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Jack London - Die eiserne Ferse (1906)
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Schatten

Um diese Zeit häuften sich die Anzeichen der kommenden Ereignisse. Ernst hatte schon mit Vater über dessen Politik, Sozialisten und Arbeiterführer bei sich zu sehen, öffentlich sozialistische Veranstaltungen zu fördern, gesprochen, aber Vater hatte Ernsts Sorgen nur verlacht. Ich selbst lernte viel aus dieser Berührung mit den Führern der arbeitenden Klasse. Ich sah die andere Seite der Medaille. Ich war begeistert von der Selbstlosigkeit und dem hohen Idealismus, dem ich begegnete, wenn mich auch die ungeheure philosophische und wissenschaftliche Literatur des Sozialismus einschüchterte. Ich lernte schnell, aber nicht schnell genug, um mir das Gefährliche unserer Lage klarzumachen.
Es gab Anzeichen, aber ich sah sie nicht. So übten Frau Pertonwaithe und Frau Wickson eine sehr erschreckende soziale Macht in der Universitätsstadt aus, und von ihnen stammte das Urteil, dass ich ein voreiliges, selbstgefälliges junges Mädchen sei und den boshaften Drang hätte, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. In Anbetracht der Rolle, die ich bei der Untersuchung des Falles Jackson gespielt hatte, erschien mir dies ganz natürlich. Aber ich unterschätzte die Wirkung dieses von zwei in sozialer Beziehung so mächtigen Frauen ausgehenden Urteils. Ich bemerkte zwar, dass meine besten Freunde sich in gewisser Weise von mir fernhielten, schrieb dies aber der Verstimmung zu, die wegen meiner beabsichtigten Heirat mit Ernst in meinen Kreisen entstanden war. Bald aber setzte Ernst mir klar auseinander, dass diese Haltung meiner Klasse nicht nur eine spontane Regung sei, sondern dass die verborgenen Kräfte einer organisierten Verschwörung dahintersteckten. »Du hast einem Feind deiner Klasse Zuflucht gegeben«, sagte er, »und nicht allein Zuflucht, du hast ihm deine Liebe, dich selbst gegeben. Das ist Verrat an deiner Klasse. Glaub nicht, dass die Strafe dafür ausbleibt.«
Aber vorher noch war Vater eines Nachmittags nach Hause gekommen, und Ernst, der bei uns war, und ich sahen, dass Vater ärgerlich war, ärgerlich wie ein Philosoph. Er war selten wirklich ärgerlich, aber ein gewisses Maß kontrollierten Ärgers gestand er sich zu. Er nannte ihn tonisch, und bei seinem Eintritt konnten wir sehen, dass er tonisch ärgerlich war.
»Was meint ihr«, fragte er, »ich war zum Frühstück bei Wilcox.«
Wilcox war der frühere Rektor der Universität, und sein welker Geist war mit Verallgemeinerungen angefüllt, die im Jahre 1870 neu gewesen sein mochten, aber seitdem nicht revidiert worden waren.
»Ich war eingeladen«, berichtete Vater. »Ich war hinbestellt.« Er hielt inne, und wir warteten.
»Oh, es ging sehr nett zu, bitte; aber ich bekam Vorwürfe. Ich! Und von diesem Fossil.«
»Ich wette, ich weiß, weshalb Sie Vorwürfe erhielten«, sagte Ernst.
»Nein, und wenn Sie dreimal raten«, Vater lachte.
