Stube. Allmählich ließ das Toben draußen nach. Schließlich hörte sie ihn laut schnarchen. Da stand die Frau leise auf:
»Nu wer ick man wieder jehn. Jetzt hat er sich ausjetobt. Wenn er nachher wieder nüchtern is -denn weeß det Schwein von nischt mehr!«
Der Kleinkrieg im »Nassen Dreieck« wurde unverdrossen weitergeführt. In diesen ungleichen Kämpfen: »Einer gegen alle - oder besser: Alle gegen einen« sah sich der Wirt rat- und hilflos in die Defensive gedrängt. Am Ende wusste er schon nicht mehr aus noch ein. An Kapitulation und Friedensschluss wollte er aus Starrköpfigkeit aber immer noch nicht denken. Er hatte seinen »Stolz«.
Ein Schabernack gegen ihn löste den andern ab. Bald wurden ihm die Glühbirnen herausgeschraubt oder deren Faden durch einen Schlag zerstört, - dann wieder Gläser entzweigeworfen oder mitgenommen. Kurz: Sosehr er auch aufpasste und die ihm verdächtig Erscheinenden belauerte, er war immer wieder irgendwie der Geleimte. Selbst die verlockend hohe Summe von fünf Mark, die er als Belohnung für Namhaftmachung der Übeltäter ausgesetzt hatte, brachte keinen positiven Erfolg.
Durch reinen Zufall gelang es ihm eines Tages, einen jungen Bengel dabei zu erwischen, wie der auf der Toilette gerade eine kurz vorher neu eingeschraubte Glühlampe wieder herausdrehte. Endlich! Seine wochenlang aufgespeicherte Wut ließ er jetzt an diesem Burschen aus. Mit seinen riesigen Fäusten schlug er auf den schwächlichen Jungen ein. Durch das jammervolle Geschrei des Geprügelten wurden die vorne anwesenden Gäste aufmerksam und stürzten nach hinten. Als sie sahen, wie das breitschultrige Ungetüm noch immer auf den schon stark blutenden Jungen einhieb, sprangen einige Gäste dazwischen und versperrten dem Wirt den Weg.
»Jetz is aber jenuch! Lass den Jungen los!« schrieen sie den Bullen an.
Wütend drehte sich der herum und fuhr die Leute an. »Wat wollt ihr??? Macht, det ihr wechkommt - mit euch... nehm ick's alle uff, wie ihr jebacken seid!!!«
Das war zuviel. Wie die Wildkatzen sprangen die Kunden den Bullen jetzt von allen Seiten an, hingen sich wie Kletten an seinen Fettbalg und knallten ihm ihre knochigen Fäuste ins Gesicht. Das Hemd wurde ihm in Fetzen vom Leibe gerissen. Die ihn von obenher mit der Faust nicht erreichen konnten, traten ihm von unten mit den Füßen gegen die Beine und den Leib. So riesenstark der Kerl war, dieser Übermacht gegenüber vermochte er sich nicht zu halten. Er ging zu Boden!
Als er sich wieder erholt hatte und hochgekrabbelt war, saßen alle Gäste im Vorderraume friedlich an ihren Tischen. Nachdem er sich auf der Toilette das Blut abgewaschen und in seinem Zimmer ein anderes Hemd angezogen hatte, kam er wieder in den Schankraum und stellte sich mucksstill hinter die Theke. Er sah gar nicht hoch. Die Kunden gaben sich völlig harmlos, als ob überhaupt nichts vorgefallen wäre. Nur ganz unauffällig blickte der eine oder der andere mal nach dem Bullen, um sich dessen verschwollenes und zerschundenes Gesicht zur Erinnerung gut einzuprägen.
Von den Gästen des »Nassen Dreieck«, die noch was auszugeben hatten, blieben nach und nach immer mehr fort. Sie siedelten zum »Alten Fritz« über, dessen Wirt sich, durch Erfahrung gewitzig, seiner Kundschaft inzwischen mehr und mehr angepasst hatte.
Die wenigen Kunden, die noch im »Nassen Dreieck« zu finden waren, lungerten nur da herum, um nicht auf der Straße liegen zu müssen. Verzehren taten sie so gut wie nichts. Der Bulle duldete sie widerwillig, um den Laden nicht ganz leer zu haben.
