Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
http://nemesis.marxists.org

4. Kapitel

D er Bäckermeister Stählin war an diesem Freitag vorzeitig zum Frühschoppen in den „Blauen Bären" gegangen. In der Nacht hatten sie Elfriede geholt. Er war mit ins Krankenhaus gefahren. Um neun Uhr wurde die Frau operiert. Dann wollte der Dr. Wachtel hier in den „Blauen Bären" kommen und ihm alles haargenau erzählen. Stählin wusste, dass es nicht mehr lange gehen konnte mit der Friedel. Seit einem halben Jahr nahm sie ab, ganz lose und unlustig hing ihr das Fleisch um die Knochen, und nichts weiter tat sie noch als nörgeln und schelten. Was er in der Politik zu schaffen habe? Er sei doch ein Bäckermeister. Und sie brauchten kein Auto, und dass die Doris in der Schweiz in einem Pensionat säße, das sei die Höhe, und überhaupt, wofür sie das neue Haus hätten, mit dem Schnickschnack von Zentralheizung und zwei Badezimmern und einem Kamin in der Diele. Und wenn er ihr klarmachen wollte, das gehöre zur Repräsentation, und er sei ein Politiker, da hat sie immer geflennt und gerufen, er sei ein fauler Bäckermeister, und sie wolle ins alte Haus zurück, wo es so gut nach der Backstube roch, und wenn sie auch jeden Morgen die alten Öfen anstecken müsste, man sei doch wenigstens daheim. Stählin saß in der Weinstube und sah übermüdet auf die Karaffe mit Rotwein, in der sich die Frühsonne fing. Es war ein weicher Herbst in diesem Jahr. Voller Sonne.
Ob wohl die Friedel sterben muss? Fünfzig zu fünfzig hatte Dr. Wachtel gesagt. Schade, wenn man jetzt auseinander müsste. Siebenundzwanzig Jahre sind es jetzt her, dass er als Geselle in die Bäckerei eingeheiratet hat. Damals war die Friedel ein molliges Mädchen, so ein rechtes gepolstertes Glück. Mein Gott, wenn man sie kitzelte im Bett, wie die lachen konnte, und auch so... Und als der Schwiegervater noch lebte, da hat er oft nachts an die Zimmertür gepocht.
„Treibt's nicht zu toll", hatte er gesagt, der Alte draußen vor der Tür, aber sie hatten gar nicht hingehört, nur gelacht hatten sie und einander nicht losgelassen. Stählin trank. Wie ihm das jetzt so einfiel. Ein schlimmes Zeichen. Und wie welk hatte sie auf der Bahre im Auto gelegen, so geht das dahin mit dem Fleisch, und dabei war ihm, als sei das alles gestern gewesen, das Lachen in der Nacht und der schlürfende Alte vor der Tür.
Er rief nach einem Kirsch. Henri Jockel brachte selbst die Flasche. „Nur Mut", sagte er und setzte sich zu Stählin. Sie tranken jeder zwei Gläschen, wischten sich den Mund und horchten auf den Lärm draußen auf dem Markt. „Wie alt ist sie eigentlich?" fragte Jockel.
„Neunundvierzig."
„Und die Kinder, hast du telegraphiert?" „Ach, so schnell wird's wohl nicht gehen. So auf einmal, wupp und davon."
Henri Jockel schwieg. Er hatte noch am Morgen in dem dicken Buch von Bilz, „Die Neue Heilmethode", über den Unterleibskrebs nachgelesen. „Das kann Jahre dauern", log er freundlich dem Stählin ins Gesicht.
„Und wenn's halt sein muss, muss es halt sein", räsonierte der. „Ich werf mich dann ganz auf die Politik. Sie wollt es ja nie haben. War eigentlich ein Hemmschuh. Aber was versteht so ein Weib von großen Sachen."
Er sah überlegen drein. Er stemmte die Faust auf den Tisch.
„Wir müssen uns zusammenschließen, wir vom Mittelstand", sagte er.
Henri Jockel nickte. „Gegen diese verdammten Steuern", antwortete er. „Und gegen die Roten", sagte Stählin. Henri Jockel seufzte. „Wenn das Bürgertum nur einig wär", flötete er.
„Wird schon werden", lachte Stählin, „bei der nächsten Wahl kandidier ich für den Landtag. Neulich hat mich der Schrader mit seinen flachen Dächern noch herumgekriegt, aber wenn ich erst einmal in Stuttgart bin, setzt's Saures."
„Herumgekriegt... herumgekriegt", lächelte Henri Jockel, „du hattest ja auch verdammt Glück, dass deine zwei Gärten mitten ins Baugelände fielen." Böse sahen sie sich an. „Hätten natürlich auch wo anders bauen können", lenkte Henri Jockel ein. Stählin schwieg. „Fünfzehntausend hast du doch sicher dabei gut gemacht." Henri Jockel goss die Kirschgläser voll. „Ein schöner Batzen. Glück hast du, lieber Barthel..."
