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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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III.

Damals konnte ich die Dinge nicht so klar übersehen, aber das wusste ich, dass das ganze österreichischungarische Kaiser- und Königtum zu jener Zeit schon so krank war, dass es selbst nicht mehr wusste, was es tat. Nur so konnte es geschehen, dass man mich nicht an die italienische Front schickte, sondern in eine Marschkompagnie einteilte, die nach dem Osten, an die russische Grenze, bestimmt war.
Nach meinen Informationen hatten wir zu jener Zeit schon Frieden mit den Russen — so konnte also dieser Abtransport nicht als Strafe betrachtet werden. Ich sagte schon, ich verstand die ganze Sache nicht, ich war sogar lange Zeit nicht sicher, ob wir tatsächlich nach dem Osten fuhren. Als wir aber in die Nähe der Karpathen kamen, als uns der Zug über Lawotschne nach Galizien brachte und es auch jetzt immer weiter nach Osten ging, zweifelte ich nicht mehr daran, dass wir uns Russland näherten.
Zu der Zeit bedeutete Russland für uns nicht mehr dasselbe wie vor der Revolution — es war nicht mehr das Land der Schrecknisse, aber es war noch nicht das, was es heute ist. Schon zu Hause, aber hauptsächlich jetzt, wo wir auf Russland zu fuhren, wurde lebhaft über die dortigen Dinge gesprochen, aber keiner verstand richtig, was eigentlich in Moskau und in Petrograd geschehen war.
— Verfluchte Vagabunden — sagte Wachtmeister Csordas jedes Mal, wenn von den Bolschewiki die Rede war.
— Weshalb sind Sie auf die Bolschewiki so böse, Herr Wachtmeister? Sie haben doch Frieden mit uns geschlossen!
— Sie haben Frieden geschlossen? An diesen Frieden werden sie noch denken, die Schufte!
In der Nähe von Strij wurden die drei Viehwagen, in denen die Marschkompagnie untergebracht war, und auch der Wagen, in dem unsere Offiziere sonst schmausten, an einen langen Güterzug gekuppelt, der invalide russische Kriegsgefangene in die Heimat beförderte. Man kann nicht sagen, dass wir sehr bequem fuhren — wir waren etwa je siebzig Mann in einem „für sechs Pferde oder vierzig Mann" bestimmten Waggon eingepfercht, aber im Vergleich zu den Russen war es bei uns noch herrlich. Die Türen waren bei ihnen während der ganzen Fahrt verschlossen und verriegelt, nur während der Esszeit ließ sie der Zugkommandant öffnen, vorher aber stellte er zu jedem Wagen sechs Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Als ich hier einmal Wache stand, sah ich, dass etwa hundert Menschen in einen Waggon gepresst waren. In dem Waggon waren Russen mit einem Bein, mit einem Arm, mit einem Auge, ich sah auch welche, denen beide Beine bis zu den Hüften abgeschnitten waren.
Kurz vor Lemberg blieben wir auf offener Strecke stehen. Außer uns standen noch zwei Militärzüge und ein langer Güterzug da, alle ohne Lokomotive. Zwei Offiziere kamen zu unserem Zug hin — streckten die Köpfe mit unseren Offizieren zusammen und berieten eich lange. Vor den anderen Zügen standen Wachposten mit aufgepflanzten Bajonetten, auch unser Kommandant stellte eine Wache auf. Wir wussten schon, was los war: in Lemberg streikten die Eisenbahner. Tags zuvor hatte der Stadtkommandant vier Arbeiter erschießen lassen. Aber nicht nur wir hörten von der Sache — auch die Eisenbahnersoldaten erfuhren, was los war. Bis unser Kommandant sich die Sache überlegte, waren sie alle über Berg und Tal. Von morgens bis abends standen wir vor Lemberg. Gegen Abend stieg ein Militäringenieur auf die Lokomotive und brachte unseren Zug nach dem Grodeker Wald, dort erreichte uns auch der Morgen. In der Frühe ließ der Kompaniechef — ein dünner langer Oberleutnant — die Marschkompagnie antreten. Auch ein Blinder hätte gemerkt, dass die Kompanie zusammengeschrumpft war. Wachtmeister Csordas zählte uns ab, zweiundfünfzig Mann waren in der Nacht verschwunden. Der Oberleutnant tobte vor Wut:
— Wartet, ihr Hunde!