Auch der Dicke Stern mied die Schankräume des »Nassen Dreieck«. Nur als Logiergast kam er des Abends dorthin, und auch das nur aus reiner Bequemlichkeit, aus Trägheit. Oft saß er bei Thieles in der Stube. Der sonst immer zu humorvollen Reflexionen aufgelegte alte Stern schien in der letzten Zeit schwermütig zu werden. Manchmal war er gar nicht wieder zu erkennen. Thieles glaubten schon, dass er nicht auf dem Posten sei. Sie sprachen mit ihm darüber, da erwiderte er zögernd:
»Ick merke, wie et so langsam an mir ranschleicht - ick werde älter und älter. Det Leben hat sich zu sehr verändert, - et is heitzudage zu schwer for unsereenen, sich jewissermaßen als besserer Penner durchzuschlagen. Tja, frieher - da hatten ma keene zehn Pferde uff den Jedanken jebracht, su meine Olle als reimietiger Sinda zurückzukehren - - - aber heite... ick weeß nich...
Na, vorleiflich hat's ja noch 'n bißken Zeit... « Wieder einmal war Wilhelm Thiele den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen. Nicht einen einzigen Pfennig, ja, nicht einmal ein paar Stullen hatte er aufgetrieben. Er hatte keine große Sehnsucht darauf, nach Hause zu kommen. Er fürchtete sich entsetzlich vor dem Blick der Minna. Das Enttäuschte in diesem Blick marterte ihn mehr als sein eigener wühlender Hunger. Wenn sie auf ihn geschrien hätte, ihm Vorwürfe machen würde, das wäre nicht so schlimm gewesen. Aber die Minna sagte kein Wort, sah ihn nur an.
Da bummelte er lieber mit hungrigem Magen durch die umliegenden Straßen. So gelangte er in die Reinickendorfer Straße, wo heute am Sonnabendabend starker Verkehr von heimkehrenden oder Einkäufe besorgenden Menschen herrschte.
Vor dem großen spiegelblank geputzten Schaufenster einer Gänseschlächterei drängten sich Menschen. Auch er blieb gedankenlos stehen. In der Anlage des Schaufensters waren ganze Reihen der schönsten, fettesten Gänse ausgelegt, zart und appetitlich anzusehen! Zwischen den Reihen waren Gänseleberwürste, rohe und geräucherte Keulen geschmackvoll um einen großen Napf mit köstlichem Gänseschmalz garniert. In der ganzen Breite des Schaufensters baumelten dicht nebeneinander drei Reihen der schönsten geräucherten Gänsebrüste. Ein Fraß für Götter!!!
Eine Gruppe von Arbeitslosen: Männer, Frauen und Kinder, hatten sich vor dem Schaufenster angesammelt und schauten mit brennenden Augen auf alle diese Herrlichkeiten, die für sie unerschwinglich, unerreichbar waren. Ihre schlaffen Mägen hüpften vor Sehnsucht, das Wasser lief ihnen zu Pfützen im Munde zusammen bei dem bloßen Gedanken, davon etwas essen zu können, so ein kleines Bisschen.
Mit feindselig neidischen und gierigen Augen blickte diese graue Masse in das Innere des Ladens auf all die Glücklichen, die sich dort vor dem Ladentisch drängten oder mit großen schweren Tüten das Geschäft verließen.
Nach Hunderten zählten wohl noch die Gänseleiber, die an den Wänden des Ladens so schön in Reih und Glied hingen und die man von draußen durch die Scheibe sehen konnte.
Ein scheinbar achtlos hingeworfenes Wort eines der Ausgehungerten. Mit einem Mal kam der Haufen vorm Schaufenster in Bewegung. Ohne jede Verabredung, rein instinktiv drängte alles nach dem Ladeneingang zu. Eine Scheibe zersplitterte klirrend. Der Gänseschlächter kam aufgeregt nach vorn gelaufen, wurde nervös und versuchte mit ausgebreiteten Armen die anstürmende Menge zurückzudrängen. Es war bereits zu spät.
Wie von einer Dampfwalze wurde er durch die dichtaneinandergedrängten Menschenleiber beiseite geschoben. Frauen schrieen, griffen von allen Seiten mit gierigen Händen nach den Gänsen, rissen sie sich gegenseitig aus den Fingern und liefen mit der erhaschten Beute, mit Fleischteilen, Würsten, Brüsten oder was sie gerade bekommen konnten, so schnell wie möglich davon.
Wie gelähmt stand Thiele da und schaute fassungslos dieser Tragödie des Hungers zu. Ehe er noch zur Besinnung kam, ließ ein ausgemergelter blasser Junge, der zuviel auf dem Arm trug, um es ohne Gefahr fortschaffen zu können, eine schwere Gans fallen. Direkt Thiele vor die Füße. Da griff Thiele hastig zu, versteckte den großen Vogel, so gut es ging, unter seiner Jacke und rannte davon. Es war auch höchste Zeit! Von weitem hörte man bereits die schrille Auto-Sirene des Überfallkommandos, das der Schlächter inzwischen alarmiert
hatte.
