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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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XI.

Der Bahnhof war nur spärlich beleuchtet, es war nicht schwer, unbemerkt vom Kohlenwagen herunter zu kriechen. Die Ausgänge waren nicht besonders bewacht: wir gelangten ohne weiteres auf die Straße hinaus. Die elektrische Bahnhofsuhr zeigte kurz vor ein Uhr nachts.
Es war eine schöne lauwarme Herbstnacht. Nach allem, was wir hinter uns hatten, nach dem Gefängnis, nach dem Stall und nach dem Kohlenwagen tat uns die Luft in den Straßen Wiens ordentlich wohl. Wortlos gingen wir auf die Stadt zu, nur der Tscheche brummte etwas wie einen Fluch. Breite Straßen, hohe Häuser, Straßenbahnschienen, Bogenlampen — die Straßen sind leer, die Schienen verlassen, die Bogenlampen dunkel.
— Die Wiener gehen früh schlafen — sagte ich.
— Es ist eine kranke Stadt — sagte Antalfy so leise, als ob er Angst hätte, dass ein lautes Wort den Kranken aufwecken könnte.
Ohne ein Ziel zu haben, schleppten wir uns auf dem Pflaster langsam vorwärts. Wir hatten uns untergefasst: links der Tscheche, Antalfy in der Mitte, rechts ich. Wir beide sprachen ungarisch, das ärgerte den Tschechen. Wie Antalfy meinte, war er nicht nur darum böse, weil er unsere Sprache nicht verstand, sondern, weil er — als guter tschechischer Patriot — alles, was magyarisch war, aus tiefstem Herzen hasste.
Die Zeit verging, wir wurden hungrig und müde. Schließlich hatten wir genug von dem Spaziergang und setzten uns in irgendeiner Anlage auf eine Bank nieder.
— Am liebsten möchte ich etwas essen. Gleichgültig was.
— Mitten in der Nacht!
Auf der Bank überkam uns der Schlaf. Als uns in der Früh der ein wenig prickelnde Wind aufweckte, waren wir nur noch zwei. Der Legionär hatte uns ohne Abschied verlassen.
— Was fangen wir jetzt an?
— Vor allem gehen wir baden. Alles umsonst — ich bin schon ein alter Knochen. Die auf der Bank verbrachte Nacht hat mich noch mehr heruntergebracht als das Hungern. Das warme Wasser wird uns ein wenig erfrischen — es wäscht vielleicht auch den Schmutz von uns ab.
Nach langem Suchen fanden wir auch eine Badeanstalt, aber es war nichts zu machen, das Bad war wegen Kohlenmangel geschlossen. Ebenso erging es uns bei anderen Badeanstalten.
— Hör mal, Antalfy! Mich plagt eigentlich der Hunger mehr als der Schmutz.
Antalfy nickte nur mit dem Kopf, und einige Minuten später saßen wir schon in einer Kaffeestube. Auf der einen Seite waren die Stühle noch auf den Tischen umgelegt, auf der anderen Seite warteten zwei mit Papier bedeckte Tische auf die Gäste. Als wir eintraten, lehnte der weißhaarige, bleiche, gebeugte Kellner den Besen an die Wand, legte die Kehrschaufel über den mitten im Zimmer zusammengefegten Kehrichthaufen, und als wir uns an einem Tisch niedergelassen hatten, zog er aus der Tasche seiner abgetragenen Militärhose eine kleine Schere und näherte sich uns, mit der Schere klappernd.
— Bitte die Brotkarten!
— Brotkarten? Was für Brotkarten? — fragte Antalfy verwundert.
— Die Herren sind Ungarn — sagte der Kellner betont. — Gewiß Magyaren. Ich hab mir's gleich gedacht.
— Können wir als Ungarn auch nur auf Brotkarten
Brot bekommen?
Der Kellner lächelte. So lächelnd sah er noch älter aus als vorher.
— Bei uns ist Gleichheit — sagte er leise. — Es gibt keine Ausnahmen. Auch Ungarn bekommen ohne Brotkarten kein Brot.
— Wir haben keine Marken, wir wollen jedoch gut bezahlen für das Brot.
— Das ist keine Geldfrage — sagte der Kellner entrüstet. — Das gehört zur Ordnung und ohne Ordnung gibt es keinen Sozialismus. Das werden Sie auch aus eigener Erfahrung wissen. Die Marken, beziehungsweise die Ordnung...
— Wir haben fast zwei volle Tage nichts gegessen — unterbrach ihn Antalfy.
Der Kellner betrachtete uns mit weitgeöffneten Augen von Kopf bis Fuß, er schüttelte verlegen den Kopf, er sah aus, als ob man ihn an einem Seil hin- und herzöge wie eine Marionette. Dann steckte er mit einer plötzlichen Bewegung die Schere in die Tasche und trat näher an uns heran.
— Sind die Herren vielleicht Genossen? — fragte er flüsternd.
— Ja.
Der Kellner verließ uns für einen Augenblick, er verschwand hinter einer schmalen Klapptür, nach einer Weile kam er mit einer großen Holzplatte zurück. Er setzte die Platte, auf der zwei kleine schwarze Scheiben Brot lagen, vor uns hin.
— Wünschen die Genossen Kaffee oder Tee?
— Sind Sie Sozialist? — fragte Antalfy ziemlich unfreundlich.
— Gewiß. Ich bin organisierter Sozialdemokrat. Wünschen die Genossen Kaffee oder Tee?
Ich verstand blutwenig von dem Gespräch, aber als es so weit kam, erzählte mir Antalfy, was der Kellner gesagt hatte.
— Weiß der Teufel, wie wir die österreichischen Sozialdemokraten einschätzen sollen: als Freunde oder als Feinde.
Der Kellner hatte unsere Haltung wahrscheinlich missverstanden, er verschwand wieder für einige Augenblicke und kam mit einem Büchlein in der Hand zurück.
— Ganz recht, wenn die Genossen misstrauisch sind — sagte er mit weitgeöffneten Armen und in feierlichem Ton. — Das ist sehr, sehr richtig von Ihnen. Wien ist voll von Spitzeln, von Provokateuren, von allerlei Gesindel. Was mich anbelangt, kann ich mich ja leicht ausweisen. Hier ist mein Parteibuch, soeben habe ich meinen Beitrag bezahlt. Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich organisierter Arbeiter! Seit siebenundzwanzig Jahren!
Antalfy sah sich das Parteibuch des Kellners an, er prüfte die Unterschriften und die Stempel, dann gab er das Buch zurück und nickte mit dem Kopf.
— Es ist in Ordnung, Genosse Bergmann. Ihre Dokumente sind vollständig in Ordnung. Aber — denken Sie — Genosse, wir haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Einem Genossen, der Kellner ist, braucht man nicht zu erzählen, was zwei Tage Fasten bedeutet.
— Gewiß. Ich verstehe das wohl, ich werde Ihnen bei allem, was ich ohne Marken abgeben kann, zur Verfügung stehen. Ja, wir Sozialdemokraten unterstützen in weitestem Sinn die geflüchteten ungarischen Genossen, sowohl als Partei wie auch als Privatperson.
Hier platzte Antalfys Geduld.
— Zum Teufel mit euch — wäret ihr uns damals zu Hilfe gekommen, als eure Hilfe von Nutzen gewesen wäre! Jetzt könnt ihr mit eurem weitgehenden Wohlwollen die Mäuse aus ihrem Loch herauslocken. Und wir werden hier auch nur mit schönen Worten traktiert, statt dass wir etwas zu fressen bekommen!
Der gute alte Kellner wich erschrocken vor dem wütenden Antalfy zurück. Er hatte schon eine Entgegnung auf der Zunge, doch überlegte er sich die Sache und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Eine Minute später kam er mit zwei Tassen Kaffee und einer entzweigeschnittenen Brotscheibe in der Hand zu uns zurück. Er stellte uns das Essen hin, verbeugte sich und nahm wieder den an die Wand gestellten Besen. Er beugte sich herunter, wie wenn er die Kehrschaufel aufheben wollte, aber statt dessen legte er auch noch den Besen dorthin und kam dann wieder zu uns.
— Die Genossen sind Bolschewiken und die Bolschewiken beurteilen Österreich mit seiner besonderen Lage etwas ungerecht, oder wenigstens urteilen sie nicht ganz richtig — sagte der Kellner. Ich mache den Genossen keine Vorwürfe, ich will sie nur über die wahre Situation aufklären. Wir österreichischen Sozialdemokraten sind keine schlechteren Revolutionäre als die russischen Bolschewiken, nur dass wir überlegter, oder besser gesagt gebildeter, zivilisierter sind als die Russen. Ich will hoffen, dass die Genossen nicht bezweifeln, dass Otto Bauer ein ebenso guter Sozialist ist wie Ihr Lenin, und Otto Bauer sagt, und er hat es auch bewiesen, dass Österreich etwas ganz anderes ist als Russland. Ja, liebe Genossen, Sie dürfen schon glauben, Österreich ist nicht Russland. Österreich ist ein kleines, schwaches, armes, ausgehungertes Land, umgeben von großen mächtigen Feinden. Wenn die Entente die Lebensmittelzufuhr auch nur für drei Tage sperrt, bricht wieder die Hungersnot aus, und mit einer hungernden Arbeiterschaft kann man keine Revolution machen. Denn mit welchem Gefühl sollte der Arbeiter auf die Barrikade gehen, wenn er denken müsste, dass seine Familie zu Hause vielleicht nichts zu essen hat? Wenn diese schreckliche Not einmal vorbei ist, wenn wir wieder zu Kräften gelangt sind, wenn jeder Arbeiter oder wenigstens die große Mehrheit genügend, wenn auch nicht übermäßige Vorräte besitzt, dann — ja, unser Weg, der Weg der Österreicher führt zwar auf Umwegen, aber viel sicherer und fast ohne Blut und ohne Risiko bei viel menschlicheren Mitteln zum Sozialismus. Die Genossen werden erfahren, dass schon die nächsten Wahlen...