Auf seinen Befehl gingen wir in den Waggon zurück und der Wachtmeister verschloss die Türen mit schweren Schlössern.
Den ganzen Tag saßen wir hinter Schloss und Riegel, und nur durch das kleine Gitterloch sahen wir das frische Grün der Bäume des Grodeker Waldes. Jetzt hatten wir etwas mehr Platz, aber man konnte sich noch immer schwer bewegen. Ich zog mich in eine Ecke zurück und saß da mit untergeschlagenen Beinen. Neben mir lehnte ein stämmiger, schwarzer, zweiundvierzigjähriger Soldat mit dem Rücken an die Wagenwand.
— Wenn wir den Boden ausheben, können wir uns fortmachen — sagte ich zu ihm.
— Aber was? Das hat keinen Sinn. Du bist doch Arbeiter, nicht wahr?
— Ja, Metallarbeiter.
— Ich habe in der Mautnerschen Lederfabrik gearbeitet. Nach dem Januarstreik wurde ich eingezogen. Die Flucht hat keinen Sinn, denn so erfahren wir wenigstens, wie es bei den Russen aussieht. Es wird gut sein, wenn wir ihre Kunst lernen — wir werden es vielleicht bald brauchen.
Wir befreundeten uns schnell. Daniel Pojtek hieß mein neuer Freund. Wie er erzählte, hatte er in Friedenszeiten halb Europa durchwandert, er sprach deutsch, französisch und etwas russisch. Als ich gegen Abend wieder von Flucht sprach, neigte er sich zu meinem Ohr — obzwar wir bisher ohne Angst ganz laut gesprochen hatten — und sagte flüsternd:
— Wenn du flüchten willst, warte, bis wir an die russische Grenze gelangen. Und dort flüchte dann nicht nach hinten zurück, sondern nach vorne über die russische Grenze hinweg.
Als wir gegen Abend unter Aufsicht der Feldgendarmen für einige Minuten aussteigen durften, rauchte schon wieder eine Lokomotive vor dem Zug, Pojtek wusste bereits, dass man den Zug durch Streikbrecher weiterfahren lassen wollte.
— Wir haben Glück, dass wir dahinten von der Lokomotive weit entfernt sind — sagte er.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Es ging langsam vorwärts, wie wenn die Lokomotive vorsichtig tastete. Pojtek kroch zum kleinen Gitterloch, um in die Dunkelheit hinauszusehen. Ich versuchte auch hin zu kommen, aber bevor es mir gelang, über die auf dem Boden durcheinander liegenden Soldaten wegzukommen, fühlte ich plötzlich, dass unser Zug mit einem Ruck stecken blieb. Die Lokomotive schrillte lang und scharf, und der Zug bewegte sich wieder zurück. Ein paar Augenblicke später hörten wir ein schreckliches Getöse. Unser Wagen war mit dem vor uns laufenden Wagen zusammengestoßen — alles krachte und prasselte — dann wurde es plötzlich still. Der Zug blieb stehen. Die Stille hielt nur einen Augenblick an — im nächsten Augenblick hörten wir Geschrei, Weinen und Jammern, wie wenn gleichzeitig Hunderte von Menschen lebendig geschunden würden. Wir wussten nicht, was passiert war — wir waren eingeschlossen — plötzlich fingen auch wir an zu schreien und zu jammern. Wir schlugen mit der Faust, wir hämmerten mit den Gewehren gegen die Wand des Waggons.
— Öffnen! Hilfe! Hilfe!