„Keine sieben hab ich gelöst", brüllte Stählin, „und die Gärten waren mindestens das Doppelte wert!" Henri Jockel schaukelte den Kopf. „Ich nehm dir's ja nicht übel. Ich bin ja dafür, dass man aus den Brüdern da oben herausholt, was man nur kann. Die haben uns in der Inflation genug beschissen." „Die Systembonzen", brummte Stählin. „Gesundheit", antwortete Henri Jockel und hob sein Glas.
Sie tranken noch eine halbe Stunde, dann ging Henri Jockel in sein Kontor. Als er dem Stählin die Hand gab, dachte er: Sieben, du alter Gauner, es waren vierzehn, denn der eine Garten ging schlauerweise pro forma über deinen Schwager — aber er sagte: „Wolle Gott, dass sich alles zum besten wende mit der Friedel, armer Barthel."
Vor Stählin stand der zweite Liter Wein. Die durchwachte Nacht hatte ihn durstig gemacht. Und dieser Jockel mit seinen Anspielungen. Er konnte doch seine Gärten verkaufen, an wen er wollte. Und wenn er auch für den Schrader gestimmt hatte, das nächste Mal, wenn's um Weltanschauung geht, bei der Theaterdebatte, da wird er's den Herren zeigen, wo der Pfeffer wächst. Wütend zog er ein Blatt Papier aus der Tasche. Er nahm einen Bleistift. Er malte Zahlen auf das Papier. Langsam glättete sich das Gesicht des dicken, schwerfälligen Mannes. Ja,
ein Glanz von Glück lag um seinen Mund, wie er da schrieb: 15 LG. Farben, 100 Tubize, 75 Bemberg, Snia Viscosa, 40 Salz Detfurt, 30 Fuchs "Waggonfabrik. Zu einer großen Kolonne formten sich die Aktien. Eine einzige Schlachtreihe des Glücks. Die Sonne stand jetzt breit im Fenster, und der Lärm des Marktes begann. Seit einem Jahr war der Bäckermeister Stählin nicht mehr ein Mann von Auskommen, von bürgerlicher Solidität und Bescheidung. Seit einem Jahr war er auf dem Weg zum Reichtum. Man brauchte nichts anderes zu tun, als Mut zu haben. Er hatte es rasch herausgehabt, damals, als er bei der Gründung der Wirtschaftspartei die Leitung übernahm und in die Stadtverordnetenversammlung delegiert wurde. Aus Berlin war ein Syndikus gekommen, ein sehr gescheiter junger Mann, der hatte ihm bei einem Glas Wein die Augen geöffnet. Das Land schwamm in Geld. Kredite waren billig wie Brombeeren.
Es war dem Bäckermeister ein leichtes gewesen, auf der Bank einen Kredit zu bekommen. Er zahlte zunächst 20 000 ein, alles was er aus der Inflation gerettet hatte, 50 000 wurden kreditiert. Dafür kaufte er Aktien und legte sie ins Depot. Die Aktien stiegen. Er verkaufte, gewann. Kaufte neu. Der Kredit ging auf 75 000. Er verkaufte, gewann, der Kredit ging auf 100 000. Und so stand er jetzt. Dagegen lagen Aktien im Depot... Ei, du feiner Heiland. Stählin rechnete zusammen. 80, 105, 160, 220 ... wenn ich heute verkaufen würde — 237 000 bare Mark. Es schwindelte ihn gar nicht. Das war eine herrliche Wirklichkeit. Das Haus im guten Viertel war aus dieser Wirklichkeit entstanden, die Doris in der Schweiz lebte aus dieser Wirklichkeit, der Wilhelm in Berlin bei der feudalen Verbindung, das Auto, ein herrlicher Amerikaner, der Flügel, ein Steinway, kein Steinweg, bitte — und auch die Badereisen der Friedel, und jetzt die Operation und das idyllische Erbbegräbnis unter der Blutbuche auf dem Friedhof —, das alles lebte aus dieser Wirklichkeit. Die Bäckerei, ach du lieber Gott, das machten die Gesellen, und das reichte gerade für den Haushalt. Aber der Reichtum, der Überfluss, das neue Leben, diese offene Welt, immer noch herrlich genug für einen vierundfünfzigjährigen Mann, das kam von der Börse, aus dem Depot. Und der Aufstieg in die Politik, der Traum von dem Reichstagsmandat, die Einladungen zu Ministern, zu Generaldirektoren, hach, wie könnte er das ohne die Börse!
Mit freudetränenden Augen saß Stählin über dem Papier. Immer, wenn er erregt war, beruhigte er sich an der Realität dieser Zahlen. Direktor Megerle riet zwar seit einigen Tagen, vorsichtig zu verkaufen, aber das hatte er vor einem Jahr auch getan, und dann war die Hausse in der Kunstseide gekommen. Die Welt war doch sicher. Kein Krieg drohte. Überall wurde gebaut. Die Wirtschaften waren voll. Und statt der vielen Arbeiter hatte man jetzt Maschinen. Umso besser und billiger ließ sich produzieren.
Stählin hatte Friedel vergessen. Schon sah er sich in Berlin in den Wandelgängen des Reichstags. Und abends in die Scala.
Er schreckte hoch. Ein fester Schritt kam die Stiege herunter.
