Die Mathematik eines Traumes
  Die durch seine Enthüllungen verursachte Bestürzung hatte sich noch nicht  gelegt, als Ernst fortfuhr: 
    »Eine ganze Reihe von Ihnen hat heute abend behauptet, dass Sozialismus  etwas Unmögliches sei. Sie haben seine Unmöglichkeit verfochten, und  jetzt lassen Sie mich Ihnen seine Unvermeidlichkeit darlegen. Es ist  nicht nur unvermeidlich, dass Sie, die Kleinkapitalisten, untergehen,  auch der Untergang der Großkapitalisten und der Trusts ist  unvermeidlich. Vergessen Sie nicht, dass die Flut der Entwicklung nie  rückwärts fließt. Sie fließt immer weiter, vom freien Wettbewerb zum  Verband, vom kleinen Verband zum großen, vom großen zum riesigen, und  sie ergießt sich schließlich in den Sozialismus, den riesigsten aller  Verbände. 
    Sie sagen, dass ich träume. Schön. Ich werde Ihnen die Mathematik  meines Traumes darlegen; und ich fordere sie von vornherein auf, mir zu  beweisen, dass meine Mathematik nicht stimmt. Ich werde Ihnen zeigen,  dass der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems unvermeidlich ist,  und ich werde die Unvermeidlichkeit dieses Zusammenbruchs mathematisch  beweisen. Ich beginne, und bitte Sie nur, etwas Geduld mit mir zu  haben, wenn ich anfangs ein wenig weitschweifig bin. 
    Lassen Sie uns zunächst einmal einen einzelnen Industriezweig ins Auge  fassen, und wenn ich irgend etwas behaupten sollte, mit dem Sie nicht  übereinstimmen, so bitte ich Sie, mich zu unterbrechen. Nehmen wir eine  Schuhwarenfabrik. Diese Fabrik kauft Leder und verarbeitet es zu  Schuhen. 
    Sagen wir, es wären für hundert Dollar Leder. Es geht durch die Fabrik  und kommt in Form von Schuhen wieder heraus, die einen Wert von, sagen  wir, zweihundert Dollar haben. Der Wert des Leders hat sich also um  hundert Dollar vermehrt. Wie ist das gekommen? Lassen Sie uns sehen.  Kapital und Arbeit haben also den Wert um hundert Dollar gesteigert.  Das Kapital stellt die Fabrik, die Maschinen und kommt für alle  Auslagen auf. Arbeit liefert Arbeit. Durch vereinte Kraft von Kapital  und Arbeit wurde der Wertzuwachs von hundert Dollar geschaffen. Sind  wir soweit einig? « 
    Die Tafelrunde nickte zustimmend. 
    »Arbeit und Kapital haben also diese hundert Dollar verdient, und nun  gehen sie daran, zu teilen. Die Statistiken dieser Teilung rechnen mit  Brüchen: wir wollen der Bequemlichkeit halber runde Zahlen nehmen. Das  Kapital nimmt fünfzig Dollar als seinen Anteil, und die Arbeit erhält  fünfzig Dollar in Lohn als ihren Anteil. Wir wollen hier nicht auf die  Streitigkeiten bezüglich der Teilung eingehen(1) . Wie sehr man sich auch streiten mag, zu irgendeinem Prozentsatz muss  die Teilung doch vorgenommen werden. Und bedenken Sie, dass das, was  für diesen einen Industriezweig in Frage kommt, auch für alle ändern  Fabrikationszweige zutrifft. Habe ich recht?« 
    Wieder nickte der ganze Tisch zustimmend. 
    »Und nun setzen wir den Fall, dass die Arbeit, die ihre fünfzig Dollar erhalten  hat, ihrerseits Schuhe kaufen wollte. 
    Sie kann das nur im Wert von fünfzig Dollar. Das ist klar, nicht wahr? 
    Und nun nehmen wir statt dieses einzelnen Zweiges die ganze Summe aller  industriellen Zweige in den Vereinigten Staaten, die die Herstellung  des Leders selbst, die Lieferung der Rohstoffe, den Transport und den  Verkauf, kurz, alles einschließen. Nehmen wir, um eine runde Summe zu  nennen, an, dass die Gesamtproduktion an Sachwerten in den Vereinigten  Staaten vier Milliarden Dollar jährlich beträgt. In derselben Zeit hat  die Arbeit einen Lohn von zwei Milliarden Dollar erhalten. Vier  Milliarden sind produziert worden. Wie viel kann die Arbeit hiervon  zurückkaufen? Zwei Milliarden. Darüber kann es keine  Meinungsverschiedenheit geben, das ist sicher. Im übrigen ist der  Teilungssatz, den ich angenommen habe, sehr hoch, denn in Tausenden von  kapitalistischen Unternehmungen kann die Arbeit bei weitem nicht die  Hälfte der Gesamtproduktion zurückkaufen. Wir wollen aber annehmen,  dass die Arbeit zwei Milliarden zurückkaufen kann. Das heißt, dass die  Arbeit nur zwei Milliarden verbrauchen kann. Wir müssen also mit zwei  Milliarden rechnen, die die Arbeit nicht zurückkaufen und verbrauchen  kann.« 
    »Die Arbeit verbraucht ihre zwei Milliarden nicht«, unterbrach ihn Herr  Kowalt. »Täte sie es, dann gäbe es keine Ersparnisse in den Sparkassen.« 
    »Die Ersparnisse der Arbeit in den Sparkassen sind nur eine Art  Reservefonds, der ebenso schnell wieder verbraucht wird, wie er sich  anhäuft. Die Ersparnisse sind für Alter, Krankheit und unvorhergesehene  Fälle sowie für Begräbniskosten gemacht. Sie sind einfach ein Stück  Brot, das man wieder in den Schrank gelegt hat, um es erst am nächsten  Tage zu essen. Nein, die Arbeit verbraucht alles, was ihr Lohn von der  Produktion zurückkauft. 