— ... Könnten wir noch zwei Tassen Kaffee ohne Brotmarken bekommen? — fiel ihm Antalfy ins Wort. — Über die weiteren Dinge können wir uns dann ruhiger unterhalten — fügte er noch hinzu, als er sah, dass der Kellner uns übel nahm, dass wir uns so wenig für die Vorteile der zum Sozialismus führenden österreichischen Methode interessierten.
— Für Kaffee braucht man keine Brotmarken — sagte der Kellner. — Und was das Weitere betrifft, werden sich die Genossen in Kürze davon überzeugen, dass wir recht haben.
Als wir uns vollgegessen hatten, zog Antalfy das Geld aus seiner Westentasche. Der Kellner war nicht gerade erfreut über das tschechische Geld, er sah misstrauisch auf den Löwen mit den zwei Schwänzen, dann aber überlegte er sich die Sache, er rechnete auf der Papiertischdecke aus, wie viel wir zu zahlen und wie viel wir in österreichischem Geld noch zurück zu bekommen hatten.
— Es würde mir sehr leid tun — wenn Sie als Kommunisten in Ihrem Vorurteil so weit gingen, meine Hilfsbereitschaft zu verschmähen. Ich kann den Genossen in zwei Dingen behilflich sein. Als erstes — hier.
Er drückte Antalfy zwei Zettelchen in die Hand.
— Was ist das? — fragte Antalfy.
— Brotmarken. Die Genossen können damit hundert Gramm Brot kaufen.
— Wir danken Ihnen.
— Das zweite, womit ich den Genossen dienen kann — ich gebe Ihnen hier die Adresse des Hilfskomitees für die ungarischen Flüchtlinge. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf, gehen Sie dahin, dort wird man Sie beraten, aber nicht nur beraten, denn unsere Partei hilft — natürlich — den Flüchtlingen nicht nur mit Rat.
Mit Hilfe der Adresse, die uns der Kellner gegeben hatte, fanden wir nach einer guten Marschstunde das Lokal des Hilfskomitees. Dort kamen wir zunächst vor die Kontrollkommission. Wir wurden über alles ausgefragt: wer wir sind, was wir sind, woher wir kommen, und da Antalfy zwei Bekannte unter den Mitgliedern der Kontrollkommission hatte, wurden wir nach anderthalb Stunden auch offiziell zu ungarischen Flüchtlingen, die auf das Brot des Hilfskomitees warteten. Unter den Wartenden fanden wir mehrere Bekannte, wir reichten ihnen zur Begrüßung die Hand. Der eine oder andere fragte noch, wann wir gekommen seien und auf welchem Wege, aber weiter kümmerten sich die Menschen nicht umeinander. Alles war müde. Die vor uns nach Wien gekommen waren, waren vielleicht noch abgespannter als wir. Die Luft im Lokal der Holzarbeiter, wo die Brotausteilung erfolgte, war zwar ziemlich schlecht, aber doch kühl. Kaum einer hatte einen Mantel. Die meisten trugen, wie wir, einen Sommeranzug. In einer Ecke hatte ein Friseur seinen Laden aufgemacht. Fünf, sechs Leute standen um den Stuhl herum und warteten ruhig, bis die Reihe an sie gekommen war.
— Wir haben Zeit genug bis zur Weltrevolution! — tröstete sich ein Genosse, der eine weiße Sommerhose anhatte und seine unzeitgemäße sommerliche Kleidung dadurch ausgleichen wollte, dass er eine abgetragene Fellmütze, die er wahrscheinlich von einem russischen Kriegsgefangenen bekommen hatte, tief bis zu den Ohren herunterzog.
— Wir haben Zeit bis zur Weltrevolution!
— Bis — zur Weltrevolution? Es wäre besser, wenn sich die Genossen um Arbeit umsähen, anstatt hier solche dummen Witze zu verzapfen!
— Das ist doch Genosse Schwarz, der Sekretär des Komitees? Wie, kennen Sie mich nicht mehr, Genosse Schwarz? Sie gehen einfach an uns armen Teufeln vorbei — sagte jetzt Antalfy.
Der kleine kugelrunde Genosse Schwarz mit dem kahlen Kopf blieb stehen und sah Antalfy mit seinen kleinen Schweinsaugen einige Augenblicke verlegen an. Man merkte, dass er nicht wusste, wer ihn da angesprochen hatte.
— Ich sehe, Sie erinnern sich nicht. Wissen Sie nicht mehr, wie wir nach der Eröffnung des Sowjetkongresses die halbe Nacht durch debattierten.
— Na, gewiss, Sie sind das?! — schrie Genosse Schwarz auf, und schlug sich klatschend auf die Stirn. Gewiß, gewiss. Nach der Eröffnung des Sowjetkongresses... Ja. Ich hoffe, die Sache ist jetzt klar? Sagen Sie, wer hat recht behalten — Lenin oder Schwarz?
— Um ehrlich zu sein, ich stehe noch heute auf dem Standpunkt, dass Lenin recht hatte und nicht Sie, Genosse Schwarz.
— So? Lenin hatte recht? — fragte Genosse Schwarz lächelnd. Mit einem Wort: die Weltrevolution ist da? — Nein, Genosse, das weiß jeder vernünftige Mensch und jeder vernünftige Genosse wusste schon damals, dass Lenin nicht recht hatte und auch nicht recht haben konnte. Ich sah das schon damals klar. Aber jetzt weiß ich noch mehr. Jetzt weiß ich auch das, dass nicht nur Lenin nicht recht hatte, sondern dass auch ich mich geirrt habe. Ja, mein Standpunkt: die Neutralität, ist auch unrichtig, er bedeutet Unterwerfung, ist also ein unhaltbarer Standpunkt. Nicht ich, sondern Genosse Renner, der österreichische Kanzler, hatte recht. Er hatte recht, als er sagte, dass ein wahrer Sozialist in dem Augenblick nicht neutral bleiben kann, wo die Bolschewiken die Revolution kompromittieren, wo sie den Weg, der zum Sozialismus führt, versperren. Ja, wenn Sie's wissen wollen, Genosse Renner hat recht gehabt, als er die Intervention der großen westlichen demokratischen Staaten gegen das gewissenlose Abenteurertum der Kun-Leute verlangte. Ja, heute sieht jeder vernünftige Mensch ganz klar, dass der Weg zum Sozialismus über die Demokratie führt, und dass die Bolschewiken die gefährlichsten Feinde der Arbeiterschaft sind.
Schwarz sprach diese Worte pathetisch, mit ausgebreiteten Armen, und diese Belehrung galt nicht nur Antalfy, sondern der ganzen — auf Brot wartenden Menschenmenge. Bei seinen Worten wurde ein leiser Protest hörbar, der aber durch Beifall und laute Zustimmung übertönt wurde. Als Schwarz schließlich mit seiner Rede zu Ende war, machte ich den Mund auf.
— So weit sind wir noch nicht gesunken, Genosse Schwarz, dass wir den Verrat zum höchsten sozialistischen Gebot stempeln.
— Sie müssen noch viel lernen, junger Freund, wenn Sie mit mir debattieren wollen — sagte Genosse Schwarz lächelnd. Aber sein Lächeln konnte nicht verbergen, dass er plötzlich von Zorn gepackt wurde, von seinen Mundwinkeln floss der Speichel wie Geifer. Wenn Sie wollen — fuhr er äußerst liebenswürdig fort — , kann ich Ihnen die Werke aufschreiben, die Sie lesen müssen, um die Frage: Demokratie oder Diktatur — richtig zu beurteilen. Lesen können Sie — hoffentlich?
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Eins ist sicher: ich war sehr frech. Das runde, dicke Gesicht des Genossen Schwarz wurde plötzlich feuerrot vor Wut. Er holte tief Atem, um aus voller Brust loszubrüllen, aber bevor er noch zu Wort kam, mengte sich eine neue Stimme in die Debatte.
— Du hast recht, Peter! Du hast vollständig recht, aber du musst deshalb nicht frech werden.
Ich sah mich um, Pojtek stand hinter mir.
— Pojtek!
Ich vergaß alles, ich vergaß Schwarz, ich vergaß Renner mitsamt dem zum Sozialismus führenden demokratischen Weg und fiel Pojtek um den Hals. Es fehlte nicht viel und ich hätte geweint.
— Ruhiger, Peter.