„Ach, Herr Doktor", lächelte Stählin und erhob sich verlegen.
Dr. Wachtel war ein Mann von wenig mehr als dreißig. Er genoss als Chirurg weit über Siebenwasser hinaus einen Ruf.
Aber wie sein Messer beliebt war, so war seine Zunge gefürchtet. Er kannte keine andere Autorität als den Tod, und es machte ihm Spaß, den Menschen rückhaltlos und ohne persönliche Rührung die Wahrheit zu sagen. Es war zwar nur eine medizinische, aber Dr. Wachtel legte keinen Wert auf andere Erkenntnisse.
Er setzte sich an Stählins Tisch. Stählin rief aufgeregt nach einem Glas. Der Kellner kam, und Stählin goss ein. Dr. Wachtel trank, rieb sich den Mund mit dem Handrücken ab und sah den Bäckermeister an. Dieser steckte verlegen sein Papier mit den Zahlen in die Tasche.
„Sagen Sie, Herr Stählin, wo waren Sie eigentlich während des Krieges?"
Stählin schluckte. Was war das? Was hatte das mit dem Unterleib zu tun?
„Zuerst bei dem Vormarsch bis Maubeuge", stotterte er.
„Und dann?" fragte der Doktor. „In Brüssel bei dem Generalkommando." „Soso... in Brüssel." Dr. Wachtel nickte erfreut. „Und dort sind Sie natürlich abends oft ausgegangen?"
„Ja, manchmal, wenn ich Stadturlaub hatte."
Was will der nur? Ob der von den verschobenen Waggons mit Dörrgemüse was weiß? Blödsinn. „Also manchmal, und nicht immer allein..." „Aber ich versteh nicht... Herr Doktor... natürlich oft mit Kameraden..."
Der Wachtel hatte ganz eisige Augen hinter der Brille.
„Und da trank man eins und dann trank man noch eins, nicht wahr, und dann ging's ins Bordell." „Aber ich muss Sie doch bitten, Herr Doktor, ich verstehe Sie gar nicht."
„Ob Sie einen Tripper hatten, will ich wissen!" Der Bäckermeister sprang auf. „Setzen Sie sich", sagte sehr ruhig der Doktor, „das hatten auch Generäle."
Stählin setzte sich. Er starrte in sein Glas. Er sah das Estaminet. Wie hieß es noch? Frou-Frou... ja, und die Yvette... so ein Mädchen... das gab's in Siebenwasser nicht... Er öffnete die Lippen.
„Ich glaube, dass es schön war", sagte der Arzt, „wie
lange wurden Sie behandelt?"
„Drei Wochen", stotterte Stählin.
„Dachte ich mir", grinste der Arzt, „und zu Hause
alles verschwiegen... keine Kur mehr gemacht...
keinen Schutz gebraucht für die Frau. Feig war man... nicht wahr?"
Stählin schwieg. Der andere saß vor ihm und las ihm mit seinen bissigen Augen alles vom Gesicht herunter. Ach, war der Bauch nur zugeblieben, dachte Stählin.
„Ich bin kein Moralist, lieber Herr Stadtverordneter", hörte er plötzlich den Doktor Wachtel, „und ich glaube Ihnen, dass so ein Beischlaf in Brüssel gegen ähnliche Vorgänge in Deutschland seine Reize hatte. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Frau im Begriff ist, etwas verspätet auf dem Felde der Ehre zu sterben."
Stählin sprang auf. Er taumelte auf den Doktor zu. Er hielt sich am Stuhl fest. Er starrte diesen Teufel an. „Eine Operation wäre sinnlos gewesen. Es ist alles zerstört, Herr Stählin. Heulen hilft nichts. Stellen Sie jetzt dem Tod ihren Mann, wie Sie es vor Jahren der Liebe in Brüssel getan haben. Bis zum Abend ist es vorbei."
„Ich bitte Sie", schrie Stählin und grub die Hände in seinen Arm.
„Ich bin nicht der liebe Gott", sagte der Arzt, „Sie können Ihrer Frau nichts Besseres wünschen als eine rasche, schmerzlose Reise aus dieser merkwürdigen Welt."
Leise erhob er sich.
„Die Schwester ist orientiert. Ihre Frau leidet nicht. Sie können Sie besuchen. Bringen Sie ihr ein paar Blumen mit. Das freut sie vielleicht, wenn sie die Augen zumacht."
Der Arzt verließ die Weinstube. Ohne Bewegung stand Stählin unter der Uhr. Es schlug zwölf, und die Apostel traten hervor.