    Zwei Milliarden verbleiben dem Kapital. Verbraucht das Kapital, nachdem  es alle seine Ausgaben bestritten hat, den Rest? Verbraucht das Kapital  seine ganzen zwei Milliarden? « 
    Ernst hielt inne und richtete die Frage an verschiedene Herren. Sie schüttelten  die Köpfe. 
    »Ich weiß es nicht«, sagte einer von ihnen freimütig. 
    »Natürlich wissen Sie es«, fuhr Ernst fort. »Denken Sie einen  Augenblick nach. Wenn das Kapital seinen Anteil verbrauchte, könnte die  Gesamtsumme des Kapitals nicht wachsen. Sie würde konstant bleiben.  Wenn Sie die ökonomische Geschichte der Vereinigten Staaten betrachten  wollen, werden Sie sehen, dass die Gesamtsumme des Kapitals beständig  gewachsen ist. Das heißt, dass das Kapital seinen Anteil nicht  verbraucht. Erinnern Sie sich noch der Zeit, als England einen großen  Teil unserer Eisenbahnaktien besaß? Mit den Jahren kauften wir diese  Aktien zurück. Was heißt das? Dass der unverbrauchte Teil des Kapitals  die Aktien zurückkaufte. Was bedeutet die Tatsache, dass heute die  Kapitalisten der Vereinigten Staaten Hunderte und aber Hunderte von  Millionen Dollar in mexikanischen, russischen und griechischen Aktien  besitzen? Das bedeutet, dass diese Hunderte und aber Hunderte Millionen  von ihrem Kapitalanteil nicht verbraucht wurden. Seit Beginn des  kapitalistischen Systems hat das Kapital seinen Anteil nie völlig  verbraucht. 
    Und nun kommen wir zur Hauptsache. Vier Milliarden Werte werden  jährlich in den Vereinigten Staaten produziert. Hiervon kauft die  Arbeit zwei Milliarden zurück und verbraucht sie. Das Kapital  verbraucht die ihm verbleibenden zwei Milliarden nicht. Es verbleibt  also ein großer, unverbrauchter Überschuss. Und was geschah mit diesem  Überschuss? Was geschieht mit ihm? Die Arbeit kann nichts davon  verbrauchen, denn sie hat ihren Lohn ja bereits ausgegeben. Das Kapital  verbraucht diesen Überschuss ebenfalls nicht, weil es naturgemäß  soviel, wie es konnte, verbraucht hat. Aber der Überschuss ist noch da.  Was kann damit geschehen? Was ist damit geschehen?« »Er geht ins  Ausland«, meinte Herr Kowalt. »Sehr richtig«, stimmte Ernst ihm zu.  »Dieser Überschuss verursacht unsern Bedarf an ausländischen Abnehmern.  Er wird exportiert. Er muss exportiert werden. Es gibt keine andere  Möglichkeit, ihn loszuwerden. Und dieser unverbrauchte und exportierte  Überschuss wird zu dem, was wir unsere günstige Handelsbilanz nennen.  Sind wir soweit einig?« 
    »Es dürfte Zeitverschwendung sein, uns dieses Abc des Handels  auseinanderzusetzen«, sagte Herr Calvin mürrisch. »Das verstehen wir  alle.« 
    »Und gerade durch dieses Abc, das ich Ihnen so genau auseinandergesetzt  habe, werde ich Sie aufrütteln!« erwiderte Ernst. »Das ist das Schöne  daran. Und ich fange jetzt gleich an. 
    Die Vereinigten Staaten sind ein kapitalistisches Land, das seine  Hilfsquellen aufgeschlossen hat. Zufolge seinem kapitalistischen System  in der Industrie hat es unverbrauchte Überschüsse, die es abstoßen  muss, und zwar ins Ausland(2).  Und was von den Vereinigten Staaten gilt, gilt von jedem  kapitalistischen Staate mit erschlossenen Hilfsquellen. Jedes dieser  Länder hat einen unverbrauchten Überschuss. Vergessen Sie nicht, dass  sie schon miteinander Handel getrieben haben, und dass diese  Überschüsse doch geblieben sind. Die Arbeit in allen diesen Ländern hat  ihre Löhne ausgegeben und kann von dem Überschuss nichts kaufen. Das  Kapital in allen diesen Ländern hat auch schon verbraucht, was es  ausgeben konnte. Und immer bleiben noch Überschüsse. Gegenseitig können  diese Länder sich die Überschüsse nicht verkaufen. Wie werden sie sie  also los?« 
    »Sie verkaufen sie an Länder mit unerschlossenen Hilfsquellen«, meinte Herr  Kowalt. 
    »Sehr richtig. Sehen Sie, meine Beweisführung ist so klar und einfach,  dass Sie sie selbst in Ihren Gedanken weiterführen. Und weiter.  Gesetzt, die Vereinigten Staaten verkauften ihren Überschuss an ein  Land mit unerschlossenen Hilfsquellen. Sagen wir, Brasilien. Was  erhielten nun die Vereinigten Staaten von Brasilien als Gegenwert?« 
    »Gold«, sagte Herr Kowalt. 
    »Aber es gibt nur soundso viel Gold auf der Welt, und nicht allzu viel«, warf  Ernst ein. 
    »Gold in Gestalt von Sicherheiten, Aktien und so weiter«, ergänzte Herr Kowalt. 