Genosse Schwarz stand schon auf dem Podium, wo das Brot ausgeteilt wurde.
— Genossen — sprach er, sich mühsam zurückhaltend, um leise und ruhig zu erscheinen — , nichts liegt mir ferner, als mich zum Richter in meiner eigenen Sache aufzuwerfen. Ein junger Genosse hat sich hier schwer vergessen und mich, einen Vertreter des Hilfskomitees, ungebührlich beleidigt. Ich wiederhole, nichts liegt mir ferner...
— Gut, schon gut! Wie steht's mit der Brotverteilung?
— Wie lange sollen wir noch auf das Stückchen Brot warten?
— Genossen!
— Gut, schon gut! Teilen Sie endlich das Brot aus!
— Genossen! — überschrie Schwarz die ungeduldigen Zwischenrufer — ich will nur sagen, dass ich dem Genossen, der sich gegen mich derart vergangen hat — volle Verzeihung gewähre...
— Geben Sie ihm zwei Stück Brot, wenn Sie ihm
verzeihen! — Los mit der Verteilung!
— Die Genossen sollten dem Genossen Schwarz gegenüber mehr Respekt zeigen. Seine ganze Arbeit gehört
uns.
— Dafür wird er ja bezahlt!
— Fangen wir an!
— Stehlen wir uns nicht die Zeit.
Genosse Schwarz breitete wieder seine Arme weit aus, man sah, dass er sprechen wollte, da aber auf dieses Zeichen die Zwischenrufe noch lauter und wütender wurden, überlegte er sich plötzlich die Sache, ließ die Arme sinken und griff achselzuckend und kopfschüttelnd in die riesige Kiste, die neben dem Tisch stand.
— Fangen wir an — brüllte er los und drückte das aus der Kiste herausgehobene Stück Brot dem ersten, der an der Spitze der Reihe stand, in die Hand. — Der nächste!
— Gehen wir — sagte ich zu Pojtek gewandt. — Ich will keine solche Unterstützung.
— Nimm's nur ruhig an, Peter — sagte Pojtek. — Nimm schon dein Brot, ich nehme auch, was mir zukommt, dann können wir über alles weitere sprechen.
— Ich bin nicht böse auf Sie, junger Freund — sagte Genosse Schwarz, als schließlich die Reihe an mich kam — , ich bin Ihnen nicht böse, ich bin keinem böse. Ein guter Sozialist, Marxist, Antinikotinist ist keinem Menschen böse, er wünscht jedem nur das Beste. Später werden Sie mir noch dankbar sein, dass ich Sie so energisch zurechtgewiesen habe, als Sie Unsinn sprachen. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie die Worte des alten Schwarz befolgen, vom alten Schwarz können Sie nur Gutes lernen. Seien Sie morgen pünktlich hier, morgen zahlen wir auch Geld aus.
Während er sprach, nagte ich schon an dem Brot. Der erste Bissen fiel mir fast aus dem Mund, aber es gelang mir, ihn irgendwie hinunterzuwürgen. Wie ich später erfuhr, schmeckte das Brot darum so entsetzlich, weil Kastanienmehl darin verbacken war.
— Gehen wir — sagte Pojtek, als er seine Brotration erhalten hatte — , komm mit hinauf zu mir, du kannst bei mir wohnen.
— Und Antalfy?
— Soviel Platz habe ich leider nicht. Meine Wohnung besteht aus einem schmalen Eisenbett — für zwei Leute wird's auch schon zu eng sein, drei haben überhaupt keinen Platz darin, und um auf dem Boden ohne Bettzeug schlafen zu können, ist es schon viel zu kalt. Genosse Varga! Hätten Sie nicht Platz für einen der angekommenen Genossen?
— Wenn er keinen besseren Platz findet, kann er bei mir unterkommen. Er muss aber so aus- und eingehen, dass die Hausleute nichts davon merken.
— Darauf können Sie sich verlassen — sagte Antalfy. Ich verabschiede mich von ihm und ging mit Pojtek weg. — Wir treffen uns morgen bei der Brotverteilung.
Ich war noch nicht auf der Straße, und schon war ich mit dem Brot zu Ende. Pojtek steckte seines in die Tasche.
— Wie bist du herausgekommen?
— Die Hauptsache ist vorläufig, dass ich da bin.
— Für mich war es schwierig genug, mich bis hierher durchzuschlagen.
— Also Peter, du bist auch da. Wie du hergekommen bist, das hat Zeit, ein andermal. Seitdem wir uns zuletzt sahen, wurden einige tausend Arbeiter zu Tode gepeinigt. Die Rumänen sind wahre Engel im Vergleich zu den weißen ungarischen Offizieren. Wie werden wir wieder nach Hause zurückkehren und wann? Das ist jetzt die wichtigste Frage.
— Wann glaubst du, dass das sein könnte.
— Wahrscheinlich erst bei der zweiten Revolution,
das kann aber noch fünf bis sechs Monate, oder auch noch länger dauern. Früher kann in Ungarn nur dann eine Revolution kommen, wenn die Unsern in Italien oder in der Tschechoslowakei siegen. Die Lage hat sich verändert: vor einigen Monaten brachten noch wir den ausländischen Genossen Hilfe mit der Waffe in der Hand, jetzt sollen sie uns Hilfe bringen.
— Russland?
— Da ist die Situation auch nicht glänzend. Aber auf die russischen Genossen können wir uns verlassen. Die machen ihre Sache richtig.
— Wohnst du weit von hier?
— Eine kleine Stunde. Hoffentlich hast du heile Schuhe.
— Na, so einigermaßen.
— Also, dann los.
Das Wetter schlug von einem Tag auf den anderen um, es wurde kalt. Ein frostiger Wind blies uns ins Gesicht. Ich war abgespannt, müde und hungrig — mich fror. Pojtek stellte Fragen an mich, ich antwortete immer leiser vor Müdigkeit. Meine Beine wurden schwer wie Mühlsteine. Fast wäre ich unterwegs eingeschlafen. Pojtek zog aus seiner Tasche — um mich irgendwie wach zu halten — sein Brot heraus, teilte es und drückte mir die eine Hälfte in die Hand. Als ich trotz der Müdigkeit bald damit fertig war, reichte er mir auch die zweite Hälfte. Mein Kopf brummte. Ich sah nur dunkel, dass sich viel, sehr viel Menschen in den Straßen drängten. Der Lärm floss mit dem Summen meiner Ohren zusammen. Pojtek fasste mich unterm Arm und sprach mit ruhiger gleichmäßiger Stimme. Ich konnte kein einziges Wort verstehen.
Ich warf mich, wie ich war, mit Schuhen und Kleidern auf Pojteks Bett und schlief gleich ein. Ich schlief tief, starr wie ein Stück Holz. Als ich erwachte, war es dunkel. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, ich bewegte mich ganz vorsichtig und sah mich misstrauisch um. Durch zwei schmale Fenster sickerte schwaches Licht, kaum soviel, dass ich das einige Schritt weit entfernte Bett sehen konnte. Ich stellte mich mühsam auf die Beine und suchte tastend irgendeine Ausgangstür. Ich betastete die eine Wand, dann die andere, ich war noch immer wie betrunken vom Schlaf — ich wusste nicht genau, ob ich tatsächlich in Wien war.
— Bist du wach?
Hinter meinem Rücken, in der Wand, die ich schon abgetastet hatte, öffnete sich eine Tür und Pojtek trat ins Zimmer. Er drehte das Licht an und plötzlich wurde das geweißte, zweifenstrige, vierbettige Zimmer hell. Als ich mich umsah, hatte ich den Eindruck, als ob ich mich in einem Krankenhaus befände, und wie sich später herausstellte — war meine Vermutung richtig. Die Baracke, in der wir wohnten, war im Krieg eine militärische Irrenanstalt gewesen. Nach dem Krieg liefen die Kranken auseinander und die leer gewordenen Baracken wurden in Notwohnungen umgewandelt. Die Umwandlung bestand darin, dass jeder, der dazu Gelegenheit hatte, aus dem Zimmer verschleppte, was ihm in die Hände geriet. Die Zurückeroberung der allerwichtigsten Gegenstände war die Aufgabe der neuen Bewohner.
— Bist du auf? Du hast Schwein, wir kochen grade Abendbrot.
Das andere Zimmer, in welches mich Pojtek führte, war ebenso eingerichtet wie das, in dem ich schlief.
Was ich als erstes erblickte, war ein Topf auf einem Spirituskocher. Aus dem Topf dampfte warmer Essenseeruch. Außer uns waren noch fünf Leute im Zimmer: zwei lagen auf dem Bett, drei standen um den Kocher herum. Als ich hereinkam, drückte mir ein sommersprossiger Mann, der viel älter aussah als ich, fest die Hand.
— Peter! Was ist denn, kennst du mich nicht mehr?
Gewiß, ich hatte irgendwo dieses Gesicht schon gesehen, ganz bestimmt hatte ich es schon irgendwo gesehen, aber wenn man mich totgeschlagen hätte, wäre es mir nicht eingefallen, wo.
— Ehrlich gesagt...
