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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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V.

Der Winter hatte sich eingestellt. Unermüdlich, wenn auch träge, wälzte die Panke ihr schmutziges Wasser vorbei. Die Schaufensterscheibe des »Nassen Dreieck«, soweit sie von innen über der gelben Zuggardine hinweg zu sehen war, hatte die ersten Eisblümchen angesetzt. Fröstelnd und hüstelnd
krochen die Gäste möglichst dicht an den eisernen Kanonenofen im Schankraum heran, der eine versengende Glut ausstrahlte.
Die Fabrikbetriebe der Umgebung wurden immer stiller, der Betrieb in den Stempelstellen für Arbeitslose in entsprechendem Maße immer reger. Doch auch die Zahl der Unterstützungsempfänger verminderte sich von Tag zu Tag. Als Ausgesteuerte wurden immer mehr der nächsten Etappe des grauen Elends, der Wohlfahrtspflege, überwiesen. Die Armee der unfreiwillig zum Bettlertum Degradierten rekrutierte sich täglich neu; sie wuchs unaufhörlich und überschwemmte schon fast die ganze Stadt.
Je größer das Heer der Heischenden, desto kleiner und spärlicher wurden die Gaben, die ihnen noch gereicht werden konnten. Nicht nur in den Arbeitervierteln, nein, auch in den Gegenden, wo der kleine Mittelstand zu Hause ist, hörte man die Leute öfter und öfter sagen: »Wir haben selber nichts mehr!«
Die Stimmung unter den Stammgästen des »Nassen Dreieck« wurde von Tag zu Tag mieser. Das Schlafgeld war nur noch von wenigen »Auserwählten« aufzutreiben.
Vom Zahmen Willi hatte man seit der Zeit, da er nach Wiederherstellung seines verkorksten Magens aus dem Krankenhaus entlassen war, nichts mehr gehört.
Thiele hatte nun schon manche Nacht hinten in Muttchens Tuskulum zugebracht. Ein eigenartiges Verhältnis hatte sich zwischen ihm und seiner
Wirtin herausgebildet. Vor der Theke war er nur Gast wie jeder andre auch. Sie behandelte ihn weder besser noch schlechter. Nur wenn sie hinten allein mit ihm war, ging sie aus sich heraus, taute ihr tagsüber gefrorenes Wesen ihm gegenüber auf. Dann überraschte sie ihn mit kleinen Geschenken, war sie unbeholfen zärtlich und lieb wie ein kleiner Tolpatsch zu ihm.

