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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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VII.

Die Vorbereitungen zum ersten Mai und die sich immer mehr verschärfenden Auseinandersetzungen nahmen mich so in Anspruch, dass ich keine Zeit hatte, über die Meldungen vom Kriegsschauplatz nachzudenken. Ich wusste, dass die Rumänen und auch die Tschechen die roten Truppen zurückdrängten, aber diese Niederlagen hatten für keinen Augenblick den Glauben in mir erschüttert, dass wir siegen und dass wir früher oder später über Galizien oder Rumänien die Verbindung mit der russischen roten Armee herstellen würden. Der Anschluss Österreichs ist nur die Frage von einigen Tagen — der Sieg des österreichischen Proletariats wird dann den entscheidenden Anstoß für die Revolution in Deutschland geben — und auf das andere Ufer des Rheins und des Kanals werden die französischen und englischen Soldaten selbst die rote Fahne tragen. Mit den lokalen Verhältnissen war ich sehr unzufrieden, aber die große Sache, die Sache der ganzen Arbeiterschaft — ist in Ordnung.
— Wir bauen auf die Weltrevolution und nicht auf den Sand.
Der Aufmarsch zum ersten Mai war bei uns in Neupest auf den Nachmittag festgesetzt — ich ging am Vormittag nach Budapest hinein. Die aufmarschierende Masse zersprengte fast die Andrassystraße. Das Grün der Bäume verlor sich in dem roten Flaggenmeer. Die Monumente der alten Welt der Unterdrückung waren mit rotem Tuch umhüllt. Die Königsstatuen lagen auf dem Boden herum.
— Aus der Erde sprosst der Mai!
— Ja — ja.
— Wer das erlebt hat, wird es niemals vergessen. Diese Arbeiter kann man nicht mehr ins Joch jagen.
— Ja — ja.
— Über hunderttausendköpfige Masse!
— Dem Krieg jubelten auch Millionen zu.
— Der Krieg war nicht unsere Sache. Das ist unsere Sache.
— Ja — ja. Wenn es gilt, die Revolution nicht nur hochleben zu lassen, wenn man auch für sie kämpfen muss, dann... Ich meine, wenn man mit dem Gewehr in der Hand sie verteidigen muss und nicht nur mit Worten für sie kämpft. Ich bin schon seit siebzehn Jahren organisiert, ich kenne den Proleten, aber ich muss sagen, ich glaube nicht, dass der Prolet zur Verteidigung der Revolution zum Gewehr greift. Das sieht auch der Blinde, dass wir übermorgen oder auch schon morgen...
Zweihunderttausend Menschen, mehr: eine Viertelmillion. Arbeiter und Soldaten.
— Genossen!
— Es lebe die Diktatur des Proletariats.
— Hoch! Eljen!
— Hoch die Weltrevolution!
— Hoch! Eljen!
— Alles ist unser!
— Hoch! Eljen!
— Ja — ja. Ich kenne den Proleten.
Es war gleichgültig, was mir Fellner erzählte — in meinen Ohren summte die Stimme einer Viertelmillion Menschen, dröhnen die Schritte einer Halbenmillion Beine.
— Es le— be die Welt— re— vo— lu— ti— on! — Es le— be die Welt— re— vo— lu— ti— on!
— Eljen! Eljen!
Zum Glück verschwand Fellner aus meiner Nähe, und so konnte ich mich eine halbe Stunde ungestört freuen. Ich wurde wie trunken vor Glück. — Gewiß. Eine Viertelmillion Menschen — Genossen. Es gibt keine Macht — die sie aufhält.
— Hoch! Eljen!
Auf dem Rückweg stolperte ich auf der Kaiser-Wilhelm-Straße fast über den Herrn Regierungskommissar Nemes. Hätte er mich nicht angesprochen, ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht erkannt. Er trug einen gewöhnlichen Soldatenrock und eine Arbeiter-Mütze. Sein Gesicht voller Stoppeln. An den Füßen
---------Schuhe — er sah aus, wie wenn er in einer
Schmiere Revolution spielen wollte — Genosse Kovacs! Sind Sie das wirklich? Sie erkennen mich armen Mann nicht mehr?
— Ach! Genosse Nemes! Wie kommen Sie denn hierher? Wozu diese Maskerade?
— Ich bin vor den Tschechen geflüchtet. Unser ganzer aufopfernder Heldenmut war vergebens, wurde zunichte — wir mussten die Stadt räumen. Denken Sie! Tschechische Offiziere sitzen auf dem Bereger Komitatshaus.
— In der Burg, auf der Ofener Seite, liegen rote Soldaten.
— Ja, ja, — aber... Die Rumänen an der Theiß, die Tschechen ein paar Stunden von hier entfernt, in Szeged ungarische Weißgardisten, Franzosen — und zu Hause verdrängen Leute aus dem Lumpenproletariat die bewährten alten Träger der Arbeiterbewegung. Wo soll das hinführen? Ich kann gar nicht an die Zukunft denken. Die Diktatur des Lumpenproletariats. Ja.
— Na, hören Sie!...
— Verstehen Sie mich nicht falsch, lieber Genosse Kovacs, Sie kennen mich ja, ich bin Kommunist mit Leib und Seele. Aber gerade deshalb verlange ich die Macht für die Arbeiterschaft, für die organisierte Arbeiterschaft — und ich halte die Anwendung aller Mittel gegen das Lumpenproletariat für richtig. Ich weiß wohl, dass Sie ein guter, ehrlicher, überzeugter Revolutionär sind. Aber, haben Sie eine Ahnung, was Lumpenproletariat ist?... Ich will nur ein Beispiel anführen — Sie glauben natürlich, ich sei der Vorsitzende des Bereger Vollzugskomitee gewesen? Sie irren. Wir alten, erprobten Leute aus der Arbeiterbewegung wurden herausgedrängt — lauter hergelaufene Nulpen setzten sich überall in die Komitees hinein. Selbstverständlich, dass dann der Prolet nicht kämpfen will und auch weiterhin nicht kämpfen will... Man hat uns hinausgejagt, wir mussten schmählich flüchten wie Diebe. Sagen Sie, ist das die proletarische Diktatur?