»Einmal wird genügen« erwiderte Ernst. »Und ich brauche gar nicht zu raten, ich brauche nur meine Schlüsse zu ziehen. Man hat Ihnen Ihr Privatleben vorgeworfen.«
»Wahrhaftig«, rief Vater. »Wie haben Sie das erraten?«
»Ich wusste, dass es kommen würde. Ich habe Sie schon früher gewarnt.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Vater nachdenklich. »Aber ich konnte es nicht glauben. Jedenfalls gibt mir das aber nur noch stärkeres Beweismaterial für mein Buch.«
»Es ist nichts gegen das, was noch kommen wird«, sagte Ernst, »wenn Sie weiter diese Sozialisten und Radikalen, mich eingeschlossen, bei sich sehen werden.«
»Genau, was der alte Wilcox sagte. Er redete blödes Zeug. Es sei geschmacklos, ganz zwecklos und vertrüge sich nicht mit akademischen Traditionen und akademischer Würde. Das alles deutete er nur an, so dass ich keine Gelegenheit hatte, ihn irgendwie festzunageln. Ich trieb ihn zwar in die Enge, aber er wiederholte sich nur und erzählte mir, wie hoch er und die ganze Welt mich als Wissenschaftler schätzten. Es war keine angenehme Aufgabe für ihn; ich konnte sehen, dass sie ihm nicht behagte.«
»Er war nicht frei«, sagte Ernst. »Die Fußeisen(1) tragen sich nicht immer angenehm.«
»Nein. So viel brachte ich aus ihm heraus. Er sagte mir, die Universität brauchte dieses Jahr viel mehr Geld, als der Staat bewilligen könnte; sie wären daher auf Stiftungen reicher Privatleute angewiesen, die jedoch Anstoß daran nehmen würden, wenn die Universität von ihren hohen Idealen leidenschaftsloser Forschung und leidenschaftsloser Intelligenz abirrte. Als ich ihn mit der Frage festzunageln versuchte, was mein Privatleben denn damit zu tun hätte, bot er mir einen zweijährigen Urlaub bei vollem Gehalt an, den ich zu meiner Erholung und zu Forschungszwecken in Europa verbringen sollte. Natürlich konnte ich das Anerbieten unter diesen Umständen nicht annehmen.«
»Es wäre weit besser für Sie gewesen«, sagte Ernst.
»Es wäre Bestechung«, protestierte Vater, und Ernst nickte.
»Der Mensch sagte auch, man spräche beim Tee, in Gesellschaften und dergleichen darüber, dass sich meine Tochter öffentlich mit einem so berüchtigten Menschen wie Sie sehen ließe, das vertrüge sich nicht mit Ton und Würde der Universität. Er wolle mir nicht etwa persönliche Vorwürfe machen — o nein! Aber man spräche so, und ich würde wohl verstehen.«
Ernst überlegte einen Augenblick, dann sagte er mit einer Miene, in der sich Erregung und finsterer Zorn mischten:
»Dahinter steckt mehr als das akademische Ideal. Irgend jemand hat einen Druck auf Wilcox ausgeübt.«
»Meinen Sie?« fragte Vater, und sein Gesicht verriet mehr Interesse als Furcht.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen den Gedanken übermitteln, der sich jetzt dunkel in meinem Geiste bildet«, sagte Ernst. »Nie in der Weltgeschichte hat sich die menschliche Gesellschaft in einem so furchtbaren immerwährenden Wechsel befunden wie jetzt. Die schnellen Veränderungen in unserem industriellen System verursachten ebenso schnelle in unserem religiösen, politischen und sozialen Gefüge. Eine schreckliche, unsichtbare Umwälzung geht im Körper der Gesellschaft vor. Man kann das nur dunkel fühlen. Aber es liegt in der Luft, jetzt, heute. Man spürt den Hauch von diesem Gewaltigen, Unbestimmten, Furchtbaren. Mein Geist schreckt davor zurück, sich die Folgen auszumalen. Sie haben gehört, was Wickson neulich sagte. Dahinter standen dieselben namenlosen, formlosen Dinge, die ich fühle, und zu denen er unbewusste Beziehungen hat.«
»Sie meinen... ?« begann Vater, hielt dann aber inne.
»Ich meine, dass der Schatten von etwas Ungeheurem, Drohendem gerade jetzt auf das Land zu fallen beginnt, Nennen Sie es meinetwegen den Schatten einer Oligarchie; das dürfte ihm am nächsten kommen. Welcher Art sie sein wird, kann ich mir nicht vorstellen(2). Was ich aber sagen wollte: Sie befinden sich in einer gefährlichen Lage — in einer Gefahr, die meine eigene Furcht noch erhöht, da ich nicht imstande bin, sie zu ermessen. Folgen Sie meinem Rat und nehmen Sie den Urlaub an.«
»Aber das wäre feige«, protestierte Vater.
