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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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XII.

Wenn man Raja nach ihrer Kleidung beurteilen wollte, bekäme man ein ganz falsches Bild von ihr. Sie ist gekleidet wie eine Bourgeois-Studentin: ihre Kleider sind aus sehr feinen Stoffen gemacht und ihre Hände sind so fein gepflegt wie bei einer Schauspielerin.
— Du stammst doch aus einer Bourgeois-Familie, Raja?
— Ja. Weshalb fragst du das?
— Ich habe darüber nachgedacht, wieso du Kommunistin geworden bist?
Raja lachte und streichelte meinen Kopf. Anfangs nahm ich ihr das übel, aber später versöhnte ich mich mit derartigen Äußerungen Rajas. Sie hatte etwas Mütterliches an sich, aber diese Eigenschaft beeinträchtigte — wenn man sich daran gewöhnt hatte — die kameradschaftliche Freundschaft, die Freundschaft zu einer Genossin nicht.
— Wie bist du Kommunist geworden, Peter?
— Aus Überzeugung — antwortete ich gerade heraus.
— Ich kam genau so dahin. Ich habe selbstverständlich einen ganz anderen Weg durchgemacht als du, denn mein Ausgangspunkt lag ganz woanders als deiner. Ich bin heute ebenso kein ganzer Kommunist, wie du es nicht bist und es auch nicht sein kannst.
Auf dieses Wort hin sprang ich auf, aber Raja drückte ihre Hand fest auf meine Schulter. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so einen starken Griff hatte.
— Pass mal ruhig auf. Du arbeitest seit deiner Kindheit, dann kam der Krieg, die Revolution, es ist nicht deine Schuld, dass du keine Zeit, keine Gelegenheit zum lernen hattest. Und ich hatte — noch vor einigen Jahren — wie du es auch selbst wissen wirst, gar keine Beziehungen zur Arbeiterbewegung. Andererseits habe ich aber viel gelernt und lerne heute immer noch. Ich weiß sehr gut, woran es bei mir fehlt, aber du musst auch einsehen, dass du noch viel zu lernen hast. Noch viel Arbeit wartet auf uns. In dieser Zwangsruhezeit müssen wir uns für die spätere Arbeit vorbereiten. Wenn du meinst, dass es leichter geht, lese ich sehr gerne mit dir zusammen. Versuchen wir, Marx zusammen zu lesen. Bist du einverstanden? Durch das Lesen lernte ich nicht soviel wie aus Rajas Erklärungen, trotzdem wir in der Debatte oft aneinander gerieten. Ich glaube, in den meisten Fällen hatte ich recht, aber ich konnte mich nicht so gut ausdrücken wie Raja. Mit der deutschen Sprache hatte ich viel Schwierigkeiten, aber ich hätte auch auf ungarisch nicht so debattieren können wie sie.
— Ich lerne sehr viel, wenn ich mit dir spreche — sagte Raja — als sie das Buch zugeschlagen hatte.
Ich stand auf und strich über Rajas schönes, goldblondes Haar, ähnlich wie sie mein Haar zu streichen pflegte. Raja lachte und ich fühlte, dass mein Gesicht plötzlich feuerrot wurde. Raja wurde plötzlich ernst — ihre gute Laune war wie abgeschnitten — und dann streichelte sie mein brennendes Gesicht.
— Sag — fragte sie so einfach, wie wenn sie auch jetzt vom Lohn oder vom Mehrwert spräche — , sag, war dein Streicheln Kameradschaft oder war es mehr?
Ich sagte kein Wort, ich konnte nicht sprechen. Ich schämte mich, dass ich vor einer Genossin, vor Raja so dumm, so hilflos dastand.
— Willst du nicht antworten, Peter?
Ich konnte nichts sagen. Ich stand mit gesenktem Kopf vor Raja, dann umarmte ich sie plötzlich, ohne zu überlegen, was ich tat und drückte sie so fest an mich, dass sie leise aufschrie.
Drei Wochen lang verbrachten wir jeden Nachmittag und jeden Abend zusammen. Wir lasen und debattierten. Raja kontrollierte so streng, wie viel ich gelesen und was ich davon behalten hatte, wie wenn sie nichts anderes zu tun hätte, wie wenn es ihre heilige Pflicht sei, einen Gelehrten aus mir zu machen.
— Du brauchst so lange meine Kontrolle, bis du verstehen lernst, dass du kein guter Kommunist sein kannst, ehe du eine gründliche theoretische Ausbildung besitzt. Das Weitere machst du dann schon richtig. Bei dir wird das Lernen viel leichter gehen als bei mir, denn du hast die Arbeiterbewegung, die Revolution aus der Praxis heraus kennen gelernt.
Eines Abends, als ich in Rajas Zimmer kam, fand ich alles auf den Kopf gestellt. Nicht nur auf dem Tisch und auf dem Bett, auch auf dem Fußboden lagen durcheinander allerlei Hefte, Briefe, Manuskripte. Die Schubladen waren an die Wand gelehnt.
— Was ist los? Was geht hier vor?
— Ich mache Ordnung — antwortete Raja und warf ein Schriftenbündel in den offenen Mund des eisernen Ofens. — Setz dich, Peter.
Ich setzte mich, sie arbeitete weiter. Sie warf mit voller Hand zerrissene Schriften in den Ofen, andere wieder schnürte sie zu kleinen Bündeln und legte die Päckchen auf das Fensterbrett. Als ich hereinkam, hätte ich das sonst so ordentliche kleine Zimmer fast nicht erkannt. Eine kleine halbe Stunde später war alles wieder in Ordnung, nur der Ofen rauchte. Raja machte das Fenster auf, ich stocherte das Papier im Ofen an, dann stellten wir Wasser zum Tee auf.
— Bis das Wasser kocht, will ich dir einen Brief vorlesen, den ich heute von meiner Mutter erhielt.
— Ich verstehe doch kein kroatisch.
— Das weiß ich. Ich übersetze den Brief ins Deutsche und erzähle seinen Inhalt mit ganz einfachen Worten, so dass du alles verstehen wirst! Also, pass auf!
Raja nahm aus ihrer Tasche einen Brief heraus und las ihn so fließend, wie wenn er deutsch geschrieben wäre, obwohl sie ihn doch erst während des Lesens übersetzte.