— Ja, was das anbelangt — habe ich auch einige Bedenken gegen die Methoden der Diktatur — aber andere
— ganz andere. Und was machen Sie hier in Budapest?
— Vorläufig habe ich noch nichts Sicheres. Aber es wurde mir in Aussicht gestellt, Kunfi hat mir’s versprochen, und auch Weltner... Na ja, wir werden schon sehen... Wo arbeiten Sie, Genosse Kovacs?
— In Neupest.
— Ja, gewiss, ich habe schon davon gehört. Grüßen Sie den Genossen Fellner von mir. Ich glaube, dass ich beim Ernährungskommissariat Arbeit bekommen werde
— vorläufig noch nicht als Volkskommissar... Die Ernährung ist eine der schönsten und auch der schwierigsten Aufgaben. Dort werden in erster Reihe erfahrene Kräfte benötigt. Was sagen Sie zu Otto Korvin, Genosse Kovacs? Er hat eine schöne Karriere gemacht — was?
— Karriere?
— Na gewiss! Leiter der politischen Polizei. Ein so
junger Mann — Ist das bei Ihnen keine Karriere?
Bei uns in Neupest begann der Aufmarsch um zwei Uhr nachmittags.
Ganz vorn gingen die Kinder. Für die meisten war natürlich der Aufmarsch nur ein Spiel: Gesang, Musik, Fahnen. Aber, als wir vor dem Gebäude des Vollzugskomitees vorbeizogen, sah doch das eine oder andere der Kinder mit dem Bewusstsein nach dem Balkon hinauf, dass sie das Werk beenden müssten, beenden würden — das wir begonnen haben. An der Spitze der langen Kinderreihen stand ein alter Lehrer — Onkel Gyulai — der seit zweiundzwanzig Jahren jedes Jahr in einem anderen Dorf unterrichtete, der nirgends länger als ein Jahr bleiben konnte — denn überall fand er arme Häusler und überall war er der Fürsprecher der Armen. Einige Schritte begleitete ich den Alten: er sang mit dünner Stimme wie die Kinder selbst, und beim lustigsten Lied brach er in Tränen aus.
Bevor wir abmarschierten, kamen die ersten Alarmnachrichten. Niemand wusste etwas Genaues, aber jeder spürte, dass etwas Schlimmes, etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein musste.
— Böhm, der Armeekommandant, hat selbst gesagt...
— Die Armee...
— Die Rumänen...
— Böhm glaubt selbst nicht...
— Die Tschechen...
Der Vormittag war ein Freudentag für Budapest. Am Nachmittag war keine Spur mehr von einem Freudentag zu bemerken.
Ich bin auf dem Lande geboren, ich wuchs zwischen der halbbäuerlichen Landbevölkerung auf. Ich sah heute zum ersten Mal in ihrer vollen Wirklichkeit die Großstadt, die Arbeiterbevölkerung der großen Fabriken.
— Es ist etwas Schreckliches geschehen — flüsterten alle, aber niemand erfasste Angst.
Die Proleten waren im Festtagsgewand — aber ihr Gesicht war düster und drohend. Der Zug sah aus wie ein blumengeschmückter Schlaghammer — die Füße hackten so heftig auf den Boden ein, wie wenn wir auf den Nacken unserer Feinde träten.
Kein Gesang, — keine Eljenrufe.
Die im Kampf glühenden Panzerautos jagen nicht mit größerer Wucht dem fliehenden Feind nach, als wir auf das Ziel losdrängten.
Ungefähr um vier Uhr langten wir auf der Märcheninsel an. Rechts von der zur Insel führenden Brücke die beflaggte Ganzsche Fabrik — links eine lange Reihe in Fahnen gehüllter Schiffe. Die Bäume der Insel sind frischgrün — auf dem Laub funkeln die dicken Regentropfen, die der kurze Sturmregen zurückgelassen hat. Rote Fahnen, grüne Bäume, in tausend Farben spiegelt der Rasen. Von der Spitze der Insel sah ich nach Budapest hinüber: links der Vaczer Weg — lange Reihe von Fabrikschornsteinen — am rechten Ufer die ausgegrabenen Ruinen der uralten Römerstadt. Von der Donau her streichelte mich ein kühler Wind. Auf der Insel — hinter meinem Rücken — spielten gleichzeitig drei Kapellen, die Donau schwingt mit und ich vergesse, am äußersten Ende der Insel stehend, für einige Augenblicke all die Schwierigkeiten und Leiden. Ich erinnere mich, damals wühlte es in meinem Kopf: ob die Sklaven, die die römische Stadt bauten, davon träumten, dass einmal... Über den ausgegrabenen Ruinen flattert im Donauwind die rote Fahne.
Auf der Wiese eine Rednertribüne aus Brettern.
Pojtek ist der Festredner. Ich sehe Pojtek zum ersten Mal im Feiertagsanzug. Der Anzug ist gewiss noch vor dem Krieg gemacht, die dunkelblaue Farbe ist ein wenig verblasst, ich sehe an seinem Anzug, dass der Krieg und die Revolution keine Mastkur war: Pojtek verliert sich fast in dem Vorkriegsanzug. Er steht auf dem Podium, wie wenn er sich zu einem Ringkampf vorbereitete.... heiße Grüße den russischen Genossen... heiße Grüße der Bayerischen Räterepublik... durch alle Höllen hindurch werden wir die Macht der Arbeitenden beschützen... wir müssen die Revolution vertiefen, damit jeder rote Soldat weiß, wofür er kämpft.
— Hoch! Eljen! Hoch!
— Sacklaufen, Mastenklettern, Goulaschessen, Musik, Tanz —
... Hab ich’s nicht längst gesagt?
— Was haben Sie gesagt, Genosse Fellner?