»Durchaus nicht. Sie sind ein alter Mann. Sie haben Ihre Arbeit in der Welt geleistet, eine große Arbeit. Überlassen Sie jetzt den Kampf der Jugend und der Kraft. Wir Jungen haben unsere Arbeit noch zu tun. Avis wird mir zur Seite stehen, was auch kommen mag. Sie wird Sie an der Front vertreten.«
»Aber man kann mir ja nichts tun«, warf Vater ein. »Ich bin Gott sei Dank unabhängig. Oh, ich versichere euch, ich kenne die furchtbare Behandlung, die sie an der Universität einem wirtschaftlich abhängigen Professor zuteil werden lassen können. Aber ich bin unabhängig. Ich bin nicht auf mein Gehalt angewiesen. Ich kann sehr behaglich von meinen Zinsen leben, und sie können mir nicht mehr nehmen als mein Gehalt.«
»Aber Sie sehen die Dinge nicht, wie sie sind«, antwortete Ernst. »Wenn alles kommt, wie ich fürchte, dann kann man Ihnen ebenso leicht wie Ihr Gehalt auch noch Ihre Zinsen, ja selbst Ihr ganzes Vermögen nehmen.«
Vater schwieg einige Minuten. Er sann nach, und ich sah die Linien der Entschlossenheit in seinem Gesicht sich bilden. Schließlich sagte er:
»Ich werde den Urlaub nicht annehmen.« Er machte wieder eine Pause. »Ich werde weiter an meinem Buche arbeiten(3). Sie mögen recht haben, aber ob Sie nun recht oder unrecht haben: Ich stehe fest zu meiner Sache.«
»Gut«, sagte Ernst. »Sie wandern denselben Weg wie Bischof Morehouse und gehen einer ähnlichen Katastrophe entgegen. Ehe Sie das Ende dieses Weges erreicht haben, werden Sie beide Proletarier sein.«
Die Sprache kam jetzt auf den Bischof, und wir baten Ernst, uns zu erzählen, was er mit ihm gemacht hatte.
»Seine Seele ist krank, seit er mit mir durch die Hölle gewandert ist. Ich zeigte ihm die Wohnungen einiger unserer Fabrikarbeiter. Ich zeigte ihm die menschlichen Trümmer, die unsere industrielle Maschine beiseite geworfen hat, und er hörte ihre Lebensgeschichte. Ich führte ihn in die Spelunken San Franziskos, und er lernte, dass es eine tiefere Ursache für Trunksucht, Prostitution und Verbrechen als nur angeborene Verderbtheit gibt. Er ist sehr krank, und schlimmer noch, er hat sich nicht mehr in der Hand. Er ist zu ethisch veranlagt und dazu, wie gewöhnlich, unpraktisch. Er schwebt in der Luft mit allerhand ethischen Täuschungen und Plänen für eine Mission unter den Gebildeten. Er hält es für seine heilige Pflicht, den alten Geist der Kirche wieder zum Leben zu erwecken und ihre Botschaft und Herrlichkeit der Gesellschaft zu übermitteln. Er ist überarbeitet. Früher oder später gelangt es bei ihm zum Ausbruch, und dann kommt die Katastrophe für ihn. In welcher Form, kann ich nur erraten. Er ist eine reine, begeisterte Seele, aber gänzlich unpraktisch. Er kann nicht mit den Füßen auf der Erde bleiben. Mit rasender Schnelligkeit eilt er seinem Golgatha entgegen. Und dann seiner Kreuzigung. Diese hohen Seelen sind für das Kreuz bestimmt.«
»Und du?« fragte ich; und mein Lächeln ließ den Ernst der besorgten Liebe durchschimmern.
»Ich nicht«, er lachte zurück. »Ich mag hingerichtet oder ermordet werden, nie aber gekreuzigt. Ich stehe zu sicher und zu fest auf der Erde.«
»Aber warum musstest du die Kreuzigung des Bischofs veranlassen?« fragte ich. »Du wirst nicht leugnen, dass du die Ursache bist.«
»Warum sollte ich eine üppige Seele in der Üppigkeit lassen, wenn Millionen in Arbeit und Elend leben?« fragte er zurück.
»Warum hast du Vater denn geraten, den Urlaub anzunehmen?«
»Weil ich keine reine, begeisterte Seele bin«, lautete die Antwort. »Weil ich starr, schwerfällig und eigennützig bin. Weil ich dich liebe und weil, wie einst bei Ruth, dein Volk mein Volk ist. Der Bischof hat keine Tochter. Zudem wird seine Beschwerde, so unzulänglich sie auch ist, der Revolution doch etwas nutzen, und selbst das Geringste zählt.«
Ich konnte Ernst nicht zustimmen. Ich kannte den edlen Charakter Bischof Morehouses und konnte nicht begreifen, dass seine Stimme, die er für die Gerechtigkeit erhob, nur einer kleinen, unzulänglichen Klage Ausdruck verleihen sollte. Aber ich kannte noch nicht wie Ernst die harte Wirklichkeit des Lebens. Er sah klar, wie nutzlos die Bemühungen der großen Seele des Bischofs sein mussten, und die kommenden Ereignisse lehrten auch mich bald, dies klar zu sehen. Kurz darauf sagte mir Ernst eines Tages, dass ihm die Regierung einen Posten als Arbeitskommissar der Vereinigten Staaten angeboten hätte. Ich war überfroh. Das Gehalt war verhältnismäßig hoch und hätte unsere Heirat gesichert. Ferner hätte die Arbeit Ernst sicher zugesagt, und endlich bedeutete die angebotene Ernennung meinem eifersüchtigen Stolz eine Anerkennung seiner Fähigkeiten.