    »Da haben Sie's«, sagte Ernst. »Die Vereinigten Staaten erhalten von  Brasilien als Gegenwert Aktien und Sicherheiten. Und was bedeutet das?  Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten dann Besitzer von  Eisenbahnen, Fabriken, Bergwerken und Ländereien in Brasilien sein  werden. Und was bedeutet das wiederum?« 
    Herr Kowalt überlegte und schüttelte den Kopf. 
    »Ich will es Ihnen sagen«, fuhr Ernst fort. »Das bedeutet, dass die  Hilfsquellen von Brasilien erschlossen werden. Und nun weiter. Wenn  Brasilien unter dem kapitalistischen System seine Hilfsquellen  erschlossen hat, wird es selbst einen unverbrauchten Überschuss haben.  Kann es diesen Überschuss an die Vereinigten Staaten loswerden? Nein,  denn die Vereinigten Staaten haben selbst einen Überschuss. Können die  Vereinigten Staaten ihren Überschuss an Brasilien loswerden wie bisher?  Nein, denn jetzt hat Brasilien einen Überschuss. 
    Was geschieht nun? Die Vereinigten Staaten und Brasilien müssen sich  andere Länder mit unerschlossenen Hilfsquellen suchen, um ihren  Überschuss an sie abzugeben. Und wenn das geschieht, werden auch diese  Länder ihre Hilfsquellen erschließen, dann bekommen auch sie  Überschüsse und suchen sich ihrerseits wieder Absatzgebiete in anderen  Ländern. Jetzt, meine Herren, passen Sie auf. Unser Planet hat nur eine  bestimmte Größe. Es gibt nur soundsoviel Länder auf der Welt. Was  geschieht, wenn alle Länder der Welt, selbst das kleinste und letzte,  mit einem Überschuss in der Hand allen anderen Ländern, die ebenfalls  Überschüsse haben, gegenüberstehen?« 
    Er machte eine Pause und sah die Zuhörer an. Die Bestürzung in ihren  Mienen war belustigend. Aber auch Schrecken lag in ihnen. Durch  abstrakte Begriffe hatte Ernst eine Vision beschworen. Und jetzt, da  sie sie sahen, wurden sie von Schrecken gepackt. 
    »Wir sind vom Abc ausgegangen, Herr Calvin«, sagte Ernst listig. »Ich  habe Ihnen jetzt das ganze Alphabet hergesagt. Es ist sehr einfach. Das  ist das Schöne daran. Sie haben gewiss die Antwort bereit. Also bitte,  wenn jedem Land der Erde ein unverbrauchter Überschuss bleibt, wo  bleibt dann Ihr kapitalistisches System?« 
    Aber Herr Calvin schüttelte ärgerlich den Kopf. Er überlegte  augenscheinlich, in der Hoffnung, einen Irrtum in Ernsts Beweisführung  zu finden. 
    »Wir wollen die Sache noch einmal kurz durchsprechen«, sagte Ernst.  »Wir gingen von einem einzelnen Industriezweig, der  Schuhwarenfabrikation, aus. Wir sahen, dass die Produktionsteilung dort  der aller anderen industriellen Betriebe ähnelt. Wir sahen, dass die  Arbeit mit ihrem Lohn nur einen gewissen Teil der Produktion  zurückkaufen konnte, und dass das Kapital den ihm verbleibenden Anteil  nicht ganz aufbrauchte. Wir sahen, dass immer noch ein unverbrauchter  Überschuss blieb, nachdem die Arbeit ihren ganzen Lohn, und das Kapital  alles, was es benötigte, verbraucht hatte. Wir wurden uns darüber  einig, dass dieser Überschuss nur an das Ausland abgesetzt werden  konnte, dass infolgedessen die Hilfsquellen dieses Landes  aufgeschlossen wurden und dieses Land binnen kurzem selbst einen  unverbrauchten Überschuss haben musste. Wir dehnten diesen Vorgang auf  alle Länder der Erde aus, bis jedes Land jährlich und täglich einen  unverbrauchten Überschuss produzierte, den es nicht mehr an das Ausland  absetzen konnte. Und nun frage ich Sie noch einmal: Was fangen wir mit  diesem Überschuss an?« 
    Noch immer antwortete niemand. 
    »Herr Calvin?« fragte Ernst. 
    »Das geht über meinen Horizont«, gestand Herr Calvin. 
    »Ich habe mir solche Dinge nie träumen lassen«, sagte Herr Asmunsen. »Und jetzt  scheinen sie mir so klar wie gedruckt .« 
    Zum ersten Mal hörte ich nun die Auslegung der Lehre Marx(3) vom  Mehrwert; Ernst entwickelte sie, und zwar so einfach, dass auch ich bestürzt  und wie vom Donner gerührt dasaß. 
    »Ich will Ihnen sagen, wie Sie den Überschuss loswerden können«, fuhr  Ernst fort. »Werfen Sie ihn ins Meer. Werfen Sie jedes Jahr Hunderte  von Millionen Dollar in Schuhen, in Weizen , in Kleidern, in sämtlichen  Handelsartikeln ins Meer. Wäre das nicht eine Lösung?« 
    »Zweifellos«, antwortete Herr Calvin. »Aber es ist abgeschmackt von Ihnen, so  zu reden.« 
    Ernst wandte sich blitzschnell gegen ihn. 
    »Ist es auch nur im geringsten abgeschmackter als das, was Sie  Maschinenstürmer reden, wenn Sie die Rückkehr zu den vorsintflutlichen  Methoden Ihrer Vorfahren fordern? Welche Vorschläge machen Sie, um die  Überschüsse loszuschlagen? Sie würden der ganzen Frage einfach aus dem  Wege gehen, indem Sie keinen Überschuss produzierten. Aber wie wollen  Sie den Überschuss vermeiden: durch Rückkehr zu einer primitiven  Produktionsweise, die so verworren, unordentlich und vernunftswidrig,  so zeitraubend und kostspielig ist, dass es unmöglich wäre, einen  Überschuss zu produzieren !« 
    Herr Calvin schluckte. Der Hieb saß. Er schluckte mehrmals und räusperte sich. 