— Wir sind durchgefallen. Wir sind geschlagen! Die wollen nur plündern, aber nicht kämpfen... Mit einem Wort: die Rumänen haben die Theiß überschritten, die Tschechen sind einen Kanonenschuss weit von Budapest. Wir werden alle gehängt — wir Unschuldigen — genau so, wie Sie...
— Na, da haben wir auch noch was mitzureden, Genosse Fellner! Das Gewehr ist in der Hand der Proleten...
— Machen Sie sich nicht lächerlich! Die Proleten... Ich kenne sie. Mit Gerstelsuppe und Kürbisgemüse geht keiner auf die Schlachtbank.
— Die proletarische Revolution ist für Sie nur Gerstelsuppe mit Kürbisgemüse?
— In der Praxis ist sie — leider — nicht viel mehr. Wären wir bei der Demokratie geblieben, hätten wir ans begnügt...
Zum zweiten Mal schon heute, dass ich die Proleten nicht wieder erkenne, wie ausgetauscht sind sie. Alle wissen, dass es schlimm steht, aber es ist, wie wenn es keinen was anginge. Wie mit der Zeit der Schatten wächst — so wuchs auch die gute Laune. Die lustige Musik steigerte noch die heitere Stimmung.
— Die Tschechen? Hol’s der Teufel — tanzen wir.
— Hoch! Eljen! Eljen!
Auf dem Donauarm von der Ofener Seite her kam langsam, würdevoll ein Monitor auf die Pester Seite zu.
— Monitor! Ein roter Monitor!
— Ich suche Pojtek, aber niemand weiß, wo er steckt. Ich bleibe auf dem Rasen stehen, wo der Tanz tobt. Ich traue meinen Augen nicht: Pojteks Frau tanzt mit einem roten Soldaten. Die zwei Kinder sind in der Nähe. Lajcsi ist glücklich, dass er seine Mutter so guter Laune sieht. Als eine Tanzrunde zu Ende ist, gehe ich zu der Frau hin. Ihr Gesicht ist rot vor Erregung.
— Wissen Sie nicht, wohin Dani verschwunden ist?
— Weshalb tanzen Sie denn nicht?
— Ich suche Dani.
— Er ist nach Pest gefahren.
— Warum?
— Bela Kun hat ihn rufen lassen.
Um Mitternacht saßen wir zu acht in Pojteks Arbeitszimmer. Acht Kommunisten.
— Die Lage ist äußerst ernst — sagt Pojtek. — Die rote Armee kann nicht zum Stehen gebracht werden und was noch schlimmer ist, die Sozialdemokraten wollen den Kampf aufgeben. Und alles ist umsonst, — sie sind in der Mehrheit. Kun konnte nur schwer erreichen, dass zu morgen die Metallarbeiter zusammenberufen werden. Kun und Landler rufen die Arbeiterschaft zu den Waffen — und jetzt: lacht oder flucht — Genosse Böhm, Armeekommandant, wird dafür sprechen, dass wir die Waffen niederlegen.
— Der Hund, der niederträchtige!
— Ich habe Angst, dass die Proleten auf ihn hören werden — meinte der alte Liptak.
— Und die Fabriken den Ausbeutern zurückgeben?
— Na...
— Die Proleten greifen zum Gewehr — sage ich.
— Sie können nichts anderes tun — sagte Pojtek entschlossen.
— Für morgen Abend rufen wir auch die Gesamtvertrauensmänner zusammen.
Ich gehe auf den Balkon hinaus, der Himmel ist klar, voll bestirnt. Die Straße ist ruhig und leer. Nur die Tritte des roten Wachmanns klappen.
Ein Erhängter bringt Sturm. Die Rumänen an der Theiß, einen Tagesmarsch von Budapest die Tschechen, die die Kommunisten aufknüpfen.
Sturm.
Tobender Sturmwind fegt über die Dächer der Budapester Mietskasernen hinweg. Der Wind reißt mit seinen Eisenkrallen die roten Fassaden von den Häusern, da8 abgerissene rote Tuch fliegt turmhoch — dann lässt der Wind für eine Weile das Spiel, das Tuch liegt im Staub der Straße — dann flattert es wieder über den Häusern.
Fju— hu— hu— flju...
Ein zusammenstürzendes Baugerüst hat vier Arbeiter unter sich begraben.
Hoch oben von der Fassade des Nationaltheaters fällt ein riesiger gemeißelter Stein auf den Schädel einer Frau.
Fju— hu— hu— flju...
— Erinnern Sie sich? Am Tag der Kriegserklärung tobte ein solcher Sturmwind.
— Nein, am Tag des Ultimatums.
— Sie haben recht. Es war am Tage des Ultimatums, damals flogen auch die Bäume mit der Wurzel aus dem Erdreich.
— In zwei Tagen sind die Rumänen hier.
— Die Tschechen werden noch vorher hier sein.
— Unsere ungarischen Truppen stoßen zu den rumänischen.
— Gebe Gott...
— Noch zwei Tage.
Wir kamen im Arbeiterheim zusammen.
Es war erst fünf Uhr nachmittags, aber der Himmel war bleigrau und der niedrige, schäbige, so genannte Große Saal war dunkel. Seit der Revolution versammelten wir uns zum ersten Mal hier.
— Für die heutige Sitzung ist dieser Saal groß genug — sagt Pojtek — es tagt ja nur die Vertrauensmännerabordnung.
— Und auch die gewiss nicht vollzählig — meint Fellner — Ein Narr, wer in solchen Zeiten hierher kommt — wenn er nicht unbedingt muss — fuhr er mit hämischem Lachen fort.
„ In solchen Zeiten" heißt also: das muss auch ein Narr wissen, dass Fellner die Arbeiter vor den Gewitterwolken schützen möchte.
— Wer heute nicht kommt...
— Sie sind noch zu jung, Genosse Kovacs, — Sie sehen vieles nicht so, wie es tatsächlich ist. Vor zwanzig Jahren war ich auch so. Während dieser zwanzig Jahre aber... Gegen sechs Uhr waren wir versammelt. Es kamen nicht alle, die da sein sollten, aber es kamen ziemlich viel Leute zusammen: über hundert Arbeiter hören Fellners Eröffnungsrede an. Die Leute sind müde vom gestrigen Fest, von der heutigen Arbeit, von dem Sturmwetter und hauptsächlich infolge der unsicheren Lage. Sie flüstern geheimnisvoll miteinander.