— Erinnerst du dich nicht? Na, macht nichts! Hauptsache ist, dass du das, was ich dich gelehrt habe, nicht vergessen hast.
— Was haben Sie mich denn gelehrt?
Plötzlich fiel mir alles ein: das Arbeiterheim, die Orthographiestunden, der erste Streik.
— Genosse Szekeres! Szekeres umarmte mich.
— Es sind zwei Jahre her, dass wir uns zum letzten Mal trafen.
— Wir trafen uns, Genosse Szekeres, als alles erst im Werden war und wir treffen uns jetzt wieder, wo alles zu Ende ist.
— Was ist zu Ende — fragte Szekeres und lachte hell auf. — Was ist zu Ende, Peter?
Jetzt merkte ich erst, was für Unsinn ich gesagt hatte. Mein Kopf wurde plötzlich feuerrot, ich schwieg und senkte den Kopf, um nicht in Szekeres' Augen schauen zu müssen. Er aber griff mir unter das Kinn und zog meinen Kopf hoch, dass ich ihm in die Augen sehen musste.
— Verrate mir doch endlich, Peter, womit es zu Ende ist?
— Peter hat schon recht — stand mir Pojtek bei. — Es ist zu Ende, zweifellos ist die erste proletarische Revolution zu Ende. Was jetzt vorgeht, gehört schon zur Geschichte der zweiten Revolution.
Ja, ja — nickte Szekeres mit dem Kopf. Die erste ist zu Ende. Das ist richtig.
— Leiert doch nicht immer wieder diesen Unsinn! Erste Revolution, zweite Revolution... Ihr redet in einem Ton, wie wenn ihr sagtet: Wilhelm der Erste, Wilhelm der Zweite; der erste April, der zweite April, der erste oder der zweite ist ganz gleich: der Bolschewismus ist Unsinn. Punktum. Die Revolution aber — wie unsinnig diese Revolution auch war — war eine Lehre für jeden — vernünftigen Menschen: wir haben gelernt, dass man durch Tyrannei der Tyrannei kein Ende bereiten kann. Der ganze Schweinestall muss bespien und in die Luft gesprengt werden!
— Hauptsächlich bespien, Vater Wilner, das nützt bestimmt! — lachte Szekeres.
— Ihr seid Ochsen! — fuhr Wilner ungestört fort und rührte während des Sprechens sein Essen um. — Alle, alle sind sie wie der Wurm im Meerrettich. Den Meerrettich halten sie für die süßeste Wurzel. Erste Revolution, zweite Revolution — ein wahres Irrenhaus! — Hat keiner eine Zigarette? — sagte er etwas leiser, aber noch immer energisch.
— Sehen Sie, Bruder Wilner — sagte jetzt ein großer junger Mann mit fast bis zu den Schultern herabhängendem Haar. Er lag auf dem Bett und fuchtelte mit den Händen herum — sehen Sie, Bruder Wilner, Sie verurteilen die Bolschewiken wegen ihrer Irrtümer und Sie selbst sind nicht frei von Verirrungen. Oder glauben Sie vielleicht, dass in dem von Alkohol, von Nikotin vergifteten Körper eine Seele Platz hat, die genügend stark und rein ist, um mit Erfolg den Kampf gegen das Schlechte aufzunehmen... ? — Geh zum Teufel, du Speicheldrüse... !
— Allein der auf die christliche Enthaltsamkeit aufgebaute...
Wilner sprang wütend auf ihn zu und kehrte ihm absichtlich den Rücken, dann stellte er sich an die Wand und begann zu schreien:
— Da bete in meinen Hintern hinein, du Schafskopf, dann kann ich dein Gefasel noch ertragen, aber wenn ich deine Visage sehe, werde ich gleich zum Antisemiten! Ich habe wirklich keine Vorurteile, ich bin geneigt, jede Hure, jeden Mörder als Bruder anzusehen, aber da muss ich schon das Kotzen kriegen, wenn mir der Sohn des Schames von der jüdisch-orthodoxen Gemeinde mit seinem weichen Gehirn immer von Christus predigt...
— Armer Bruder — sagte der Langhaarige, streckte seine Glieder und kroch aus dem Bett heraus.
— Du nennst mich deinen Bruder, du Krepierling? Na, wenn du mein Bruder bist, dann geh und hol mir etwas Salz. Die von Nr. 12 haben heute ein halbes Kilo gekauft, geh, lass dir eine Handvoll geben.
Der Langhaarige ging hinaus. Ich setzte mich auf eines der Betten neben Szekeres. Pojtek drückte mir einen Teller und eine Gabel in die Hand.
— Ist das die Emigration? — fragte ich Szekeres.
— Das ist auch Emigration. Der Boden braucht Dünger, sonst wächst nichts.
— Höre nicht auf diese Schwachköpfe — fuhr er nach einigen Augenblicken fort. — Es sind ganz gute Kerle, nur dass ihnen der Verstand flöten gegangen ist. Einer — oder der andere findet ihn vielleicht gelegentlich mal wieder.
Auf der Wand mir gegenüber standen folgende Worte mit Kohle geschrieben:
Vor Hunger krepieren ist keine Schande!
— Sehr verlockend — sagte ich zu Szekeres.
— Hab keine Angst, wir sterben nicht Hungers. Wir werden keine Zeit haben, vor Hunger zu krepieren. Auch ein Blinder sieht, dass wir unmittelbar vor dem Sieg stehen.

Das Bett, in dem wir lagen, war zu eng für uns zwei. Wenn sich der eine bewegte, musste der andere aufpassen, dass er nicht hinausflog. Am Nachmittag hatte ich mich tüchtig ausgeschlafen, jetzt hatte ich gar keine Lust zu Bett zu gehen. Unsere drei Schlafkameraden schnarchten schon lange um die Wette, aber wir zwei — Pojtek und ich — debattierten noch immer.
— Zuerst musst du deutsch lernen. Wenn du deutsch sprichst, kannst du alles lesen und vielleicht kannst du dich auch in die österreichische Bewegung eingliedern. Es ist nicht so schwer, die Sprache zu erlernen, wie du vielleicht glaubst. Ich war ungefähr so alt wie du jetzt, als ich zum ersten Mal in Wien war. Sechs Monate arbeitete ich in einer Fabrik, zwei Monate wanderte ich zu Fuß durch Tirol und Steiermark, so blieb von der Sprache überall etwas haften. Als ich dann zum Militär kam... das kennst du ja schon...
Hast du aus Büchern deutsch gelernt?
— Keine Spur. Ich ging in Versammlungen, ich war auch einige Male im Theater, dann — lernte ich auch — bei Frauen. Du wirst schon erfahren, wie man's macht. Hier in der Baracke wohnen eine Menge polnischer und jugoslawischer Genossen, in der Nachbarbaracke wohnen Österreicher. Dann versuche auch Zeitungen zu lesen.
— Wovon soll ich eigentlich leben?
— Siehst du, das weiß ich selbst nicht. Arbeit zu bekommen, ist fast ausgeschlossen. Ich bin seit vier Wochen hier. Ich arbeitete eine Woche beim Holzfällen im Wald, aber ich verdiente so wenig, dass ich nicht einmal satt werden konnte, und mit hungrigem Magen kann man schlecht Holz fällen. Ein paar Tage verkaufte ich Zeitungen — in den Zeitungen standen antibolschewistische Artikel, also, das ging auch nicht. Ich versuchte es auch als Gepäckträger... Von Schwarz bekommen wir etwas Unterstützung, das Weitere wird sich schon finden. Das größte Malheur ist, dass du keinen Mantel hast. Bald ist der Winter da.
— Glaubst du, dass wir den Winter noch hier verbringen werden?
— Ja, ich denke, vor dem Frühjahr können wir nicht mit einer neuen Revolution rechnen. Die Sache lässt sich nicht zwingen, wir müssen warten, bis sie reif wird. Die Weißen zeigen jetzt, was Terror heißt... Es ist schwierig, äußerst schwierig, unter den heutigen Verhältnissen die Partei in Ungarn neu zu organisieren.
— Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Arbeit neu beginnen soll, wie man sie beginnen kann. Wer soll die Arbeit...
— Hilfe! Hilfe!
Pojtek sprang aus dem Bett heraus und drehte das Licht an. Neben unserem Bett saß mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen Wilner und brüllte aus voller Kehle:
— Hilfe! Hilfe!
Bis ich aufstand, hatte Pojtek schon ein Glas Wasser gebracht, er musste Wilner fast zum Trinken zwingen. Szekeres und ich fassten Wilner bei den Beinen, damit er nicht ausschlagen konnte. Der Langhaarige hielt seinen Kopf. Das ganze dauerte einige Augenblicke: Wilner hörte genau so plötzlich zu schreien auf, wie er damit begonnen hatte, er schaute verwundert auf uns, wie wenn er uns zum ersten Mal sähe. Er sagte keinen Ton — legte sich zurück und zog die Decke über den Kopf. Pojtek drehte das Licht aus, und wir legten uns wieder hin. Alles wurde still, nur Wilner weinte unter der Decke leise wie ein verprügeltes Kind.