Langsam ging es nun schon auf Weihnachten zu. Einzelne Geschäfte im Innern der Stadt hatten angefangen, ihre Schaufenster für das Weihnachtsfest herzurichten. Tannenzweige waren auf Plakate gemalt oder lagen giftgrün auf weißen Hemdblusen. In manchen Auslagen stand ein putziger Weihnachtsmann und glotzte mit veilchenblauen Glasaugen auf die Vorübergehenden.
Thiele und Stern, die sich vor dem Schlafengehen ein bisschen die Füße vertreten wollten, liefen durch die Straßen wie kleine Bummler aus der Provinz. Die Geschäftsinhaber sparten Licht und hatten deshalb nur selten ein Schaufenster zu dieser Zeit erleuchtet. Wortlos gingen die beiden nebeneinander her, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Allmählich bekamen die Straßen ein anderes Gesicht. Sie waren in eine Gegend gelangt, wo man es den Häusern schon von außen ansieht, dass sie in den Vorderhäusern bis zur dritten Etage mit Treppenläufern belegt sind. An einem entfernten Knotenpunkt der Straßenflucht vor ihnen leuchtete wechselfarbig das Licht einer Verkehrsampel auf. Elegante Autos flitzten auf dem spiegelnden Asphalt fast geräuschlos an ihnen vorbei. Die Schupos, an denen die beiden vorüberkamen, schauten ihnen mißtrauisch-aufmerksam nach.
Ganz unvermittelt sagte plötzlich der Dicke Stern: »Komm, ick will dir mal wat zeigen!« - Er führte Thiele in eine Nebenstraße. Auf der Seite jenseits des Fahrdamms leuchteten die großen Scheiben eines Kaffees. Der Dicke war ganz aufgeregt. So hatte Thiele ihn noch nie gesehen. Obwohl niemand in der Nähe war, der seine Worte hätte hören können, flüsterte Stern seinem Begleiter etwas ins Ohr und wies gleichzeitig mit der Hand nach dem erleuchteten Schaufenster des Kaffees. »Wenn ick wollte, könnte ick jetzt da drüben gemütlich drinnen sitzen, könnte dicke Zigarren roochen - tja, Mensch. Du wirst mir det jar nich jlooben, un doch! Wenn ick bloß wollte, könnte ick mir einfach nach Belieben Jeld aus de Kasse nehmen - fünf Mark oder zehne, janz wie ick wollte, un keen Mensch könnte mir wat deswejen... «
Thiele glaubte, der Dicke sei übergeschnappt, und sah ihn forschend von der Seite an. Da bog sich Stern wieder flüsternd zu ihm und sagte im reinsten Hochdeutsch:
»Das ist nämlich--------mein Gescbäft!!!«
Thiele wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Als er beim Weitergehen nochmals einen Blick zu dem hellerleuchteten Kaffee hinüberwarf, entdeckte er, dass auf dem Inhaberschild tatsächlich »Albert Stern« zu lesen war. Trotzdem war Thiele überzeugt, dass sein herabgekommener Begleiter, von der Namensgleichheit bereits unterrichtet, sich einen dummen kleinen Scherz mit ihm erlauben wollte. Ohne dieses Thema weiter zu berühren, waren sie schon ein Stück Weges zurückgegangen. Da fing Stern wieder an: »Ja, ja, mein Lieber, et is wirklich so, wie ick dir jesaacht habe. Ick mach dir nischt vor.«
Und dann erzählte er dem staunend zuhörenden Thiele eine Geschichte, die so merkwürdig seltsam klang, dass er nur das wenigste davon in den tieferen Zusammenhängen und Folgerungen verstand:
Wie Stern seine Frau als Dienstmädchen bei demselben Bäckermeister, wo er als Geselle tätig war, kennen- und liebengelernt hatte. Wie sie sich beide nach und nach soviel von ihrem Lohn zusammengespart hatten, dass sie heiraten und sich draußen im Osten der Stadt eine kleine Brotbäckerei einrichten konnten. Wie sie Glück gehabt, das Geschäft florierte, so dass sie sich nicht nur gut über Wasser halten, sondern sogar etwas auf die hohe Kante legen konnten. Er selbst sei damals durchaus zufrieden gewesen und habe nie die anderen beneidet, die den dicken Wilhelm spielten und mit dem, was sie erworben hatten, protzten. Seiner Frau aber sei die Dicktuerei verschiedener ihrer damaligen Standesgenossen zu Kopfe gestiegen, und sie habe nicht einsehen wollen oder nicht können, warum der Schlachtmeister X im eigenen Wagen fahren könne oder der Bäckermeister Y draußen in Hermsdorf ein eigenes Grundstück besitze - und sie, die doch auch geachtete Geschäftsinhaber seien, nicht. Dieser Wahn, es den andern gleichtun zu können, wurde zur fixen Idee bei ihr.
Sein Junge, das einzige Kind, das sie besaßen, durfte nicht auf der Straße spielen, um nicht mit Proletenkindern zusammenzukommen und verdorben zu werden. Das Gymnasium musste er besuchen. Mindestens Doktor sollte er werden.
Unerträglich wurde diese Manie zur Großmannssucht, als seine Frau in der Inflationszeit das vorhin von außen gezeigte Kaffee gekauft hatte. Da war's um die Alte geschehen. Sie setzte Fett an wie ein Mastschwein, herrschte souverän in dem Kaffeebetrieb und schikanierte die Angestellten nach Strich und Faden. Länger als vier Wochen hielt es kein Dienstmädchen bei ihr aus. Er selbst wurde völlig beiseite geschoben, durfte tagsüber in Pyjama und gefütterten Hausschuhen zwischen Plüschdecken und Nippesfiguren untätig herumlungern, abends aber zwischen engstirnigen Spießern und kessen Nutten vorn im Kaffee sitzen.
Stern hatte sich während dieser Schilderung seines häuslichen Elends so in Hitze geredet, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ihn mit dem Handrücken abwischend, fuhr er in seiner Erzählung fort: Wie ihn das Leben unter den geschilderten Umständen schließlich angeekelt habe, wie er wild geworden sei, sich aufgelehnt und seine allen vernünftigen Argumenten unzugängliche dicke Alte öfters verprügelt habe. Wie es danach immer schlimmer, immer unerträglicher wurde, bis er es eines Tages einfach nicht mehr ausgehalten habe und durchgebrannt sei. Regelrecht durchgebrannt - wie ein grüner Junge oder ein Backfisch. Die Ta-
geskasse habe er noch mitgenommen, weil alles andere Geld von ihr verwahrt und verwaltet wurde. In seinen gefütterten Hausschuhen sei er getürmt. Einige Male habe sie seinen Aufenthalt ausspioniert und mit Schlichen und Kniffen ihn bewogen, zu ihr zurückzukehren. Lange habe er es aber nie mehr aushalten können, immer wieder sei er abgehauen. Und so führe er denn jetzt diese Lebensweise, wie Thiele sie ja kenne.
Diesem wirbelte das Gehörte im Kopfe herum. Er konnte einfach nicht begreifen, dass ein Mensch das Leben eines regelrechten Penners führen konnte, ohne durch bitterste materielle Not tatsächlich dazu gezwungen zu sein. Dass das Joch seelischer Knechtschaft, ja Sklaverei unter Umständen genauso hart zu ertragen ist wie die schlimmste rein physische Mühsal oder Entbehrung - das ging über seine derzeitige Erfahrung, über sein gegenwärtiges Begriffsvermögen hinaus. - In tiefes Grübeln versunken, schritt er neben dem auch schweigsam gewordenen Dicken Stern einher.

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