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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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10. Kapitel

Johann Kaspar fährt durch die Nacht. Der Himmel ist klar, und die Sterne flecken den Fluss. Ruhig sieht der Mann in das weiße Licht der Scheinwerfer. Die Bäume fliegen vorüber, und der tauige Schnee klatscht bis aufs Dach. In den Dörfern, die der Wagen durchjagt, wehen die Fahnen, und die Wirtschaften bersten fast vor Jubel und Gesang. Bäuerle sieht nicht hin. Er sieht nur Irene, wie sie über dem Bett lag, und das Weinen war über sie gekommen, ein leises, fast lautloses Weinen, als erlösche das Licht. Vier Stunden hatte sie gewartet. Vier Stunden hatte sie nach der Gartenpforte gesehen. Aber Hans war nicht gekommen, und Weißenfels schwieg. Ja, Weißenfels schwieg. Es gab keine Antwort. Das Telefon summte und summte, aber keine Stimme meldete sich.
Ob sie jetzt schläft? denkt Bäuerle. Ob die Spritze gewirkt hat? Oder weint sie noch immer, vielleicht auch im Schlaf? Wie blass der Arzt war, als er mit ihm sprach. Im Chefzimmer der Klinik war es gewesen. Draußen auf den Straßen wirbelten die Trommeln, und die Schalmeien klangen zwischen den Häusern. „Wir müssen mit allem rechnen", hatte der Arzt gesagt. Wen meinte er, Deutschland oder Irene?
Als Bäuerle die Klinik verließ, erstickte er fast in dem Taumel, der ihn umfing. Wie ein Schiffbrüchiger trieb er in den Menschenwogen. Er sah den bunten Jubel der Studenten, er sah verzückte Frauen, und er hörte Männer vor sich hinrufen, immer das gleiche: Heil... Heil... Heil... Doch plötzlich sangen sie alle. Sie sangen nur noch, und es war keine Stimme und keine Bewegung, die den einen vom andern unterschied. Ja, ein Taumel war das. Ein rasender Taumel, durch den er hindurch musste. Einfach hindurch. Mehr dachte er nicht. Als er kurz hinter Erlenbach den Hügel umfährt, sieht er die Stadt. Sie glänzt im Licht. Mitten durch ihren Leib frisst sich ein Fackelzug. Bäuerle jagt mit dem Wagen hinab in das Gewühl. Er möchte es durchbohren. Er möchte es durchstoßen, damit er sieht, was hinter dem Brausen ist. Kurz vor dem inneren Tor wird sein Wagen gestoppt. Polizei hält ihn an. Blasse, kreischende Gesichter, Diener eines Staates, der verbrennt wie ein Strohwisch. Und plötzlich tobt es um ihn. Da kommen die andern. Musik, gellende Hörner, Fanfaren und immer wieder die Trommeln. Tausende ziehen dahinter her. Verzückte, die die Hoffnung trägt, Jugend, die gehorcht, blindlings gehorcht, diesem einen Mann, dessen Namen sie rufen, als hätte er alle Manna der Erde in seinen Händen. Bäuerle steigt aus. Er wird mitgerissen. Schon treibt er im Strom zwischen den Häusern. Prasselnd steigt der Gesang in die Nacht. Die Fackeln lodern. Geschrei, Jubel, und dazwischen die harten Schritte der Kolonnen. Über dem Marktplatz liegt ein Brausen. Kopf an Kopf, Leib an Leib steht die Menge, und Bäuerle sieht es, das Volk, dem er entstammt, da singt es und jubelt, da wirft es sie hin, die Freiheit; da opfert jeder seinen eigenen Willen, da tauchen sie zurück, und sie sind glücklich dabei. Und plötzlich huscht es über die Köpfe. Ein Scheinwerfer leuchtet auf. Es schweigen die Hörner. Es schweigen die Fanfaren. Nur eine Trommel wirbelt, und schon steigt er die Stufen von St. Andreas hinauf, umglänzt von Licht, von Fahnen umrauscht, der Postsekretär Dern. Bäuerle erschrickt. Fürchterlich erschrickt er in dieser Sekunde. Er will losspringen, er will auf dieses unedle Gesicht dort vor den Bögen der Heiligen deuten. Er will schreien: „Nein! Nein! Nein!" Da aber hat Dern schon die Fahne erhoben. Er schwingt sie über der Menge. Im Nachtwind knattert das Tuch. Die Fackeln lodern. Die Schatten schwanken. Und ein einziger riesenhafter Ruf bricht über den Platz: „Deutschland ist unser!"