Es dauerte keine Viertelstunde, bis die Holzwand nachgab und wir gelangten, einander schlagend, stampfend und über menschliche Körper stolpernd auf den Eisenbahndamm. Der Damm war voll von weinenden, fluchenden Menschen — Bekannte und Unbekannte sprachen miteinander unter lebhaften Handbewegungen: Ungarisch, Deutsch, Polnisch, Russisch. Die Lokomotive und die zwei ersten Wagen des Zuges leuchteten in einer flackernden Flamme. Die Lokomotive sah aus, wie wenn sie sich auf den hinteren Rädern aufbäumte und mit den vorderen Rädern eine andere kleine Lokomotive in den Schoß nähme. Die Streikenden hatten eine herrenlose Lokomotive mit Volldampf in den Zug hineingejagt.
Nach drei Tagen wurde der Streik abgebrochen und wir fuhren weiter, durch Ivangorod, Brest Litowsk, durch das eroberte Russisch-Polen in der Richtung nach Molodetschno, wo sich das Gefangenenaustauschlager befand. Unsere Kompanie wurde auch diesmal auf drei Waggons verteilt, aber die Kompanie war inzwischen so zusammengeschrumpft, dass wir nachts ausgestreckt auf dem Boden liegen konnten.
Jenseits vor Ivangorod war alles in deutschen Händen: die Wache war deutsch. Da ging alles ordentlich, sauber und genau zu. Nach der Schneckenfahrt durch Galizien hatten wir ein Gefühl, als ob wir jetzt flögen. Von der Außenwelt sahen wir recht wenig — denn das Schloss hing auch jetzt an unserer Tür. Die einzige Sache, an die ich mich aus dieser Zeit erinnern kann: eines Morgens schlugen zwei deutsche Soldaten eine alte Judenfrau mit dem Gewehrkolben blutig, weil sie Lebensmittelreste von ihnen kaufen wollte. Da waren wir schon in unmittelbarer Nähe von Molodetschno.
In Molodetschno lösten wir eine österreichische Jägerkompagnie ab. Unsere Kompanie war bis dahin etwa auf die Hälfte herabgesunken, aber die Österreicher waren noch weniger als wir. Rechts von der Brücke, in einer großen Baracke, war die deutsche Wache einquartiert. Auf der acht bis zehn Meter langen Brücke stand ein russischer Soldat Wache. Die russischen Soldaten hatten abgerissene Uniformen — sie trugen die alte, zaristische feldgraue Uniform, die alte Mütze — aber sie hatten an die Mütze ein rotes Band gesteckt. — Bolschewik!
Am zweiten Tage nach unserer Ankunft übergaben wir den Kriegsgefangenentransport den Russen. Ein kleiner, schmächtiger Militärarzt mit krummem Rücken kam von drüben und zwei große breitschultrige Rotgardisten. Der Arzt sprach deutsch mit unserem Oberleutnant. Die Austauschgefangenen gingen zu zweien über die Brücke — der Arzt mit dem krummen Rücken zählte sie laut. Einen hilflosen Krüppel brachte der eine Rotgardist am Arm über die Brücke hinüber.
Als alle Russen bereits drüben waren, kam der Austauschtransport.
In langen, langen Reihen kamen die österreichischen und die ungarischen Kriegsgefangenen. Während sie hinüber kamen, spielte Militärmusik vor der Baracke, und fast bis zur Brücke kam ein mit Blumen und Fahnen geschmückter Lazarettzug. Als alle drüben waren, sperrte die Wache die Brücke ab.
— Antreten!
Die Neuangekommenen stellten sich in zwei langen Reihen hinter der Baracke auf. In der vorderen Reihe standen die Offiziere, in der hinteren die Mannschaft. Man hätte eher an einen Maskenzug als an Militär gedacht. Einer trug eine rote Husarenhose, einen grünen deutschen Kittel und eine riesige russische Pelzmütze; ein anderer eine russische Uniform und einen deutschen Helm; der dritte hatte russische Bauerntracht und eine Husarenmütze.