— Böhm sagt...
— Bela Kun...
— Die Arbeiterbataillone...
— Die Metallarbeiter...
— Die Tschechen...
— Tibor Szämuely...
Fellner spricht. Er ist auch müde. Seine Stimme klingt heute nicht, sie ist hohl und farblos. Er spricht immerfort von Marx und Lenin. Von der Weltrevolution.
Leise Zustimmung.
Fellner kommt zum eigentlichen Zweck der Beratung.... die entscheidenden Tage ... die Verantwortung der Geschichte gegenüber... die Rumänen, die Tschechen ... der Zusammenbruch der roten Armee... Vernichtung... der Preis des Friedens ist die Demokratie... Demokratie... Arbeiterdemokratie... eine Regierung der Gewerkschaften.... Friede... die revolutionäre Tradition des ungarischen Proletariats... Pazifismus... Frieden... Brot... die Entente...
Stille.
Wir saßen über hundert im Saal, aber es herrschte Grabesstille.
Hundert Arbeiter. Die meisten sitzen mit gesenktem Kopf auf ihrem Platz, wie wenn sie sich schämten. Ich fange einige Blicke auf, in den Augen flackert Scham.... die Entente... die Entente...
Als Fellners dumpfe Stimme abriss, hatte auch ich das Gefühl von Scham. Wir haben nicht alles aufgeboten. Nein. Schmach und Schande. Angst durchzuckt mich. Ich höre hinter meinem Rücken zum ersten Mal, flüsternd: Weißer Terror.
— Genosse Pojtek hat das Wort!
Pojtek ist blass und fahl. Ein paar Augenblicke steht er stumm auf dem Podium. Wischt mehrmals seine trockene Stirn — dann sieht er nachdenklich einige Augenblicke vor sich hin.
— Was ist los? Kann er nicht sprechen? Will er nicht sprechen?
Der Saal atmet schwer auf.
Pojtek macht einen Schritt nach vorwärts. Er steht am äußersten Rand des Podiums. Einen halben Meter hinter ihm sitzt Fellner bewegungslos. In diesem Augenblick bemerkte ich zum ersten Mal das silbergraue Haar an Pojteks Schläfen.
— Das Wort hat Genosse Pojtek! — wiederholt Fellner.
— Genossen!
Pojteks Stimme klingt ungewöhnlich scharf. Die starr auf ihrem Platz Sitzenden erzittern plötzlich, wie vom elektrischen Strom getroffen. Alle Augen richten sich auf Pojtek.
Pojteks Stimme klingt scharf, seine Worte sind einfach.
Er spricht nicht von der Weltrevolution, weder von Marx noch von Lenin.
— Die Frage ist die — nennen wir das Kind beim Namen — die Frage ist die: sollen wir die Fabrik, sollen wir den Boden, sollen wir die Macht aus den Händen geben?
Er bricht ab. Wartet auf Antwort.
Stille.
Die Versammelten sitzen mit gesenkten Köpfen da.
Stille. Pojtek spricht nicht. Steht bewegungslos da. Seine gütigen Augen glühen in fiebrigem Feuer.
Stille. Der Prolet überlegt. Die Frage kam unerwartet. Gewiß — darum handelt es sich — hat's denn bisher keiner ausgesprochen? Kunfi sagte, die Diktatur muss anders geführt werden. Böhm... Fellner... Alle sagten dasselbe, man muss es anders machen... Dann wurde gesagt, die Entente schicke Lebensmittel... Fleisch... Fett, Kleidung, Schuhe... Ja, aber wie... Dass dieses anders soviel bedeutet wie aus den Händen geben... Zurückgeben... Verzichten auf den Sozialismus... Zurückgeben...
Pojtek bewegt sich, seine Stimme erklingt wieder. Er sagt nichts Neues, er wiederholt nur die Frage.
Stille. Alles sieht auf Pojtek. Der Saal ist fast ganz dunkel. Mir schien, wie wenn nur seine Augen leuchteten.
— Wenn wir alles zurückgeben wollen... — Nein!
Sagt eine Stimme, dann noch eine, dann spricht die Masse, die Fabrik, das Proletariat.
— Nein!
Pojteks Frage war die Antwort auf die zermürbenden Reden, mit denen die „alten Führer" seit Wochen schon die Köpfe der Arbeiter verwirrt hatten, und mit denen sie immer mehr Mißtrauen in das Heer der Revolution säten.
— Muss der Sozialismus zum Terror greifen? — Wiederum Krieg? — Weshalb Russland und nicht der zivilisierte Westen? — Soll die herrschende Klasse Kürbisgemüse essen?
Pojteks Frage räumte mit all diesen Redensarten auf.
— Wir wollen kämpfen!
Der ganze Saal stand auf — brüllte, drohte.
Fellner ist blassgrün. Er ist allein. Außer ihm ist kein Sozialdemokrat mehr im Saal. Einstimmig wird der Beschluss gefasst: mit dem Gewehr in der Hand werden wir die proletarische Revolution verteidigen! Mit dem Gewehr. Mit Terror. Mit Blut.
— Und Sie glauben wirklich, dass der Prolet an die Front geht? — sagte Fellner beim Hinausgehen.
— Unterlassen Sie besser solche Reden! war meine Antwort.
— Soll das eine Drohung sein?
— Ja.
Ich rief Otto an. Er ist nicht zu Hause — er ist in der Sitzung der Metallarbeiter. Eine Stunde später rufe ich ihn wieder an — er ist da.
— Die Budapester Arbeiterschaft greift zum Gewehr — sagt er ins Telefon, bevor ich noch ein Wort sagen konnte — Kun und Landler haben aufgerufen...
— Die Neupester Arbeiterschaft ist auch bereit, fiel ich ihm ins Wort.
