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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXVIII.

Die Tür ging auf, und der Steward brachte den Schnaps. Es waren sechs große Flaschen, und er stellte sie einzeln auf den runden Tisch.
„Auf alle Schotten!" sagte der Belgier und blinzelte zu dem Gescheckten hinüber.
„Ja", knurrte der Krumme und nahm auch eine Flasche. „Besonders auf ihr großes Maul!"
Der Schotte hob die Hand und wollte den Krummen schlagen. Der Franzose stellte sich aber dazwischen und hielt die Hand des Schotten fest.
„Wir wollen Freundschaft halten!" sagte er, „und lieber auf die Einigkeit der Arbeiter trinken!"
Und auf die baldige Revolution!" schrie der Däne.
" Auch auf Russland!" Sogar der Amerikaner nippte mit aus einer der großen Flaschen.
„Ja!" stimmte der Franzose zu, „besonders auf den Mut und die Tapferkeit der russischen Proletarier!"
Alle tranken eine Weile, währenddessen kamen der Deutsche und der dicke Holländer herein.
Der Deutsche sah sich schielend um und verkroch sich dann in eine Ecke. Der Dicke hinkte langsam auf die Trinkenden zu.
„Setz dich!" rief der Schotte und knickte ihn auf einen
Stuhl.
„Danke", lispelte der Dicke. Er griff nach der Flasche, die ihm der Franzose reichte und versuchte, sie in den Mund zu stecken.
Es war schwer. Er hatte noch immer gesehwollene Lippen, und mit seinem rot und schwarz und blau betupften Gesicht sah er aus wie ein angefaulter Fliegenpilz.
In der Zeit schob der Geduckte einige Tische zusammen und stellte einen Stuhl hoch zu einer Musikantenempore.
„Gibt es einen Tanz?" fragte die Französin.
„Einen Ball!" antwortete der Geduckte. Er kletterte hinauf und klemmte sich den Stuhl zwischen die Beine.
Die Französin machte große Augen. „O!" pfiff sie durch die Zähne und hüpfte kindlich in die Höhe. Dann besann sie sich.
„Dazu muss ich mich umziehen", sagte sie. Sie drehte sich in einem wilden Wirbel bis zur Tür und sprang hinaus.
Der Geduckte spielte eine schnelle Melodie.
„Das kenn ich!" rief der Schotte. „Es ist ein Negerlied." Er stampfte mit beiden Füßen gegen den Boden und sang.
„Jon Henry sagt zu seinem Meister, ein Mensch ist nur ein Mensch, und ehe ich sterbe in dem Dampf, nehme ich lieber den Hammer in die Hand!"
„Das habe ich auch schon gehört!" sagte der Belgier. „Das grölen die schwarzen Brüder in Pittsburgh vor den Hochöfen!"
„Und", rief der Krumme, „in Colorado in den Kohlengruben sangen es die Neger auch!"
„Es ist ein tapferes Lied!" sagte der Franzose und griff wieder nach seiner Flasche.
Der Geduckte lachte. „Die Neger sind überhaupt tapfere Kerle!" schrie er von seiner Höhe.
„Nicht alle!" wandte der Krumme ein. „In Colorado gab es immer einige Hundert, die uns bei jedem Streik in den Rücken fielen!"
„Ist euch das in die Nase gefahren?" fragte der Geduckte und blinzelte mit den Augen.
„In die Nase und in den Verstand!" antwortete der Krumme. „Die Schwarzen sind Arbeiter wie wir, und wenn sie Streikbrecher werden, sind sie Verräter!"
Der Geduckte lachte giftig. „Dass die Schwarzen Arbeiter sind, ist euch aber sicher immer erst eingefallen, wenn ihr auf der Straße lagt. Ich kenne die Schwarzen in Colorado, und es hat mir noch keiner erzählt, dass er auch nur ein einziges Mal von euch wie ein Arbeiter oder wie ein Kamerad behandelt worden wäre!"
Der Schotte nickte und zeigte seine Zähne. „Sie nehmen die Neger ja nicht einmal in ihre Bergarbeiterverbände auf, diese Arbeiter-Gentlemen in Colorado, und wenn ihnen sonst ein Farbiger zu nahe kommt und sie brüderlich in seine Arme schließen will, dann rümpfen sie die Nase und spucken sogar vor ihm aus!"
„O!" sagte der Franzose. „Meine weißen Genossen in Saint Louis und Neuorleans taten dasselbe!"
„Und solche Leute sagen dann, sie kämpfen für den Sozialismus!" stichelte der Däne.
„Und für die Freiheit!" belferte der Schotte hinterher. „Das ist ein schlimmes Kapitel in der amerikanischen Arbeiterbewegung!" gab der Bebrillte zu. „Anstatt ihrem bedrückten und geplagten Bruder Neger zu helfen, haben sie ihn mit erniedrigt. Und die Steine, die sie nach ihm
geworfen haben, sind nicht einmal die kleinsten gewesen!"
Der Geduckte sperrte den Mund auf. „Du tust ja genau so, als ob die Schwarzen von den weißen Tagelöhnern heute besser behandelt würden!" sagte er.