— Der Unglückliche war sechs Wochen lang im Polizeipräsidium in der Zwingligasse — flüsterte mir Pojtek zu — , sie wollten ihn nach Siofok in Horthys Hauptquartier bringen. Er sprang aus dem rasenden Zug heraus, so flüchtete er.
In der Früh ging ich mit Szekeres auf den Hof. In militärischer Reihe standen die Baracken nebeneinander. Ich vermochte sie nicht einmal zu zählen — wo ich hinblickte, überall Baracken — eine ganze Barackenstadt. Die mit kleinen Steinen bestreuten Wege begrenzten junge Kastanienbäume: ihre rostroten Blätter rollte der kalte Nachtwind zusammen. In der Mitte des Lagers, auf einem schlanken Hügel, eine Kirche mit einem schlanken Turm. Wir gingen den Hügel hinauf und setzten uns auf eine Bank, die vor einer mit einem Hängeschloss verschlossenen Tür stand.
— Ich fahre heute fort — sagte Szekeres leise. — Ich gehe in die Provinz. Wenn ich am Abend nicht zurückkommen sollte, macht nicht viel Redens davon. Kein Hund wird mich suchen. Ich habe mit Pojtek besprochen, dass du an meine Stelle kommst. Ich habe ein Paar überflüssige Schuhe und ein paar übrige Hosen, die lass ich hier für dich. Mantel habe ich leider nur einen, und den würdest du am dringendsten brauchen.
— Wo fährst du hin?
— Ich sagte doch, in die Provinz. Sage niemandem etwas davon, dass ich verreist bin. Ich wollte dir noch sagen, dass du mit diesen unglückseligen Schlafkollegen nicht viel zusammenkommen sollst. Pojtek wird dich schon mit solchen Genossen zusammenführen, die die erste Niederlage nicht zugrunde gerichtet hat. Es gibt hier in Wien viele gute Genossen. Übrigens trachte danach, zu lernen. In kurzer Zeit wird die Partei neue Arbeiter benötigen. Du weißt...
Wir trafen Wilner. Szekeres begann ohne jeden Übergang über das Wetter zu reden. Einige Minuten später rief uns Pojtek zum Teetrinken.
Wir gingen mit Pojtek zu Fuß in die Stadt. Wilner und der langhaarige Christusjünger fuhren mit der Straßenbahn, die anderen waren noch im Bett, als wir uns auf den Weg machten. Es war kalt, der Wind blies uns ins Gesicht, trotzdem die Sonne schien. Um nicht zu frieren, bewegten wir die Beine schneller. Unterwegs trafen wir einen sonderbaren Zug.
Es waren etwa tausend Menschen oder auch etwas mehr. Sie gingen in Achterreihen, fast in militärischer Ordnung, aber ihr Gang war gar nicht militärisch: sie bewegten sich so unwillig, sie schleppten die Beine müde hinter sich her und ließen die Köpfe hängen. Ihre Kleider waren abgerissen — die, die Zivilkleider trugen, waren genau so zerfetzt wie die in Militäruniform. Keine Aufschrift, keine Fahne, kein Ton — wie wenn Schatten vorüberzögen.
— Arbeitslosendemonstration — sagte Pojtek leise.
— So demonstrieren die? Ohne einen Ton von sich zu geben?
— Was sollten sie denn rufen? Sie schwiegen auch damals, als sie mit ihrem Ruf noch etwas erreichen konnten. Die haben den Kampf nicht einmal von ferne gerochen, und doch wurden sie geschlagen. Über hundertfünfzigtausend Arbeitslose gibt es in Wien und die, die im Betrieb stehen, na — der alte Herrgott segne diese Demokratie.
Im Hilfskomitee war's heute genau wie gestern. Friseurladen, lange Reihe Wartender, einige Neueingetroffene, ein paar Herumstehende. Der eine will zu Fuß nach Tschechien — dort sind die Verhältnisse tadellos — , erzählt er begeistert. Der andere fährt nach Südamerika auf Kosten eines Arbeitsvermittlers. Dort, in Südamerika, ist ein solcher Überfluss, dass sogar die Lokomotiven mit Weizen geheizt werden. Die Genossen lesen eine ungarische Zeitung. Die Blätter werden einzeln ausgeteilt. Weißer Terror, weißer Terror — flüstert man hier und dort. Jeder sagt flüsternd die zwei Worte.
— Zum Himmel noch mal, was flüstert ihr? Brüllt es doch hinaus! — sagt Antalfy wütend.
— Leiser, Genosse, ganz Wien ist voll von ungarischen Spitzeln.
— Und?
— Vorgestern wurden drei Genossen verschleppt. Per Auto wurden sie über die magyarische Grenze gebracht. Die Österreicher haben gestern früh vier Emigranten festgenommen. Sie werden beschuldigt, dass sie eine Räuberbande organisiert hätten. Sie werden wahrscheinlich nach Ungarn zurücktransportiert.
— Hört! Hört, Genossen!
Genosse Schwarz las vor der Brotausteilung die Einladung des Vereins der Vegetarier vor. Der Verein hält einen Vortrag für die ungarischen Emigranten. Der Vortragende ist ein junger Dozent. Das Thema des Vortrags: Die schädlichen Folgen des Fleischessens.
Als der erste Schnee fiel, hatte ich auch schon die Schule durchgemacht, die mich Pojtek gelehrt hatte: dass in Wien keine Arbeit für uns war. Erst fällte ich Holz in einem Wald in der Nähe von Wien. Da hab nicht ich die Arbeit niedergelegt, ich wurde entlassen. Den Zeitungsverkauf aber gab ich auf. Im ganzen verkaufte ich sechs Tage Zeitungen. Von morgens bis abends stand ich an der Ecke Graben und Kärntner Straße und brüllte aus voller Kehle: — Neue Freie Presse! Arbeiter-Zeitung! Becsi-Magyar Ujsag! — Ich fror, aber das Brüllen hat wenigstens soviel eingebracht, dass ich halbwegs anständig essen konnte, ich konnte sogar für Pojtek jeden Abend etwas zum Essen mitbringen. Ich hätte mir wahrscheinlich auch einen getragenen Mantel kaufen können, wenn nicht ein besonders freudiger Anlass — die russischen Genossen hatten die weißen Banden Judenitschs vor Petrograd zerschmettert — mich arbeitslos gemacht hätte. Die Sache kam so: auf die Nachricht vom Sieg der russischen Genossen brüllte die österreichische Presse in die Welt hinaus: Roter Terror, roter Terror! Die Gräueltaten der Bolschewiken! Zehntausende lebend begraben! Tausende von Kindern langsam zu Tode gemartert!
— Der Teufel soll diesen Mist verkaufen!
— Wie Sie wollen! Wir werden auch ohne Sie auskommen. Es gibt nicht soviel Straßenecken, wie es Arbeitslose gibt, die sich um den Verkauf von Zeitungen reißen. Ihr Stand ist geradezu eine Goldgrube.
Wochenlang tat ich nichts anderes, als zu hoffen, morgen wird's besser. Ich ging täglich zum Hilfskomitee, täglich wurde mein Name auf die Liste der Arbeitsuchenden gesetzt, und der Genosse Schwarz beruhigte mich immerzu.
— Morgen, spätestens übermorgen. Wir versäumen unsererseits nichts...
Zu Hause brachte ich das Zimmer in Ordnung, wusch das Geschirr ab, oder ich las, auf dem Bett liegend. Wenn wir Kohle hatten, heizte ich. Waren keine Kohlen vorhanden, setzte ich mich in ein anderes Zimmer, wo die Fenster ganz waren und der Wind nicht hereinblies.
— Wenn Sie frieren, kommen Sie doch in mein Zimmer, bei mir ist jetzt geheizt.
— Ich will Sie nicht stören, Genossin.
— Sie stören mich nicht. Ich lasse mich nicht stören. Ich werde lesen, bringen Sie sich auch ein Buch mit.
Aufs Geratewohl nahm ich ein Buch aus Pojteks Schrank heraus und setzte mich in Rajas Zimmer. Raja saß über ein dickes Buch gebeugt am Tisch, sie las und machte Notizen. Ich schob meinen Stuhl an den kleinen eisernen Ofen heran, nahm das Buch in die Hand und starrte vor mich hin. Raja blickte zeitweilig über mich weg, wie wenn sie mich nicht bemerkte, lange Zeit sprach sie kein Wort. Sie las sehr langsam. Wenn ich dachte — na, jetzt blättert sie bestimmt um — , war sie noch immer auf derselben Seite. Über das große Buch gebeugt sah sie noch magerer, noch kleiner aus als sonst. Der kleine Sonnenstrahl, der durch das Fenster sickerte, gab ihrem goldfarbenen Haar Glanz.
— Warum lesen Sie nicht, Genosse?
— Mein Kopf nimmt nichts auf. Ich bin ganz dumm geworden.
Raja schlug das Buch zu.
— Wir können uns ja ein wenig unterhalten.
— Das wird schwer gehen, Genossin. Wie Sie hören, stottere ich nur deutsch.
Raja lachte. Vielleicht, weil draußen die Wolken die Sonne verdeckten und dadurch das Zimmer halbdunkel wurde oder weil ich trotz des Nichtstuns sehr müde war, schienen mir Rajas lachende, graue Augen größer zu sein, als ihr ganzes schmales, blasses Gesicht. Ich hätte ihr das gern gesagt, aber meine deutschen Kenntnisse reichten nicht so weit.