— Liebe Tochter! Mehrere unserer in Wien lebenden Bekannten erschütterten uns mit der unerhörten Nachricht, dass du — ohne kirchlichen und elterlichen Segen, ohne standesamtliche Zustimmung — mit einem aus Ungarn vor der Hand des Gesetzes geflüchteten Schlossergesellen zusammenlebst. Die Nachricht klingt mir unglaublich, doch offen gesagt, du mein armes verirrtes Kind hast deinen unglücklichen Eltern schon soviel Kummer bereitet, dass ich — deine Mutter — dich auch einer solchen schrecklichen Tat für fähig halte. Ich und dein Vater leiden furchtbar unter diesen Dingen. Um nicht monatelang in Ungewissheit über dein Schicksal zu sein, haben wir beschlossen, dass deine Schwester Ilona übermorgen nach Wien fährt und dich sofort aufsuchen soll. Nimm sie mit großer Herzlichkeit auf. Begreife endlich, dass sie eine gute, eine sehr gute Schwester ist, die große Opfer für dich bringt, wenn sie nach dieser verfluchten Stadt fährt, in der Räuber und Mörder frei herumlaufen, um dich abzuholen. Wir haben die Hoffnung, dass deine Angelegenheit bei den hiesigen Behörden günstig erledigt wird, und dass du ohne Schwierigkeiten nach Hause kommen kannst! —
Das übrige lese ich nicht vor. Es ist nicht weiter interessant. Das Wichtigste ist, dass ich morgen höchstwahrscheinlich einen Gast bekomme: in der Person meiner älteren Schwester.
— Du sagtest mir bisher nicht einmal, dass du noch eine Schwester hast.
— Ich hielt es nicht für nötig, dir davon etwas zu erzählen. Ich glaube, sie ist auch auf mich nicht besonders stolz. Übrigens ist meine Schwester Ilona die Frau eines Gendarmeriemajors. Ich sah sie zuletzt, als ich auf der Polizei in Zagreb saß und sie mich da besuchte, um sich mit mir zu zanken. Es war damals, als ich wegen Verteilung von Flugblättern unter den Soldaten, die gegen die magyarischen roten Truppen mobilisiert waren, verhaftet wurde.
— So. Und wegen der gnädigen Frau Majorin hast du Ordnung in deinem Zimmer gemacht.
— Ja. Denn die Frau Majorin ist zu allem imstande. Ich will vermeiden, dass die Liebe meiner Schwester, die sie mir gegenüber hegt, außer mir auch noch anderen Unannehmlichkeiten bereite. Ich habe alles vernichtet, was — wenn es in fremde Hände gerät — den Genossen Schaden zufügen könnte. Und das, was ich hier zusammengelegt habe, bringe ich noch heute abend an einen sicheren Platz. Bisher war mein Zimmer solch ein sicherer Platz. Willst du mich nach Hietzing begleiten?
— Gewiß.
Am Nachmittag des nächsten Tages, als ich über den Hof ging, sah ich Rajas Schwester. Sie sah Raja sehr ähnlich, und trotzdem schien sie widerlich: ihr Gesicht war wie aus Porzellan, ihre Kleidung wie die einer Kokotte. Ich bemerkte sie schon von weitem, ging aber vorsichtig um sie herum, um ihr nicht in den Weg zu laufen. Abends suchte ich Raja zweimal: sie war nicht zu Hause.
In der Frühe suchte ich Antalfy auf. Ich aß mit ihm zu Mittag, wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen, abends gingen wir sogar ins Kino. Es war gegen Mitternacht, als ich nach Hause kam: ich marschierte eine gute Stunde, denn ich schämte mich, jetzt, wo es Antalfy gut ging, von ihm Geld für die Straßenbahn zu verlangen, und er dachte nicht daran, mich zu fragen, ob ich Fahrgeld habe.
— Wo zum Teufel läufst du so spät herum — brummte Pojtek.
— Ich war mit Antalfy zusammen.
— Mit Antalfy? Gut. Morgen sprechen wir über die Sache.
Ich war todmüde, kaum hatte ich die Decke über den Kopf gezogen, als ich in tiefen Schlaf sank. Es lohnte sich nicht, sich zu beeilen: kaum war ich eingeschlafen, wurde ich auch schon wieder geweckt.
— Im Namen des Gesetzes!
— Haussuchung, hol der Teufel die Schweine — schimpfte Wilner.
Zwei Kriminalbeamte forderten uns — im Namen des Gesetzes — auf, unsere Papiere zu zeigen. Bei zwei der Zimmerkameraden fanden sie die Papiere in Ordnung. Als dritter kam ich an die Reihe. Ich gab dem Polizeimann ruhig meine Aufenthaltsbewilligung hin, die ich durch die Vermittlung des Hilfskomitees erhalten hatte — ich dachte bestimmt, dass ich mich gleich wieder hinlegen könnte. Aber — es kam anders.
— Peter Kovacs — las der große, hagere, glattrasierte Kriminalbeamte, der dicht neben mir stand.
— Peter Kovacs? — fragte der andere, der an der Türe stehen geblieben war.
— Sind Sie identisch mit dem Peter Kovacs, auf dessen Namen diese Legitimation lautet? — fragte der hagere Schinderknecht wieder.
— Ja.
— Ziehen Sie sich an! Sie kommen mit uns.
— Wohin? — fragte ich mehr aus Neugierde als aus Angst.
— Fragen Sie nicht soviel, ziehen Sie sich an. Sie kommen mit uns.
Pojtek sprang mir natürlich sofort zur Hilfe bei.
— Es kann sich hier nur um ein Missverständnis handeln — sagte er. — Der politische Flüchtling Kovacs besitzt einen vorschriftsmäßig ausgestellten...
— Das ist nicht Ihre Sache — fiel der Polizeibeamte Pojtek ins Wort. — Peter Kovacs kommt mit uns, legen Sie sich hin und stecken Sie Ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute.
Pojtek schwieg, aber er legte sich nicht wieder hin. Während ich mich anzog, stand er barfuss, in zerrissenem, schmutzigem Hemd neben mir. Sein unrasiertes Gesicht war blass, mit seinen klugen, braunen Augen beobachtete er abwechselnd den Kriminalbeamten und dann mich. Im Zimmer war es kalt. Pojtek zitterte, er ging aber erst ins Bett zurück, als der hagere Polizeibeamte ihn anbrüllte.
— Gehen Sie zum Teufel! Stehen Sie doch keine Paradewache hier!?
Während ich mich ankleidete, kontrollierten die Schufte die Legitimation des vierten Zimmerkollegen, die genau so aussah wie die meine. Sie fanden sie in Ordnung, es war also sicher, dass der Besuch der Kriminalen ausschließlich mir galt. Was zum Teufel wollten diese Hunde von mir?
Bevor wir gingen, griff der eine der Kriminalbeamten — nur ganz oberflächlich — unter das Bettlaken, ob ich da etwas versteckt hätte, der andere erkundigte sich nach meinen Sachen und schüttelte misstrauisch den Kopf, als er erfuhr, dass ich nichts besäße.
— Los, gehen wir!
