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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXIV.

Der Krumme, der Belgier und der Franzose, denen nach einer Weile auch der Geduckte und der Schotte gefolgt waren, drangen soweit vor, bis sie deutlich vernahmen, dass das Schreien des Dicken aus dem abgesperrten Gang kam.
„Donner!" rief der Krumme, der seinen Kopf in den Gang steckte, um das Schreien deutlicher zu hören, „der läuft keinem Weibe wieder nach!"
Der Franzose war ängstlicher. Dass sie ihm nur nichts zerschlagen", sagte er.
„Dem dickfelligen Bauern?" lachte der Belgier. „Dem könnte das gar nichts schaden!"
„Man muss trotzdem nach ihm sehen", sagte der Geduckte. „Es ist doch unser Kamerad!"
Bevor sich die Männer aber einig werden konnten, ob sie dem Dicken zu Hilfe eilen sollten, wurde die Kabine aufgestoßen, aus der das Geschrei kam, und der Verprügelte stürzte heraus.
Der Mann, der das Prügeln besorgt hatte und auch noch weiter prügelte, kam hinterher. Als er den Schotten und den Geduckten sah, die mit grimmigen Gesichtern zu ihm aufblickten und außerdem ihre Fäuste hoben, stellte er aber sein Prügeln ein.
„Wollt ihr etwa dieses Fässchen erobern?" fragte er und hob den Dicken hoch. „Das könnt ihr haben, auch ohne dass ihr solche dummen Fratzen schneidet!"
Er kam mit dem Dicken gleichzeitig etwas näher, legte ihn dann wieder auf die Erde und kugelte ihn den Männern vor die Füße.
„Steh auf!" schrie der Belgier, als der Matrose in die Kabine zurückgegangen war, und stieß dem Weiterschreienden mit dem Fuß gegen die Wade.
„Steh auf!" rief auch der Geduckte und zog dem Dicken die Hände vom Gesicht.
Der Dicke schrie aber noch gellender. Der Schotte und der Geduckte richteten ihn dann auf, und der Franzose versuchte, ihm mit seinem Daumen die zusammengepressten Augenlider in die Höhe zu stemmen.
„Kamerad," sagte er dabei, „der Kerl, der dich geschlagen hat, ist fort!"
Der Dicke, dessen Gesicht so blau und gedunsen war wie ein fauliger Apfel, erkannte den Franzosen und verschluckte sein Geschrei auch allmählich. Er war aber so zerschlagen, dass er nun ein schauriges Stöhnen begann und sich auf den Schotten stützen musste. Mit tiefem Schluchzen und kurzen, lauten Aufschreien betastete und befingerte er sich, an ihm lehnend, von oben bis unten ab. „Der Bauch ist wohl noch in Ordnung?" fragte der Geduckte tröstend, der über das schmerzhaft verzogene Gesicht des Dicken lachen musste und patschte ihn darauf.
Auch der Belgier stichelte. „Sieh!" sagte er und fasste den Stöhnenden leicht an der Nase, „sogar deinen Stumpen hat er dir nicht herausgerissen!"
Nur der Franzose war noch weiter besorgt. „Einen lebenden Menschen so zu schlagen!" hüstelte er. Er strich dem Stöhnenden behutsam und tröstend über den Rücken.
Die Männer versuchten nun, den Geretteten langsam zu ihrer Kabine vorzustoßen. Es war etwas schwierig, denn der Dicke, dem der Schmerz immer wieder die Augen schloss, stolperte immerzu.
„Achtung!" meckerte der Krumme, als sie die Schwelle überschritten, „unser dicker Landesel ist in einen Bienenkorb gefallen!"
Die Zurückgebliebenen mussten aber auch ohne die Ankündigung des Krummen lachen, denn der Dicke, der so plötzlich in den Lichtkreis der Kabinenlampe trat, sah noch beängstigender und schlimmer aus als ein zerstochener Landesel.
„Donnerwetter!" schrie der Däne von seiner Höhe und zeigte auf den geschwollenen, blutunterlaufenen Mund, „du musst dir ja schwer die Lippen verbrannt haben!"
„Ja," kicherte der Schotte, „die Betschwester ist sicher zu heiß gewesen!"
„Sieh!" sagte der Amerikaner mitleidiger und hob einen schwarzen Stumpen auf, den der Dicke ausgespieen hatte, „ich glaube, die Geschichte hat dir auch ein paar Zähne gekostet!"