— Wir werden uns schon irgendwie verständigen — sagte Raja.
Sie fragte mich, und ich erzählte ihr — auf ihre Fragen — die Geschichte unserer Revolution. Wo mir das nötige Wort nicht auf die Zunge kam, hörte ich auf und überließ es ihr, das Fehlende zu erraten. Sie lauschte meinem Stottern mit größter Aufmerksamkeit, wie wenn es sich um einen ernsten, wissenschaftlichen Vortrag handelte, stellenweise machte sie sich auch Notizen über das, was ich erzählte.
— Na, sehen Sie, hier habt ihr einen Fehler gemacht — unterbrach sie mich zeitweilig.
Eine Zeitlang nahm ich die Einwendungen auf, aber schließlich platzte ich heraus.
— Gewiß haben wir Fehler gemacht! Jeder macht Fehler, der etwas schaffen will. Was aber habt ihr hier getan?
Jetzt lachte Raja, aber ihre Augen schienen wieder größer als ihr ganzes Gesicht.
— Ja, ja, gewiss. Wir wussten noch viel weniger, als ihr, was vorging. Bis wir's verstanden, war's schon zu spät.
— Na, sehen Sie. Dann haben Sie gewiss kein Recht, uns zu kritisieren.
Raja lachte, stand auf, kam zu mir hin und reichte mir die Hand.
— Soll ich fortgehen? — fragte ich.
— Weshalb sollten Sie jetzt fort? Ich koche Tee. Sie machte den Spirituskocher zurecht, stellte Wasser
auf, dann holte sie eine Holzkiste hervor. Tabak und Zigarettenhülsen waren in der Schachtel. Raja stopfte die Zigaretten mit flinken Fingern. Der Kocher flackerte, draußen pfiff der Wind.
— Wie alt sind Sie, Peter? Ich sagte es.
— In dem Jahr, in dem Sie geboren sind, lernte ich schon schreiben — sagte sie leise. — Haben Sie Marx' „Kapital" gelesen? — fragte sie, als sie den Tee eingegossen hatte.

In dem Bureau, wo wir unser Brot abholten, versprach Genosse Schwarz täglich, dass ich am nächsten Tag Arbeit bekäme.
— Es geht nicht an, dass die Genossen wählerisch sind — sagte er immer — , Sie müssen nehmen, was kommt.
Der Rat war sehr weise, nur konnte man ihn nicht befolgen: es wurde keine, gar keine Arbeit angeboten.
Eines Morgens zog mich der Neupester Goldmann geheimnisvoll in eine Ecke.
— Illegales — sagte er und zum Zeichen, dass ich schweigen sollte, drückte er seinen Zeigefinger an die Lippen.
— Du bist ein ehrlicher Kommunist, was!? — fragte er und sah mir scharf ins Auge.
— Gewiß bin ich das — sagte ich etwas verletzt. — Wie kann man überhaupt so etwas fragen? Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit?
— Schwarz ist ohnehin noch nicht da, wir haben Zeit. Komm, wir gehen auf die Straße. Ich muss dich in einer sehr, sehr ernsten Angelegenheit sprechen.
Auf der Straße gingen wir den Bekannten, die ins Bureau wollten, möglichst aus dem Wege. Wenn sich trotzdem einer uns anschloss, presste Goldmann, genau so geheimnisvoll wie drinnen im Bureau, seinen Zeigefinger an die Lippen:
— Illegal!
Wenn das nichts nutzte, wurde er energischer:
— Ich bitte dich, lass uns allein! Wir haben wichtige politische Dinge zu besprechen.
— Ich glaube — begann er wieder zu mir gewandt: — ich glaube — wiederholte er flüsternd — , ich nehme an, dass du dir gerade so bewusst bist wie ich, dass die Führer der Partei die Revolution verraten haben.
— Inwiefern haben sie sie verraten? — fragte ich verwundert.
Goldmann sah mich an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Er dachte einige Augenblicke nach — wahrscheinlich darüber, ob es sich überhaupt lohnte, weiter mit mir zu sprechen.
— Also — er hatte beschlossen, weiter mit mir zu sprechen — , also, ich sage nicht, dass sie der Budapester Polizei die Liste der ehrlichen Kommunisten ausgeliefert haben, ich sage auch nicht, dass sie an die weißen Banden Gewehre liefern, aber sie begehen die Sünde, die in den Augen der Bolschewiken höchsten Verrat bedeutet: sie tun nichts im Interesse der Revolution. In einem Augenblick — setzte er fort — , wo das Arbeiten so leicht wäre wie noch nie. Die Situation ist reif. Die Unterdrückung ist schrecklich, die Verzweiflung grenzenlos, es genügt ein Funke, und alles ist in Flammen. Ich nehme an, du stimmst auch hierin mit mir überein. Ich hoffe, du bezweifelst nicht, dass es nur eines Ruckes bedarf, und die Revolution entflammt.
— Sprich deutlicher, Genosse.
— Ich will ganz offen reden. Ich habe beschlossen, oder besser gesagt, einige Genossen haben beschlossen, dass wir die Sache — die Führung der Revolution — in unsere Hände nehmen. Ja. Genug des Schwankens! Wir brauchen Taten! Bist du bereit, zu handeln, bist du bereit, für die Revolution Opfer zu bringen?
— Natürlich.
— Also, wenn du willst, so bist du von diesem Augenblick an Mitglied der Roten Armee. Ich mache kein Geheimnis mehr daraus, es handelt sich darum, dass wir hier in Österreich eine ungarische Rote Armee aus Flüchtlingen organisieren wollen. Tausend, vielleicht nur fünfhundert entschlossene, überzeugte Menschen würden genügen. Wir können mit dem Angriff beginnen. Die Dorfarmut wird sich uns überall anschließen — bis nach Raab gelangen wir ohne Kampf — , dort finden wir Arbeiter und Gewehre, und bis wir nach Budapest kommen, verfügen wir über ein Heer von hunderttausend Mann. Budapest fällt uns ohne einen Gewehrschuss in die Hände. Jetzt nur!... Wer wagt, der gewinnt. Der Plan ist ernst. Man kann doch nicht sagen, dass er zu optimistisch wäre... Also?
Einen Augenblick schwankte ich. Die Sache schien mir nicht ganz glaubhaft, aber etwas war doch wohl dran. Die Verzweiflung zu Hause ist jetzt sicher aufs höchste gestiegen, die Weißen treiben ihr grausames Spiel immer weiter, alles wartet auf die Erlösung... Während ich mit mir selbst verhandelte, schlug mir Goldmann fest auf die Schulter. Als ich ihm ins Gesicht sah, glühten seine Augen, seine Wangen waren rot, wie wenn wir schon durch die Andrassystraße marschierten. Gewiß dachte er an ähnliche Dinge. Er nahm seine Mütze ab, als ob er jemanden grüßte und merkte gar nicht, dass der kalte Wind sein langes, schwarzes, unordentlich nach hinten gekämmtes Haar fasste und hin-und herwarf.
— Lenin hätte in einer solchen Situation sicher nicht gezweifelt — sagte er und setzte seine abgetragene, graue Mütze wieder auf.
Als wir in das Bureau des Hilfskomitees zurückkamen, rief Goldmann den Friseur Kondor Geza beiseite !
— Peter Kovacs kannst du ruhig in die Liste eintragen. Ich übernehme jede Verantwortung für ihn.
Kondor drückte mir das Rasiermesser in die Hand: — Halten Sie's für einen Augenblick, Genosse! — Er selbst kramte ein zusammengelegtes Blatt Papier und ein Stückchen Bleistift aus der Tasche heraus.
— Peter Kovacs. Es ist schon in Ordnung, ich hab's notiert. Wo wohnen Sie, Genosse? Geben Sie uns Ihre Adresse, es ist möglich, dass die erste Besprechung nachts stattfindet, und dann verständigen wir jeden nach seiner Wohnung.
Ich sagte ihm meine Adresse.
— Haben Sie ein Gewehr?
— Nein, woher sollte ich eines haben?
— Na, macht nichts. Wir beschaffen schon welche. Die unbedingte Geheimhaltung ist das wichtigste Gebot. Wenn Sie jemanden als unbedingt zuverlässigen Genossen kennen und ihn in die Aktion einbeziehen wollen, dann sagen Sie's mir oder dem Genossen Goldmann. Individuelle Aktionen dulden wir auf keinen Fall.
— Was ist los, haben Sie mich vergessen? — Der auf der einen Gesichtshälfte glattrasierte, auf der anderen Hälfte mit dickem Seifenschaum beschmierte Genosse, den Kondor auf dem Rasierstuhl sitzenließ, als ihn Goldmann wegrief, verlor endlich die Geduld.
— Sofort! — antwortete Kondor gereizt. Soviel müssten die Genossen doch schon wissen, dass die Sache der Revolution allem vorangeht und erst weit dahinter kommen solche Kleinigkeiten, wie Rasieren. Na, ich komme schon!
Während er sprach, steckte er das Blatt Papier ein und nahm mir das Rasiermesser aus der Hand.