    »Sie haben recht«, sagte er. »Ich bin geschlagen. Es ist abgeschmackt.  Aber wir müssen etwas tun. Für uns vom Mittelstand ist es eine Frage  auf Leben und Tod. Wir wollen nicht zugrunde gehen. Lieber wollen wir  abgeschmackt sein und zu der sicher rohen, primitiven und  unökonomischen Methode unserer Vorfahren zurückkehren. Wir wollen die  Industrie auf das Vor-Trust-Stadium zurückführen. Wir wollen die  Maschinen stürmen. Und was wollen Sie dagegen machen?« 
    »Aber Sie können die Maschinen nicht stürmen«, erwiderte Ernst. »Sie  können die Flut der Entwicklung nicht rückwärts lenken. Ihnen stehen  zwei Mächte gegenüber, deren jede allein stärker ist als der  Mittelstand. Die Großkapitalisten, die Trusts verlegen Ihnen den  Rückweg. Sie wollen nicht, dass die Maschinen zerstört werden. Und  größer noch als die Macht der Trusts ist die der Arbeit. Sie erlaubt  Ihnen nicht, die Maschinen zu stürmen. Die Weltherrschaft, und mit ihr  die Maschine, liegt zwischen Trust und Arbeit. Dort ist die  Schlachtfront. Auf keiner Seite will man die Vernichtung der Maschinen,  auf jeder Seite aber ihren Besitz. In diesem Kampf ist kein Raum für  den Mittelstand, der ist ein Zwerg zwischen zwei Riesen. Sie müssen  einsehen, dass Sie, die Angehörigen des armen, dem Untergang geweihten  Mittelstandes, zwischen zwei Mühlsteine gepresst sind, und dass das  Mahlen soeben begonnen hat. 
    Ich habe Ihnen mathematisch bewiesen, dass der Zusammenbruch des  kapitalistischen Systems unvermeidlich ist. Wenn jedes Land mit einem  unverbrauchten und unverkäuflichen Überschuss in der Hand dasteht, wird  das kapitalistische System unter dem schrecklichen Profitgebäude  zusammenbrechen, das es selbst errichtet hat. Dann aber wird es für den  Mittelstand ganz unerträglich werden. Für die Vereinigten Staaten, für  die ganze Welt wird ein neues, gewaltiges Zeitalter anbrechen. Statt  von den Maschinen zermalmt zu werden, wird das Leben durch sie  angenehmer, glücklicher und schöner gestaltet werden. Sie vom  untergegangenen Mittelstand und der Arbeiter — es wird dann nur noch  Arbeiter geben — Sie und alle Arbeiter werden die Produkte der  wunderbaren Maschinen gerecht verteilen. Und wir alle werden neue und  noch wunderbarere Maschinen bauen. Und es wird keinen unverbrauchten  Überschuss geben, weil es keinen Gewinn gibt.« 
    »Gesetzt aber, in diesem Kampf um die Herrschaft über die Maschine und  die Welt würden die Trusts siegen?« fragte Herr Kowalt. 
    »Dann«, antwortete Ernst, »werden Sie und die Arbeiter und wir alle von  der eisernen Ferse der unbarmherzigsten, furchtbarsten Despotismus, den  die Geschichte der Menschheit je gesehen hat, zermalmt werden. Diesen  Despotismus würde man treffend mit dem Namen >Die Eiserne Ferse<(4) bezeichnen.« 
    Eine lange Pause entstand, in der jeder sich ungewohnten, schweren Gedanken  hingab. 
    »Aber Ihr Sozialismus ist ein Traum«, sagte Herr Calvin und wiederholte: 
    »Ein Traum.« 
    »Dann will ich Ihnen etwas zeigen, was kein Traum ist«, antwortete  Ernst. »Und dieses Etwas will ich Oligarchie nennen. Sie nennen es  Plutokratie. Wir meinen beide dasselbe: die Großkapitalisten oder die  Trusts. Wir wollen sehen, wer heute die Macht hat. Und zu diesem Zweck  wollen wir die Gesellschaft in Klassen einteilen. 
    Es gibt drei große Klassen in der Gesellschaft. Erstens: die  Plutokratie, die sich aus reichen Bankiers, Eisenbahnmagnaten,  Verbandsdirektoren und Trustmagnaten zusammensetzt. Zweitens: den  Mittelstand, Ihre Klasse, die aus Landwirten, Kaufleuten, kleinen  Fabrikanten und berufstätigen Leuten besteht. Drittens und letztens:  meine Klasse, das Proletariat, das aus Lohnarbeitern zusammengesetzt ist(5). 
    Sie können nicht leugnen, dass der Besitz heute eine wesentliche Macht  in den Vereinigten Staaten bedeutet. Wie ist der Besitz unter den drei  Klassen verteilt? Ich werde Ihnen Zahlen nennen. Die Plutokratie  besitzt Werte für siebenundsechzig Milliarden. Von sämtlichen  gewerbetreibenden Menschen in den Vereinigten Staaten gehören nur  neun-zehntel Prozent der Plutokratie an, aber siebzig Prozent des  gesamten Reichtums sind in ihrem Besitz. Der Mittelstand besitzt  vierundzwanzig Milliarden. Neunundzwanzig Prozent der berufstätigen  Menschen gehören dem Mittelstand an, und ihr Anteil am Gesamtvermögen  beträgt fünfundzwanzig Prozent. Endlich das Proletariat. Das besitzt  vierzig Milliarden und stellt siebzig Prozent der arbeitenden  Bevölkerung. In seinem Besitz befinden sich vier Prozent der gesamten  Werte. Wer hat die Macht, meine Herren?« 
    »Nach Ihren eigenen Angaben sind wir vom Mittelstand mächtiger als die  Arbeiter«, bemerkte Herr Asmunsen. 
