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Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
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Die Königskerze
(Wort hinter Stacheldraht)

Ich saß einsam auf einem Schlackenberg zwischen den Baracken und reinigte die Zigarettenspitze. Der Zeitungsrest wurde in meinen Händen zu Röllchen umgewandelt, die das Nikotin aufnahmen. In diese Beschäftigung vertiefte ich mich, während sich langst versunkene Lebensbilder auffrischten, wobei ich der Melodie eines Wortes nachhing, ein neues entdeckte, mich in ihnen wie in einem fremden Walde verirrte und die Lichtung suchte, in der ich sie zu einem Reigen verband.
Der schreckliche Regen am Tage, die geschwollenen Füße und das unflätige Gebrüll der Posten störten mich nicht mehr, da mein Herz, sich erinnernd, wieder von der Harmonie durchflutet wurde, die ich einst durch das Wort der Dichter empfing.
Gerade wollte ich ein neues Röllchen drehen, da fand mein Auge auf dem Zeitungsfetzen das Wort: Königskerze. Obwohl ich das Ziel anstrebte, die Zigarettenspitze für die Kippe zu säubern, ruhten die Hände, und das Hirn wollte sich das vergangene Gewächs aus dem gedruckten Wort klarmachen.
Seit Tagen war ich hinter einem Zigarettenstummel her und hatte überlegt, wo ich ihn rauchen würde, nun stand da zu meiner Anteilnahme ein Wort und trieb in glücklichem Eifer seine Blüten.
Gelb prangte es am erhobenen Schaft, Schwebfliege, Schmetterling und Hummel besuchten die anziehenden Fruchtknoten auf der Reise. Da war der Bahndamm,
Schotter, Schienen, Schwellen, da ging der Weg in die Freiheit, nach der wir verlangend die Hände ausstreckten. Ich hatte mich mit der Kippe versteckt, wie sich das Wort Freiheit versteckt hielt, das zum Glücklichsein gehörte.
Das Wort „Königskerze" hatte mich entzündet. Der Frühling war in der Luft zu riechen, ein Frühling, der das Bekenntnis zu neuem Leben in sich trug. Mit dem Hauch ging ich auf die Reise, saß mit fröhlichen Menschen zusammen, essend, trinkend, plaudernd, las in den Büchern und machte Notizen, wenn das gebotene Wort meine Gedanken und Gefühle festhalten wollte.
Nein, ich konnte keine Röllchen mehr drehen, ich sah nur das Wort auf dem Zeitungsschnitzel an, als hätte ich nie tiefer und reiner das Leben empfunden. Ich vergaß die Wildheit der Posten, die Qualen, die sie uns bereiteten, die blutigen Ausschreitungen, ihre ekelerregenden Roheiten.
Beständig schaute ich das Wort an, das mich leitete, um die Zeit mit mir zu teilen, und nun Herz wie Hirn berührte. Das Wort war ein Messer und war eine empfindsame Hand, die aus der Leidstation führte. Es kam mit den wechselständigen Blättern und dem sommerlichen Gebrumm der Bienen und leuchtete ins Jahr hinein, in das Vergängliche einer rückläufigen Zeit.
Dann fürchtete ich, dem Frühling zum Opfer zu fallen wie die zehn Kumpel, die in der Totenkammer lagen. Sie hätten längst unter die Erde müssen. Im Schwung des ersten Frühlingswindes waren sie von den Kugeln der Wachmannschaften um ihren Lebenslauf gebracht. Sie wussten nicht mehr, welche Farbe der Himmel und die Königskerzen haben, und wussten nicht, dass sie selbst schwarz geworden und in allen Windrichtungen spürbar waren. Sie hatten als Lebende die Hoffnung nicht verlorengegeben, die ihr geheimes Freiheitssignal in ihre Ohren blies.
Einige hundert Meter von uns entfernt dürfte unter sanftem Himmel die Königskerze einer Schutthalde schmeicheln.
Ich sah sie ja in Gedanken dort stehen, leicht bewegt von dem Wind, der seine neugekerbte Flöte blies. Die Blüte hob sich hoch über die Erdwelle und flammte etwas pomphaft.
All meine Zeit verschlang das Wort auf dem Papier, denn von dorther rührten sich Träume, wo man sich umarmte oder in Büchern las, die Wissenschaft und Dichtung in sich bargen.
Der Schatten aber, der sich über meine Hände stürzte, ging von dem kleinen Seemann aus, der einem abgeschlagenen Riesen ähnlich sah. Er pfiff durch die Zähne. In meinen stillen Winkel fuhr der Ton. Der Pfiff und der Blick dahinter rissen mich zurück, zogen mir die zivilen Sachen aus und hüllten mich in den Häftlings-Plunder, der jede Öffentlichkeit scheute.
Der Seemann sah mich an. Er sah mich mit dem fehlenden Auge an. Mit dem roten, zerquetschten Schlitz riss er mich aus dem Einfluss des Wortes, das ich in den bebenden Händen hielt.
Der Seemann war Vorarbeiter. Das Lagerleben hatte seine Gefühle zerstört. Gab es keinen Schlüssel zu seinem Herzen? Mit ihm zusammenstoßen hieß mit ihm kämpfen. Niemand kam dazu, ihn aufs Kreuz zu legen, denn der verzerrte Augenschlitz war schon ein gewonnener Überfall und nahm seinem Gegner die nötige Abwehrkraft. Der Blick betäubte, und die Fäuste des Seemanns arbeiteten, als refften sie Segel oder hievten die Schoten. Nun fand er mich hier abseits sitzen, das Stück Zeitungspapier in den bebenden Händen, das mich mit seinem Wort wie eine plötzliche Erkrankung überfallen hatte. Es war grausam, diesen Wechsel der inneren Bilder abzuschließen und in den Schlitz zu starren, dessen garstiger Rest einmal ein Auge getragen hatte.
Ich reichte ihm das Wort. Ich gab ihm, was mir im Schmerz so gut geschmeckt hatte, was mir Freude und Mut brachte, den Stacheldraht niederlegte und das Verlangen nach Freiheit aufschwingen ließ. Ich tastete bewegt das gedruckte Wort mit dem gesprochenen Wort ab, wechselte bald die erschlagende Tonart des Lagers, löste die eigene Einsamkeit im Gespräch und ließ die Königskerze bevorzugt glühen, wie sie für mich geglüht hatte, ließ sie das zuversichtliche, erreichbare Leben wecken, von dem der Frühlingswind auf seiner neuen Flöte blies.
Der Seemann setzte sich und hatte einen hell schimmernden Stern auf dem Sehschlitz. Er schwieg zu meinen Hinweisen und Andeutungen. Da tropfte der hell schimmernde Stern auf seine Hände und ein neuer Stern hüpfte dazu. Es regnete Sterne, und sie wurden zur Sprache, dass es menschlich in der Brust eines Raubeins wurde.
Die Königskerze war der Anfang eines Gerüstes, zu dessen Bau die Stunde günstig war. Sie half uns beiden, über uns hinauszusehen, damit wir von kleinlichen individuellen Zielen hinweg an die Gemeinschaft dachten, die um uns bangte. Sie hörte unsere Lieder aus Moor und Steinbruch klingen, schützte den Flüchtling und erzog zum Widerstand gegen die Welt des Hasses und der Habgier. Sie entwirrte mit dem überzeugenden Wort der nationalen Sprache unsere innere Unordnung und baute die Zukunft, die jeden Tag in uns allen begann.

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