Nach allen Seiten spritzten die Menschen jetzt
auseinander. Nicht nur die direkt Beteiligten, sondern auch die zufälligen Passanten liefen davon. In solchen Fällen ist es immer besser, möglichst weit vom Schuss entfernt zu sein. Man konnte nie wissen, wo der Gummiknüppel hintraf.
Thiele rannte, dass ihm der Atem ausging und der Schweiß aus allen Poren brach. Er dachte nichts, nur laufen, laufen! Als er nicht weiter konnte, stürzte er in das nächstliegende Haus, über zwei Höfe, lief leise die Treppe bis zum Boden hinauf. Dort erst hielt er nach Luft japsend an und kauerte sich hin. Sein Herz schlug bis zum Halse hinauf. Vor Anstrengung und noch mehr vor lauter Angst, hier oben festgenommen zu werden. Er regte sich nicht! Lange hatte er so dagesessen, bevor er es wagte, seinen Schlupfwinkel zu verlassen. Ganz leise schlich er die Treppe hinab, sah sich auf den Höfen scheu um und lugte dann vorsichtig durch die Haustür auf die Straße hinaus. Es war alles still. Mittlerweile war es völlig dunkel geworden. Feiner Regen rieselte hernieder. Da ging er hinaus und eilte so schnell wie möglich nach Hause.
Weit riss die Minna die Augen auf, als er hinter verriegelter Tür die Gans unter der Jacke hervorzog:
»Mein Jott!« rief sie nur und schlug die erhobenen Hände zusammen. »Wo haste die denn bloß her!« Er legte bedeutungsvoll den Zeigefinger an die Lippen und erzählte ihr flüsternd, was geschehen war. Zuerst bekam sie eine große Angst, als sie aber nachher beim Essen saßen, wusste sie sich vor Freude über dieses unerhörte Glück gar nicht zu fassen. Am anderen Tage hatten Thieles Magen- und Leibschmerzen. Ihre Eingeweide waren kein fett mehr gewöhnt.
Sie überlegten, wie sie das Fleisch am vorteilhaftesten einteilten, damit sie möglichst lange damit
auskamen.
Eine ganze Woche aßen sie von dem Fleisch und Fett. Dann aber gings mit der entsetzlichen Hungerei von neuem los.
Auf die Eingabe betreffs der Möbel hatten Thieles vom Wohlfahrtsamt noch immer keinen Bescheid erhalten. Daher lebten sie nun in beständiger Angst, dass ihnen die Klamotten schließlich doch noch aus der Bude geholt würden. Große Sorgen machte den Thieles auch das Kind. Das kleine Wesen wollte gar nicht zunehmen, nicht größer werden, blieb mager und mickrig und kränkelte hin, des Nachts schrie es unaufhörlich. Sein Gesicht zeigte eine rosabläuliche Farbe, die Haut war so durchsichtig, dass die blauen Äderchen zu sehen waren. Die Frauen aus dem Haus, die es sahen, meinten, es müsse unbedingt bessere Nahrung haben. Minnas Muttermilch sei kraftlos, zu ausgelaugt und deshalb für das Kind mehr schädlich als nützlich. Man redete ihr zu, mit dem Kind zur Fürsorge zu gehen und um Säuglingsbeihilfe zu bitten. Dazu war die Minna eben nicht zu bringen. Sie hatte eine zu große unüberwindliche Scheu vor allem, was auch nur entfernt nach Amt oder Behörde roch.
Thiele selbst war in der letzten Zeit unglaublich gleichgültig geworden. Ihm hing schon alles zum Halse heraus, so elend fühlte er sich. Wenn er in der Stube saß, sprach er oft stundenlang kein Wort, stierte vor sich hin und explodierte bei der geringsten Kleinigkeit. Seine Minna aber war vernünftig und blieb ruhig. Sie gab auch dann keine Widerworte, wenn er ihr in seinem Missmut ganz unberechtigte und grundlose Vorwürfe machte. Er fühlte zuweilen die stille Überlegenheit seiner Frau und wurde dadurch mitunter noch ärgerlicher. Sollte sie doch auch brüllen und schreien, damit man wusste, woran man war.