    »Dass Sie uns schwach nennen, macht Sie im Vergleich zur Macht der  Plutokratie nicht stärker«, gab Ernst zurück »Aber ich bin noch nicht  fertig. Es gibt eine größere Macht als Reichtum, größer deshalb, weil  sie einem nicht genommen werden kann. Unsere Stärke, die Stärke des  Proletariats, liegt in unseren Muskeln, in unseren Händen, die  Stimmzettel abgeben, in unseren Fingern, die Gewehre abdrücken können.  Diese Stärke kann uns nicht genommen werden. Es ist die Urkraft, die  Kraft, die dem Leben verwandt ist, die Kraft, die stärker ist als  Reichtum, und die uns der Reichtum nicht nehmen kann. 
    Ihre Kraft aber ist entreißbar. Sie kann Ihnen genommen werden. Gerade  jetzt ist die Plutokratie dabei, es zu tun, und sie wird sie Ihnen  schließlich ganz nehmen. Und dann haben Sie aufgehört, Mittelstand zu  sein. Sie werden zu uns herabsteigen und Proletarier sein. Und das  Beste dabei ist, dass Sie dann unsere Kraft vermehren werden. Wir  werden Sie als Brüder begrüßen und Schulter an Schulter mit Ihnen für  die Sache der Menschheit kämpfen. 
    Sie sehen, der Arbeiter hat nichts Konkretes, das man ihm nehmen kann.  Sein Anteil am Volksvermögen besteht aus Kleidern und  Haushaltungsgegenständen; in sehr seltenen Fällen hat er einmal ein  eigenes Heim. Sie aber haben konkrete Werte, vierundzwanzig Milliarden,  und die will die Plutokratie Ihnen wegnehmen. Natürlich besteht auch  beim Proletariat ein starkes Verlangen, sie Ihnen zu nehmen. Sie sind  sich Ihrer Lage nicht klar, meine Herren? Der Mittelstand ist ein  schwaches kleines Lamm zwischen Löwen und Tigern. Einer von beiden  verschlingt sie. Und wenn die Plutokratie Sie auch zuerst verschlingen  sollte, nun, so ist es nur eine Frage der Zeit, wann das Proletariat  die Plutokratie verschlingen wird. 
    Ihr gegenwärtiger Reichtum ist kein zuverlässiger Gradmesser für Ihre  Macht . Ihr Reichtum ist in diesem Augenblick nichts als eine leere  Schale. Deshalb lautet Ihr schwacher Kriegsruf: >Zurück zu den  Methoden unserer Väter !< Sie sind sich Ihrer Machtlosigkeit  bewusst. Sie wissen, dass Ihre Stärke eine leere Schale ist, und ich  will Ihnen das beweisen. 
    Welche Macht haben die Landwirte? Mehr als fünfzig Prozent sind Sklaven  angesichts der Tatsache, dass sie nur Pächter oder tief verschuldet  sind. Und alle sind Sklaven angesichts der Tatsache, dass die Trusts  alle Mittel zum Vermarkten des Getreides, wie Speicher, Eisenbahnen,  Elevatoren und Dampferlinien, besitzen oder unter ihrer Kontrolle  haben. Und noch mehr, die Trusts kontrollieren den Markt selbst. Die  Bauern haben gar keine Macht in diesen Dingen. Über ihre politische  Macht werde ich später sprechen, und zwar werde ich dabei gleich über  die politische Macht des Mittelstandes reden. 
    Tag für Tag pressen die Trusts die Landwirte aus, wie sie Herrn Calvin  und die übrigen Molkereibesitzer ausgepresst haben. Und Tag für Tag  werden die Kaufleute auf dieselbe Weise ausgepresst. Erinnern Sie sich,  dass der Tabaktrust in New York allein in sechs Monaten über  vierhundert Zigarrengeschäfte aufgesogen hat. Wo sind die einstigen  Besitzer der Kohlengruben? Sie wissen heute, ohne dass ich es Ihnen zu  sagen brauche, dass der Eisenbahntrust Anthrazitgruben und  Asphaltfelder besitzt oder kontrolliert. Besitzt der Standard Oil Trust(6) nicht an zwanzig Ozeanlinien? Und steht nicht auch alles Kupfer unter  seiner Kontrolle, abgesehen vom Hüttentrust, einem kleinen Außenseiter?  Zehntausend Städte in den Vereinigten Staaten erhalten ihr Licht von  Gesellschaften, die im Besitz des Standard Oil Trusts sind oder unter  seiner Kontrolle stehen, und in ebenso vielen Städten befinden sich  alle elektrischen Verkehrsmittel — Straßenbahnen, Hochbahnen und  Untergrundbahnen — in seinen Händen. Die kleinen Kapitalisten, denen  diese Tausende von Unternehmungen gehörten, sind dahin. Das wissen Sie.  Und ebenso wird es Ihnen ergehen. 