Erst lispelte ein österreichischer General mit wackligen Beinen etwas auf Deutsch, dann trat unser Oberleutnant vor die Reihe hin.
— Die Bolschewisten sollen vortreten! — schrie er mit dröhnender Stimme, erst deutsch, dann ungarisch.
— Ich ersuche die Herren, — sagte er dann etwas leiser, wenn sich unter Ihnen ein Bolschewik befindet, oder jemand, den Sie in Verdacht haben, dass er mit den Bolschewiken sympathisiert, ihn mir zu benennen.
Ein großer Offizier in österreichischer Jägerbluse und in russischer Hose trat vor und nannte dem Kommandanten schnell nacheinander vier Namen — dann wandte er sich nach hinten und zeigte auf vier in den Reihen der Mannschaft stehende Soldaten. Auf Befehl des Kommandanten stellten sich die vier Soldaten abseits. Ein dicker Offizier mit rotem Schnurrbart zeigte auf zwei andere Soldaten. Der Oberleutnant ließ auch diese aus der Reihe treten, dann wurden alle sechs von der Wache abgeführt.
Vorläufig war es mit der Untersuchung zu Ende — die Austauschgefangenen stiegen in den Lazarettzug ein. Als alle eingestiegen waren, schloss der Oberleutnant alle Türen ab, und jetzt folgte der zweite Teil der Untersuchung. Der Oberleutnant, Wachtmeister Csordas und vier Soldaten gingen von Wagen zu Wagen und durchsuchten gründlich das Gepäck eines jeden Austauschgefangenen. Einer von den Gepäckkontrolleuren war mein Freund Pojtek.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Pojtek in die Baracke zurückkam.
Unsere Strohsäcke lagen auf dem Boden nebeneinander, Pojtek dachte, ich schlafe, er zog sich leise aus und schlüpfte unter die Decke.
— Was gibt es Neues? — fragte ich leise.
— Nichts — antwortete er, dann beugte er sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr:
— Ich habe kommunistische Zeitungen mitgebracht. In der Früh kannst du sie lesen.
— Ich kann ja nicht Russisch.
— In Moskau werden kommunistische Zeitungen auch in ungarischer Sprache gedruckt.
In der Früh gab er mir eine ganz kleine gefaltete Zeitung in die Hand.
— Steck' sie schnell ein. Pass auf, dass sie niemand bei dir sieht. Am nächsten Vormittag stand ich vor der Zelle der sechs des Bolschewismus Verdächtigen Wache. Dort las ich die Zeitung, die ich von Pojtek bekommen hatte, eine Nummer der in Moskau gedruckten kommunistischen Zeitung „Die soziale Revolution".
Nach dem Mittagessen verlangte Pojtek die Zeitung zurück.
— Am Nachmittag geht der Lazarettzug ab — sagte er. — Die Zeitung fährt auch nach Ungarn.
Alle drei, vier Tage kam ein Austauschgefangenentransport. Pojtek brachte alle drei, vier Tage einige kommunistische Zeitungen in ungarischer Sprache mit herüber. Die gelesenen Zeitungen schmuggelten wir immer in den Lazarettzug, der nach Ungarn ging, — sie werden schon in die richtigen Hände gelangen.
Eines Abends, nachdem wir uns hingelegt hatten, beugte sich Pojtek zu mir herüber:
— Hättest du keine Lust, über die Brücke zu gehen?
— Flüchten?
— Hinüber zu den Bolschewiken.
— Ich kann nicht Russisch.
— Du lernst es schon.
— Ich weiß nicht, ich bin mir noch nicht klar.
— Morgen oder übermorgen gehe ich hinüber — sagte Pojtek. —
Die ganze Nacht warf ich mich auf dem Strohsack hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Ich konnte mich nicht zu dieser Flucht entschließen. In der Früh sagte ich zu Pojtek:
— Ich bleibe.
— Höre — sagte Pojtek — ich will dir nicht zureden. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, dass die Sache mit den Zeitungen früher oder später doch rauskommt.
— Ich bleibe hier — sagte ich.