— Die Revolution wird die Sozialdemokratie besiegen. Otto schrie ins Telefon, dann lachte er laut auf. Ich
sagte darauf, was er mir mehr als einmal vorwurfsvoll gesagt hatte:
— Du bist wie ein Kind!
Otto lacht noch heller auf. Er lacht jetzt über mich.
— Auf zur Arbeit, Peter!
Am nächsten Tag: Die Partei mobilisiert. Die Gewerkschaften mobilisieren. Die Arbeiterräte mobilisieren.
Sämtliche Fabriken mobilisieren.
Sämtliche Kriegsrüstungsgegenstände werden requiriert.
Die Schornsteine der Fabriken stoßen dichte Rauchwolken aus: sämtliche Fabriken arbeiten für das rote Heer: Budapest, Neupest, Csepel, Leninstadt sind eine einzige Waffenschmiedewerkstatt.
— Alles für die Rote Armee!
— Zu den Waffen, Proletarier!
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
Drei Tage später ging das erste Arbeiterbataillon ab. Nach zwei Tagen ein zweites — dann ein drittes. Ich ging mit dem dritten Arbeiterbataillon an die Front.
Als das erste Bataillon verabschiedet wurde, ging ich nach Budapest hinein. Ich kam eben zur rechten Zeit: der revolutionäre Vollzugsrat hielt eine Heerschau über die bewaffnete Arbeiterschaft ab.
Die Andrassystraße entlang marschierte in unendlichen Reihen das Heer der proletarischen Revolution. Alte, schmutzige, abgetragene Arbeiterkleider — neue Waffen.
Die neuen Soldaten gingen noch nicht im Takt — aber sie hielten die Gewehre fest in den Händen. Die prunkvollen Paläste erzitterten.
Am Abend vor dem Abmarsch nahm ich noch Teil an der Sitzung des Arbeiterrates.
Lebensmittel, Wohnung, Kleidung, Möbel, Holz — alles — außer der Reihe für die Angehörigen der Roten Soldaten.
Als erster bekommt der Handarbeiter Lebensmittel, dann der Kopfarbeiter — und als letzter der Bourgeois.
Das Revolutionstribunal muss schärfer zugreifen. Die Hälfte der Mitglieder des Arbeiterrates geht an die Front.
In den Straßen singen die Soldaten. An den Mauern riesige Plakate:
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
Von den Plakaten ruft ein riesiger Matrose mit einem roten Tuch in der Hand
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
— Rote Soldaten, vorwärts!
— Für eure Frauen, für eure Kinder — vorwärts!
— Kun Belas Soldaten — vorwärts!
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! Der Bahnhof.
— Einsteigen!
Die Soldaten singen!
— Möchte gerne, möchte gerne mit Bela Kun sprechen...
Beim Einsteigen küsst mich Pojtek:
— Auf Wiedersehen, Peter!
... Nie wird enden, nie wird enden, die kommunistische Welt!
— Fertig! Abfahren!
Wie das Messer in das weiche Brot — so schneidet die Rote Armee in die tschechische Front hinein.
Wie eine von Kinderhand gebaute Sandburg vor einer von der Bergspitze herunterrollenden Lawine auseinanderstäubt — so löste sich die tschechische Front auf.
Das Fest der Internationalität: der slowakische Arbeiter, der russische Bauer wird Bela Kuns Freund. Der ungarische Bischof lässt für den Sieg der Legionäre Massaryks eine Messe lesen.
Und das rote Heer zog die Siebenmeilen-Stiefel aus dem Märchenbuch an.
Der französische Kommandant der tschechischen Soldaten flüchtet mit dem Flugzeug nach Prag.
Die roten Soldaten folgen dem durch das Flugzeug gewiesenen Weg.
Losoncz.
Miskolcz.
Kaschau.
Bartfa.
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!
— Slowakische Räterepublik.
— Russische Rote Garde.
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!
— Die Rote Armee hat die tschechische Grenze erreicht.
. — Die Arbeiterschaft Brünns streikt! Der Weg nach Prag steht offen!
— Wenn da... Oh, wenn da...
Ich habe nicht den ganzen Ostfeldzug mitgemacht. Ich wurde gleich in der ersten Schlacht verwundet.
Unsere Kompanie lagerte in einem kleinen Wald, einen Gewehrschuss von der Landstraße entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Landstraße lagerten tschechische Legionäre. Rechts von uns standen die Csepeler, links Budapester Metallarbeiter. Wir lagen auf frischem, feuchtem, grünem Gras.
Ich stieg eben von einer riesigen Eiche herunter, von wo aus ich die Tschechen mit einem Feldstecher beobachtet hatte. Unsere Artillerie schoss die Kanonen der Tschechen über den Haufen — auf der Ipoly-Brücke liegen Leichen, stumme Kanonen und krepierte Pferde. Der Weg nach Losoncz liegt offen! Goldmann erklärt die Kriegslage.
— Ein Kinderspiel, Burschen! Seht hierher auf die Landkarte. Dieser Fliegendreck hier ist Losoncz — dasselbe Losoncz, das von hier eine kleine halbe Stunde entfernt ist. Also, das hier ist Losoncz. Na und jetzt seht hierher! Von Losoncz bis Prag ist nicht ein Haar breit weiter als eine Spanne — mit der linken Hand gemessen. Also das ist alles — eine kleine Spanne bis Prag. Das ist doch nicht viel für Neupester Proleten.
Es hängt davon ab, was wir im Magen haben, wenn wir laufen sollen.
— Fleisch und Wein.
— Dann ist Amerika auch nur einen Sprung weit.
— So ist's richtig.
Auf der Landstraße saust ein Auto — eine kleine rote Fahne flattert auf der Nase. Die Tschechen beschießen es mit Maschinengewehren. Das Auto biegt ein, fährt auf die Wiese, die zwischen dem Wald und der Landstraße liegt. Es hält im Graben.
Landler steigt aus dem Auto.
Die Tschechen beschießen das Auto mit einer übrig gebliebenen Mörserkanone.