Henri Jockel hatte das Kontor verlassen, um zur Bank zu gehen. Es war Markttag. Die Straßen waren überfüllt. Bis weit aus dem Gebirge waren die Bauern gekommen. Fünftausend Mark trug Henri Jockel in seinem Portefeuille. Ein guter Überschuss aus dem vergangenen Sommer. Seit acht Tagen hatte er das Geld zusammen, aber er zögerte, es aus dem Kassenschrank zu nehmen. Minchen, das liebe Hamburger Schnütchen, quälte ihn seit langem, er solle es doch auch einmal mit dem Spekulieren versuchen, das ginge doch wie der Wind, und alle von den Stammgästen machten es so. Henri Jockel war ein bedächtiger Mann. Er hatte hundertvierzigtausend an Kriegsanleihe verloren, den Rest in der Inflation, und jetzt sollte plötzlich der Herrgott ein Einsehen haben mit den Deutschen! Ne, Henri Jockel traute dem Herrgott nicht. Er traute den Aktien nicht. Und mochten sich der Stählin und der Megerle und all die Geschäftsleute über den Kursen überschlagen. Er machte nicht mit. Zwar hatte er neulich den Amerikaner gefragt, aber der gute Bäuerle war zu keinem Urteil zu bewegen gewesen. „Ich bin ein Landwirt", hatte er gesagt. „Ich bin froh, dass ich von der Börse nichts höre." Der hatte es gut. Geld wie Heu, einen Hof, den er aufpäppeln konnte wie ein Kind. Zusehen konnte der. Der hatte Zeit. Der war nicht krank vor Ungeduld wie die meisten Deutschen. Henri Jockel befühlte sein Portefeuille durch den Stoff. Siebenundzwanzigtausend Mark hatte er jetzt auf der Bank. Die andern rechneten alle mit einer Null mehr. Verrückt, diese Papiere. Aber war das nicht auch Papier, was er da bei sich trug? Die ganze Welt ist aus Papier seit dem Krieg. Wenn das einmal brennt. Ach, du lieber Gott...
Als er die Bank betrat, war der Schalterraum dicht voller Menschen. Die Beamten rannten mit käsigen
Gesichtern hinter den Drahtgittern auf und ab. Aus dem Direktionszimmer hörte er Megerles Stimme. Ein Gebrüll. Henri Jockel sah sich um. Da waren viele Kunden vor ihm. Der May, der Haberland, der Fehrenbach, und das war der Herr Kommerzienrat Aschaffenburg, der eben zu Megerle ins Zimmer trat. Zum Teufel, die sahen ja aus, als seien sie krank. Der May schlotterte richtig mit den Händen. Und der Fehrenbach, aber du Vaterland, der warf sich plötzlich auf einen Stuhl und schrie: „Aus!" Henri Jockel näherte sich dem Schalter. „Ich möchte das einzahlen."
Der Beamte sah ihn entgeistert an. „Einzahlen?" „Na, warum, was ist los?"
Da kam der Haberland auf ihn zu. „Henri", sagte er, „so was von einer Pleite!"
Henri Jockel hielt sein abgezähltes Geld fest in der Hand. „Wer ist pleite?" fragte er.
„Die Börse, und die Bank darf nichts auszahlen...",schluchzte der Haberland.
„Ja, und?"
„Aber wir haben doch alle Papiere, du weißt doch. Futsch! Henri, futsch. Nur die Schulden bleiben." Da packte der Henri Jockel sein Geld, steckte es rasch wieder in die Brusttasche und grinste den Haberland an: „Also wieder einmal futsch!" Auf dem Sofa saß der May und lachte, um die Tränen zu verbergen. Der Fehrenbach war aufgestanden und brüllte: „Denen geb ich's... denen geb ich's!" Dann rannte er aus der Tür. „Für Hunderttausend Kunstseide", murmelte Haberland hinter ihm her.
Da lachte Henri Jockel. Da zog er sich voll Stolz die Krawatte zurecht. „Hab ich's nicht immer gesagt?" grinste er.
Und während die Telefone surrten, die Angestellten hinter den Schaltern wie die Offiziere einer flüchtenden Armee hin und her rannten, während die Sonne schön friedlich auf einem Südseeplakat ruhte und der Ventilator sich drehte, während drinnen Megerle schrie und Henri Jockel lachte, sagte Haberland, der Fuhrunternehmer, sehr leise und traurig in den Raum: „Aber Henri, es war doch wieder einmal eine Hoffnung gewesen!"
Henri Jockel ließ ihn reden. Plötzlich fiel ihm Stählin ein. In dem Bilz hatte nur gestanden, dass Unterleibskrebs unbedingt tödlich sei. Das ließ sich zur Not ertragen. Das war halt Gottes Wille. Aber hier, hach, jetzt hatte auch noch der Teufel den Stählin am Ohr. Er rannte auf die Straße. Er war ja gerettet. Ihm ging es gut. In Wein wird er sie anlegen, die Fünftausend. Aber der Stählin? Heilige Snia Viscosa, erbarme dich seiner.
Stählin war zuerst in dumpfes Brüten gefallen. Die Weinstube füllte sich mit Marktleuten und Bauern. Sie kannten ihn und tranken ihm zu. Als er aber sagte, seine Frau, die Friedel liege im Sterben, da wandten sie die Blicke von ihm und schwiegen. Er trank nur noch Kirsch. Schon längst war in seinem Kopf kaum mehr als ein blaues Wölkchen. Darauf schaukelten die Gedanken. Yvette und der Arzt, der Alte vor der Tür, die Doris und der Montblanc, der Wilhelm und der schicke Durchzieher, das Auto und der Reichstag. Aber seine Hand hielt das Papier.