Am nächsten Tag war wieder Gefangenenaustausch und abends kam Pojtek nicht mehr nach Hause zum Schlafen.
Am Morgen meldete er sich nicht zum schwarzen Kaffee. Er war verschwunden.
Am vierten oder fünften Tag — bevor man noch mit der Durchsuchung der Pakete der Austauschgefangenen begann — sprach mich ein großer, blonder Korporal mit einer Brille an:
— Ich habe hier einen Landsmann — sagte er — er heißt Peter Kovacs. Kennen Sie ihn nicht?
— Das bin ich selbst.
— Das ist für Sie, — sagte er und übergab mir ein kleines Paket.
— Was ist das? — fragte ich.
Er gab keine Antwort, zuckte nur mit den Achseln. Dann verschwand er, ohne ein Wort zu sagen.
Ich öffnete das Paket. Es enthielt zehn gleiche Büchelchen in ungarischer Sprache. Ich las zweimal den Titel: Bela Kun, „Was wollen die Kommunisten?". Ich steckte die Bücher in die Manteltasche. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, was ich mit den Büchern anfangen sollte. Eine Zeitung konnte man noch irgendwie lesen, ohne aufzufallen, aber ein Buch! Mein Mantel lag auf dem Strohsack, fünf oder sechsmal täglich ging ich in die Baracke, um ein Buch herauszunehmen, aber erst abends, als ich mich hinlegte, konnte ich zu den Büchern greifen. Eines versteckte ich im Strohsack, neun stopfte ich in die Hosen — bzw. Blusentaschen. — Was schaffst du da herum?
Wenn du schon nicht schläfst, stör' wenigstens uns nicht!
Ich knurrte, dann tat ich, wie wenn ich schliefe, zum Schein schnarchte ich auch. Am nächsten Morgen legte ich acht Büchlein unter die Bänke des zur Abfahrt bereiten Lazarettzuges, eines steckte ich in einen Umschlag und sandte es an die Adresse von Hajos' Frau.
Abends hatte ich Wache. Als ich um zwei Uhr nachts abgelöst wurde, griff ich während des Ausziehens in den Strohsack. Das Büchlein war nicht mehr da. Ich durchsuchte alles, — aber vergebens. Das Buch war verschwunden.
Am nächsten Morgen, ganz früh, wurde ich verhaftet. Nach zwei Tagen wurde ich — ohne dass man mich verhört hatte — als Gefangener nach Ungarn abtransportiert.
Sechs Wochen saß ich im Munkacser Militärarrest. Fast jeden Tag wurde ich verhört. Man wollte mit aller Gewalt von mir erfahren, welche von den Austauschgefangenen, die über Molodetschno nach Hause kamen, Kommunisten waren. Man sagte mir Namen, man zeigte mir Bilder. Es war nicht schwer zu leugnen. Die Namen hörte ich zum ersten Mal, die Bilder waren mir gänzlich unbekannt. Bei einem Verhör legte der die Untersuchung führende Auditor ein Buch vor mich hin, ein Buch, von dem ich neun Stück nach Ungarn gesandt hatte, das Buch war ganz zerlesen.
— Dieses Heft haben Sie Gergely Balog gegeben?
— Wer ist Gergely Balog? — fragte ich.
— Genug! Jetzt haben Sie lange genug geleugnet — schlug der Auditor mit der Faust auf den Tisch. — Reden Sie endlich, oder ich lasse Sie in Ketten legen.
Eine halbe Stunde später wurde mir Gergely Balog gegenübergestellt, sein strohgelber Schnurrbart hing in den Mund herab.
— Na, Husar Balog — begann der Auditor — der Honvedsoldat hat schon alles gestanden. Er hat gestanden, dass er Ihnen das Buch gegeben hat. —
— Der Mund soll auf ewig verstummen, der solche Lügen über mich verbreitet — sagte Gergely Balog in ruhigem, gelassenem Ton. — Möge die Erde seinen Körper ausspeien.