„So ist es auch!" antwortete der Amerikaner. „Und es sind nicht nur wir Anarchisten und Syndikalisten. Sogar die Kommunisten und einige Sozialisten nehmen sich der Colouredleute an!"
Der Geduckte schlug sich auf die Schenkel. „Also schon beinahe ein Vierteldutzend!" grölte er auf.
„O!" sagte der Lange und stellte sich neben den Bebrillten, „in Neuyork und in Boston, in Washington und in Chikago treten bereits Bürgerliche für den Neger ein."
Der Geduckte grölte noch lauter. „Ja!" sagte er, Pietisten und verkommene Heilige, die sich hinter der Bibel verstecken und ihren geliebten schwarzen Brüdern für das Brot, was sie auf der Erde zu wenig bekommen, das himmlische Manna versprechen!"
„Aber!" Der Geduckte streckte sich hoch, „Sie pfeifen ja Gott sei Dank schon auf den ganzen weißen Schwindel und auf die heiligen Versprechen, ob sie nun vom Arbeiter oder vom Bürger gemacht werden, denn sie wissen: der Weiße ist ihr Feind, nichts weiter, und er wird es so lange bleiben, bis er sie genau so behandelt, wie er selber behandelt sein will!
„Was werden sie aber bis dahin machen?" fragte der Franzose,
Der Geduckte presste die Lippen zusammen. „Das lässt sich weder sagen noch prophezeien!" antwortete er. „Die mit mir auf der Landstraße lagen, sprachen zum größten Teil in frommen Versen, wenn sie von sich selber redeten. Wir sind das auserwählte Volk! sagten sie, und wir warten darauf, dass uns Gott einen Moses sendet und uns aus unserem Elend in das verkündete gelobte Land führt!"
„Es gab aber auch solche, die sich klar waren, dass sie nicht auf den himmlischen Moses warten müssen, und wenn da irgendwo ein richtiger Kerl aufsteht und die andern zum Auszug oder zur Befreiung aufruft, dann werden die tapferen Schwarzen auch ohne den Himmel in ein ,gelobtes Land' kommen!"
Der Lange und der Amerikaner lachten. „Hoffen wir es!" sagten sie.
„Ja! Hoffen wir es!" rief der Franzose lauter. Sie stießen alle drei mit den Flaschen an.
Es war nun eine Weile still. Die Männer tranken nur und sahen sich dabei groß und lächelnd in die Augen.
„Teufel!" sagte plötzlich der Krumme, und er wandte seinen Kopf nach allen Seiten, „wo stecken eigentlich die Frauen?"
Auch die andern drehten sich um. In den Ecken saß bloß der Deutsche und gegenüber, an einem Fenster, lehnte der Heilige.
„Sie machen sich schön!" sagte der Geduckte geheimnisvoll. In dem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und die Frauen traten herein.
Zuerst kam die Jüdin. Sie hing in einem langen, gelben Seidenkleid und sah aus wie eine zu große, etwas überreife Zitrone.
„Himmel!" lobte der Schotte und schnalzte mit der Zunge. „Ein beflügelter Elefant!"
Die Französin war hübscher. Über ihren runden Schultern hingen zwei violette Träger, die kurz über ihren Brüsten in einen roten, hängenden Rock überliefen.
„Sind wir nicht schön?" sagte sie und stellte sich knixend vor die Männer.
„Sehr schon!" sagte der Krumme. Er näherte sich und steckte einen Finger zwischen die Lippen.
Mit ihm näherten sich der Belgier und der Korrekte. Der Belgier trat zu der Jüdin und fasste sie um die Hüften. „Wollen wir tanzen?" fragte er sie.
„Musik!" schrie zu gleicher Zeit der Schotte zu dem Geduckten hinauf. Er schnellte an dem Korrekten und an dem Krummen vorbei, fasste die erstaunte Französin und hob sie in die Höhe.
Der Geduckte spielte zuerst einen Dreher. Der Schotte hob die Französin bis an seine Schulter und schwenkte sie wie einen Propeller.
Dem Belgier fiel das Tanzen schwerer. Die Jüdin versuchte,
sich nach dem schnellen Takt zu drehen, sie verlor aber das Gleichgewicht und klatschte auf den Boden.
Autsch!" schrie der Krumme, dem sie auf die Beine gefallen war.
Den zweiten Tanz machte der Korrekte mit der Jüdin. Die Frau hatte den dürren Holländer zwischen ihre Brüste gepackt, und er hing so in ihrer Fülle, als wäre er angewachsen.
Die Französin tanzte mit dem Dänen, und der Krumme, der sich nach ihm mit ihr drehen wollte, scherbelte schon mit kleinen, hüpfenden Bewegungen um die beiden herum.
Nach dem fünften Tanz machten sie eine Pause. Sie wollten trinken. Der Schnaps war leider bereits ausgetrunken, und der Franzose lief hinaus und rief nach dem Steward.
„Jenetta!" sagte er, als er wieder zurückkam, und er fasste die Französin um den Leib, „du könntest eigentlich allen, die nicht tanzen, einen Kuss geben!"