In einer Einspännerdroschke brachten sie mich nach dem Polizeipräsidium. Dort wurde ich, ohne dass man mich vernommen hatte, in eine Einzelzelle gesteckt. Die Zelle war — verhältnismäßig — ziemlich anständig: das Bett, das sich da befand, war viel bequemer als das in der Baracke. Ich war hundemüde, das Bett war einladend, der Raum ruhig, aber ich konnte nicht schlafen. Warum zum Teufel hat man mich hierher gebracht, Goldmann — Rote Armee? Das kann doch bestimmt keiner ernst nehmen. Rajas Schwester? Was kann denn die gnädige Frau Major über mich erzählen? Oder ist mit Antalfy etwas los, dass ich von ihm Geld bekommen habe... ja.
Es dämmerte schon, als mich endlich die Müdigkeit niederwarf. Ich war noch sehr müde, als der Wärter — mit einem Teller Einbrennsuppe — mich weckte. Ich aß die Suppe, dann wusch ich mich, zog mich an, warf mich in den Kleidern wieder aufs Bett und schlief nochmals ein. Jetzt rüttelte mich wieder der Wärter aus dem Schlaf.
— Zum Verhör!
Ich wurde einem Polizeioffizier vorgeführt. Noch nie war ich so freundlich von einem Polizeioffizier empfangen worden.
— Nehmen Sie Platz! Rauchen Sie?
— Ich danke.
— Wie es Ihnen beliebt. Wenn Sie aber nur deshalb nicht rauchen wollen, weil Sie es mir übel nehmen, dass Sie verhaftet wurden, so sind Sie im Unrecht. Die Verhaftung geschah nicht auf meine Veranlassung — ich ordne sogar Ihre Freilassung an. Aber natürlich haben Sie das Recht — das will ich für keinen Augenblick in Frage stellen — , so wie jeder Gefangene, mir gegenüber ungerecht zu sein. Dazu berechtigt Sie auch Ihre vielgerühmte Demokratie.
Mit der rechten Hand hielt er die Zigarette am Mund, den Rauch blies er auf die Zigarette, in der linken Hand hatte er ein Stück Papier, wahrscheinlich mit Notizen über mich — dachte ich bei mir.
Ein paar Augenblicke betrachteten wir uns gegenseitig. Der Polizeioffizier hatte ein breites, rundes, liebenswürdiges Gesicht, das das kurz geschnittene, fast völlig weiße Haar noch friedlicher erscheinen ließ.
— Ihre vielgerühmte Demokratie — wiederholte er, als er sah, dass er von mir vergebens eine Antwort erwartete. — Verstehen Sie nicht deutsch? — fragte er nach einer Weile.
— Nicht gut.
— Na, ich werde versuchen mit einfachen Worten zu sprechen. Sie sind doch arbeitslos?
— Ja.
— Erhalten Sie Arbeitslosenunterstützung?
— Nein, ich bekomme keine.
— Ja. Dann leben Sie also in sehr schlechten materiellen Verhältnissen? Aber, ich bitte Sie, sagen Sie mir — Armut ist keine Schande — ehrlich und offen: Sie leben in sehr schlechten Verhältnissen?
— Wenn ich Sie mit der Frage nicht beleidige: wovon leben Sie denn eigentlich?
— Ich weiß selbst nicht, wie ich mich durchschlage.
— Also, ich will nicht aufdringlich sein, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie etwas fragte, was Sie unangenehm berührt. Sie gaben doch zu, dass Sie sich in sehr schlechter materieller Lage befinden. Unter solchen Umständen ist es selbstverständlich, dass Sie gern irgendeine Arbeit annehmen würden.
— Gewiß.
Der Polizeioffizier dachte jetzt lange nach. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, so dass das Licht auf mein Gesicht fiel, sein Gesicht nur wenig beleuchtet war. An der Glut der aufgerauchten Zigarette zündete er sich behutsam eine neue an, dann zog er seine Taschenuhr hervor und untersuchte sie lange. Wir schwiegen beide mit Ausdauer.
— Also, kurz, Sie suchen Arbeit? Ich hoffe, Sie sind nicht wählerisch.
— Nein, ich bin nicht wählerisch.
— Sehr richtig. In den heutigen schweren Zeiten darf man nicht sehr wählerisch sein. Übrigens, die Arbeit, die ich Ihnen empfehle, ist unter den heutigen Verhältnissen eine besonders günstige Arbeit. Und man kann auch nicht sagen, dass es eine besonders schwere Arbeit wäre. Es gehört ein wenig Menschenkenntnis und eine unbedingte Anständigkeit dazu, dann wird Ihre Leistung zu Ihrer Ehre und zum Wohl der Gesellschaft ausschlagen. Und dazu bekommen Sie eine anständige Bezahlung bei uns. — Hier kam wieder eine Pause, ich wartete aber nicht auf die Fortsetzung.
— Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie mich als Polizeispion engagieren?
— Polizeispion? So hässliche Worte nehme ich nicht in den Mund. Außerdem gehört der ehrverletzende Sinn des Wortes „Spion" der Vergangenheit an. Im Krieg verrichteten die Spione die heldenhafteste Arbeit. Das ist schon richtig: ich will in Ihrem Interesse ein gutes Wort einlegen, dass Sie in den Beamtenstand der Staatspolizei aufgenommen werden. Die Arbeit bei uns ist bequemer und einträglicher als in der Fabrik, davon abgesehen, dass es fast unmöglich ist, bei uns in Österreich Arbeit in einer Fabrik zu bekommen. Seitdem wir den Segen der Demokratie genießen, haben wir so viel Arbeitslose... mit einem Wort, damit können Sie nicht rechnen, dass Sie in den nächsten Jahren in einer Fabrik ankommen. Dann kann man auch nicht jahrelang von der Unterstützung der Freunde leben und besonders dann nicht, wenn diese Freunde selbst keine Millionäre sind. Daran denken Sie doch als kluger Mensch — hoffentlich — nicht, dass Sie bald wieder von dem Bolschewismus leben können? Der Bolschewismus gehört der Vergangenheit an. Die magyarischen Kommunisten haben die Revolution in Europa ein für allemal kompromittiert. Die russische Revolution geht auch ihrem Ende entgegen. Mit einem Wort — ich übertreibe nicht, wenn ich sage: die einzige ernste Möglichkeit, wieder in menschliche Verhältnisse zu kommen, ist, dass Sie in unsere Dienste treten. Was die Einzelheiten betrifft...
— Ich bin nicht neugierig auf Einzelheiten. Ich bin ein ehrlicher Mensch.
— Das weiß ich. Gerade deshalb will ich, dass Sie bei uns eintreten. Ja. Oder denken Sie vielleicht, unsere Arbeit sei ehrlos? Was? Ja. Also gut, mir ist's recht. Das ist Demokratie. Die Demokratie gibt Ihnen das Recht, dass Sie meinen Beruf als ehrlos betrachten, mir aber wird das Recht versagt, Genugtuung für diese Beleidigung zu verlangen. Im gegebenen Fall verzichte ich auf die Genugtuung. Ich weiß, dass ich recht habe, und das ist die schönste Genugtuung.