Diesmal machte der Geduckte einen Spaß, „Er war zu stürmisch!" spöttelte er.
„Sogar die Hosen haben sie dir zerrissen!" sagte der Russe mit seiner zischelnden, leisen Stimme. Er trat näher heran und zeigte auf die aufgeplatzten Hosenbeine, aus denen überall das rote Fleisch sah.
„Und er blutet noch immer!" Die Französin, die den Dicken schon länger angesehen hatte, sprang eilig auf, und sie drückte dem Stöhnenden ihr Taschentuch auf den tropfenden Mund,
Den Dicken richtete das etwas auf. Ihm, der bis jetzt unbeholfen seine Schmerzen ertragen hatte, und der in dem Spott und den derben Tröstungen der Männer wie ein Verlorener stand, tat die Nähe und das Bemitleiden der Französin außerdem wohl.
„O!" stöhnte er weiter, aber schon eine Oktave tiefer. „O!" er hob seine linke Hand und drückte sie auch auf das Taschentuch,
„Mann!" warnte ihn nun plötzlich der Krumme, dem die Annäherung der beiden in den Magen fuhr, „das ist ja wieder ein Weibsbild! Pass auf!" schrie er einen Augenblick später, „gleich setzt es neue Prügel!"
Der Däne, den das nicht aufhörende Quellen des Dicken genau so ärgerte, fuhr ihn noch härter an. „Hasenkerl!" schrie er aus seiner Höhe, „eben hat dich so ein Frauenzimmer verhauen lassen und schon hängst du dich an eine zweite!"
Der Dicke stöhnte erst einige Male auf, bevor er antwortete, „Kann man denn wissen," stammelte er dann unter Tränen, , „dass eine, die mit dem Gebetbuch ins Bett geht, einen Matrosen mit hinein nimmt!"
Der Geduckte lachte auf, „Wenn sie einen Mann damit fangen können, angeln sie sogar mit dem Rosenkranz!"
„Mit dem Rosenkranz!" wiederholte der Däne. „Die ganze Dreieinigkeit und ihren lieben Gott geben sie dazu, wenn sie dafür einen Mann eintauschen können. Und wenn er nur eine Nacht in ihrem Bette bleibt!"
Die Französin, die spürte, dass besonders sie durch diese Worte getroffen werden sollte, zuckte auch einige Male zusammen. Sie ließ aber trotzdem nicht von dem Geprügelten ab. Sie drückte ihr Taschentuch fester auf seinen Mund, betüpfelte noch die Nase und die Stirn, führte dann den schon leiser Stöhnenden bis zu ihrem Platz und half ihm auch dort.
„So seht ihr also in Wirklichkeit aus?" keifte sie auf, als der Dicke nun saß, und schnellte sich nach dem Dänen herum, „Das ist eure tägliche Fratze, einen anderen zu verspotten und über eine Frau eure Kübel auszugießen!"
„Und das ist euer ganzer Verstand!" fuhr sie nach einer kurzen Pause fort und bläkte die Zähne, „dass ihr Frauen die Gebetbücher und die Rosenkränze nachwerft und sie selber in den Kehricht schmeißt. Denkst du denn," sie wandte sich besonders an den Dänen, „dass es einer Frau Freude macht, wie eine Heilige herumzulaufen und immer das Kreuz zu schlagen? Wenn sie es nicht müsste, würde sie noch heute ihr richtiges Gesicht zeigen und den ganzen Heiligenkram über Bord werfen!"
„Warum tut sie es denn?" warf der Däne schüchtern ein.
„Grünschnabel!" Die Französin funkelte wie ein Feuer. „Weil es zu ihrem Beruf gehört!"
„Beruf?" Dem Dänen blieb der Mund offen.
„Ja!" sagte die Frau und lachte schallend, „hast du denn nicht gemerkt, dass sie sich außer zum Essen nur an den Nachmittagen sehen lässt? In den anderen Stunden ist sie für die Matrosen da. Und damit sie nicht auch von fremden Hunden beschnüffelt wird, also von euch, muss sie, wenn sie sich zu euch setzt, das Kreuz schlagen und die Heilige spielen."
„Ein netter Beruf!" sagte der Geduckte.
Die Französin schnellte herum und zischte den Geduckten bissig an. „Genau so ein netter wie der deinige. Oder bist du vielleicht mehr als sie?"