— Na, was gibt es, Genossen? Ich rieche, dass Paprikafleisch gekocht wird.
— Ja, es ist bald fertig. Essen Sie mit uns, Genosse Landler?
— Glaubt ihr, ich werde euch euer Paprikafleisch
wegessen? Ihr habt gewiss nicht zuviel. Woher seid ihr?
— Wir sind Neupester.
— Schön. Wer ist der militärische Leiter?
Goldmann tritt vor.
— Und der politische Bevollmächtigte?
Ich melde mich.
— Also gut. Wie ich sehe, ist euer Fleisch noch nicht fertig. Bis es fertig wird, könnt ihr noch einen kleinen Spaziergang machen.
— Was liegt denn vor, Genosse Landler?
— Die Tschechen bedrängen die Salgotarjaner, aber wenn wir nach Losoncz hineinspazieren, müssen sie sich zurückziehen. Die Csepeler hier rechts und noch zwei Budapester Kompanien sind schon zum Angriff bereit. Binnen zehn Minuten könnt ihr auch bereit sein.
— Ist das ein Befehl?
— Kein ausgesprochener Befehl. Die Armeeoberkommandantur, d. h. Genosse Böhm hat keinen Befehl zum Angriff gegeben — aber ein guter roter Soldat schlägt sich auch ohne Befehl. Von den Neupestern heißt es, sie seien gute Revolutionäre.
— Das ist gut gesagt.
— Dann also...
Während acht Jungens Landlers Auto aus dem Graben herausholten, machten wir uns marschbereit.
— Versalze die Suppe nicht — gab Goldmann dem Koch noch die Anweisung. Wenn das Fleisch fertig ist — mach eine breite Sauce — wenn's ganz fertig ist, bringe es uns nach Losoncz nach.
— Es kühlt unterwegs aus.
— Wir wärmen's in der Küche des Bischofs auf.
— In Losoncz gibt es keinen Bischof.
— Dann... dann... Das Wichtigste ist, dass du viel Paprika hineintust, denn das Fleisch ist sehr fett — es kann uns sonst noch schaden.
Landlers Auto war nicht mehr zu sehen. Die Tschechen hörten mit der Schießerei auf. Daraus, dass das Auto nicht beschädigt wurde, war leicht zu erraten, dass die Tschechen weit von der Landstraße entfernt waren.
— Fertigmachen — brüllte Goldmann los, der schon mit aufgepflanztem Bajonett dastand.
Landler sagte, die Csepeler würden das Signal zum Angriff geben — mit einer Husarentrompete. Wir senden eine Patrouille zu den Csepelern, aber das Signal kommt nicht. Die Burschen blicken ungeduldig aufeinander — der eine oder andere setzt sich wieder hin — gleich legt sich die ganze Bande wieder nieder — das Paprikafleisch ist da — dann können die Csepeler blasen. Ich stoße Goldmann in die Seite, er nickt, dass er verstanden hat. Einen Augenblick später hält er die Hand vors Ohr, dann wirft er den Kopf nach hinten, wie wenn gerade jetzt der ferne Trompetenton sein Ohr gepackt hätte — und schon brüllt er auch los:
— Fertig! Jungens! Genossen! Im Namen der Weltrevolution — vorwärts!
Goldman stellt sich mit einem Sprung an die Spitze des Zuges — ein heißer Strom kreist durch meinen Körper, meine Hand mit dem Gewehr erzittert für einen Augenblick. Ich schreie los und stürze Goldmann nach.
— Los!
— Los! Auf! Los! Auf!
Stampfen der schweren Stiefel, Keuchen, Gewehrklirren, abgehackte Flüche — wir rennen der Landstraße zu.
Vom Wald bis zur Landstraße führt der Weg durch eine Wiese mit bunten Blumen. Wir rennen schon so lange die Landstraße ist noch immer so weit. Wir hätten
es nicht geglaubt... Die Csepeler... noch immer nicht... Doch...
— Los! Auf! Los!
Goldmann springt jetzt über den Graben — er steht schon oben auf der Landstraße — Jungs! — er droht, wütend mit der Faust auf die Tschechen weisend.
— Ta— ta— ta— ta— ta— ta—
— Genossen!
— Verfluchte Bande... Wir haben zu früh geschrieen.
— Los!
Jetzt springe ich auch aus dem Graben — der Damm...
Etwa zehn waren vor mir, die anderen klettern keuchend und fluchend hinter mir.
— Ta— ta— ta— ta— ta— ta— ta—
— Hurengesindel!
Ich stolpere. Bis ich mich aufrichte, rast die Kompanie schon durch das Feld weiter, nur ein paar bleiben auf der Landstraße liegen. Rasch — ich mache nur einen Schritt — ein heftiges Stechen im linken Bein, und ich kollere in den Graben.
Die Schufte haben mich angeschossen.
Jetzt ertönt die Trompete der Csepeler. Sie bläst keinen Schlachtruf.
Der Graben ist voll Wasser — ich will herauskriechen. Aber... Sie haben mich ins Bein geschossen, und mein Kopf ist schwer. Wenn jetzt... zum Teufel, ich habe vergessen zu sagen, dass meine Wohnung — die rothaarige Frau — nein — aber doch...
Mein Kopf ist schon außerhalb des Grabens. Ich sehe niemanden. Sie haben mich hier vergessen. Gewiß, wenn Pojtek da wäre... aber Fellner...
Gegen Abend fanden mich zwei Sanitäter.
— Na? — fragte ich, als ich auf der Tragbahre schaukelte — ich habe keine Kraft weiterzusprechen. Es ist nicht nötig — die Sanitäter verstehen mich schon.
— Wir sind eingezogen, sagten beide gleichzeitig, wie wenn sie's einstudiert hätten.
— Aber das Fleisch hatte der Tölpel versalzen — sagte der eine, Boder aus der Wolfnerischen Fabrik. — Er ist gewiss verliebt, der Lümmel.
— Haben wir viele Tote?
— Einige. Wir hätten's billiger haben können.