Jetzt lächelte der Polizeioffizier.
Ich fühlte, dass der Kerl mit mir nur sein Spiel trieb. Spricht freundlich mit mir und wickelt mich indessen ein, wie es ihm passt. Am liebsten hätte ich ihm etwas an den Kopf geschleudert.
— Sie sind noch sehr jung, lieber Freund, Sie nehmen noch viele Dinge zu ernst, die reifere Menschen nicht mehr ernst nehmen können und auch nicht wollen. Von den Kommunisten im reiferen Mannesalter haben uns schon eine ganze Menge ihre Dienste angeboten...
— Das ist nicht wahr! Das ist Verleumdung! Lüge!
— Gut, Lüge? Na, wie Sie glauben. Ich wollte Ihnen nur Gutes erweisen, aber wenn Sie es nicht wollen... Na, es macht nichts. Wissen Sie, ich habe Sie deshalb mit solcher Liebe behandelt, weil ich, als ich Sie sah, an meinen Sohn denken musste. Mein Sohn ist ungefähr im gleichen Alter wie Sie — er ist in russischer Kriegsgefangenschaft, irgendwo in Sibirien, der Ärmste. Als ich Sie erblickte, dachte ich sofort: vielleicht benötigt auch mein Kurt menschenfreundliche Hilfe — ich helfe Ihnen und dann hilft der Allmächtige, dass auch mein Sohn einen Beschützer findet. Aber Sie weisen die helfende Hand von sich ab und — mit Gewalt kann ich Ihnen meine Hilfe nicht aufzwingen.
Einen Augenblick lang glaubte ich, dass ich tatsächlich die guten Absichten dieses Mannes verkenne, der wirklich überzeugt ist, mir etwas Gutes vorzuschlagen. Aber, es war nur ein Augenblick, denn der Polizeioffizier fuhr fort.
— Ich war doch etwas ungerecht meinem Sohn gegenüber, wenn ich ihn mit Ihnen verglich. Mein Sohn würde niemals so tief sinken — würde niemals so herunterkommen, dass er sich aushalten ließe, dass er vom Gelde seiner Geliebten lebte wie Sie.
— Wie ich?
— Die Polizei weiß alles, seien Sie beruhigt, junger Mann, wir wissen alles. Wir wissen auch, dass Sie das Asylrecht missbrauchen und hier für eine Rote Armee werben, wir wissen aber auch, dass Sie mit dem Geld des Studentenfräuleins aus Jugoslawien ins Kaffeehaus gehen, es ist für uns auch kein Geheimnis, dass Ihnen dieses Fräulein einen Wintermantel gekauft hat. Na — setzen Sie sich nur, junger Mann, regen Sie sich nicht unnötig auf. Seien Sie beruhigt, ich spreche nicht mehr von diesen unangenehmen Dingen. Nein — ich will Sie nicht beschämen. Wenn Sie schon keine Hilfe von mir annehmen wollen, will ich Ihnen zum Abschied einen Rat geben: niemals, unter keinen Umständen, für keinen Augenblick dürfen Sie Ihre Menschenwürde preisgeben. Was geschehen ist, ist geschehen: in Zukunft aber achten Sie mehr auf Ihre menschliche Würde. Das empfehle ich Ihnen aus reinem Herzen, mit väterlichem Gewissen. Ja. Was das Weitere anbelangt, wenn Sie um jeden Preis in einer Fabrik arbeiten wollen — ein besonderer Geschmack — , wenn Sie sich unbedingt darauf versteifen, will ich versuchen, Ihnen auch da an die Hand zu gehen, trotzdem Sie sich mir gegenüber gar nicht so verhielten, dass Sie meine Beihilfe verdienten. Aber gut, Sie wollen Arbeit in einer Fabrik? Gut. Arbeit in einer Fabrik ist bei uns hier in Österreich nicht zu bekommen — es gibt keine Arbeitsmöglichkeiten. Wir können uns auf den Kopf stellen — es ist einfach keine Arbeit vorhanden. Ich kann Ihnen also Fabrikarbeit nur verschaffen, wenn ich Ihnen die Möglichkeit gebe, sich dorthin zu begeben, wo Fabrikarbeiter gesucht werden. Wohin wollen Sie gehen? Nach der Tschechoslowakei, oder nach Jugoslawien?
— Ich möchte hier in Österreich, in Wien bleiben.
— Bitte, machen Sie doch keine Geschichten. Vor einigen Minuten sagten Sie noch, Sie wollten in einer Fabrik arbeiten. Ich habe versucht, Sie davon abzubringen, Sie aber hielten daran fest. Da bei uns keine Arbeit in einer Fabrik zu haben ist, müssen Sie dahin gehen, wo Fabrikarbeiter gesucht werden. Also — Jugoslawien oder Tschechoslowakei? Oder vielleicht Ungarn?
— Ich möchte hier in Wien bleiben.
— In unserm Dienst? Wie? Im Dienste der Polizei? Das Blatt Papier, das er während der ganzen Zeit in
der Hand hielt, war ein Ausweisungsbefehl. Als die Verhandlung abgebrochen wurde, gab er mir den Ausweisungsbefehl in die Hand und sagte noch ausdrücklich, ich müsse Österreich sofort verlassen. Bis ich erfasste, wie sich eigentlich die Sache verhielt, stand schon ein Kriminalbeamter da, der den Befehl auszuführen hatte: mich an die Bahn zu bringen und dafür zu sorgen, dass ich sofort abreise.
— Schnell, schnell, wir versäumen den Zug!
— Ich appelliere! Ich protestiere dagegen! — schrie ich dem Beamten zu.
— Gut, gut, beeilen Sie sich nur, junger Freund! — sagte der Polizeioffizier.
Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof, an dem ich angekommen war — wie ich mich plötzlich erinnerte. Als wir in die Vorhalle traten, fasste mich der Kriminalbeamte am Arm und führte mich in eine Ecke.
— Ich bin Sozialdemokrat — sagte er flüsternd.
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte und gab ihm keine Antwort.
— Überlegen Sie, Genosse — fuhr der Kriminalbeamte weiter fort — , es hat gar keinen Sinn, dass Sie da abfahren. Weshalb sollten Sie das tun, und wohin sollten Sie fahren? Die Tschechen lassen Sie ohne Pass nicht herein, und die Unsrigen lassen Sie auf keinen Fall wieder zurück, wenn Sie einmal über die Grenze sind. Eine solche Reise auf Schwarz endet meistens damit, dass man nach Ungarn verschleppt wird. Wie es da zugeht — na, wie es da aussieht, das wissen Sie gewiss besser als ich. Mit einem Wort — es ist ganz klar, dass es gar keinen Sinn hat, von hier abzufahren.