Der Geduckte wusste nicht gleich, was er sagen sollte. „Nun", knurrte er nach kurzer Zeit, in der sie sich beide wie zwei Hähne gemustert hatten, „laufen ist immerhin gerader als hinlegen!"
Die Französin wurde noch bissiger. „Mit deinem Hinlegen!" trumpfte sie auf. „Erst scharwenzelt ihr Männchen um so ein Weibsbild herum, und wenn sie unter euch gelegen hat, spuckt ihr nach ihr und nehmt sie nicht ernst."
Der Franzose, der aufgestanden war, strich sich erregt über das Gesicht und mischte sich mit in den Streit. „Die Frau hat recht", sagte er. „Warum sollen wir auf so eine Matrosendirne spucken? Sie ist nicht besser und nicht schlechter als wir. Wer hat sie außerdem in so einen Beruf gezwungen, unsere heutige Ordnung, die jetzige Gesellschaft. Sie ist ein Opfer wie wir!"
„Wie wir?" Der fragende Belgier sah den Franzosen etwas erstaunt und spöttelnd an.
„Ja," sagte der Franzose, „die Frau muss ihren Leib verkaufen, um leben zu können, und wir verkaufen unsere Kraft, oder ist das etwa nicht dasselbe?"
„O!" der Belgier schnappte nach diesem Vergleich nur mit dem Mund.
Die Französin stimmte dem Mann aber eifrig zu. „Ich habe es das erste Mal tun müssen, als ich 17 Jahre war!
Macht nur eure Witze über mich," sagte sie schneller, als sie sah, dass der Geduckte den Dänen blinzelnd in die Seite stieß, „aber wenn ihr glaubt, die Mädchen kämen mit dem Gedanken auf die Welt, einmal bloß mit ihrem Leibe zu arbeiten, so irrt ihr euch. Ich", sagte sie ruhiger weiter, „habe das wenigstens nie gedacht!"
„Ist es in Paris passiert?" fragte der Belgier neugierig. „Ja", sagte die Frau. „Der Ohm, bei dem ich lebte, war über Nacht gestorben, und ich fuhr nach Paris, weil man mir erzählt hatte, dort könne ein Mädchen am leichtesten ihr Brot verdienen!"
„He!" Der Geduckte meckerte auf. „Und hat man dir nicht gleich gesagt mit was?"
Die Französin, die den Spott des Geduckten nicht verstanden hatte, antwortete: „Mit Blumenbinden. Es waren auch schon viele Mädchen aus dem Dorfe als Blumenbinderinnen nach Paris gefahren, und sie schrieben alle, es ginge ihnen gut."
„Und dir ist es nicht gut gegangen?" drängte der Belgier weiter.
„Nein!" Die Französin stemmte die Arme hoch. „Ich war die ersten Tage sehr ängstlich und traurig, weil die Stadt so groß war. Ich kannte ja nur Clermont, wo ich geboren wurde, und das Dorf, wo der Ohm lebte. Als dann die vielen Gänge nach den Blumenmacherwerkstätten begannen, wurde die Traurigkeit noch größer. Überall standen schon 5 bis 10 Mädchen, die sich zu der Arbeit drängten, und nach sieben Wochen lief ich immer noch von Straße zu Straße!"
„Dabei ist dir wohl aufgegangen, dass du dein Geld auf eine bequemere Weise verdienen kannst?" fragte der Geduckte hastig.
„Das kam ganz plötzlich!" antwortete die Frau, die ihre Augen geschlossen hatte. „Ich traf einige Male ein junges Mädchen, die behauptete, sie sei aus der Gegend von Tours. Sie drängte sich eben so wie ich zu den Arbeitsstellen, und als wir uns eines Tages wieder trafen, blieben wir zusammen und schlossen Freundschaft!
Etwas später, wir hatten beide nur noch einige Sous in der Tasche, einigten wir uns, dass ich aus der Dachkammer, die ich bei einer ehrlichen Maurersfamilie bewohnte, ausziehen und mit bei ihr schlafen sollte. Ich tat es, und wir waren nicht gerade unglücklich zusammen. Eines Abends, ihr war schon einige Tage das letzte Geld ausgegangen, brachte sie nun einen jungen Mann mit auf unser Zimmer. Sie hatte mir nichts davon gesagt, und sie genierte sich auch nicht weiter. Der Mann kam also zu seinem Vergnügen, und nachdem er 10 Franken gezahlt hatte, ließ sie ihn wieder gehen!
