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Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
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Im Septemberwind

Manche können nicht verstehen, wie wir am Leben blieben. Es ist wahr, man hat uns oft daran gehindert. Die SS hat getan, was sie konnte, um unseren Tod zu gestalten. Aber die Sterbenden haben uns hart gemacht, wenn wir auch, selbst nur noch zitternde Skelette, den Auftrag empfingen, der Welt, die für uns ja gar nicht mehr existierte, von all den Foltern zu berichten. Und damit es von einem Ende des Erdballes zum andern bekannt werde, warfen uns die Kumpel den letzten Funken ihres Lebens zu. Und so sind sie uns auch darin noch überlegen.
Septemberwind wildert über dem Urstromgebiet von Neuengamme. Die goldenen Birnen schaukeln im Wind, die bunten Äpfel duften, und die Tomaten glühen aus den Bauerngärten und schreien uns die Wonnen der Reife in das Bewusstsein, die Köstlichkeit ihrer Säfte, die Mürbe des Fleisches.
Wir stehen nackend, krumm, mit klappernden Zähnen auf dem Lagerplatz, frisch rasiert vom Schädel bis zu den Fußknöcheln, in ätzende Lauge getaucht, der Läuse wegen, die von uns auf die Posten überlaufen. Ein kühler Sprühregen stäubt über unsere eitrigen, beuligen, zerbissenen Gestalten, an denen sich die Haut schält, die weiße Hungerfahne.
Die Posten tragen ihre Mäntel. Sie werfen die wasserdichten Tarndecken über und erinnern uns an das Gefühl der Wärme mit dem Klang ihrer Hackeneisen, die sie gegeneinanderschlagen.
Wir haben vieles vergessen in unserer Haft, da wir selbst noch elastisch waren, einen Mantel kannten, eine Tüte voll Obst, ein Stück Seife, ein liebes Wort, aber das sind wohl die höchsten Höhen unseres Lebens gewesen. Nun sind wir herabgefallen und stehen nackend im summenden Regen, auf rauer, stechender Schlacke.
Vor uns sind die Posten gestellt und sie tragen den Tod in ihren Händen. Sie haben noch nicht das Leben erlebt und sind doch bestellt, es stündlich auszurotten. Ihre Führer spekulieren mit ihrer Einfalt, und wir sind das Dunkel, aus dem man ihren Hass macht. Sie wissen nicht, was uns geformt hat, man filterte ihnen eine bequeme, nützliche Formel ein und duldet nicht, dass wir ihnen von jener größeren Geschichte erzählen, die aus unseren Muskeln und Gedanken stammt, dass eine ewige Kette von Männern nötig war, um ihnen Straßen, Häuser, Fabriken und Kunstschätze zu schaffen, um ihrem Leben die Angst zu nehmen und die gesellschaftsumbildenden Kräfte zu mobilisieren.
Der Lagerkommandant erscheint. Er starrt auf den gedrängten Haufen nasser, frierender Gestalten, er starrt auf seine Untergebenen und starrt auf die Landstraße, über die ein Wägelchen rollt. Ein Mädchen kutschiert mit klappernden Milchkannen dahin. Der Gaul hebt langsam die Beine und liegt schwer in den Gurten, denn der Tonboden saugt Räder und Hufe zurück.
Der Kommandant ist ein Gemütsmensch. Und er hat ein Kardinalrezept, den Gesang. Gesang ist Nahrung, ist Wärme, ist gesegnetes, entzückendes Gemüt.
Aber das Mädchen auf dem Wägelchen schüttelt nur den Kopf, bewegt heftig die Peitsche und treibt mit Knall und Schnalzlaut ihren Gaul der Koppel zu. Die Überraschung ist wohl danebengelungen?
Endlich kommt auch das Auto mit neuer, sauberer Kleidung, mit Mützen, Hemden und Schuhen. Das Hemd ist zu kurz, die Hose zu weit, die Schuhe zu eng und die Mütze ist nicht die schwerste Not. Wir wimmeln, drängen, schieben durcheinander und der Teufel mag wissen, wie es zugeht, es passt uns allen, alles. Wir stehen in unserer gestreiften Eleganz, beherrscht von der modernisierten, zivilisierten, wundertätigen Hülle umgeben, niesen und recken uns wie Lichte auf. Die blauweißen Streifen verdecken nun wieder die Skelette, Geschwüre und was sonst an uns verdirbt. Die heimliche Kratzerei hat aufgehört, wir stinken nicht mehr und kokettieren mit dem, was wir haben, wenn auch der Preis noch so hoch ist, für das empfangene Einheitsglück, das für uns gewebt ist. Und die Schuhe, die köstlichen, neuen, wasserdichten Schuhe! Nein, wir wollen nicht nachträglich über die Qualen in den Holzklotzen klagen, wir wollen uns des duftenden Leders freuen. Ein Salut den Schuhen, in denen wir jeder Pfütze trotzen! Mögen auch Knöpfe und Schnürbänder fehlen, wir wissen, wo der Schlosser den Draht aufhängt und der Maurer die Steinschnur versteckt. Über unsere Findigkeit soll sich niemand beklagen!
Und der Abend ist da, und der goldene Seim, der aus den Birnen rinnt, macht die Luft klebrig, die um unsere Nasen schwebt. Und ein Scherbenhaufen ist da und ein Mann, der seinen Spaß sucht. Deshalb marschieren wir über das Glas im Paradeschritt und singen. Auch das Glas singt und klirrt unter den Sohlen, über das Oberleder und dann hinein und hinaus, schabt, schneidet, schlitzt die Füße auf und dann rollen wir im Tondreck und über Glas wie Walzen und singen dabei und singen. Was den Schuhen geschah, geschieht nun den Hosen und Jacken ohne Tempoveränderung, es schnurrt, reißt, fetzt und macht uns zu plundrigen Schreckgespenstern.
Wir treten ab in die Baracken. Wir denken, nun ist das vorüber. Die Lungen keuchen und die Wunden bluten und brennen. Nun liegen wir unter den Decken, da scheuchen sie uns auf und jagen uns hinaus und hinein mit Koppeln, Knütteln und Fußtritten. Sie schmeißen uns die Essgeschirre nach, die Löffel und Beutelchen mit all den Reichtümern, die wir aus ihren Abfallhaufen klaubten. Ach, keine Qual ist grenzenlos.
Weiße Mottenflügel schlagen gegen die Fenster. Ein spottendes Männergelächter steht lange in der Luft. Septemberwind bläst durch den Luftschacht, und nun rühren sich die Läuse in den Papiersäcken, und ob wir uns auch unruhig wälzen und im Schlaf wimmern und schrecken, sie besetzen unsere Wunden und holen uns zurück aus allen Träumen. Sie haben am Tage geschlafen und können sich's leisten, die Nächte munter zu sein.
Auch die Posten sind munter. Wir hören die Schritte um die Baracken schurren, die Signalhörner von der Elbe her stöhnen, wir spüren den Lichtstrahl der Scheinwerfer in die Fenster stechen, wir fühlen den Septemberwind und schmecken die köstliche Ernte des trächtigen Jahres darin, und die Sterbenden flüstern uns den Auftrag zu, der die Welt empören soll.

 

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