Ich blickte verwundert in die hervorstechenden Augen des Kriminalbeamten.
— Was raten Sie mir zu tun, Genosse?
— Was? Also in erster Linie zerreißen Sie den Ausweisungsbefehl und werfen Sie die Papierschnitzel hier in den Papierkorb hinein. Dann unterschreiben Sie diese Quittung.
Er drückte mir ein mit Maschinenschrift beschriebenes Papier in die Hand. Ich las mit Hilfe des Genossen Kriminalbeamten, dass ich von dem Beamten der Staatspolizei Wenzel Huber eine Fahrkarte dritter Klasse bis Znaim und ein halbes Brot erhalten habe.
— Unterschreiben Sie — drängte der Kriminalbeamte — , ich muss zurück. Sie bleiben noch eine Viertelstunde hier, dann können Sie gehen, wohin Sie wollen, nur nicht in Ihre alte Wohnung. Und natürlich dürfen Sie nicht Ihren bisherigen Namen benutzen. Im Cafe Habsburg können Sie verhältnismäßig billig — Personalausweis und Aufenthaltsbewilligung auf einen beliebigen Namen kaufen. Wenden Sie sich an den Kellner Jellinek. Merken Sie sich den Namen: Jellinek — der sagt Ihnen schon Bescheid. Na, machen wir's schnell, ich bin eilig.
Ich unterschrieb die Quittung und verabschiedete mich herzlich von dem sozialdemokratischen Polizeibeamten; von dem Geld, das er für meine Fahrkarte erhalten hatte, gab er mir soviel, dass ich mit der Straßenbahn in die Stadt fahren konnte. Ich spazierte noch eine gute Viertelstunde vor dem Bahnhof herum— ich weiß heute noch nicht, weshalb. Dann fuhr ich geradeswegs in das Cafe, wo Antalfy hauste. Ich erzählte Antalfy das ganze Abenteuer von Anfang bis zu Ende. Er kratzte sich den Kopf, aber alles war vergebens, er konnte nicht herausbringen, warum die Polizei es gerade auf mich abgesehen hatte.
— Na, vorläufig ist das ja auch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, dass Peter Kovacs abgereist ist, und dass du neue Ausweispapiere benötigst. Warte hier auf mich, bis ich meine Sachen erledigt habe — trinke einen Kaffee — , dann gehen wir zusammen ins Cafe Habsburg. Heute nacht schläfst du natürlich bei mir.
Im Cafe Habsburg setzten wir uns an einen Ecktisch. Um uns herum wimmelte es von Damen in eleganten Toiletten und von Herren in feinen Anzügen, sie machten Krach, als ob sie dafür bezahlt würden. An anderen Tischen — im scharfen Gegensatz dazu — steckten flüsternde Paare, manchmal auch zu dritt, die Köpfe zusammen, so dass niemand daran zweifeln konnte, dass sie nicht von Liebe, sondern über Geschäfte flüsterten. An dem Tisch neben uns trank ein fettbäuchiger Herr Sekt und aß dazu weiche Eier. Während ich die an der Wand hängenden Bilder betrachtete, bestellte Antalfy beim Kellner und fragte nur so ganz nebensächlich, ob er nicht mit Herrn Jellinek, mit seinem Landsmann, mit seinem alten guten Freund sprechen könnte.
— Ich bin Jellinek — sagte der grauhaarige Kellner mit dem vorgebeugten Rücken.
— So, Sie sind das? Gut.
Antalfy kniff sein linkes Auge zu und drückte Jellinek ein Geldstück in die Hand. Jellinek sah sich das Geldstück an, nickte mit dem Kopf, er blinzelte auch ein wenig, dann eilte er weg.
Ein paar Minuten später kam er mit einem kahlköpfigen, bebrillten, lächelnden Herrn zurück, der einen karrierten Anzug und eine weiße Weste trug.
— Herr Stein — stellte Jellinek den lächelnden Herrn vor.
— Ich stehe den Herren zu Diensten — sagte Herr Stein, mit seiner rechten Hand einen Halbkreis in der Luft beschreibend, mit der linken spielte er an der goldenen Kette auf seinem Bauch.
Als sich Jellinek entfernt hatte, erzählte Antalfy Herrn Stein kurz, was wir brauchten. Herr Stein zog die Stirn zusammen und klopfte mit der linken Hand auf seine weiße Weste.
— Hm, hm — sagte er. — Und wie kommen die Herren auf den Gedanken, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftige? Die Herren sind doch politische Flüchtlinge?
— Ich befasse mich mit Valutageschäften. Vielleicht kennen Sie Herrn Jenö Weiß.
— Aha. Na gut, ich weiß schon. Die Herren sind trotzdem im Irrtum. Ich befasse mich nicht mit der Beschaffung von Papieren, ich beschäftige mich nicht mit Dingen, die das Gesetz verbietet. Ich muss sagen, ich befasse mich wirklich nicht mit solchen Dingen, und es ist ein bloßer Zufall, dass ich ein Zuständigkeitszeugnis bei mir habe, das auf ein westmagyarisches Dorf lautet, und eine Aufenthaltsbewilligung auf sechs Monate für Wien bei mir habe. Ein bloßer Zufall, denn...
— Na, und wie könnten Sie uns diese Papiere überlassen?
— Ich bin geneigt, diese Papiere den Herren aus reiner Freundschaft zu überlassen, aber diese Papiere würden ihnen wenig nützen, sie lauten nämlich auf eine zweiundfünfzigjährige Frau.
— Hm. Und haben Sie, Herr Stein, nicht zufällig auch andere Papiere bei sich.
— Nein, denn wie ich sagte, befasse ich mich nicht mit verbotenen Geschäften. Aber vielleicht kann Ihnen irgendeiner meiner Bekannten behilflich sein...
— Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns diesem Ihrem Bekannten vorzustellen?
— Ja. Das kann ich. Aber mein Bekannter, an den ich dachte... Noch ein Glück, dass die Herren reichlich mit Geld versehen sind...
— Wo denken Sie hin! Zwei arme politische Flüchtlinge...
— Aber Sie arbeiten doch mit Jenö Weiß zusammen?! Und wie ich Weiß kenne... Mit zwanzig Dollar berechne ich den Herren die ganze Kollektion: Geburtsund Zuständigkeitszeugnisse, mit der dazu gehörigen Aufenthaltsbewilligung.
— Verflucht teuer — - antwortete Antalfy.
— Ich bedauere — billiger kann ich's nicht machen.
— Na, macht nichts. Ich will versuchen, vielleicht kann ich's wo anders billiger bekommen und vielleicht, ja... ich weiß doch noch nicht einmal, ob die von Ihnen angebotenen Papiere auch tatsächlich gut sind?