„Jenetta!' sagte sie dann zu mir, ,du bist sicher erstaunt. Aber was sollte ich tun! Und Paris ist darin groß. Wenn dich nichts mehr ernährt und du denkst schon, du musst verhungern, so ernährt dich doch noch dein Körper. Was ist auch dabei? Du verdienst dir 10 Franken und du wischt dich danach wieder ab!'
Ich war trotzdem entsetzt, aber als die elfte Woche kam und ich noch immer keinen Verdienst hatte, da suchte ich mir auch junge Männer. Nicht oft! Nur, wenn die 10 Franken wieder ausgegeben waren, Es war zuerst schwer. Später gewöhnte ich mich daran."
„Wohl weil es ganz einträglich war! Wenigstens einträglicher als das Blumenbinden!" Der Geduckte meckerte
leise,
„Blumen haben wir daneben auch gebunden", antwortete die Französin. „Es wurde bloß so mager entlohnt, dass wir kaum die Miete davon bezahlen konnten!"
„Und habt ihr euch das gefallen lassen?" fragte der Däne.
„Lassen?" Die Französin wiederholte das Wort des Dänen und lachte hart auf. „Die Kerle, die uns die Arbeit gaben, wussten, dass hinter jeder von uns 10 andere standen, die unsere Arbeit sogar für einige Sous weniger getan hätten, und wenn wir doch das Maul aufsperrten und uns über die kümmerliche Bezahlung beschwerten, lachten sie und sagten, wir könnten uns ja dass, was uns noch fehlte, nach Feierabend auf dem Boulevard Sebastopol verdienen. Sie waren so frech und riefen uns noch nach: Ihr beschäftigt euch ja hier bloß mit den Händen. Ein richtiger Arbeiter muss aber seine fünf Franken Tagelohn mit dem ganzen Körper erarbeiten. Es ist euch also nur dienlich, wenn ihr abends noch über die Boulevards geht!"
„Und wie bist du nach Amerika gekommen?" Der fragende Amerikaner sah die Frau groß an.
„O!" die Französin lächelte. „Wir waren beide nicht nur Blumenbinderinnen und Nachtläuferinnen, wir sahen uns auch um, wie wir unser armes Leben verbessern könnten. Mir half dabei der kleine Maurer, bei dem ich zuerst gewohnt hatte. Er und seine Frau waren Syndikalisten, und eines Tages las ich in einem der Blätter, die mir der Mann oft brachte, dass es den Frauen in Amerika besser ginge als den Frauen in Frankreich! Das lockte uns!"
Der Amerikaner lächelte auch. „Und dann seid ihr einfach hinübergefahren?"
Die Französin schüttelte den Kopf. „Erst mussten wir das Geld zur überfahrt verdienen. Das war schwer! Sehr schwer! Wir konnten es nur aus unseren Straßengängen holen. Aber schon in Neuyork ging es uns so gut, dass wir die schlechten Tage von Paris bald wieder vergaßen!"
„Habt ihr da auch die Straßen abgestrichen?" Der Geduckte duckte sich, als er das sagte.
Die Französin sah aber kaum zu ihm hin. „Der Maurer", sagte sie, „hatte uns einen Brief an eine syndikalistische Organisation mitgegeben. Die empfing uns, als wären wir Ladies, und wir waren die erste Zeit ganz erschrocken vor ihrer Höflichkeit. Sie vermittelten uns am nächsten Tag noch eine gute Wohnung und eine gute Arbeit, und in 14 Tagen standen wir schon auf eigenen Füßen und konnten sparen!"
„Und bist du immer in Neuyork geblieben?" fragte der Amerikaner weiter.
Nein", antwortete die Frau. „Ich war in Chikago und in Pittsburgh, in. Denver und in Boston. Auch in verschiedenen kleinen Orten. Es war ja so leicht, weiterzukommen, nachdem wir erst einmal in Lohn und Arbeit gestanden hatten!"
„Was hast du denn gearbeitet?" fragte der Krumme unvermittelt und schob seinen eingedrückten Kopf vor.
O!" Die Französin lachte den Krummen an. „Alles! Ich war Seidenarbeiterin und Kontoristin. Ich habe einem dicken Bankier seine Briefe geschrieben und habe seiner Frau die Haare onduliert. Einmal hatte ich auch eine Stelle bei jungen Katzen. Aber hauptsächlich bin ich doch in Fabriken gegangen."