— Ich wollte sprechen, aber der Auditor brüllte auf mich los:
— Ich lasse Sie in Ketten legen, wenn Sie jetzt leugnen, was Sie einmal gestanden haben!
Ich hielt also meinen Mund. Ich sah ohnehin, dass Gergely Balog meiner Unterstützung nicht gerade bedurfte. Gute zehn Minuten versuchte er zu beweisen — er würzte seine Worte mit heftigen Flüchen — dass er das Buch in seiner Mütze gefunden habe — weiß der Teufel, wer es da hinein gelegt hatte, und dann habe er gedacht, wenn es 6chon da sei, nehme er es mit, wer weiß wofür es gut sein könne, vielleicht sei ein Gebet darin, oder eine Anweisung zum Gebrauch von Heilkräutern.
— Als Sie es gelesen haben, haben Sie doch wohl gemerkt, was darin steht.
— Herr Kriegsgerichtsrat, melde gehorsamst, wie, beim Teufel, hätte ich das Buch lesen können, wenn ich doch nicht einmal die Buchstaben kenne?
— Auf Ihrem Merkblatt ist angeführt, dass Sie drei Jahre die Schule besucht haben. Wollen Sie das auch leugnen?
— Nein, das will ich nicht leugnen. Was richtig ist, ist richtig. Ich habe die Schule besucht. Die Sache liegt aber so — im Sommer ließ mich der Vater nicht zum Lehrer gehen — seit ich laufen kann, muss ich im Sommer auf dem Feld arbeiten — im Winter war die Schule viel zu weit entfernt, und barfuss ließ mich die Mutter um keinen Preis den weiten Weg durch den Schnee gehen. — Es wird ohnehin kein Pfarrer aus dir — sagte sie immer — und tatsächlich hatte sie auch recht — Gott gebe ihr die Ruhe — ich wurde kein Pfarrer.
Hier verlor der Kriegsgerichtsrat die Ruhe, er haute dem Husaren eine herunter. Dann wurde jeder in eine andere Zelle geführt. Eine Woche später wurden wir zusammen in ein Interniertenlager nach Transdanubien gebracht. Wir fuhren einen Tag und eine Nacht, wir hatten also Zeit genug, uns kennen zu lernen, aber Gergely Balog war sehr misstrauisch mir gegenüber. Er wollte es nicht glauben, dass der Auditor gelogen, und dass ich nicht gegen ihn ausgesagt hatte.
— Weshalb sollte der Auditor gelogen haben?
— Und welchen Grund hatte ich zu lügen?
— Du hattest den Strick um den Hals, deshalb hast du gelogen.
— Der Kriegsgerichtsrat hat goldene Sterne am Halskragen, Grund genug, dass er lügt.
Diese Antwort überraschte Gergely, zerstreute aber seine Bedenken nicht.
— Ihr haltet den Erdwühler immer zum Narren — sagte er.
— Woher weißt du denn, dass ich nicht auch in der Erde wühle?
Gergely winkte statt einer Antwort leicht ab. — Das kannst du einem anderen weismachen.
Im Interniertenlager erging es uns verhältnismäßig besser. Wir hatten mehr zu essen als in der Kaserne, und auch das Nachtlager war besser, außerdem brauchten wir nicht zu arbeiten. Vormittags hörten wir Vorträge. Zwei Offiziere — ein Oberleutnant und ein Fähnrich mit einem Arm — hielten abwechselnd Vorträge. Man erklärte uns, was das Vaterland bedeutet, wir erfuhren, welches die Ursachen des Krieges sind, man lehrte uns auch, was Sozialismus ist und wer eigentlich die Bolschewiken sind. Besonders die Vorträge des Fähnrichs waren interessant.
— Den Sozialismus hat Marx erfunden — pflegte er zu sagen. — Marx war der uneheliche Sohn einer serbischen Nonne und eines jüdischen Wiener Arztes, er saß wegen Hehlerei vier Jahre im Gefängnis.