— So? Ich sehe, dass die Herren von der Sache gar nichts verstehen. Die ganze Welt — jeder vernünftige Mensch weiß, dass Stein die besten und billigsten Papiere liefert. Was den Preis anbelangt — schlage ich jede Konkurrenz. Und was die Güte betrifft: ich möchte gern die Polizei sehen, die echtere Papiere hat als ich. Bitte, meine Herren, sehen Sie sich diese Schriftstücke an...
Als wir eine Viertelstunde später wieder auf der Straße waren, hieß ich schon Geza Herzog, geboren im Burgenland, arbeitsloser Handelsangestellter. Antalfy bezahlte neun Dollar für die Legitimationspapiere.
Die Nacht verbrachte ich in einem Hotel, am nächsten Tag irrte ich auf der Straße und in den Kaffeehäusern umher wie ein herrenloser Hund. Am dritten Tag brachte ich Antalfy so weit, dass er zum Hilfskomitee ging, um dort vielleicht Pojtek zu treffen; da er ihn dort nicht fand, setzte ich Antalfy so lange zu, bis er ein Auto nahm und nach dem Barackenlager hinausfuhr.
— Dein Freund wohnt schon seit drei Tagen nicht mehr in den Baracken — erzählte er, als er zurückkam. — Niemand weiß, wohin er verschwunden ist. Wahrscheinlich wurde er auch verhaftet. Die jugoslawische Studentin wurde von Kriminalbeamten in derselben Nacht mitgenommen wie du. Von ihr weiß auch niemand mehr etwas zu sagen.
— Man müsste irgend etwas unternehmen. Du verstehst dich so gut auf die Dinge und hast auch ein gutes Herz...
— Ich habe schon über die Sache nachgedacht, während der ganzen Rückfahrt habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Wir können nichts machen. Und wenn wir uns noch so lebhaft für die Sache interessieren — wir können ihnen nicht helfen. Wir gefährden uns nur selbst. Wir können nichts anderes tun als abwarten. Pojtek ist ja nicht von gestern, auf ihn kann man sich schon verlassen...
— Und Raja...?
Statt einer Antwort zuckte Antalfy mit den Achseln. Am nächsten Tag ging er noch einmal zum Hilfskomitee; vielleicht weiß Genosse Schwarz irgend etwas über Pojtek. Als er zurückkam, platzte er fast vor Wut.
— Ich lasse dich nicht mehr unter diese Schufte. Pfui, dieses heuchlerische, niederträchtige Pack!
Ob ich ihm noch so sehr auf den Hals rückte, er blieb unerbittlich, er war nicht gewillt zu sagen, was mit Pojtek beim Hilfskomitee geschehen war.
— Lass nur! — brüllte er wütend. — Von heute ab bist du kein Emigrant mehr, du bist mein Sekretär. Hast du verstanden? Mit diesen Schuften hast du nichts mehr gemein.
— Ehrlich gesagt, verstehe ich dich nicht. Dass Schwarz ein Schuft ist, das weiß ich. Dass eine Menge Leute zu Verrätern wurden, das weiß ich auch. Aber deshalb ist noch nicht jeder ein Schuft und wir, die wir keine sind, sind um so unentbehrlicher, je mehr abgefallen sind.
— Lass die Dummheiten. Von heute ab bist du mein Sekretär und kümmerst dich nicht mehr um die ganze Emigrationsgeschichte.
— Nein — sagte ich leise, aber entschlossen. — Ich werde kein Verräter.
Antalfy schlug mit der Faust auf den Tisch, dass ich dachte, die Platte springt entzwei.
— Verräter? Du sprichst von Verrätern? Bin ich ein Verräter? Was? Du irrst dich, mein Lieber! Ich bin kein Verräter, aber leider — bin ich vielleicht der einzige — na, lassen wir's! Wir sind alte Freunde, ich will mich nicht an Worte halten — fuhr er etwas ruhiger fort. — Die Sache steht so — ich habe dir das schon öfters erklärt — , Verräter ist ein jeder, der heute noch arbeitet, denn wer arbeitet, hilft den Kapitalismus aufbauen. Der wahre Feind der Bourgeoisie tut dasselbe, was ich tue — er zersetzt den Kapitalismus.
— Jeder, der sich von der Arbeiterklasse trennt...
— Ich weiß, ich weiß — fiel mir Antalfy ins Wort. Ich kenne diese Phrasen schon viel zu gut. Die Arbeiterklasse... ja. Ich schlug mich noch auf der rumänischen Front herum, als die Budapester Arbeiter schon nach den Lebensmittelzügen der Entente jammerten...
— Darin hast du teilweise recht. Nur dass diejenigen Arbeiter, die damals um die Hilfe der Entente flehten, die Dinge nicht so kannten wie du. Jetzt wissen sie, was sie von der Entente zu erwarten haben, man wird es ihnen jetzt viel leichter begreiflich machen können...
— Unsinn! Ich erkenne dich nicht wieder, Peter. Du hast dich sehr verändert.
— Du auch.
Antalfy warf wütend die Zigarette auf den Boden, zertrat sie, presste die Zähne zusammen, wie wenn er beißen wollte, dann ging er mit großen Schritten im Zimmer hin und her. Ich saß am Tisch und starrte mit aufgestützten Armen vor mich hin. Wir schwiegen lange. Schließlich fing Antalfy wieder an.
— Höre Peter, ich verstehe dich, aber du musst mich auch verstehen. Der Unterschied zwischen uns beiden ist nicht der — dass ich ein Verräter bin und du ein ehrlicher Revolutionär, sondern der, dass ich älter, erfahrener und geschulter bin als du. Die Sache der Revolution... hm. Wo ist denn die Revolution? Sie ist vorbei. Wenn wir uns nicht selbst etwas vormachen wollen, müssen wir sagen: die Revolution ist vorbei. Eine bittere, eine sehr bittere Tatsache — aber es ist so. Du kannst doch von mir nicht verlangen, dass ich als erfahrener, gebildeter Mensch neue Opfer bringe und Opfer von anderen verlange für eine verlorene Sache?
— Die neue Revolution können wir nur...
— Neue Revolution? Nein! Sieh — ich habe schon einmal gesagt — ich bin genügend geschult, ich kenne die Geschichte. Ich weiß, dass jede Emigration anfangs nur die Monate gezählt hat, alle waren sie sicher, nach ein paar Monaten siegreich nach Hause zu können. Dann wurden die Jahre gezählt und dann... Schließlich gingen sie zugrunde...
— Die russische Emigration...