Er legte es vor sich auf den Tisch. Er sah sie an, die lachenden Zahlen. Adieu, Friedel, dachte er. Blumen, ja ich bring sie, du reist ab, ich bleibe da, ein Schwein war ich, aber das konnte auch Generälen passieren, ich wollte ja nichts Böses, was hat er gesagt, der Hund von einem Wachtel, auf dem Feld der Ehre stürbst du, so redet ein Bolschewik, nichts ist ihnen heilig, ja, aber ich hab's getan, das ist doch unmöglich, so eine Vergeltung für eine durchsoffene Nacht, das ist doch keine Weltordnung mehr, dafür gibt es einen Gott, dafür, dass wir leiden? Er saß jetzt ganz still. Er sah auf die Uhr und zählte bis sechzig. Er freute sich wie ein Kind, wenn der Zeiger pünktlich sprang. Dann lachte er seine Aktien an. Dann beschloss er, sie zu Geld zu machen. Jetzt, da er allein war, und das Schimpfen der Friedel auf einmal aufhören sollte, war alles fürchterlich leer um ihn. Aber das Geld blieb. Ein neues Leben. Ein neues Leben ...
Er erhob sich, zahlte und ging, ein wenig schwankend, zum Ausgang. Die Bauern legten schweigend die Finger an die Mützen. In der Helle der Straße musste er tief atmen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann sah er die Blumen. Sie leuchteten in den Ständen auf dem Markt. Stähling ging zwischen die Buden und kaufte. Rosen und Nelken, Dahlien und frühe Astern, alles wahllos durcheinander. Der mächtige Arm des schweren Mannes hielt die Blumen umfasst. Er drückte sie an seine Brust. Und dann ging er, von allen mitleidig beobachtet, denn man wusste bereits sein Unglück, in eine Konditorei. Dort kaufte er zwei Stangen Nougat.
Das hatte die Friedel als Braut so gern gegessen. „Für mein Leben gern", hatte sie immer gesagt, wenn sie hineinbiss.
Stählin hatte gerade den Markt überquert, als ihn jemand an der Schulter berührte. Henri Jockel stand hinter ihm.
„Komm mit in mein Kontor", sagte er ernst und feierlich.
Stählin erschrak. „Ist sie tot?" flüsterte er. „Nein", sagte Jockel, „etwas viel Schlimmeres!" Es waren nur wenige Minuten zum „Blauen Bären". Stählin folgte dem Henri Jockel, aber die Blumen hielt er fest.
Als sie das Büro betraten, riegelte Jockel hinter sich ab. Umständlich nahm er einen französischen Kognak aus dem Schränkchen, goss zwei Gläschen voll, dann sagte er: „Du bist nämlich arm, lieber Stählin..."

Es war zwei Uhr nachmittags, als durch die Allee nach dem Krankenhaus ein Mietauto fuhr. Man sah in dem offenen Wagen den Restaurateur Henri Jockel und den Bäckermeister Stählin. Die Straße war menschenleer. Der Portier ließ die beiden Männer ein. Sie wurden in ein Wartezimmer geführt. Die Oberschwester kam nach wenigen Minuten. „Es ist fraglich, ob sie Sie noch erkennt", sagte sie zu Stählin. Er folgte ihr durch den weißen Gang. Er trug nur noch eine einzige Nelke. Sie fuhren im Aufzug nach oben. In dem Zimmer roch es widerlich süß. Dr. Wachtel stand neben dem Bett. Stählin trat näher. Da lag das Gesicht. Da lag sie. Da lag alles.
„Friedel", flüsterte er. Die Kranke bewegte sich nicht. Ihre Augen waren geschlossen. „Ihr Mann ist da", rief Dr. Wachtel. „Ihr Gatte", sagte die Schwester. „Ich bin's", hauchte Stählin. Die Sterbende öffnete die Augen. Sie sah die Menschen an. Starr sah sie über sie hinweg. Dann sah sie die Blume. Stählin stand ganz nahe mit der Nelke am Bett. Die Kranke versuchte sich zu erheben. Die Schwester stützte sie.
„Das da", flüsterte Elfriede Stählin und fasste die Blume.
„Mutter!" schrie der Bäckermeister Stählin und stürzte auf die Knie.

Hans war gleich nach dem Essen in den Wald gefahren. Er war froh, dass ihm Henrici die Arbeit in der Tannenschonung zugewiesen hatte. Es gab dort viel für den Winter zu richten, vor allem mussten die Gatter erneuert werden, damit bei Beginn der Jagd die flüchtenden Tiere nicht in die Baumschulen brachen. Seit Tagen schon arbeitete Hans dort oben, allein, was ihm angenehm war. Er hatte die Hacke übergeschultert und ging neben dem Karren her. In den Weinbergen hatte der Herbst begonnen. Klar war der Himmel, und der Gesang der Mädchen schwebte weithin über das Tal. Hans führte das Pferd, denn der Anstieg war schwer. Der Karren lag voll Erde und Dung. Bald hatten sie die Kuppe erreicht. Von hier aus zog sich der Weg eine Lehne entlang. Sie fuhren durch eine Wiese, wo das Grummet roch, am Waldsaum vorüber, nach Süden zu.