Auf Weißenfels brannte kein Licht. Dunkel lagen Stallungen und Haus. Nur der Mond schob sich in weichen Strahlen über Garten und Dach. Bäuerle geht über den Hof. Er geht zum Gesindehaus. Er schlägt mit der Faust wider die Tür. Hohl antwortet das Echo des Ganges. Bäuerle öffnet. Er geht die Stiegen hinauf. Die Kammern sind leer. Bierflaschen stehen auf dem Tisch, und die Reste des
Essens kleben in den Tellern. Doch mitten in diese Ruhe dringt ein Röcheln. Es kommt aus einem Verschlag. Bäuerle öffnet die Lattentür. Zwischen Milcheimern und Säcken hockt der alte Brandeis und schläft. Bäuerle schüttelt ihn wach. „Wo sind die andern?" schreit er. Der Brandeis, taumelnd von Schlaf und Schnaps, beginnt zu jammern. Er könne bestimmt nichts dafür. Um sechs sei ein Radfahrer gekommen. Der habe gerufen, in Siebenwasser gäbe es eine Siegesfeier, und da sind sie alle weggelaufen, alle, auch die Degerloch.
„Alle?" fragt Bäuerle. Er zieht den Alten unter das Licht. Der beginnt zu zittern, und der Speichel fällt ihm aus dem Mund. Bäuerle sagt kein Wort. Er wartet nur. Und plötzlich beginnt der Brandeis zu flüstern. Er deutet nach dem Licht. „Ausmachen", flüstert er, und Bäuerle löscht die Lampe. Im Dunkeln spürt er, wie der andere ihn an der Hand nimmt, er lässt sich führen, und er antwortet nichts, als der andere sagt: „Es spukt nämlich, Herr..." Bäuerle steht am Fenster. Neben ihm der Knecht. Schattenlos wachsen draußen die Mauern. „Sehen Sie dort?" Bäuerle sieht.
Im ersten Stock des Anbaus, hinter dem Fenster, ruht ein Kopf. Er liegt auf der Fensterbank, als schlafe er. Die Strahlen des Mondes gleiten weich über sein Haar. Es glänzt. Die Augen sind offen. Sie glänzen auch.
„Fünf Stunden liegt er schon so ... ich hab gerufen, er hat immer so dagelegen und bewegt hat er sich nicht..."
Bäuerle schweigt. Lange schweigt Bäuerle. Vor ihm wandert die Nacht. Er sieht die Schatten wachsen. Mauer um Mauer vergeht. Nur der Kopf leuchtet noch, bis auch ihn der Schatten erreicht. Dann gehen sie hinauf. Sie finden die Wiege und das Zeitungsblatt. Als sie den Toten hochheben wollen, um ihn zu betten, merken sie, dass die linke Backe auf dem Fensterbrett festgefroren ist. Da knieten sie nieder, die Männer, und sie versuchten, mit ihrem Hauch das Eis zu lösen.
I
rene jedoch hatte Hans gesehen. Hinter Erlenbach war es. Da stieg er den Hang hinauf, und es war gar kein Winter mehr, das Gras blühte. Er sah sich nicht um. Sie konnte rufen, so laut sie wollte. Er hörte sie nicht. Da fing sie an zu laufen. Sie winkte hinter ihm her. Er aber stieg immer höher und höher. Bald wird er dort sein, wo der Wald beginnt. Da begann sie zu schreien, geh nicht in den Wald! und sie rannte bergauf. Ah, furchtbar schwer wurde ihr das. Sie fiel in das Gras, und ihr Leib wurde nass. Er aber ging immer weiter, direkt auf den Wald zu, und das war kein gewöhnlicher Wald, das waren schwarze Bäume, die reichten bis zum Himmel, und knotige Gewächse hingen an ihren Ästen, und an den Dornen der Büsche hing Blut. Oh, wie sie da zu rufen begann. Und neben ihr, da war plötzlich der Kilian Kern. Der schnallte sein Bein ab und hieb damit auf eine Glocke, die trug seine Frau. Und auch der Vater war da und Freund Baker aus Baltimore, und beide riefen mit ihr, aber Hans hörte sie nicht. Da war es über sie gekommen. Sie musste ihn retten. Festhalten musste sie ihn. Aber das Kind in ihrem Leib, das war so schwer. Das zog sie immer herunter nach der Erde, aber sie litt es nicht länger, nein, sie konnte es nicht länger ertragen, wie er immer näher den blutigen Dornen kam, und als der Kilian Kern jetzt noch schrie: „Geh nicht in den Wald... geh nicht in den Wald..." und Hans aber doch weiterging, da hatte sie mit ihren Händen in ihren Leib gegriffen. Da hatte sie das Kind herausgezerrt... oh, Blut war da, soviel Blut... und Feuer, welch ein Feuer... und tausend Messer, die stachen auf sie ein, immer drauflos, immer drauflos... aber sie konnte jetzt laufen, viel schneller, sie konnte fliegen, sie holte ihn ein. „Ich habe...", keuchte sie, „alles weggeworfen", und sie will ihn umarmen. Doch wie sie ihn umarmt, da ist es ein Baum, und der Baum schlingt die Äste um sie, und plötzlich, da ist sie mitten im Wald, oben in den Kronen der Bäume. Dort hängt sie, und unten, da sieht sie ihn. Er geht durch das weiche Gras, und er trägt keine Schuhe. Und dort, ja, das sind die Sieben Bäche, das Wasser glänzt, und er, er legt sich nieder, und schon fällt die Quelle hell und strahlend auf seine weiße Brust.