Eines Abends, als Thiele mit Frau und Kind trübselig in der düsteren Stube hockte, wurde plötzlich heftig gegen die Tür geklopft. Ganz außer Luft und Atem kam der Dicke Stern sehr aufgeregt hereingestürzt und ließ sich, vor Luftmangel keuchend, auf dem Bettrand niederfallen. Er musste sich erst verpusten, bevor er erzählen konnte, was passiert war. Mit heiserer, stockender Stimme berichtete er, was er soeben in der Abendzeitung gelesen hatte. Es war furchtbar, furchtbar für sie, weil es sich um jemand handelte, mit dem sie Tag für Tag zusammen gewesen waren: die Einäugige!
Sie hatte sich erhängt!
Thieles wollten es gar nicht glauben. Minna zündete Licht an. Jetzt sah man Sterns Gesicht - aus dem heute jedes Grinsen verschwunden war.
»Hier in de Zeitung steht's doch, ick wollte ja zuerst ooch ja nich meine Oogen traun, aber allet stimmt janz jenau, jeder Zweifel is ausjeschlossen.
Det Haus, wo se mit dem Zahmen Willi immer jepennt hat, is jenau beschrieben, un denn ooch der Polizeibericht... Pass uff, ich lees't eich vor! Also
hier:
»...die Erhängte ist wahrscheinlich eine Obdachlose, deren Personalien sich nicht feststellen ließen. Sie ist etwa 30 bis 35 Jahre alt und trägt über dem linken fehlenden Auge eine schwarze Klappe. Der Beweggrund zum Selbstmord ist unbekannt.« Stern ließ das Zeitungsblatt niedersinken und starrte Thieles an, die ebenfalls stumm, bleich und starr dasaßen.
Keiner von ihnen brachte eine Silbe über die Lippen. Endlich brach Stern das Schweigen:
»Jehste morjen mit in't Leichenschauhaus, Willem? For mia besteht ja keen Zweifel, detse't is, aber ibazeijen miss'n wa uns doch schon... Det arme, arme Luda!! Det is det Ende! - Heite mia, morjen dia!«
Wie verabredet gingen die beiden Männer am nächsten Morgen nach der Hannoverschenstraße zum Leichenschauhaus.
Sie brauchten nicht lange zu suchen. Wenn sie im stillen doch noch ein wenig gezweifelt hatten, jetzt stand die nackte, kalte Gewissheit riesengroß und unbestreitbar vor ihnen.
Ohne ein einziges Wort zu wechseln, aber erfüllt von unzählig vielen wild durcheinander wirbelnden, unaussprechlichen Gedanken, verließen sie die Stätte des Grauens, dieses trostloseste, verhängnisvollste Gebäude Berlins.
Ein feiner Regen, der durch ihre abgetragene Kleidung bis auf die Haut drang, ging vom bleigrauen Himmel hernieder. Thiele fröstelte, die Zähne schlugen ihm hörbar wie im Fieber zusammen. Heute vermochte er nichts zu unternehmen, er war völlig geknickt und fühlte nur das eine Bedürfnis, allein zu sein, allein mit sich und seinen Gedanken, die trüb waren wie das Wetter.
Nachdem sie ein Stück Weges völlig schweigsam nebeneinanderher gegangen waren, verabschiedete sich Thiele kurz von Stern und lief einsam durch die Straßen weiter.
Schwarz glänzten die regennassen Äste der kahlen Bäume, die zu beiden Seiten der Straße standen. Nur hin und wieder hingen ein paar übrig gebliebene kupferfarbene Blätter weltverloren an den Zweigen.
Bin Blatt wurde jetzt vom scharfen Herbstwind erfasst und zu Boden geschleudert, dann im qualvoll-neckischen Spiel durch die Luft gewirbelt, die Straße herauf und hinab, über die vierstöckigen Häuser hinweggetrieben.
Thiele schlug den schmalen Kragen seiner Jacke hoch, vergrub die Hände noch tiefer in die Hosentaschen und schlich geduckt dahin. Sein hungriger, seit gestern Mittag noch völlig nüchterner Magen knurrte so laut, so rebellisch, dass er meinte, die Vorübergehenden müssten es hören.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu der bedauernswerten Frau, die nun starr und kalt mit verzerrtem Gesicht in dem grauen Gebäude lag.
Das war nun das Ende eines Lebens! Was diese Frau hinter sich gebracht hatte, war das denn das Leben? Das Leben, welches sich die Menschen gestalten, die Menschen mit dem großen Gehirn im Schädel, die sich werweißwas einbilden auf ihre gepriesene Kultur, auf ihre entwickelte Technik? Da im Schauhaus lagen sie, die Menschen, die sich ihr Leben nicht selbst gestalten durften, sondern ein aufgezwungenes »leben« mussten, an dem sie wie Glas auf Stein zerbrachen.