„Dir haben die Staaten scheinbar gefallen", sagte der Amerikaner, der die Frau nicht aus den Augen gelassen hatte.
„Sehr! Sehr!" antwortete die Französin schnell. „Besonders, dass die Männer dort so anständig gegen die Frauen sind. Dass sie ihnen jede Freiheit lassen. Ja, dass sie für die Freiheit der Frau eintreten und kämpfen!"
„Tun das die europäischen Männer nicht?" fragte der Belgier. „Wir Sozialisten, wir Arbeiter sind doch schon seit einer Ewigkeit für die Gleichberechtigung der Frau!"
Die Französin sah den Belgier mit kleinen Augen an. „Die Sozialisten! Die Arbeiter! Vielleicht die in Paris oder die in Boulogne!" Ihr Mund verzog sich spöttisch. Geh einmal hin und sieh dir dort die Gleichberechtigung an! In der Rue Gabrielle, wo ich wohnte, war das ganze Haus voll solcher Frauenrechtler, Früh schlugen sie die kleinen Frauen, und mittags und am Abend sangen sie auch alles andere als gemeinsame Töne mit ihnen. Und dabei schlugen sie sich auf die Brust und nannten sich die Zukünftigen der Welt, und wenn sie nachts hinter ihrem Absinth saßen, dann troffen sie von Sprüchen über die kommende Kommune und die große Gleichberechtigung!"
„Ja!" stimmte ihr der Franzose zu, „da sieht es noch schlimm aus. Der Arbeiter sieht die Frau zu klein. Er spürt nicht, dass sie ein Kamerad ist. Er versucht sie auch immer wieder zu erniedrigen!"
„Dummheit!" zischte der Däne. „Sie ist so klein!"
„Aber nicht dummer und kleiner als du!" kläffte ihn die Französin an, „Und das ist es auch gar nicht, ob sie klein oder groß ist!" belferte die Frau weiter, „Der Grund liegt tiefer!
Was ist denn so ein Mann, ob er nun ein Arbeiter ist oder ein Baron, ein Hahn, der in seiner Frau bloß die Henne sieht. Und wenn sie nur einmal den Kopf dreht und nach etwas anderem sieht als nach der Größe seiner Hoheit, dann schwillt ihm schon der Kamm, und er greift nach seinem Stecken und plustert sich auf!
„Und warum tut er das?" Sie sah den Dänen mit funkelnden Augen an, „weil er in irgendeinem Teil seiner schwarzen Seele Angst vor der Frau hat, weil er glaubt, sie könnte einmal sein aufgeblähtes Gesicht durchschauen und dann nicht mehr nach seiner Trompete tanzen!
Nein!" rief sie lauter. „Geht mir nur zum Teufel mit dem europäischen Mann! Er ist ein Filou, ein vollgefressener, eingebildeter Puter, ein Lump, ein Ferkel! Ja, er ist alles, aber er ist nie das, was ein Mann sein soll!"
„Auch ich? Auch die Arbeiter?" Der Belgier versuchte, sie das zweite Mal zu unterbrechen.
„Die ganz besonders!" Die Französin stieß ihre Worte wie kleine Schreie in die Luft. „In der Rue Gabrielle wohnten viele solcher Lumpen. Einer war ein so armseliger Hahn, dass er nicht einmal das Anspucken wert war. ,Weib!' schrie er jeden Abend seine Frau an, in der Fabrik zwiebelt mich der Meister, und hier zwieble ich dich. Dort ist sein Revier, und hier ist mein Revier. Dort kann er schimpfen und prügeln, und hier schimpfe und prügle ich;' und dann fiel er über das zarte Persönchen her und schlug es, bis es zusammenbrach. Ha!" sie lachte schrill, „und so ein armseliger Kerl, so ein schwächliches Vieh, so ein Spitzbube soll seine Frau erhöhen und ihr die Freiheit bringen?" Sie hielt einen Augenblick den Atem an. „Auf den Friedhof hat er sie gebracht!" schrie sie dann.
„Hör auf! Hör auf!" rief jetzt der Schotte, der von seiner Höhe heruntergesprungen war und wollte der Frau den Mund zuhalten. Auch der Geduckte winkte mit beiden Händen und versuchte, die Frau zum Schweigen zu bringen. Sie ließ sich aber nicht beirren und schrie weiter.