„Da!" sagte die Frau. Sie spitzte ihren Mund und küsste den Franzosen,
„Mich auch!" jammerte der Dicke, und er stemmte sich von seinem Stuhl hoch.
Die Französin nahm ihn behutsam zwischen ihre Hände. „Den auf die Nase", sagte sie. „Den auf das kaputte Ohr!" Als der Dicke aber noch einen Kuss auf den Mund haben wollte, gab sie ihm einen leichten Klaps und schob ihn wieder auf seinen Stuhl.
„Und du!" sagte sie dann und trat zu dem Amerikaner.
Der wurde rot wie ein Schuljunge. „O!" stammelte er. „O!" Er wollte sich hinter einen Stuhl flüchten. Die Frau war aber schneller und fasste nach seinem Hals. Sie zog ihn langsam zu sich herunter.
Aber auch die Tänzer wollten nun einen Kuss haben. Der Krumme, der schon betrunken war, packte die Französin am Kopf und riss sie in seine Arme.
„Hallo!" schrie der Schotte und nahm sie ihm wieder
fort. Du willst uns das Frauenzimmer wohl auffressen!"
Da sich noch mehr Männer um die Frau stritten, stürzte
sich der Geduckte von seiner Höhe und schlug die
Kämpfenden auseinander.
„Antreten!" brüllte er dann und stellte den Schotten an die Spitze. Die andern mussten sich neben ihn stellen und er richtete sie aus.
Die Französin, die dem Geduckten mit blinzelnden Blicken zugesehen hatte, bog erst verschämt ihren Kopf nach unten, als sie die ganze Reihe mit großen Augen und aufgerissenen Mäulern anstarrte. Plötzlich züngelte sie und ging mit vorsichtigen Schritten an den ersten heran.
So!" sagte sie, als sie die ganze Front abgeküsst hatte, und zeigte mit beiden Händen auf die Jüdin, „nun soll die Gelbe dasselbe tun!"
Die Jüdin kam auch gleich heran. Sie stülpte ihre Lippen nach vorn und fasste den Schotten an der Schulter.
Puh!" sagte der Abgeschleckte und schüttelte sich. „Das Riesenweib hätte mich beinahe verschlungen!"
Die andern waren freundlicher zu der dicken Frau. Der Krumme und der Korrekte küssten sie sogar zweimal.
Als sie den Korrekten erreicht hafte, stieg der Geduckte auf seinen Thron zurück, und der Tanz ging weiter.
Die Männer und Frauen drehten und wirbelten sich herum bis Mitternacht. Sie tanzten aber nicht mehr zu zweit. Sie hatten sich alle miteinander bei den Händen genommen, und sie traten den hölzernen Boden, als müssten sie ihn bis hinab in das Wasser stampfen.
Da die Männer immer wieder nach den Flaschen griffen, waren sie bald betrunken. Sie hatten große, glasige Augen, und wenn sie sich berührten, schlügen sie sich patschend auf die Hinterseiten oder sie zeigten sich grinsend und glucksend die Zähne.
„Freunde!" sagte der Franzose, als sie endlich ganz erschöpft waren und in die Stühle fielen, „das war ein guter Abend! Das war eine gute Nacht! Darauf sollten wir noch einmal trinken!"
„Ja!" lallte der Däne und hob eine Flasche, „besonders auf die, die uns morgen verlassen!"
Der Franzose, dem der Schnaps schon das Wasser in die Augen trieb, nickte. „Also auf euch!" sagte er.
Er war aufgestanden und lief mit kleinen, unsicheren Schritten zu dem Schotten. Der Schotte stemmte sich auch in die Höhe. Sie fielen sich beide in die ausgebreiteten Arme.
Der Belgier packte in der gleichen Zeit nach dem Krummen. Selbst dem Langen fielen die Männer um den Hals. Zuletzt war im ganzen Raum nur noch ein einziges Umarmen.
„Kamerad!" sagte unterdessen der Franzose leiser, und er führte den Schotten abseits, „du sollst unsere Reise und mich nicht vergessen. Ich will dir etwas schenken." Er holte mühsam ein Bild aus der Tasche und drückte es dem Überraschten in die Hand. „Meine Frau ist darauf und die Kinder!" sagte er.
Der Schotte bekam nasse Augen, und er wischte sie sich behutsam wieder aus. „Danke!" sagte er. „Ich danke dir!" Er machte ein paar kleine Verbeugungen und steckte das Bild zu sich.
Auch der Krumme wurde beschenkt. Der Däne gab ihm eine silberne Nadel, und der Belgier steckte ihm ein Taschenmesser zu.
„O!" lallte er erfreut und streckte seine Hände nach allen Seiten, „jetzt sollten wir uns noch einmal küssen!"
Bevor er aber die Frauen, die ihm von dem Korrekten und dem Amerikaner zugeschoben wurden, umfassen konnte, trat der Offizier vom Dienst in den Raum.
„Feierabend!" schrie der kleine, uniformierte Mann mit einer lauten, belfernden Stimme.

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