Die Schonung lag unweit jener sieben Bäche, die der Stadt den Namen gegeben haben. Hier hörte man die Quellen. Es war ein leises zärtliches Rieseln ins Tal hinab, wo der Fluss in leichten hellen Schleifen sich um die dunklen waldigen Hügel zog. Hans schirrte das Pferd ab. Er führte es auf einen Wiesenfleck zwischen den Bäumen. Dann hob er die Seitenwände des Karrens. Dung und Erde rollten zu Boden. Hans fasste die Schippe und streute in weitem Schwung die schwarzbraunen Krumen über die Hegung. Es war warm. Die Sonne stand schwer und voll über der Lichtung. Hans zog die Jacke aus. Er pfiff. Nachdem er den Boden der Baumschule mit dem nährenden Dung bestreut hatte, ging er in den Holzschuppen, der den Waldarbeitern als Geräteraum diente und als Schutz bei den Wettern. Hans holte Hammer und Nägel, und er begann, auf einem Schemel hockend, das Gatter zu erneuern. Vor drei Tagen hatte er sich dünne trockene Stämmchen besorgt, er hatte sie gefirnisst und gespitzt. Jetzt pflockte er sie ein und verband sie mit Stacheldraht untereinander. Laut und in eifrigem Takt scholl sein Gehämmer durch den Wald. Auf dem Wiesenfleck stand braun und unbeweglich das Pferd. In dem kleinen Stück Himmel, das hell auf Hans herniedersah, kreiste ein Weih.

Kurz nach drei Uhr am Nachmittag betrat der Bäckermeister Stählin das alte Haus in der Topfengasse. Es stand dort seit über zweihundert Jahren, ein hoher engbrüstiger Bau mit einem spitzen schiefergrauen Giebel. Drei gusseiserne Wetterfahnen,
Teufelsfratzen, drehten sich, wenn es stürmte, auf seinem Dach. Stählin ließ den ersten Gesellen rufen, der seit drei Jahren die Bäckerei führte. Sie gingen zusammen in die braune Kontorstube hinter dem Laden. Stählin hörte draußen die Klingel scheppern, er roch den Sauerteig und das Brot aus den Backstuben, er sah die ovalen Bilder seiner toten Schwiegereltern an der Wand, er sah den nussbraunen Sekretär mit der kleinen Geheimschublade, in der früher das Gold lag, und er sah den gestickten Fußschemel, den die Friedel so gern benutzt hatte, wenn sie die Rechnungen schrieb.
Der Geselle, durch Stählins derangiertes Aussehen verwirrt, fragte, was der Meister denn wünsche. „Schnaps", antwortete Stählin, „Kirsch... einen Block Papier und drei Kuverts..." Der Geselle schickte einen Lehrbuben über die Straße, öffnete eine Schublade des Sekretärs, stellte das Tintenfass mit dem Federkiel neben das Papier und dahinter die gelochte Büchse mit dem weißen Sand. Es kam der Kirsch. Sie tranken. Dann begann Stählin zu schreiben. Er schrieb in gotischer Schrift. Dreimal unterstrich er das Wort Schuld auf einer Seite. Beim letzten Wort Schuld machte er ein übergroßes Fragezeichen. „So", sagte Stählin zu dem Gesellen, „die Briefe bringen Sie heute noch an die Bank und zum Pfarrer." Dann zog er seine goldene Uhr aus der Westentasche und gab sie dem Gesellen. „Wollte Ihnen schon lange was schenken", murmelte er. Der Geselle erschrak. Stählin ließ ihn stehen. Er stieg die Treppe hinauf. Er tapste durchs Haus. Sein Schritt klang dumpf und hohl. Lange hörte der Geseile den Meister in den gebalkten Stuben. Dann sah er ihn plötzlich im Hof stehen, vor der grüngestrichenen Laube, wo sie früher die Maibowle getrunken hatten. Er sah, wie Stählin seinen Hut auf den alten zerrissenen Tisch legte, und dann war er gegangen. Durch den Hinterausgang, wo man sonst klingelte, wenn Ladenschluss war.
Stählin ging die Topfengasse hoch. Er sah die Schule, in der er vor fünfzig Jahren in den Pausen gespielt hatte, er sah das kleine bucklige Haus des Bäckermeisters Trostvogel, wo er in der Lehre war, er sah das Rathaus und in ihm den staubigen Raum des Standesamts, und er sah die Kirche des St. Andreas, wo sie getraut worden waren. Und wie er so ging, merkte er, dass die Leute ihn grüßten. Es war, wie hinter einem Schleier. Bald hatte er die Bastion erreicht. Unten sah er den Fluss, die Eisenbahn, die Weinberge, all das Zeug, dachte er. Auf einer Wiese setzte er sich nieder. Dort floss einer der sieben Bäche. Keine Wolke störte den Himmel. Stählin nahm seine Brieftasche aus dem Rock. Seine Hände zerrissen die alten Quittungen, die Briefe und auch den Pass. Er warf die Fetzen in den Bach, und schon waren sie weg. Wie rasch das vergeht... Er sah mit leeren Augen auf die Stadt. Die Häuser schwankten ein wenig, und die Kirchtürme waren verbogen. Jetzt läuteten sie. Gut. Mögen sie läuten. Gott hört es doch nicht, und wenn die Welt eine einzige klagende Glocke wäre... „Der ist taub", dachte Stählin. Es war sein letzter Gedanke. Stählin erhob sich. Er begann zu laufen. Wie ein Tier lief er in den Wald.