Glühend war das Verlangen, das Irene überkam. Sie wand sich unter den Griffen und versuchte nach unten zu springen. Aber die Griffe waren fest und es gelang ihr nicht, sich zu lösen. „Hans...", schrie sie, „ich kann ja nicht los..." Er aber hörte sie nicht. Er dehnte sich im Schatten. Lächelnd streckte er seine Glieder, und die Glieder, die wurden hell und immer heller, und plötzlich verwandelten sie sich.
Sie wurden zu Wasser, und es begannen auf einmal viele Bächlein zu fließen. Und bald war nichts mehr da als ein Netz von silbernen Adern zwischen dem grünen Gras. Da aber verdunkelte sich für eine Sekunde der Himmel, und es kamen viele Vögel geflogen, und sie netzten ihre flaumigen Kehlen in dem Wasser, und es wuchsen viele Blumen an den Rändern, und ihre Kelche füllten sich mit Perlen.
Oben aber im Geäst der Bäume schrie Irene. Sie wand sich, doch die Äste ließen sie nicht los. Ach, sie konnte nicht hinab zu dem Wasser. Sie wurde ja festgehalten. Sie durfte nicht vergehen. Das Bett im Kreißsaal dampfte. Blut und Kot klebten auf dem Linnen. Die Bandagen pressten die Gelenke der Gebärenden, die sich immer noch bäumte und schrie. Zwei Ärzte sahen auf sie hinab. Nebenan in der Ecke schwang die Schwester ein Kind. Es war drei Uhr in der Nacht, und die Träume begannen, die Masken der Menschen zu heben.

Sie hatten Hans auf dem Dorffriedhof begraben. Es war ein heller Februartag gewesen, und die Erde leuchtete gelb auf den Gräbern. Zu dritt waren sie dem Sarg gefolgt. Holzapfel, Kilian Kern und Bäuerle. Kalt wehte der Staub über die Mauer, und die Bänder der alten Frauen, die durch das Gitter des Friedhofs starrten, flatterten im Wind. Lange hatten die Männer vor dem Grab gestanden. Unten in Siebenwasser bliesen die Trompeten und die Fanfaren eines Aufmarschs. Und dann waren die Männer gegangen. Ohne ein Wort, einer neben dem andern, und sie waren zu Bäuerle ins Haus gegangen, und dort hatten sie schweigend getrunken, bis es Abend wurde.

Der Mann auf der „Braunschweig" bewegt sich nicht. Er starrt auf das Wasser, das sich bleigrau wellt. Und jetzt starrt er auf die Küste, die immer schmäler wird, ein dünner Streifen Rauchs. Oh, wie war dieser Abend gewesen. Kilian Kern hatte das Lied vom Guten Kameraden gesungen, und auch Holzapfel hatte sich der Tränen nicht geschämt. Und nach diesem Abend, da waren die Wochen gekommen, die vielen endlosen Wochen, da Irene mit dem Tod Zwiesprache hielt. Gesungen hatte sie und gelacht, und das Fieber hatte scharlachrot auf ihren Backen geblüht. Und ihr Kissen hatte sie genommen und es an sich gedrückt, und sie hatte es Hans genannt. Doch, wenn die Musik durch die Straßen zog, da fragte sie immer, ob sie ihn brächten. Sie hätten ihn ihr gestohlen, aber am Schluss sei er ihnen doch entwischt. In den Märchenwald sei er geflohen. Und jetzt suchten sie ihn, überall — denn sie könnten ohne seine Seele nicht leben. Die „Braunschweig" passiert das erste Feuerschiff. Bäuerle steht am Bug. Längst ist die Küste verdämmert, aber die Augen des Mannes sehen still und unbewegt nach der abendlichen Rundung des Horizonts, dorthin, wo einmal das Land war. Und er sieht das Vestibül der Klinik, und er sieht sich dort sitzen auf dem Rohrstuhl und warten, ob es Irene gelinge, den Tod zu besiegen. Und dann sieht er sich wieder, wie er durch die Straßen geht, in Heidelberg, in Siebenwasser, und überall war Jubel, und er verstand sie nicht mehr, die Sprache, die um ihn war. Nein, er begriff diese Worte nicht. Er war plötzlich in ein fremdes Volk geraten. War Deutschland mit