    Dem kleinen Fabrikanten ergeht es  ebenso wie dem Landwirt; beide sind heute zu Vasallen erniedrigt. Im  übrigen sind heute alle Angehörigen freier Berufe, alle Künstler, wenn  auch nicht dem Namen nach, Leibeigene und die Politiker Knechte. Warum  arbeiten Sie, Herr Calvin, Tag und Nacht, um die Bauern mit den übrigen  Mitgliedern des Mittelstandes zu einer neuen, politischen Partei zu  vereinigen? Weil die Angehörigen der alten Partei nichts mit Ihren  atavistischen Ideen zu tun haben wollen. Und warum wollen sie das  nicht? Weil sie, wie ich sagte, Knechte und Vasallen der Plutokratie  sind. 
    Ich nannte die Angehörigen der freien Berufe Leibeigene. Was sind sie  denn anderes? Sie alle, Professoren, Redakteure, Geistliche, behalten  ihre Stellungen nur, weil sie der Plutokratie dienstbar sind, und ihr  Dienst besteht darin, nur Ideen zu verbreiten, die der Plutokratie  nichts schaden, oder die sie fördern. Verbreiten sie Ideen, die für die  Plutokratie bedrohlich sind, so verlieren sie ihre Stellungen und  steigen, wenn sie nicht für schlechte Tage vorgesorgt haben, zum  Proletariat hinab, gehen entweder unter oder werden Agitatoren der  arbeitenden Klasse. Und vergessen Sie nicht, dass Presse, Kanzel und  Universität die öffentliche Meinung machen und das Denken des Volkes  bestimmen. Die Künstler wiederum schmeicheln fast ausschließlich dem  vulgären Geschmack der Plutokratie. 
    Alles in allem aber ist der Reichtum an sich gar nicht die wirkliche  Macht; er ist nur das Mittel dazu, die Macht selbst ist die Regierung.  Wer aber beaufsichtigt heute die Regierung? Das Proletariat mit seinen  zwanzig Millionen Arbeitnehmern? Selbst Sie lachen über diesen  Gedanken. Der Mittelstand mit seinen acht Millionen tätigen  Mitgliedern? Nein, nicht mehr als das Proletariat. Wer kontrolliert  also die Regierung? Die Plutokratie mit ihrer knappen Viertelmillion  tätiger Mitglieder. Aber auch diese Viertelmillion kontrolliert die  Regierung, nicht, wenn sie auch wirksame Beihilfe dazu leistet. Es ist  das Hirn der Plutokratie, das die Regierung kontrolliert. Und dieses  Hirn besteht aus sieben(7) kleinen, aber mächtigen Gruppen. Und  vergessen Sie nicht, dass diese Gruppen heute wirklich gemeinsam arbeiten. 
    Lassen Sie uns nur eine einzige dieser Eisenbahngruppen herausgreifen  und ihre Macht betrachten. Sie beschäftigt vierzigtausend  Rechtsanwälte, um das Volk zu entrechten. Sie verschenkt ungezählte  Tausende von Fahrkarten an Richter, Bankiers, Redakteure, Minister,  Akademiker und Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften und des  Kongresses. Sie unterhält in der Hauptstadt eines jeden Staates sowie  in der Landeskapitale üppig eingerichtete Lobbys(8) Und in allen ändern größeren und kleineren Städten des Landes  beschäftigt sie eine ungeheure Armee von Winkeladvokaten und kleinen  Politikern, deren Aufgabe es ist, Parteitagungen beizuwohnen,  Versammlungen einzuberufen, sich zu Geschworenen machen zu lassen,  Richter zu bestechen und in jeder Weise die Interessen der Gruppe zu  vertreten(9). 
    Meine Herren, ich habe nur die Macht einer von den sieben Gruppen flüchtig  skizziert, die das Hirn der Plutokratie(10) bilden. Ihre vierundzwanzig Milliarden Werte verleihen Ihnen nicht für  fünfundzwanzig Cents Einfluss auf die Regierung. Ihr Reichtum ist nur  eine leere Schale, und auch die wird man Ihnen bald wegnehmen. Die  Plutokratie hat heute alle Macht in Händen. Sie gibt die Gesetze, denn  sie hat den Senat, den Kongress, die Gerichte, und die gesetzgebenden  Körperschaften in ihrer Gewalt. Und nicht allein das. Hinter dem Gesetz  muss die Macht stehen, es zur Ausführung zu bringen. Die Plutokratie  gibt heute die Gesetze, und zu ihrer Ausführung stehen ihr die Polizei,  die Armee, die Flotte und endlich auch noch die Miliz, der Sie, ich und  wir alle angehören, zu Gebote.« 
    Es folgte keine starke Diskussion,  und die Gäste gingen bald. Alle waren still und niedergeschlagen, und  sie verabschiedeten sich mit leiser Stimme. Das Bild, das sie gesehen  hatten, schien ihnen Schrecken eingeflößt zu haben. 
    »Die Lage ist wirklich ernst«, sagte Herr Calvin zu Ernst. 
    »Ich habe kaum etwas gegen Ihre Schilderung einzuwenden Nur Ihr Urteil  über den Mittelstand unterschreibe ich nicht. Wir werden die Trusts  über den Haufen werfen.« 
    »Und zu den Methoden unserer Vorfahren zurückkehren«, vollendete Ernst den  Satz. 