Oberhalb der sieben Bäche liegt ein kleines Plateau. Von ihm aus überblickt man das Tal bis zur Ebene des Rheins. Ein hölzerner Pavillon des Odenwaldvereins lädt dort zur Rast und zum Vespern aus dem Rucksack.
Stählin betrat den Pavillon. Er setzte sich an den Tisch. Aufmerksam betrachtete er die Decke. Dort lief ein guter fester Querbalken. Stählin nickte. Langsam und umständlich legte er Rock und Weste ab. Auch die Schuhe zog er aus. Dann schlich er auf den Socken an eine eingepflockte Bank und riss sie mit einem einzigen Ruck aus dem festgetretenen Boden. Er stellte sie auf den Tisch. Er kletterte auf die Bank, die unter seinem Gewicht schwankte, legte seine Hosenträger ab und knotete sie zu einer Schlinge um den Querbalken herum. Stählin steckte den Kopf in die Schlinge. Er grinste und blinzelte hinunter nach der Stadt. Weithin bis in die Ebene des Rheins blinzelte er.
Dann sagte er: „Quatsch", trat die Bank um, und ein Krachen sprengte sein Bewusstsein.

Zwei Stunden hatte Hans an dem Gatter gearbeitet. Jetzt stand er auf, trug die Geräte zusammen und verstaute sie in der Hütte. Der Wind hatte sich gedreht. Ganz nah klangen von Siebenwasser die Glocken. Hans sah auf die Uhr. Es war fünf. Er lief zu dem Pferd und schirrte es ein. Dann ging er zurück. Ob sie pünktlich ist, dachte er. In der Hütte öffnete er den Deckel einer Kiste. Vorsichtig entnahm er ihr einen großen viereckigen Behälter aus Glas. Er trug ihn ins Freie. Der Boden des Behälters war mit weißem Sand bedeckt. Auf ihm waren kleine Kunststeine zu Terrassen, Treppen, Brücken und Gewölben geschichtet. Uber dem Sand bewegten sich grüne fleischige Pflanzen, Algen und Muscheln.
Vor vierzehn Tagen hatte Irene bei Tisch von ihrem Aquarium in Baltimore erzählt, das sie dort habe zurücklassen müssen. Sie vermisse es sehr, denn nichts gefalle ihr besser als die lautlose Bewegung der Fische. Als Bäuerle sagte, er werde eines aus Heidelberg besorgen, hatte Irene den Vater gebeten, dies nicht zu tun. Solche Dinge dürfe man nicht fix und fertig kaufen. Die müsse man selbst anlegen, wie alles hier oben auf dem Gut. Hans hatte sich sofort erboten, Irene zu helfen. Er war rot geworden, als er das sagte. Und alle hatten gelacht, weil er sich genierte. Nur Irene nicht. Hans beobachtete die Pflanzen, die er vor drei Tagen hier aus den Bächen und Teichen gehoben hatte. Sie waren angewachsen und bewegten sich in der kaum sichtbaren Unruhe des Aquariums wie Träume. Wenn Irene kommt, dachte Hans, holen wir neue Pflanzen aus den Bächen, und wenn ich Glück habe, erwische ich einen Feuersalamander. Und wie er so kniete und die Lichtspiegelung und die Pflanzen in dem schwankenden Wasser besah, traf ihn plötzlich ein kleiner Tannenzapfen am Kopf. Am Gattertürchen stand Irene. Sie hatte eine Fischbüchse umgehängt. „Die hab ich mitgenommen", rief sie, „und auch ein Schippchen und ein Döschen mit Futter..."
Hans hob das Aquarium über das Gatter. Irene
nahm es und trug es zum Wagen. Hans folgte ihr mit dem Netz. Sie banden das Pferd fest, dann gingen sie durch den Buchenwald zu den sieben Bächen. Wortlos schritten sie nebeneinander her. Da der Weg holprig war, berührten sich oft ihre Arme. Hans spürte, dass Irene ihn ansah. Seit jenem Mittag im Gewächshaus war es das erste Mal, dass sie allein waren.
„Warum haben Sie eigentlich damals gesagt, ich solle
bleiben?" sagte Hans.
„War es nicht besser, dass Sie blieben?"
Sie schwiegen. Sie gingen sehr schnell. Schon fiel das Laub. Als sie den ersten Bach erreichten, kniete Hans nieder. Er schob die Ärmel in die Höhe. „Hier hat's schöne Pflanzen", sagte er, „solche, die unter Wasser blühen."