— Das war eine ganz andere geschichtliche Situation, das lässt sich nicht mit der heutigen Emigration vergleichen. Nein. Was du auch sagen magst, es ist zweckloser Unsinn, sich hier in eine wichtige Pose zu werfen und von der Grenze her zu drohen. Nein, ich mache mich nicht lächerlich.
— Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Nach Hause zu gehen und dort zu arbeiten.
— Ich danke. Den verlorenen Beilstiel aus dem Rachen des Löwen holen? Nein. Krepieren, nur damit ich sagen kann, wenn ich unter den Galgen geführt werde: na Antalfy, du alter Dusel, du bist konsequent geblieben wie ein Ochse. Nein, dafür bin ich nicht zu haben. Was ich jetzt hier machen kann, das tue ich auch. Alles andere ist Unsinn. Die neue Revolution — neue Revolution. — Wer soll eigentlich die neue Revolution machen? Der Arbeiter, der seine Waffen fortgeworfen hat? Oder der Bauer, der die Stadt ausgehungert hat? Oder wer zum Kruzifix?
Ich wusste, dass Antalfy unrecht hatte und sah jetzt ganz klar, wie richtig Rajas Worte waren. Der Kampf wird nicht immer so einfach sein, wie mit dem Gewehr in der Hand dem Feind gegenüberzustehen, wo wir genau wissen, wer Freund und wer Feind ist. Raja — ob sie...
— Na? Da weißt du nichts zu antworten? Sag doch, wenn du's weißt: wer wird der Revolution neues Leben einflößen?
— Wer der Revolution neues Leben einflößen wird? — wiederholte ich — , die Kommunistische Partei.
— Die Kommunistische Partei? Wir hatten nicht einmal zur Zeit der siegreichen Revolution eine Kommunistische Partei, wie sollten wir jetzt eine haben? Ebenso gut könntest du vom Mond oder vom Sonnenaufgang Hilfe erwarten. Und wo steckt denn diese fabelhafte Kommunistische Partei, — wenn man fragen darf?
— Wo? In Ungarn, hier in Österreich, dann in der Tschechoslowakei, dort, wo die Rote Armee durchmarschiert ist...
— Na, du bist ja total verrückt geworden, Peter! Genug davon! Ich habe keine Sehnsucht nach der Irrenanstalt. Wenn du von den Tschechen, von den Rumänen, von den Arbeitern Hilfe erwartest, die mit der Waffe gegen die Ungarische Räterepublik gezogen sind... Na, du bist ja wahnsinnig!
— Ganz bestimmt hat der tschechische, der rumänische Arbeiter, haben die Arbeiter der ganzen Welt aus der Niederlage unserer Revolution gelernt...
— Gelernt? Na, Peter, ich hab auch gelernt, was ich lernen konnte. Sicher. Jetzt kann mir einer herreden, was er will, mich kann man nicht noch einmal verrückt machen. Der Arbeiter verdient nicht, dass wir uns für ihn aufopfern. Nein.
Am Abend sprachen wir nicht weiter miteinander. Am nächsten Morgen sagte ich zu Antalfy, dass ich von ihm fortziehen wolle.
— Wo willst du denn hingehen?
— Ich weiß noch nicht.
— Du bist unrettbar verloren — sagte Antalfy sehr traurig. — Gut, du kannst fortziehen. Tu, was du für gut findest. Aber, da ich nicht die Verantwortung übernehmen will, wenn du zugrunde gehst, tue mir den Gefallen und bleibe noch bis morgen hier, bis dahin suche ich dir irgendeine Arbeit, damit du wenigstens nicht vor Hunger krepierst.
Am nächsten Tag hatte ich tatsächlich Arbeit. Ich wurde Nachtwächter in einem Holzdepot.
Acht Tage lang stand ich als Nachtwächter im Dienst. Von abends neun bis morgens sechs spazierte ich auf und ab im Hof eines großen Holzdepots. Bei Tag schlief ich.
Ich bekam in dem Portierhäuschen des Holzdepots Unterkunft. Acht Tage lang geschah nichts Besonderes. Wenn ich nachts irgendein verdächtiges Geräusch hörte, dachte ich stets, dass gewiss nicht Bischöfe oder Bankiers Holz stehlen — und begab mich in die Portierloge, aber in der Früh bei der Ablösung war ich stets an meinem Platz und so verlief alles in schönster Ordnung. Am achten Tag, etwa um Mittag, wurde ich aus dem Schlaf gerüttelt — Goldmann kam mich besuchen.
— Woher wusstest du, dass ich hier wohne?
— Von Antalfy. Zieh dich schnell an, wir gehen ein bisschen spazieren. Oder wenn du bei Moneten bist, setzen wir uns in eine Kaffeestube.
— Ich hab noch etwas.
— Na, dann mach schnell.
— Gibt's etwas Neues?
— Ja.
— Was denn?
— Wir reden noch darüber.
Ich schlüpfe eiligst in meine Kleider und ein paar Minuten später saßen wir schon in einer kleinen Kaffeestube.
— Bestell nur ruhig etwas für dich — sagte ich zu Goldmann, der mir verlegen gegenüber saß, so dass ich dachte: er hat gewiss kein Geld und ist sehr hungrig. Iß doch irgend etwas — sagte ich zu ihm, — er sagte nichts, er winkte nur mit der Hand.
— Das ist nicht so wichtig.
— Du sagtest doch, du hast etwas Neues erfahren.
— Ja. Liest du keine Zeitung?
— Nein. Seit acht Tagen habe ich keine Zeitung in der Hand gehabt und mit niemanden gesprochen.
— Ja. Es handelt sich um Pojtek. Er ist nach Ungarn, um dort illegal zu arbeiten. Er wurde festgenommen.
Ich kann nicht in Worte fassen, wie mir zumute war, als ich das hörte. Das Lokal drehte sich vor meinen Augen — als wäre ich betrunken, oder hätte Gift geschluckt... Goldmann saß starr auf seinem Stuhl und sprach kein Wort. Ich sah ihn an, ich merkte, dass er noch nicht alles erzählt hatte, aber ich hatte keinen Mut, ihn zu fragen.
— Armer Pojtek! — sagte er schließlich.
— Ist er tot?
Goldmann nickte mit dem Kopf.
— Zwei Tage lang haben sie ihn gepeinigt, dann stürzten sie ihn vom zweiten Stock herunter.
Als wir eine Stunde später wieder auf die Straße kamen, sprachen wir nicht mehr über Pojtek, ich stöhnte von Zeit zu Zeit tief auf.
— Seit wann führst du einen anderen Namen.
— Seitdem ich ausgewiesen wurde. Weißt du, ich wurde schon zum Bahnhof geführt.
— Ich auch. Ich wurde wegen der Geschichte mit der Roten Armee verhaftet. Kondor, der Schuft, steht im Dienst der Polizei.
— Hm.