— Das Wichtigste ist strengste Geheimhaltung! — sagte er nochmals zum Abschied.
— Wie stellt ihr euch die Sache vor? — fragte ich Goldmann.
— Du wirst zur rechten Zeit alles erfahren.
Das Unterstützungsbrot hatte ich bald heruntergewürgt, und da mir der Genosse Schwarz wieder erst für den nächsten Tag Arbeit versprochen hatte, begab ich mich auf den Heimweg. Im Ausgangstor stieß ich auf Antalfy.
— Ich suche dich gerade — sagte er. — Komm, wir gehen zum Mittagessen in ein Restaurant.
— Mittagessen? Hast du Geld?
— Gewiß hab ich!
Erst jetzt merkte ich, dass Antalfy einen neuen Wintermantel anhatte, einen Mantel, den noch keiner vorher getragen hatte, und auch sein Hut und seine Schuhe waren neu.
— Was ist denn mit dir los?
— Sei beruhigt, ich stehe nicht in Arbeit. Mit Arbeit — das schwebt mir stets vor Augen — würde ich nur den Feind stärken, würde ich nur zum Wiederaufbau des Kapitalismus Beihilfe leisten. Nein, dafür bin ich nicht zu haben. Aber auf der anderen Seite spielte mir das gute Glück eine Waffe in die Hand, mit der ich — gemäß meiner bescheidenen Kraft — das Verfaulen beschleunige. Ja. Ich erzähle dir alles ausführlich. Vor allem aber gehen wir jetzt essen.
Wir setzten uns in ein Restaurant, ich aß, wonach ich Lust hatte und soviel, wie ich hinunterbringen konnte. Antalfy bezahlte alles.
— Bist du satt geworden? — fragte er zum Schluss.
— Ja, ich bin satt.
— Kriegst du nichts mehr herunter?
— Nein.
— Dann gehen wir. Ich will dir einen Wintermantel kaufen. Es ist eine dumme Sache, im Winter ohne Mantel herumzulaufen.
— Ist das dein Ernst? Hast du soviel Geld, dass es für einen Wintermantel reicht?
— Ja. Ich habe Geld genug, und die Hauptsache, es ist ehrliches Geld, ich kann's mit ruhigem Gewissen sagen, ich habe nichts dafür gegeben. Nein — sagte er ganz laut — , mich wird in diesem Leben kein Mensch mehr ausbeuten!
Wir kauften einen Wintermantel, einen Mantel, den noch keiner getragen hatte. Es war ein sehr guter, warmer, schöner, grauer Mantel.
— Na, jetzt gehen wir in ein Cafe. Da kommt auch mein Kompagnon hin.
— Dein Kompagnon? Ich verstehe dich nicht.
— Natürlich verstehst du das nicht. Ich erzähle dir die Geschichte der Reihe nach, dann wird dir alles klar: das Geld, der Mantel und der Kompagnon. Na, setz dich hin, und vor allem trinken wir einen Mokka. Herr Ober, zweimal Mokka und zwei Britannica-Zigarren.
Das Cafe war voll von gutgekleideten, wohlgenährten Leuten. Alle sprachen gleichzeitig, lachten und stopften sich voll; da wurde Billard gespielt, dort wurde mit dem Kaffeelöffel geklimpert: es war ein solcher Lärm, dass ich kaum hören konnte, was Antalfy sprach.
— Also, ich beginne. Der Anfang der Geschichte ist, dass ich vor zwei Wochen in dieses Cafe kam und mich an einen Tisch setzte. Geld hatte ich keines: ich konnte weder essen, noch trinken, noch rauchen: ich saß da — sieh mal, die Ecke dort — und guckte den Kartenspielern zu. Während des Spiels sprachen die Leute über alle möglichen Dinge: der Franken fällt, die Lire fällt, die deutsche Mark steht so, das englische Pfund. — Es waren alles Spekulanten, und jeder wollte gern vom anderen erfahren, wie man am schnellsten reich werden kann.
— Na, ich kann den Herren einen Rat geben — sagte ich plötzlich. — Kaufen Sie Dollars. Wer Dollars kauft, der wird schnell und ohne jedes Risiko reich.
— Hat Ihnen das vielleicht Wilson telegraphiert? — fragte lächelnd ein kugelrundes Männchen mit einem dicken, sommersprossigen Gesicht und roten Haaren — wobei die anderen noch vergnügter lachten.
— Noch höher — antwortete ich ruhig. — Nicht Wilson hat mir diesen Rat gegeben, sondern Karl Marx.
Die Spieler kümmerten sich weiter nicht um mich. Der eine sprach über ein neues Kasino. Es war ganz interessant, was er erzählte, aber ich konnte es leider nicht zu Ende hören, denn der Kellner fragte mich schon zum dritten Mal, was ich bestellen wollte, und da ich keine Möglichkeit hatte, mir etwas zu bestellen — wie ich schon sagte, hatte ich keinen Pfennig in der Tasche — , konnte ich nichts Besseres tun als aufstehen und gehen. Wie ich sage, hier fing's an. Na, steck die Zigarre an, Peter!
— Vor einer Woche kam ich wieder hierher, um mich zu wärmen und Zeitungen zu lesen. Ich setzte mich an einen Tisch und nahm eine Zeitung in die Hand. Später! — sagte ich zum Kellner, der mir mit aller Gewalt wieder etwas bringen wollte. Ich lese weiter, da stört mich schon wieder jemand. Ein rothaariger, sommersprossiger, kleiner, dicker Mann setzte eich zu mir an den Tisch.
— Gestatten Sie, mein Herr, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Weiß.
— Antalfy. Womit kann ich Ihnen dienen?
— Hier bitte!
— Herr Weiß drückte mir zwei Dollar in die Hand. Erst dachte ich, es sind irgendwelche Reklamezettel, es war aber echtes Geld, zwei echte Ein-Dollar-Scheine. Der Mann ist verrückt geworden! — dachte ich.
— Der eine Dollar ist für den Rat, den Sie mir gegeben haben, der zweite Dollar ist für die Auskunft, die Sie mir geben werden — sagte Herr Weiß, bevor ich noch vor Überraschung zu Wort kommen konnte.
— Der ist verrückt geworden — dachte ich. — Hoffentlich hat er keine Waffe bei sich. Auf alle Fälle werde ich sehr vorsichtig mit ihm sprechen und im schlimmsten Fall...
— Welche Auskunft kann ich Ihnen geben, Herr Weiß?
Herr Weiß nahm zwei Zigarren heraus. Die eine legte er vor mich hin, der anderen biss er die Spitze ab und spuckte sie unter den Tisch.
— Vor allem rauchen wir eine Zigarre. So. Also: Sie möchten wissen, worüber Sie mir Auskunft geben sollen? Wie ich merke, erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Vor einigen Tagen haben Sie mir im Spielzimmer den Rat gegeben, dass ich Dollars kaufen soll. Ratschläge kann heutzutage jeder geben — dachten wir uns — und, um ehrlich zu sein, haben wir Ihrem Rat keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Aber am Abend — ich weiß selbst nicht, wie es kam — , als ich im Bett lag, fiel mir Ihr Rat ein, ich habe mir vergebens den Kopf darüber zerbrochen, wie der Mann heißt, auf den Sie sich beriefen. Es schwebte mir so vor, als ob ich den Namen schon irgendwo gehört hätte, aber ich hatte keine Ahnung... Kurz, ich ließ am nächsten Tag den Auftrag für englische Pfund rückgängig machen, und machte einen netten Abschluss in Dollars. Und was tut Gott? Pfunde fallen, Dollars steigen. Ich habe gesiegt! Und da ich ein ehrlicher Mensch bin, schrieb ich neben den Gewinn hin — sehen Sie, hier ist mein Buch, da hab ich notiert: Tipp von dem Mann mit der langen Nase. Für diesen Rat ist also der erste Dollar. Was den zweiten Dollar betrifft: Sie sagten damals, wer Ihnen den Rat bezüglich der Dollars gegeben hatte. Ja. Niemand soll Weiß einen Dienst umsonst erweisen. Den zweiten Dollar gebe ich Ihnen dafür, dass Sie mir den Namen und die Adresse des Herrn sagen, der Ihnen den Rat gegeben hat. Ich hoffe...
— Bitte, bitte. Ich habe schon damals gesagt, wer mein Ratgeber ist, ich habe auch jetzt keinen Grund, den Namen zu verheimlichen. Ich weiß es von Doktor Karl Marx, dass der Dollar unter den heutigen Verhältnissen steigen muss.
Weiß notierte in sein Büchlein: Doktor Karl Marx.
— Hm — sagte er kopfschüttelnd — , ich habe ganz bestimmt irgendwo diesen Namen gehört, aber wenn man mich aufhängte, ich könnte nicht sagen, wo. Vielleicht sind Sie so freundlich, mir die Adresse des Herrn Marx zu geben?
— Sehr gern. Karl Marx liegt auf dem High-Gate-Friedhof in London begraben. Er ist nämlich seit etwa fünfunddreißig Jahren tot.