Im Lager fand ich mehrere Bekannte. Gleich am Tage meiner Ankunft traf ich den Regimentsarzt Gyulai. Im ersten Augenblick erkannte ich ihn gar nicht, denn er war in Zivil und hatte sich einen Vollbart und Schnurrbart wachsen lassen. Er erkannte mich sofort, trotzdem er zu Hause nur einmal etwas mit mir zu tun gehabt hatte. Er hatte mir damals einen Eisensplitter aus dem Auge entfernt. Er drückte mir fest die Hand.
— Szekeres hat vier Jahre Gefängnis bekommen — erzählte er — , Hajos drei. Bei mir stellte es sich heraus, dass ich ein unschuldiges Lämmchen bin, dass ich weder mit den Flugzetteln noch mit dem Streik etwas zu tun hatte.
— Wie wurde der Streik niedergeschlagen?
— Das wissen Sie doch, dass die Frauen und in erster Reihe die vom Dorf, die Militärmagazine ausgeraubt haben. Die Soldaten sahen ruhig zu, aber nachts kamen auf Lastautos zwei Kompanien Bosnjaken und eine Kompanie Gendarmen, alle mit Maschinengewehren ausgerüstet. In der Frühe waren wir alle hinter Schloss und Riegel. Wer die Arbeit nicht aufnahm, wurde als Soldat eingezogen. In Wien war der Streik schon beendet, auch in Budapest haben die Führer der Sozialdemokratischen Partei den ganzen Streik erdrosselt — mit einem Wort — wir wurden vorläufig niedergeschlagen. Aber... es wird schon noch anders kommen.
Ich begann auch zu erzählen: was ich alles während der fünf Monate getan hatte und was in dieser Zeit mit mir geschehen war. Als ich erzählte, wie ich in Lemberg mit Pojtek bekannt geworden war, unterbrach mich Gyulai.
— Was weiterkommt — Molodetschno — , das weiß ich schon.
— Wieso?
— Von Schmidt.
— Wer ist Schmidt?
Gyulai führte mich zu dem blonden Soldaten mit dem großen Kopf und der Brille, der mir in Molodetschno die Bücher gegeben hatte.
— Ich dachte mir, dass wir uns früher oder später hier treffen würden — sagte er.
— An einem besseren Ort hätten wir uns wohl nicht treffen können — sagte Gyulai lächelnd.
— Es gibt nichts Besseres, als wenn man für unzuverlässig erklärt wird! Jetzt, Bruder, heißt es lernen und immer mehr lernen! — fügte Schmidt hinzu.
— Wir werden ihn schon an die richtige Stelle setzen — sagte Gyulai.
Am demselben Abend erfuhr ich noch, dass nicht nur der Oberleutnant und der Fähnrich Vorträge abhielten, sondern dass auch Gyulai und Schmidt den internierten Soldaten regelmäßig Unterricht erteilten..
Ich kam zu Schmidt in den Kursus. Abends, wenn die Herren Offiziere im Kasino Karten spielten — schickte Gyulai den diensthabenden Unteroffizier in die Kantine, um auf sein Wohl zu trinken. Wenn der Unteroffizier zögerte, dann musste er eben auf das Wohl König Karls oder auf das Wohl Kaiser Wilhelms trinken, wozu der pflichtbewusste Unteroffizier stets geneigt war. Der Wachtposten setzte sich in den meisten Fällen zu uns und Schmidt schlug sein Buch auf. Am ersten Abend, während ich Schmidts Vortrag folgte, zeigte er mir das Buch, aus dem er las und dessen Inhalt er erklärte.
— Kennst du dieses Buch? „Was wollen die Kommunisten?"
— Als wir in Budapest ankamen und alle Durchsuchungen glücklich überstanden hatten, nahm ich das Buch unter der Bank hervor, wo du es versteckt hattest — sagte er zu mir.
Anderthalb Stunden lernten wir jeden Abend.
Ich war ungefähr eine Woche im Lager, als mich Gergely Balog eines Tages auf dem Wege zum Mittagessen vorsichtig beiseite führte.