    »Jawohl«, antwortete Herr Calvin feierlich. »Ich weiß, dass es eine Art  Maschinenstürmerei und dass es absurd ist. Aber dann ist das ganze  Leben im Hinblick auf die Machenschaften der Plutokratie absurd.  Jedenfalls aber ist unsere Maschinenstürmerei letzten Endes praktisch  möglich, und das ist Ihr Traum nicht. Ihr sozialistischer Traum ist —  nun, eben ein Traum. Wir können Ihnen nicht folgen.« 
    »Ich wünschte nur, Sie wüssten ein wenig von Entwicklungslehre und  Soziologie«, sagte Ernst nachdenklich, und sie schüttelten sich die  Hände. »Dann könnten wir uns viele sparen.« 
   
  (1) Everhard entwickelt hier klar die Ursache aller Arbeiterunruhen jener  Zeit. Bei der Teilung des gemeinsam erzielten Gewinnes wollte das  Kapital alles haben, was es bekommen konnte, und ebenso machten es die  Arbeiter. Dieser Streit über die Teilung war unversöhnlich. Solange das  System der kapitalistischen Produktion existierte, stritten Arbeit und  Kapital sich über die Teilung des gemeinschaftlichen Gewinnes. Uns  erscheint das heute als ein lächerliches Schauspiel, wir dürfen aber  nicht vergessen, dass wir den Vorteil haben, sieben Jahrhunderte später  zu leben. 
  (2) Theodore Roosevelt, Präsident der  Vereinigten Staaten, erließ folgende öffentliche Erklärung: »Wir  brauchen eine liberale und umfassendere Verteilung des Erwerbs und  Verkaufs von Werten, so dass fremde Staaten die Überproduktion der  Vereinigten Staaten in genügendem Maße aufnehmen können.« Natürlich war  die Überproduktion, die er meinte, der Gewinn des kapitalistischen  Systems, der die Aufnahmefähigkeit der Kapitalisten überstieg. Zur  selben Zeit sagte der Senator Mark Hanna: »Die jährliche Produktion von  Reichtum in den Vereinigten Staaten übersteigt seinen Verbrauch um ein  Drittel.« Auch ein anderer Senator, Chauncey Depew, sagte: »Das  amerikanische Volk produziert Jährlich zwei Milliarden mehr, als es  verbrauchen kann.« 
  (3) Karl Marx — der große  Geistesheld des Sozialismus. Ein deutscher Jude des neunzehnten  Jahrhunderts, ein Zeitgenosse von John Stuart Mill. Es erscheint uns  heute unglaublich, dass seit den ökonomischen Entdeckungen von Marx  Generationen verstrichen sind, in denen er von anerkannten Denkern und  Gelehrten verspottet wurde. Die Folge seiner Entdeckungen war, dass er  aus seinem Heimatlande vertrieben wurde und als Verbannter in England  starb. 
  (4) Dies ist, soweit bekannt, das erste Mal, dass dieser Name auf die  Oligarchie angewendet wurde. 
  (5) Diese Einteilung der Gesellschaft stimmt überein mit der von Luden  Sanial, einer der statistischen Autoritäten jener Zeit. Er berechnete  die Zahlenstärke der Klassen nach der Volkszählung der Vereinigten  Staaten im Jahre 1900 wie folgt: Plutokratie 250 251, Mittelstand 8 429  845 und Proletariat 20 393 137.  
  (6) Standard Oil und Rockefeller - siehe Fußnote 10 aus diesem Kapitel 
  (7) Noch im Jahre 1907 rechnete man damit, dass elf Gruppen das Land  beherrschten; diese Zahl wurde jedoch durch die Verschmelzung der fünf  Eisenbahngruppen zu einer Einheit auf sieben reduziert. Jene fünf  Gruppen, die sich nebst ihren finanziellen und politischen Verbündeten  derart verschmolzen, waren l. James J. Hill, der die Nordwestbahn  kontrollierte; 2. die Pennsylvania-Eisenbahn-Gruppe, die von Schiff und  ändern großen Bankfirmen in New York und Philadelphia finanziert wurde;  3. Harriman, der mit Frick als Berater und Odell als politischem  Vertreter der Kontinentlinie, die Südwest- und die  Südpacific-Küstenlinien kontrollierte; 4. die Eisenbahninteressen der  Familie Gould und 5. Moore, Reid und Leeds, bekannt unter dem Namen  »Die Rock-Island-Bande«. Diese starken Oligarchien gingen schließlich  als Sieger aus dem Wettbewerb hervor und gelangten zu dem  unvermeidlichen Zusammenschluss.  
  (8) Lobbys,  eigentlich Vorsäle, Bureaus, die zur Bestechung und Korruption von  Parlamentsmitgliedern und anderen Politikern, die die Interessen des  Volkes vertreten sollten, eingerichtet waren. 
  (9) Ein Jahrzehnt vor diesen Auslassungen Everhards gab das New-Yorker  Handelsamt einen Bericht heraus, dem wir folgendes entnehmen: »Die  Eisenbahnen kontrollieren völlig die Gesetzgebung der meisten Staaten  der Union; sie ernennen die Senatoren, Kongressmitglieder und  Gouverneure der Vereinigten Staaten und setzen sie ab und sind die  eigentlichen Leiter der Politik der Vereinigten Staaten.« 
  (10) Rockefeller begann als Mitglied des Proletariats, und durch Glück und  Geschicklichkeit brachte er es dazu, den ersten vollkommenen Trust zu  schaffen, nämlich den als Standard Oil bekannten. Wir können es uns  nicht versagen, ein bemerkenswertes Blatt aus der Geschichte jener  Zeiten folgen zu lassen, um zu zeigen, wie die Notwendigkeit, den  Überschuss des Standard Oil Trusts anzulegen, kleine Kapitalisten an  die Wand drückte und den Zusammenbruch des Mittelstandes beschleunigte.  Wir wollen David Graham Philipps, einen radikalen Schriftsteller dieser  Periode, zitieren, und zwar nach einem Exemplar der Saturday Evening  Post vom 4. Oktober 1902. Es ist dies das einzige erhaltene Exemplar  des Blattes, aber nach Aufmachung und Inhalt können wir schließen, dass  es eine populäre, periodisch erscheinende Zeitung war, die eine große  Verbreitung genoss. Das Zitat möge hier folgen: 
    »Vor ungefähr zehn  Jahren wurde das Einkommen Rockefellers von autoritativer Seite auf  30000000 Dollar geschätzt. Er hatte die Grenze rentabler Anlage seines  Verdienstes in der Ölindustrie erreicht, in deren Kassen die riesigen  Summen — mehr als 2 000 000 Dollar monatlich allein für David  Rockefeller --strömten. Das Problem der Neuanlage seines Gewinns wurde  immer schwieriger. Es wurde ein Alp. Das Einkommen schwoll immer mehr  an, und die Möglichkeit gesunder Kapitalanlage war begrenzt, noch  begrenzter als heute. Es war nicht das Verlangen nach noch größerem  Gewinn, das die Rockefellers veranlasste, sich noch auf andere Zweige  als öl zu legen. Die hereinrollende Hut des Reichtums, durch ihren  Monopolmagneten unwiderstehlich angezogen, zwang und trieb sie weiter.  Sie errichteten einen Stab von Leuten, die geeignete Kapitalanlagen  ausfindig machen mussten. Man sagt, dass der Chef dieses Stabes ein  Jahresgehalt von 125 000 Dollar bezog. 