Ich lag acht Tage im Losonczer Krankenhaus. Den linken Oberschenkel hatte eine Kugel durchschlagen. Sie streifte den Knochen, spaltete ihn aber nicht. Die Sache war nicht so gefährlich, aber der starke Blutverlust machte mich furchtbar matt. Am neunten Tag wurde ich nach dem Krankenzug gebracht, und am nächsten Tag lag ich schon im Neupester Karolyi-Krankenhaus. Im Zimmer, wo ich lag, standen zwei Betten. Das eine neben dem Fenster, gehörte mir, im anderen lag Onkel Kecskes. Der Alte war mit einem Schulterschuss von der rumänischen Front zurückgekommen. Seit drei Wochen schon lag er in diesem Bett. Sein Bett stand so, dass wir uns nicht sehen konnten, er sagte auch immerfort, es sei besser, wenn er mich nicht sähe — er wolle keinen Kommunisten mehr sehen, er hätte genug und zuviel von der Sorte.
— Wegen der blöden rumänischen Kugel gehen Sie jetzt auf die Kommunisten los?
— Hältst du mich für einen Rotzkerl, der dem Tisch böse wird, weil er sich an der Ecke stieß? Wenn die Kugel der Rumänen keinen besseren Platz gefunden hat — hol's der Teufel... Aber den Kommunisten verzeih Gott ihre große Sünde — ich bin kein Gott.
— Was ist denn die große Sünde, Onkel Kecskes?
— Das fragst du noch? Kannst du das selbst nicht
erraten? Ihr seid ja schlimmer als... Ich finde nichts, was schlimm genug ist, dass ich euch damit vergleichen könnte.
— Wenn ich nur wüsste...
— Wenn du wüsstest... Hörst du vielleicht von mir zum ersten Mal, dass ihr den Boden nicht aufgeteilt habt, und dass der Häusler zu Kun Belas Zeiten ein ebensolcher Hundsfott geblieben ist wie zu Kaisers Zeiten? Es ist doch auch für dich kein Geheimnis, dass die Frauen der Verwalter und der Dorfnotare auch heute noch keine Witwen sind? Wie viel Dorfnotare hast du gehängt, du kommunistischer Held?
— Aufhängen? Das wäre keine so schwere Sache. Wir haben uns etwas viel Schöneres vorgenommen. Wir wollen den Sozialismus aufbauen.
— So? Und was hast du dafür schon alles getan, wenn ich fragen darf ?
— Na, das geht nicht so einfach, Onkel Kecskes, das...
— So? — fiel mir der Alte ins Wort. Na gut. Die eine Sache macht ihr nicht, weil sie euch zu einfach ist — die andere macht ihr wieder — deswegen nicht, weil sie nicht einfach genug ist — und zum Schluss sind euch die Herren böse, weil ihr ihnen den Boden weggenommen habt — die Armen lieben euch nicht, weil sie von euch vergebens ihr Teil erwarten. Das wird ein schlechtes Ende nehmen, Peter, ein sehr schlechtes Ende — ich sage dir's, der alte Kecskes — mir kannst du's glauben. Ihr seid genau wie der Dorfbursche, der mit einem Arsch auf zwei Pferden sitzen wollte, und den beide im Dreck liegen ließen...
Ich konnte dem Alten erzählen, was ich wollte, je mehr ich erklärte, um so wütender wurde er. Wenn ich ihm sagte, man muss klug sein, sagte er mir, ich sei ganz blöde; wenn ich beweisen wollte, dass die Sozialdemokraten an der zwiespaltigen Politik der Räteregierung schuld seien, hatte er auch darauf eine Antwort.
— Wenn einer sich eine Hure zur Frau nimmt, soll er sich bei mir nicht darüber beklagen, dass ihr die Brüste bis an den Bauch herunterhängen.
Eine schlanke blonde Frau pflegte uns. Sie war vor der Revolution Nonne gewesen, jetzt ist sie die Frau eines Assistenzarztes. Sie ging leise, sprach leise, war immer da, wo sie gebraucht wurde, aber der Alte stieß auch mit ihr immer wieder zusammen.
— Alles gehört der Arbeiterklasse, und nicht einmal eine Pfeife Tabak kann man bekommen.
— Sie dürfen nicht rauchen, Genosse — sagte leise die blonde Frau — Ihre Lunge ist verwundet.
— Erzähle deinem Großvater nicht, was man darf und was man nicht darf — zankte der Alte. — Im Gefängnis durfte man auch nicht rauchen, trotzdem kam die Pfeife keinen Moment aus meinem Mund.
— Im Gefängnis war's etwas anderes — sagte die Pflegerin, aber es wurde zu ihrem Verderben, denn der Alte brach jetzt ernstlich in Zorn aus.
— Etwas anderes? Wenn's etwas anderes war, war's doch besser als dies hier... ich will dir's mal richtig sagen, wenn bisher keiner noch den Mut hatte...
Der Alte bekam wieder den Husten, man musste den Arzt holen.
— Sie bringen mich ins Grab — sagte der Alte, als wir wieder allein waren.
— Wenn Euch unsere Revolution so schlecht gefällt, weshalb seid Ihr in die Rote Armee eingetreten?
Kümmere dich nicht um das, was ich tue — sagte Alte.
Als ich mich dann, wenn auch noch mit fremder Hilfe, endlich auf meine Beine stellen konnte, setzte ich mich zu allererst an den Bettrand des alten Kecskes. Er war jetzt wirklich sehr alt geworden. Abgemagert, totenbleich, sein herabhängender Schnurrbart fast schneeweiß — unter den Augen tiefe Furchen. Aus seinen Augen flossen Tränen, als ich ihn küsste.
— Die Roten haben Kaschau eingenommen — las ich ihm aus der Zeitung vor.
— Gott sei Dank — seufzte Vater Kecskes, der Todfeind der Kommunisten, — und doch werden nur sie, die Kommunisten, das Recht der armen Häusler erkämpfen — fügte der grauhaarige rote Soldat hinzu.