„Ja," sagte sie giftig und schielte besonders den Geduckten an, „vor der Wahrheit haltet ihr euch die Ohren zu. Was richtig ist, wollt ihr nicht hören, hauptsächlich, wenn es euch sticht!
Ja, sticht!" wiederholte sie, als sie sah, dass der Geduckte den Mund aufriss. „Oder seid ihr etwa bessere Kerle?" Ihre Lippen wölbten sich rund. „Oder seid ihr etwa wirkliche Männer? Ha!" sie lachte. „So einen wirklichen Mann möchte ich schon einmal sehen!
Nein!" rief sie hastiger, „so sind sie alle! Auch ihr! Erst steigen sie einer Frau nach, und wenn sie sie dreckiggemacht haben, nennen sie sie ,Ferkel' oder ,Hure'. Erst stürzen sie sie ins Unglück und verführen sie, und wenn sie dann auf der Straße liegt, machen sie heilige Augen und sagen: ,Ist das ein schlechtes Mädchen!' Und warum werfen sie die Frau eigentlich so in die Gosse? Weil ihnen selbst der Schlamm bis zum Halse steht! Warum nennen sie sie Ferkel und Hure? Weil sie selber Ferkel und Hurer sind!
Und wer ist denn das größere Ferkel?" Sie stieß ihr Gesicht bis vor die Nase des Geduckten. „Der, der zu einem Ferkel geht oder das Ferkel selber?
Bäh!" plärrte sie auf, als sie sah, dass der Geduckte kaum sein Gesicht verzog, „aber sie werden schon noch einmal klug werden, die Hennen. Sie werden euch schon noch einmal auf den Kopf steigen! Euch die Krallen zeigen und die Hinterseiten, statt mit euch ins Bett zu gehen, und dann könnt ihr euch zusammenstellen und euch gemeinsam anblustern und bewundern, dann könnt ihr euch gegenseitig prügeln, an den Hals und in die Haare fahren und euch eurer Aufgeblasenheit rühmen!
Die Frau aber," sagte die Französin mit ihrer letzten Kraft, „die euch Hähnen dann trotzdem noch nachschielt oder nachläuft, der werden wir das schneller austreiben als euch lieb ist!"
„Bravo!" rief der Franzose, als die Frau sich keuchend aeben ihn plumpsen ließ.
Bravo!" schrieen auch der Schotte und der Krumme und schlugen die Hände zusammen.
Der Russe trat noch offener auf die Seite der Frau. „Es ist so", sagte er. „Der Mann denkt immer, er steht oben und die Frau steht unten und ist nur ein Tier. Deswegen prügelt er sie auch!"
„Und sie hat recht", sagte der Amerikaner, der aufgestanden war. „Der Mann ist das größere Ferkel, er ist ja der Stärkere. Kann sich die Frau überhaupt gegen ihn wehren? Wir haben in den Staaten schon unzählige Gesetze zu ihrem Schutz, und der Mann stößt weiter Hunderttausende auf die Straße!"
Die Männer wurden nach den Worten des Amerikaners still, „Dass es euch bald besser geht!" sagte der Franzose, der sich neben den Bebrillten gestellt hatte. Er trank einen Schluck aus seiner Flasche und gab der Frau danach die Hand.
Die andern taten dasselbe. Sie verbeugten sich sogar, bevor sie hinausgingen.
Du bist mutig!" sagte der Russe, und der Geduckte knuffte die jetzt wieder Lächelnde mit einem grunzenden, anerkennenden Ton in die Seite.
Dem Amerikaner, der den Raum zuletzt verließ, schloss sich die Frau an.
„Warum fährst du eigentlich zurück in dieses schlechte Europa!" fragte der Bebrillte langsam, während er steif und höflich vor ihrer Kabine stehen blieb.
Die Französin, die mit kleinen Schritten hin- und hertänzelte und ihre Zungenspitze sehen ließ, sah den Amerikaner erst eine Weile mit kleinen, halb zugedrückten Augen an.
„Höfliche Männer", sagte sie dann und stieß den immer steifer werdenden Mann leicht in die Seite, sind das beste. Aber sie dürfen dabei nicht kalt oder Eiszapfen werden!"
„Und! sie lachte einige Male auf und ließ auch ihre Zähne sehen, „bevor ich in dieser Höflichkeit einfriere, will ich mich in Paris noch einmal aufwärmen lassen!"

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