Herr Weiß sah mich mit aufgerissenen Augen an. Jetzt dachte er, ich sei verrückt. Zum Zeichen tiefster Konzentration schloss er die Augen und kratzte sich am Kopf, dann schlug er sich plötzlich an die Stirn.
— Jetzt hab ich's! — sagte er mit strahlendem Blick. — Ich hab so was schon mal im Variete gesehen: Sie sind Geisterbeschwörer!
— Quatsch!
Ich riss ein Stück Zeitung ab und schrieb den Titel „Kapital" drauf. Den Zettel gab ich Herrn Weiß mit dem Rat, dass er sich das Buch kaufe und es lese.
— Behandelt das Buch die Valutaschwankungen? — fragte er misstrauisch.
— Nicht nur das, aber jedenfalls ist auch davon die Rede. Wenn Sie dieses Buch gründlich durchlesen, werden Sie so manches verstehen, was Ihnen jetzt als blaues Wunder erscheint.
Am nächsten Tag kam ich wieder ins Kaffeehaus.
— Ich muss Ihnen gestehen — empfing mich Herr Weiß mit vorwurfsvoller Miene — , ich glaube, Sie machen einen Affen aus mir. Das habe ich wirklich nicht verdient, aber Sie selbst machen auch ein schlechtes Geschäft, wenn Sie sich die Freundschaft von Weiß verscherzen. Ich habe mir das Buch gekauft — es ist mehr als ein Buch, es ist eine ganze Bibliothek — , ja, die halbe Nacht habe ich in den Büchern herumgeblättert, aber ich fand kein Wort von dem, was mich interessiert hätte... Sagen Sie, habe ich das verdient? Ist Weiß ein Mensch, mit dem man nur so spielt?
— Setzen Sie sich, Herr Weiß. Geben Sie eine Zigarre her. So. Ich danke. Und jetzt machen Sie Ihre Ohren weit auf. Ich werde Ihnen alles erklären.
Ich redete eine gute Stunde. Ich sagte ihm alles, was ich noch von dem im Kopf hatte, was ich in der Parteischule in Moskau gelernt hatte. Kapital — Geld — Kapitalismus — Krisen... Ich glaube, ich habe ein wenig oder sogar sehr die Begriffe verwechselt, aber das machte gar nichts. Herr Weiß verstand von dem Ganzen kein Wort. Er kratzte sich am Kopf, nagte an seinen Nägeln herum, trank ein Glas Wasser nach dem andern und als er schließlich sah, dass ich redete und redete, fiel er mir ins Wort.
— Genug — sagte er kopfschüttelnd. — Ich sehe schon, dass Sie sich auf die Dinge verstehen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Und damit Sie sehen, mit wem Sie zu tun haben, stelle ich mich nicht als ein Weiser hin, ich sag's Ihnen ehrlich: ich hab kein Wort von dem verstanden, was Sie mir hier erzählt haben. Also, das tut nichts zur Sache. Das Wichtigste ist, dass Sie sich auf die Geschichte verstehen. Über die andern Dinge werden wir uns leicht einigen. Mit Weiß lässt sich schon ein Geschäft machen. Na, sprechen wir offen. Sie wollen Geld verdienen, und ich will auch Geld verdienen. Das ist ein Beweis dafür, dass wir beide kluge Menschen sind und zwei kluge Menschen verstehen sich leicht. Ja. Sprechen wir offen und ehrlich: wie steht die Situation? Ich besitze Geld, das ist das erste, was man zu einem Geschäft benötigt. Und Sie wissen, wie man Geld machen muss oder wenigstens behaupten Sie, es zu wissen. Einmal hatten Sie ja recht: der Dollar ist gestiegen, wie Sie und Ihr Freund Marx es vorausahnten. Gut. Wir versuchen die Sache noch einmal. Sie sagen, was ich kaufen soll und Sie sagen auch, wann es verkauft werden soll. Also, wir werden's noch einmal versuchen. Wenn dann ein Geschäft einschlägt, zahle ich Ihnen, zahle ich Ihnen...
— Zehn Prozent des Gewinns — fuhr ich dazwischen...
— Fünf Prozent — entgegnete Herr Weiß.
— Acht Prozent.
— Sechs!
— Sieben!
Wir einigten uns auf sechsundeinhalb Prozent. Seit damals wickelten wir einige größere Geschäfte ab und wie du siehst, ich lebe wie ein Herr. Ich unterwühle den Kapitalismus. Nieder mit dem Klassenfeind! Siehst du — fuhr Antalfy fort — , das ist unsere wahre Aufgabe: wir müssen uns in den Feind hineinbohren und ihn von innen heraus untergraben. So werden wir die besten Wegbereiter der Revolution!
Als ich nach Hause kam, stieß Pojtek einen Freudenschrei aus, als er den Mantel sah. Aber bald verging ihm die Freude, als ich ihm Antalfys Geschichte erzählte.
— Die Verlustliste wird immer größer — sagte er nachdenklich. Zu Hause werden Hunderte der besten Genossen gehängt, und hier draußen wird der eine Christusanbeter, der andere Polizeispitzel, der dritte macht's wie dein Freund Antalfy und der vierte... Na, es ist schon gleich! Wir werden nur stärker, wenn die Wurmstichigen abfallen!
— Für Antalfy gilt das nicht.
— Heut war ich draußen bei den internierten Genossen — fing Pojtek wieder an, ohne eine Antwort auf meine Entgegnung zu geben. — Mit Kun und Landler konnte ich nicht sprechen, aber mit Rakosi habe ich doch kurz gesprochen.
— Da fällt mir ein! Ich hätte fast vergessen, au erzählen. Ich darf eigentlich nicht darüber reden, aber dir...
Ich erzählte ihm von Anfang bis zu Ende von Goldmanns Plan mit der Roten Armee und von der Liste des Friseurs. Pojtek hörte mir mit offenem Mund zu. Anfangs lachte er bloß, dann aber erfasste ihn eine plötzliche Wut.
— Ich hoffe, das Ganze ist nur Unsinn — sagte er — , aber es ist auch möglich, dass eine große Schweinerei dahintersteckt. Ja. Es gibt soviel Provokateure hier, dass man aus den verfluchten Hunden eine Armee zusammenstellen könnte... Tja — dass Goldmann ein guter Genosse ist, das ist sicher. Zu Hause hätte er bestimmt den vor die Tür gesetzt, der ihm mit einem solchen Vorschlag gekommen wäre, und hier... Und auch du, Peter... Na, hoffen wir, dass diese Dummheit keine schlimmen Folgen haben wird.
Wir sprachen noch lange. Nur wir zwei waren zu Hause, die anderen gingen in die Nachbarbaracke hinüber, wo ein langhaariger Gnostiker einen Vortrag hielt. Pojtek war sehr schlechter Laune. Er hatte einen Brief von zu Hause, von seiner Frau bekommen. Die Frau war aus der Wohnung hinausgesetzt und zweimal vor die Polizei geführt worden.
— Sie schreibt: seitdem die Schaufenster mit den besten Sachen voll gestopft sind, hungern wir wirklich. Selbst während des Krieges war es besser als jetzt. Im Gefängnis kann's nicht schlimmer sein als ein solches Leben. Und wenn ich zu Fuß gehen müsste, wenn ich mit den zwei Kindern auf dem Arm nach Wien gehen müsste, würde ich es auch tun, schreibe mir nur, ob ich kommen kann, und ich mache mich sofort auf den Weg!
— Die zwei Kinder hungern. Lajcsi ist krank, weder ein Arzt noch Arzneien. Mit den Schuhen ist es auch schlimm — sagte Pojtek traurig.
— Lässt du sie hierher kommen?
— Wie sollen sie hierher kommen?
Er seufzte schwer, dann kam er — nach einer Weile — wieder auf Goldmann mit seiner Armeeorganisierung zurück.
— Ich begreife, dass die Jungens verzweifelt sind... Es ist schrecklich... Und dass sie auf die Partei schimpfen... Ja... Ich war schon zweimal im Internierungslager in Karlstein. Dort werden die Unseren so bewacht, dass gar nichts an sie herankommen kann. Man müsste etwas tun, das ist richtig, aber die Gefangenen selbst können keine Beihilfe dazu leisten, und hier draußen sind so viel Spitzel, dass, wenn wir etwas beginnen, die Polizei die Sache früher erfährt als unsere Leute. Und doch... Darin haben die Jungens vollkommen recht, irgend etwas muss geschehen...
Den nächsten Tag, den übernächsten Tag, eine Woche lange fragte ich Goldmann jeden Tag, ob es etwas Neues
— Vorläufig nichts. Sei ruhig und warte.
— Du Peter — sagte er zu mir — du, ich vermute, ich befürchte, Kondor hat den Mut verloren. Er tut gar nichts in der Sache, er zieht uns bloß hin. Ich denke, dass wir die ganze Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Was meinst du?
Ich sagte ihm, was Pojtek darüber dachte. Ich verschwieg jetzt auch nicht, dass ich selbst von dem Plan nicht besonders viel hielt. Er hörte mich stumm an, streckte nur seine Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.
— Schäm dich! — sagte er mit heiserer Stimme, als ich mit meiner Erzählung zu Ende war und ließ mich ohne weiteres auf der Straße stehen.

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