Der Alte hustete schwer.
„ Mein einziger teurer Bruder!"
Wir weiden uns. Wir wurden hierher an die serbische Front auf die Weide gebracht, ich muss sagen, die Soldaten krepieren noch vor lauter Muße. Ich wollte dir gleich damals schreiben, als wir Kaschau eingenommen haben, aber ich komme erst jetzt dazu, Dir zu schreiben, und jetzt hab' ich wieder nichts mehr zu schreiben. Was wir besetzt haben, geben wir wieder zurück — der Teufel mag glauben, dass auch die Rumänen das zurückgeben, was sie uns genommen haben, die verfluchte Bojarenbande. Na, das ist auch das Werk der Sozialdemokraten. Wo die ihren Fuß hinsetzen, dort ist nicht viel zu hoffen, deshalb muss ich dir auch sagen, dass nicht ich auf dem Schlachtfeld stehe, sondern Du bist mitten in der Schlacht, denn der gefährlichste Feind sitzt in Budapest und nicht an der Save. Wenn Du ausgehen kannst, gehe, mein Junge, zu Kun und sage ihm, dass die Armee zerfällt, die Proleten zugrunde gehen, die Revolution kaputt gemacht wird, wenn es so weiter geht und sage ihm, wo der wahre Feind zu finden ist.
Werde bald gesund — hier merkt man erst, wie dringend wir jeden einzelnen Bolschewisten benötigen. Pojtek, Potyondi und die andern umarme ich vielmals und wünsche Dir alles Gute.
Dein treuer Genosse Goldmann."
NB.: Szappanos ist bei Kaschau gefallen. Er kämpfte tapfer bis zum letzten Augenblick.
Pojtek besuchte mich oft. Als ich noch im Bett lag, war er guter Laune; jetzt aber, als ich die Krücken wegwarf, wurde sein Gesicht immer düsterer. Ein Blinder konnte merken, dass sich schlimme Dinge abspielten.
— Weshalb haben wir die Truppen aus dem Norden zurückgezogen?
— Da musst du Böhm fragen. Sie haben die Armee zersetzt, bewusst zersetzt, es blieb uns nichts anderes übrig — wir müssen jetzt so tun, als ob wir daran glaubten, dass die Entente die Rumänen zurückbefiehlt. Wenn wir stark genug sind, werden wir sie wieder zurückdrängen.
Ich zeigte ihm den Brief von Goldmann. Er schüttelte den Kopf und sagte kein Wort.
— Du, dein lieber Nemes hat seinen Mann gestellt — begann Pojtek nach einigen Augenblicken. — Er wurde zum Einkauf nach Wien geschickt, das Geld hat er unterschlagen und in den Wiener Zeitungen Artikel gegen die Bolschewisten geschrieben.
— Hat er viel Geld gestohlen?
— Viel. Aber wenn er hier geblieben wäre, hätte er gewiss mehr Schaden angerichtet als mit dieser offenen Schurkerei.
— Ja, lauter Schufte.
— Na, lass den Kopf nicht hängen, ich habe auch gute Nachrichten. Die Russen haben Koltschak geschlagen.
— Ist das sicher?
— Ganz sicher. Und dort ist der Hauptkriegsschauplatz, nicht bei uns. Wenn wir dort siegen, werden wir auch hier siegen.
Der alte Kecskes hustete wieder. Er verlangte Wasser. Wir gaben ihm zu trinken und setzten uns an sein Bett. Die Augen des Alten brannten im Fieber — sein Gesicht schien seit ein paar Tagen kleiner geworden zu sein — seine Hände waren nur noch Haut und Knochen.
— Den Boden müsste man aufteilen — sagte er flüsternd.
— Das kommt auch noch — sagte Pojtek überzeugt.
— Jetzt, jetzt gleich — stöhnte der Alte. — Es wird zu spät, wir dürfen keine Zeit verlieren — es wird zu spät.
— Es wird nicht zu spät, Genosse Kecskes, alles kommt nacheinander.
— Aber...
Pojtek, dem sonst nichts schnell genug gehen konnte, erklärte mit größter Ruhe die Situation.
— Hoffnungen, Enttäuschungen, die verschiedensten Länder, Völker, Klassen, große zusammenhängende gewaltige Ereignisse: bilden den unaufhaltsamen Weg der Revolution. Die Russen, die Deutschen — die Kolonialvölker... Österreich, Deutschland, die tschechischen Sozialdemokraten und der Balkan, das ungarische Proletariat...
— Und der Bauer? Den behandelt man nur wie einen Hund! — fiel ihm Vater Kecskes ins Wort — , er hörte Pojtek zu und setzte sich mit großer Mühe im Bett auf.
— Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Vater Kecskes.
— Gewiß, ihr versteht nie, was wir sagen wollen. Das hatte ich eben auf der Zunge.
Pojtek lachte verlegen.
Er antwortete nicht, er fand keine Antwort.
Ich hatte Pojtek noch nie so unsicher gesehen wie jetzt — gegenüber dem sterbenden rebellierenden Bauern.
Am 24. Juni kam ich aus dem Krankenhaus heraus, zwei Tage nach dem Begräbnis des Vater Kecskes, rote Blumen, rote Fahnen, Militärmusik begleiteten ihn.
Der 24. Juni war der Tag der Gegenrevolution der nationalistischen Sozialdemokraten.
Nach der Niederschlagung der Gegenrevolution arbeitete ich einige Tage unter den Bauern — dann ging ich nach der rumänischen Front ab.
Ich habe die Überschreitung der Theiß mitgemacht, danach lief ich kopflos mit dem geschlagenen Heer zurück und blieb erst auf der Szolnoker Brücke stehen, erst dann erfasste ich, was geschehen war, als der Führer den Zerfall, den Tod, die Gegenrevolution, die sich im Zurückrasen des Heeres ankündigte, mit dem eigenen Körper aufhalten wollte.
— Ta-ta-ta-ta-ta-ta-
Auf der Szolnoker Seite brennt flackernd ein Schindeln bedecktes Haus.

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