    Der erste bemerkbare Abstecher der Rockefellers in fremdes Gebiet  erfolgte in das der Eisenbahn. Um das Jahr 1895 besaßen sie die  Kontrolle über ein Fünftel des amerikanischen Schienenstranges. Was  befindet sich heute in ihrem Besitz oder doch, infolge überwiegender  Kapitalbeteiligung, unter ihrer Kontrolle? Sie haben die Majorität  aller großen Eisenbahnen von New York, außer einer einzigen, bei der  sie nur mit einigen Millionen beteiligt sind. Sie haben ihre Hand in  den meisten der großen Linien, deren Mittelpunkt Chikago ist. Sie  beherrschen mehrere der Pacific-Linien. Ihre Stimme ist es, die Morgan  so mächtig macht, wenn sie auch, wie man sagen muss, seinen Verstand  mehr brauchen, als er ihre Stimme — jedenfalls augenblicklich —, und  die Verbindung beider ist die Grundlage der »Interessengemeinschaft«. 
    Aber die Eisenbahnen waren allein nicht imstande, diese mächtige Flut  des Goldes zu absorbieren. Gegenwärtig ist das Einkommen von John D.  Rockefeller von 2 500 000 Dollar auf vier, fünf, sechs Millionen im  Monat, auf 75 000 000 Dollar im Jahr angewachsen. Alles Petroleum wurde  für ihn zum Gewinn. Die Neuanlage des Einkommens ergab wieder viele  Millionen im Jahr. 
    Die Rockefellers legten sich auf Gas und Elektrizität, sobald diese  Industrien sich soweit entwickelt hatten, dass sie eine sichere  Kapitalanlage darstellten. Und heute muss ein großer Teil des  amerikanischen Volkes, sobald die Sonne untersinkt, die Rockefellers  bereichern, einerlei, welche Art Beleuchtungsmittel sie gebrauchen.  Dann legten sie sich auf den Grundstückshandel. Man sagt, dass wenige  Jahre zuvor Rockefeller fast zu Tränen gerührt wurde, wenn er von einem  Landwirt hörte, der es vermocht hatte, sich von seinen Hypotheken zu  befreien; jetzt wurden acht Millionen, die er auf Jahre hinaus gut  verzinslich untergebracht glaubte, plötzlich vor seiner Tür abgeladen  und jammerten nach einem Unterkommen. Diese unerwartete neue Sorge, wie  er Raum für Kinder, Enkel und Urenkel seines Petroleums finden sollte,  war zuviel für den Gleichmut dieses Mannes mit seiner gestörten  Verdauung...  
    Die Rockefellers verlegten sich auf Minen — Eisen, Kohlen, Kupfer und  Blei; auf andere Industrien; auf Straßenbahnen, auf Staats- und  Gemeindeanleihen; auf Schiffe, Telegraphenlinien; auf Grundbesitz,  Wolkenkratzer, Paläste, Hotels und Geschäftshäuserblocks; auf  Lebensversicherungen und Banken. Bald gab es buchstäblich kein  Industriegebiet mehr, auf dem ihre Millionen nicht arbeiteten ...  
    Die Bank der Rockefellers — die National City Bank — ist bei weitem die  größte Bank der Vereinigten Staaten. Sie wird in der ganzen Welt nur  durch die Bank von England und die Bank von Frankreich übertroffen.  Ihre Depositen betragen durchschnittlich über hundert Millionen  täglich, und sie beherrscht den Geldmarkt wie auch den Effektenmarkt  von Wall Street. Aber sie steht nicht allein da; sie ist nur das Haupt  der Rockefeller-Banken, die allein in New York vierzehn Banken und  Trusts und in allen Zentren des Landes Bankhäuser von großer  Kapitalkraft und starkem Einfluss umfassen. 
    John D. Rockefeller besitzt Aktien vom Standard Oil Trust für vier bis  fünfhundert Millionen Kurswert. Er ist mit hundert Millionen am  Stahltrust, mit fast ebensoviel an einer Eisenbahn im Westen, mit  beinahe der Hälfte an einer zweiten beteiligt. Und so könnten wir  fortfahren, bis der Geist vom Aufzählen ermüdet ist. Sein Einkommen  betrug im letzten Jahre gegen 100 000 000 Dollar — es ist zweifelhaft,  ob das Einkommen aller Mitglieder der Familie Rothschild zusammen eine  größere Summe ausmacht. Und dabei steigt es von Jahr zu Jahr.«  | 
  
    
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