Es war schon dunkel, als wir uns trennten. Beim Abschied sagte mir Goldmann, dass mich Genosse Landler — der Alte — für morgen vormittag zu sich bestellt habe. Er gab mir die Adresse, wo wir uns treffen sollten, aber er gestattete nicht, dass ich sie aufschreibe. Ich musste sie zehnmal nacheinander sagen, um sie bestimmt nicht zu vergessen... aber die Adresse aufschreiben — das darfst du auf keinen Fall — sagte er.
Landler empfing mich sehr freundlich.
— Pojtek hat mir von Ihnen erzählt, mein Sohn — sagte er. Eine bessere Empfehlung können Sie nicht haben. Armer Pojtek, er war ein wirklicher Bolschewik.
— Das war er.
Landler nahm die Brille ab, wischte sorgsam mit einem farbigen Taschentuch die Gläser, dann setzte er die Brille wieder auf die Nase und blickte mir ganz aus der Nähe ins Gesicht. Jetzt sah ich erst, wie er während der Monate gealtert war. Jetzt war er nicht nur dem Namen nach „unser Alter", sondern er war auch tatsächlich alt geworden. Tausend Runzeln im Gesicht, blass und gelb. Auch seine Augen blickten, als ob sie müde wären, nur seine Bewegungen waren jugendlich geblieben.
— Die Frau, Pojteks Frau — fing er wieder an, während er im Zimmer auf und ab ging — Frau Pojtek mit den zwei Kindern ist schon unterwegs hierher, nach Wien. Wir schicken sie nach Russland hinüber. Dort wird Lajcsi ein Mensch werden. Na — ich glaube, — ich habe Ihre Gedanken erraten. Sie wollten über Pojteks Familie sprechen.
— Ja. Woher wissen Sie das, Genosse Landler?
— Das konnte man leicht merken. Aber wir wollen uns nicht weiter mit diesen Dingen aufhalten. Nicht deswegen habe ich Sie hierher kommen lassen, sondern...
Nun fragte er mich gründlich aus: wie ich lebe, was ich arbeite, was ich lese, mit wem ich verkehre. Erdachte eine Weile über das nach, was ich ihm zur Antwort gab, zeitweise nickte er zustimmend mit seinem müden Kopf. Ich erwähnte es nicht, er selbst sagte im Gespräch, dass wir uns vor Losoncz getroffen hatten.
— Ich ließ Sie deshalb rufen, mein Sohn, um Sie zu fragen, ob Sie eine Arbeit übernehmen wollen?
— Parteiarbeit?
— Selbstverständlich handelt es sich um Parteiarbeit und nicht um Veranstaltung von Frauenboxkämpfen.
— Ich bin sehr erfreut darüber, Genosse Landler.
— Wir schicken Sie auch auf Arbeit. Wir geben Ihnen eine sehr ernste Arbeit. Eine Arbeit an einem gefährlichen Ort.
— Zwar haben Sie schon die größte Gefahr hinter sich. In den letzten zwei Monaten habe ich gelernt, dass für einen jungen Revolutionär der gefährlichste Platz der ist, wo er zur Untätigkeit verdammt ist. Ich glaube, der weiße Terror hat nicht soviel gute Genossen getötet, wie die verfluchte Untätigkeit.
— Ich glaube, Genosse Landler, den größten Schaden hat die Niederlage angerichtet.
— Sie irren, mein Sohn. Die zu Hause, in Ungarn geblieben sind, die empfinden die Niederlage unmittelbarer, viel schwerer und doch... Gestern war hier bei mir ein Genosse, ein erprobter ernster Genosse, der noch vor zwei Tagen in Budapest war. Er brachte sehr, sehr traurige Nachrichten, aber er brachte auch andere. Das wissen Sie ja, dass Otto Korvin gehenkt worden ist? Er ist wundervoll mutig gestorben — na, aber ich will jetzt nicht davon sprechen.
Am frühen Morgen starb er und abends ging es bei den Arbeitern am Vaczer-Weg, in Neupest, in Csepel — überall von Mund zu Mund — Otto ist nicht gestorben, er hält sich in einer Neupester Fabrik versteckt und hat wieder zu organisieren begonnen. Man spricht davon, dass sich Szamuely in den Fabriken am Vaczer-Weg verborgen hält. Die Bauern — die Knechte des Großgrundbesitzes — wissen genau, sie schwören darauf, dass Bela Kun nach Moskau gefahren sei, um von Lenin Rat und Hilfe zu verlangen und es ist nur noch eine Frage von Wochen, von Tagen und — .
Wissen Sie, mein Sohn, ich liebe keine Legenden, keine abergläubischen Geschichten, aber diese Legenden muss man verstehen lernen. Sie sagen mehr als kilometerlange Statistiken, als ganze Bibliotheken von Analysen der Arbeiterbewegung. Wer Augen hat, muss sehen: der Bauer weiß, dass nur der Sieg der Kommunisten die Bodenaufteilung bringen wird, der Prolet weiß, dass es aus der heutigen schrecklichen Situation nur einen einzigen Ausweg gibt — die Befolgung des Weges der Kommunistischen Partei. Sie werden sich in uns nicht täuschen.
Bei diesen Worten richtete sich Landler auf, wie wenn er plötzlich wieder jung geworden wäre. Einen Augenblick lang war er jung, kraftvoll und sein Gesicht glühte. Seine Augen glänzten, seine Stimme klang klar.
Landler schickte mich zu Gyulai. Von Gyulai erfuhr ich, wohin ich zu fahren habe, wann ich losgehen soll, und wie ich mich zu verhalten habe. Wir sprachen zwei Stunden miteinander. Von Gyulai ging ich zu Hajos. Er hatte mich vor sieben Jahren in die Bewegung eingeführt — jetzt bekam ich von ihm die zur Reise nötigen Dokumente.
— Deine Lehrjahre hast du ehrlich zu Ende geführt, mein Sohn. Was jetzt folgt, nun giltst du schon als Geselle — sagte er zum Abschied. Halte auch weiterhin auf deinem Posten aus.
Die Straßenbahn, mit der ich zum Bahnhof fuhr, blieb unterwegs einige Augenblicke stehen: ein Trupp von Demonstranten zog durch die Straße und versperrte der Straßenbahn den Weg.
Vorne mit gesenktem Kopf, totenstill, ein paar Hundert österreichische Arbeiter.
Hinter ihnen, mit roten Fahnen, ein kleines Häuflein bulgarischer Studenten.
Nach den Bulgaren kamen unter lautem Gesang — italienische Arbeiter.
Ganz hinten: Magyaren. Die kleine lärmende Gruppe der ungarischen Flüchtlinge.
— Tod der Bourgeoisie!
— Tod der Bourgeoisie!
Mitten aus dem Lärm drang schrill die Stimme von Goldmann.

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