An jedem Tage durchschnittlich acht. Acht Menschenleben waren es Tag für Tag allein in Berlin, die gleich der armen Einäugigen ihr Leben, ihr armseliges bisschen Leben, das ihnen zur Hölle gemacht worden war, in letzter Verzweiflung von sich warfen. Dann wurden sie als namenlose Kadaver bloßen Form wegen im Schauhaus zwecks Feststellung ihrer Identität ausgelegt. Von diesen Gedanken innerlich zu rasender Wut aufgepeitscht, schlich Thiele dahin und beobachtete mit brennenden Augen die gleichgültigen Gesichter der vorbeieilenden Passanten. Wussten sie davon? Weshalb taten sie dann, als ob sie das nichts anginge?! Er hätte dieses stumpfsinnige, kaltschnäuzige Pack am liebsten beim Kragen genommen, sie geschüttelt, gerüttelt und angebrüllt: »Ihr gottverfluchten satten Hunde, - ich will nicht länger hungern, will endlich was zu fressen haben, hört ihr mich??? Da in dem grauen Hause liegen sie, acht Menschen, jeden Tag acht andere Menschen, vom Hunger ausgedörrte Skelette -und ihr? Eure Weiber und Kinder sind satt, hungern nicht, frieren nicht!«
Thiele brüllte nicht, griff niemand an. Mit zusammengebissenen Zähnen, den schmerzenden Kopf tief in den Nacken gezogen, schlich er an den Häusern entlang. Unmittelbar vor ihm trat eben eine Dame aus einem Haus, blieb unter der Tür stehen und schien sich nach einem Autotaxi umzusehen. Sie war elegant gekleidet, ein tadellos sitzendes Persianerjackett gab ihr ein sehr gepflegtes Aussehen. Als Thiele die Dame bemerkt hatte, da wusste er es ganz genau: jetzt würde etwas geschehen. Unwillkürlich reagierte sein ausgehungertes Ich auf dieses Bild satten Wohlbehagens und trieb ihn vorwärts zu einem Schritt, den er bisher zu tun noch nie gewagt hatte. Jetzt war ihm alles unsagbar schnuppe.
Höflich den Hut ziehend, trat er auf die Dame zu und sagte mit tonloser flehender Stimme:
»Bitte, gnädige Frau, seien Sie so gut, mir eine Kleinigkeit zu schenken, nur ein paar Pfennige, ich bin am Verhungern!!!«
Voll Erstaunen über seine Frechheit sah die Dame ihn einen Augenblick an, dann schaute sie nervös rechts und links nach einem Taxi aus, seinen Blick dabei soviel wie möglich meidend. Ihre elegante Handtasche presste sie fest an sich. Wilhelm Thiele stand ganz ruhig da und stierte die Frau an. Langsam begann es in ihm zu kochen. Plötzlich explodierte er. Er schrie seinen Jammer hinaus, bis ihm die Stimme vor Erregung überschnappte:
»Verstehen Sie denn nicht, meine Frau will ooch noch essen und mein Kind ooch, die am Verhungern sind! Zu fressen wollen wir was haben - zu
fressen!!!«
Erschreckt warf die Dame einen furchtsamen Blick auf den zerlumpten, vor ihr stehenden Thiele, der sie mit wilden Augen anstarrte. Angstvoll wich sie einige Schritte zur Seite, sah hilfesuchend die Straße entlang, aber kein Mensch war in der Nähe zu sehen. Da sprang sie in das Haus zurück und lief polternd die Treppe hinauf.
Thiele riss die automatisch zufallende Tür wieder auf, drohte mit geballter Faust hinterher und schrie wie unsinnig:
»Sie Aasstücke, verfluchtes, Sie, Hunger habe ich, verstehen Sie, Hunger!!!«
Erschöpft lehnte er sich einen Augenblick gegen die Haustür. Dann ging er ruhiger die Straße entlang. Er hatte sich etwas Luft gemacht, seine Wut und Verzweiflung hinausgebrüllt.
Planlos lief er bis zum nächsten Abend in den Straßen umher. Seine Kleidung war zum Auswringen nass, seine Strümpfe und Schuhe trieften nur so. Zu Hause angekommen, sprach er kein Wort mit seiner Frau, zog sich aus und kroch ins Bett.

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