Da bemerkte ich, dass er mit den Augen zwinkerte. Er lachte mich aus.
»Du wirst es doch nicht... ablehnen?« fragte ich ängstlich.
»Es ist Bestechung«, sagte er. »Ich sehe die feine Hand Wicksons und die Hände von Größeren dahinter. Es ist ein alter Kniff, so alt wie der Klassenkampf selbst — dem Arbeiterheere die Führer zu stehlen. Armer, betrogener Arbeiter! Wenn du wüsstest, wie viele von deinen Führern man schon auf diese Weise gekauft hat. Es ist billiger, viel billiger, einen General zu kaufen, als mit ihm und seiner ganzen Armee zu kämpfen. Da war — aber ich will keinen Namen nennen. Es ist schlimm genug. Liebes Herz, ich bin Arbeiterführer. Ich möchte mich nicht verkaufen. Wenn nicht aus einem ändern Grunde, dann in der Erinnerung an meinen armen alten Vater und die Art und Weise, wie er sich zu Tode arbeiten musste.«
Meinem großen, starken Helden standen die Tränen in den Augen. Er konnte nie verzeihen, wie man seinen Vater misshandelt hatte — dass man ihn zu niedrigen Lügen und kleinen Diebstählen gezwungen hatte, damit er seinen Kindern Brot verschaffen konnte.
»Mein Vater war ein guter Mensch«, sagte Ernst einmal zu mir. »Seine Seele war gut, aber sie wurde verzerrt und verstümmelt und abgestumpft durch die Grausamkeit des Lebens. Seine Herren, diese Bestien, machten ein erschöpftes Tier aus ihm. Er könnte heute noch leben wie dein Vater. Er hatte eine gute Konstitution. Aber er war an die Maschine gefesselt und musste sich zu Tode arbeiten — um des Profits willen. Vergiss das nicht! Um des Profits willen — setzten die reichen Schmarotzer, die feinen Herren, die Bestien, sein Lebensblut in ein Weingelage, in schimmernden Tand oder eine ähnliche Sinnenorgie um.«

(1) Fußeisen — die afrikanischen Sklaven wurden damit gefesselt, ebenso Verbrecher. Erst als die Verbrüderung der Menschheit Tatsache wurde, kamen die Fußeisen außer Gebrauch.
(2) Wenn Everhard es sich nicht vorstellen konnte, so gab es doch, sogar vor seiner Zeit, Menschen, die den Schatten kommen sahen. John C. Calhoun sagte: »Im Lande ist eine Macht entstanden, größer als das Volk selbst, aus vielen, verschiedenartigen und mächtigen Interessen zusammengesetzt und zusammengehalten durch die Kohäsionskraft des riesigen Überschusses der Banken.« Und der große Humanist Abraham Lincoln sagte kurz vor seiner Ermordung: »Ich sehe in naher Zukunft eine Krisis kommen, die mich um die Sicherheit meines Landes zittern lässt... Körperschaften sind entthront, eine Ära der Korruption in höchsten Stellen wird folgen, und die Geldmacht des Landes wird ihre Herrschaft zu verlängern wissen, indem sie die Vorurteile ausnutzt, bis aller Reichtum sich in einigen wenigen Händen befindet und die Republik vernichtet ist.«
(3) Dieses Buch »Wirtschaft und Erziehung« wurde in jenem Jahre veröffentlicht. Drei Exemplare sind erhalten; zwei in Ardis und eines in Asgard. Es behandelt in sorgfältig ausgearbeiteten Einzelheiten einen für die Dauer des Bestehens wichtigen Faktor, die kapitalistische Seite der Universitäten und Volksschulen. Es war eine logische, niederschmetternde Anklage des ganzen Erziehungssystems, das in den Köpfen der Studenten nur solche Ideen entwickelte, die dem kapitalistischen Regime und dem Ausschluss aller feindlichen und umstürzlerischen Gedanken dienten. Das Buch erregte die Wut der Oligarchie und wurde prompt von ihr unterdrückt.

 

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