— Ich wollte dich bitten, Bruder, ich bitte dich vielmals, verrate mich nicht.
— Was zum Teufel soll ich nicht verraten?
— Dass, dass ich kein solcher wirklicher Vaterlandsverräter bin wir ihr, dass ich nur so aus Zufall hierher kam. Verrate mich nicht, Bruder. Nicht einmal, als ich noch am Rock meiner Mutter hing, ging es mir so gut. An die Front zu gehen, habe ich auch keine Sehnsucht — du weißt doch — , ich bitte dich nur, verrate die Sache nicht irgendwie, ich werde mich dankbar zeigen, wenn du Schweigen bewahrst.
Ich versprach ihm aufs bestimmteste, unter allen Umständen zu schweigen, aber Gergely Balog konnte sich nicht ganz beruhigen. Ich erzählte die Sache Schmidt. Schmidt nahm Balog in seinen Kursus. Etwa zwei Wochen lang saß Gergely jeden Abend unter uns und folgte den Lehren Schmidts, aber er fragte weder etwas, noch nahm er an den Diskussionen teil, trotzdem Schmidt sich oft direkt an ihn wandte. Besonders dann, wenn davon die Rede war, wem der Boden gehört? — Gergely sagte kein Wort, er blieb immer misstrauisch, er hatte stets Angst davor, dass man ihn verraten werde, und schließlich verriet er uns.
In jener Zeit wurde das österreichisch-ungarische Heer an der italienischen Front vernichtet, und auch die Deutschen wurden an der französischen Front in die Enge getrieben.
— Die Bulgaren sind ausgerückt, sie haben schon genug vom Krieg — berichtete eines Tages Gyulai, der sich immer Zeitungen zu verschaffen wusste.
— Na, es geht zu Ende — sagte Schmidt — , morgen können wir unsere Sachen packen.
An diesem Abend verlief der Unterricht nicht wie sonst. Der Wachtmeister ging in die Kantine, der Wachposten saß unter uns, die Offiziere tranken bei Marschbegleitung. Wir waren beruhigt, dass uns niemand stören werde.
Schmidt war sehr guter Laune. Er sprach von den Jahren der Kriegsgefangenschaft und dann von der russischen Revolution. Nicht wie gewöhnlich, vom Proletariat, von der Bourgeoisie — heute erzählte er von Iwanowitsch Semjon, dem Metallarbeiter, der beim Sturm auf den Kreml vier Schüsse bekam und noch immer weiter kämpfte; vom Landarbeiter Grigorij Vladimirowitsch, der durchs Fenster eine Handgranate mitten unter die gegenrevolutionären Offiziere warf; von Sergej Iwanowitsch, der...
Plötzlich wurde die Tür geöffnet, der Fähnrich sprang herein und hinter ihm - - mit schussbereiten Gewehren
— acht Gendarmen.
— Halunken! — brüllte der Fähnrich und schon
schlug er mit der Faust Schmidt mitten ins Gesicht. Die Brille sprang in Splitter und Blut überströmte Schmidt.
Ein Major — der Lagerkommandant — verhörte uns alle noch in der Nacht. Gergely Balog hatte uns schändlich verraten. Was er nicht vorher gepetzt hatte, erzählte er jetzt beim Verhör. Manchmal sagte er auch etwas, das gar nicht vorgekommen war.
— Herr Korporal Schmidt sagte immerzu, man muss eine Handgranate zwischen die Herren Offiziere werfen.
Am nächsten Tag waren wir zu achtzehn unterwegs nach Budapest.
Ich verbrachte einige Tage im Militärgefängnis am Margaretenring, dann kam ich zum dritten Mal in das Arresthaus der Honvedkaserne. Der Arrest war so voll gepfropft, dass wir kaum alle auf dem Boden sitzen konnten.
— Wir werden hier nicht alt werden — tröstete uns ein alter Landsturmsoldat mit aufgezwirbeltem Schnurrbart.

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