Hans ins Grab gesunken, so fragte er sich oft, und er bejahte. Oh, er hatte es gesehen, wie sie in Siebenwasser das Rathaus stürmten, wie sie Schrader auf die Straße schleppten, ihm einen Schafpelz anzogen und eine Narrenkappe mit Glöckchen über die Ohren. Und er war dem Zug gefolgt und hatte sich furchtbar geschämt, aber die Scham war so groß, dass er schwieg und litt, wie Schrader auch. Und dann war es geschehen, dass sie von Schrader verlangten, er solle tanzen, öffentlich auf einem Platz, und obwohl Hungrich selbst das Tamburin schwang und die jungen SA.-Leute mit Fäusten Schrader vorwärtsstießen, war der Oberbürgermeister doch stehengeblieben, und er hatte nichts als gelächelt. Er lächelte die Deutschen an, wie ein Kind lächelte er, als kenne er sie nicht mehr. Und als Hungrich ihm die Brille entzweischlug, da lächelte Schrader immer noch, kurzsichtig, die Backen voll Blut. Und die Bürger um ihn, die hielten sich die Bäuche und sie lachten, weil Schrader so hilflos war. Das war es, ja das war es — dieses Lachen der Menschen vor dem hilflosen Mann. Das vergisst Bäuerle nie. Damit hatten sie Deutschland ermordet... Es ist Nacht über der Nordsee. Bäuerle hört die Musik nicht, die aus hell beleuchteten Speisesälen kommt. Immer noch sieht er über die spiegelglatte See dort hinüber, wo einmal das Land war. Und er sieht hinter den Wolken, die sich wie riesengroße Wale über das Meer legen, jenen rötlichen Abend, da er Irene nach Hause geholt. Es war Mai, und die ersten Blumen standen im Garten. Nie hatte er mit Irene in den ersten Wochen der Genesung von Hans gesprochen. Nur manchmal hatte sie ihn angesehen, eine Minute vielleicht, dann merkte er, dass sie weinte. Aber bevor er noch zu sprechen vermochte, beugte sie sich über ihr Kind. Es war ein Knabe. Sie hielt ihn fest in den Armen. Sie trug ihn nach Weißenfels. Und dann, als das Kind schlief, waren sie aus dem Hof gegangen. Sie gingen hinüber, wortlos, zum Friedhof, und dort kniete die Frau vor dem Grab, bis die Nacht kam und mit ihr die Sterne. Spät war es gewesen, als sie zur Wegkreuzung kamen. Dort unter der Blutbuche war Irene stehengeblieben. „Wann reisen wir ab?" hatte sie den Vater gefragt, und sie hatte seine Hand genommen, und sie waren still und ohne Rede zurückgegangen nach dem Hof.

Zwischen Schiffstauen und Eisenketten steht Johann Kaspar Bäuerle und sieht auf das Wasser. Er sieht die Wogen, und er spürt die große Ruhe der Veränderung. Er hat die Heimat verloren, zum zweiten Mal in seinem Leben hat er sie verloren. In jener Nacht, da er Hans gefunden, hatte er Deutschland verloren. Eingesargt lag es in der Erde von Weißenfels, ein Jüngling mit großen, fragenden Augen.
Über Deutschland hinweg marschierten die Kolonnen der Knaben und Jünglinge. Sie kannten nicht mehr die Anmut des Zweifels. Sie marschierten und sangen. Ja, die Nation war erwacht, aber der Mensch verging.
Du aber, Johann Kaspar, der du ein Mann bist, groß und gequält in deiner Liebe zur Heimat, lass deine Trauer nicht in Hass ertrinken. Verbeiße den Fluch! Schweige, schweige, wie es die Würde der Liebenden verlangt!
Vorsichtig löst sich der Mann aus den Schatten. Um ihn ist Himmel und Meer. Langsam steigt er die Eisentreppe hinab. Als er Irenens Kabine betritt, sieht er das Kind. Nackt und rosig liegt es auf den Linnen.
„Was ist das?" fragt Johann Kaspar Bäuerle und deutet auf ein kleines Säckchen, das um den Hals des Knaben hängt wie ein Amulett. „Erde", lächelt Irene, „ein bisschen Erde von daheim."

 
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