Irene kniete neben ihm. Sie sahen in das klare Gefäll. „War das ein Fisch?" rief Irene. „Nein, ein Stück Holz", brummte Hans. Er bückte sich so tief, dass sein Gesicht fast das Wasser berührte. Bis zum Grund griffen seine Arme in den Bach. „Geben Sie mir die Schippe!" Irene gab ihm die Schippe. Hans hatte eine Pflanze gefasst und grub nun im Kreis das Erdreich frei. Irene hielt ihn an der Schulter gefasst. Er spürte die Wärme ihrer Hand durch das Hemd. Er löste die Pflanze. Er hielt sie in die Höhe. Das Wasser fiel in Perlen von der fleischgrünen Verästelung. „Hier in die Büchse, und Wasser und Erde darauf..."
Hans kratzte Erde zusammen, und Irene schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Bach.
Sie erhoben sich und gingen weiter. Der Wald wurde lichter. Durch die Stämme schimmerte die Ebene. Plötzlich blieb Hans stehen. Er legte den Finger auf den Mund. Irene stand auf den Fußspitzen. Auf einem glatten Stein saß ein kleines Tier, halb Eidechse, halb Molch. Es war von tintenschwarzer Farbe. Auf seinem Rücken glänzten goldene Kringel wie kleine Monde.
Hans tat einen Sprung, und schon hatte er den Feuersalamander gepackt. Er hielt das schöne furchtsame Tier in der Hand, und Irene zählte ganz langsam die goldenen Kreise auf seiner zitternden Haut. Vorsichtig legten sie es zu den Wasserpflanzen in die Büchse. „Was Sie plötzlich für Augen hatten...", sagte Irene. Dann gingen sie weiter. Aufmerksam schritten sie die Bäche ab. Sie zogen das Netz durchs Wasser. Sie fingen kleine kuriose Fische mit Bärten und mit Stacheln auf dem Rücken. Sie jagten eine merkwürdig getupfte Spinne, die über das Wasser lief, ohne zu schwimmen. Und in dem letzten der sieben Bäche gelang es Hans, mit der Hand unter einem Stein eine Forelle zu fassen. Er hieb sie ins Gras und tötete sie mit dem Messer. Auf der Bastion setzten sie sich auf die Stufen des Pavillons. Vor ihnen im Tal lag die schiefergraue Stadt, von einer emsigen Unruhe erfüllt. Die beiden jungen Menschen schwiegen. Zwischen ihnen lagen ihre Hände wie Schwerter.

So sprach Irenens Herz: „Ich habe geträumt, Hans, dass du mir gut bist. Damals schon, als ich dich sah auf der Straße, an dem Auto, und wir zusammen
das Silbenrätsel lösten, da träumte ich es. Und noch viel früher, in Baltimore, vor dem Bild des Knaben im Märchenwald, da träumte ich es auch schon. Und als du zu uns kamst und ich dich floh und ich dich bat und ich glücklich war, dass du bliebst, da wusste ich es, dass du es bist, der Jüngling aus dem Märchenwald. Ich weiß nicht, sie sagen heute, es sei dumm zu träumen, und es sei eine moderne Zeit, sagen sie, und die Liebe, Hans, das käme und ginge wie das Wetter. Ach, es kommt und geht nicht wie das Wetter. Und es ist ja einerlei, wie die Zeit ist, und ich will ja nichts weiter, als es dir sagen, dass ich dich lieb habe. Und das Aquarium, das war auch nur so eine Erfindung von mir. Was liegt mir an den Fischen! Und auch an den Heidelberger Festspielen liegt mir nichts, und auch an dem Gut liegt mir nichts, und an Deutschland und an der Welt, das ist mir ganz einerlei, Hans, da liegt mir gar nichts daran. Aber an dir... das ist es. An dir, an deinen Augen, deinen Händen, deinem Kopf und an deinen Beinen, an deinem Lachen, an deinem Gehen und Wiederkommen, und wo du hinsiehst und wo du wegsiehst, und wann du redest und wann du schweigst... alles, was an dir ist, das hat mich, und sie mögen lachen und es albern schelten. Ich will albern sein. Aber du sollst bei mir bleiben..."
Und so antwortete das Herz von Hans: „Ich will ja gar nicht das, was ich tue. Ich will ja gar nicht weg, und ich will ja gar nicht sterben für Deutschland. Und ich liebe ihn ja nicht, und ich werde ja nur so immer dahingeweht. Und ich bin ja gar nicht so stark, und ich will ja gar kein Held sein, sondern bei dir... Und wenn ich dich sehe, da will ich alles haben. Alles, was du bist, will ich haben. Sonst nichts. Da hört ja die Welt auf. Und meine Mutter, das ist ja nichts, und der Führer, ach Irene. Und das Vaterland, ach Irene. Und der Ruhm und die Ehre, ach Irene. Das ist alles in dir. Was die andern sagen, es kümmert mich ja nicht. Ich hör ja nur dich. Mögen sie lachen. Ich hör ja nur dich... Und die Autos und der Zeppelin, und die Flieger und der Sieg, und er und seine Schwüre, ach Irene, ich seh ja nur dich... Und ich seh auch die Häuser nicht da vorne, die Türme nicht, und auch den Fluss seh ich nicht, das sind ja alles nur Schatten, das ist ja alles nur eine Flucht, ein Weglaufen mit dem Auge vor dir, mit dem Verstand vor dir, mit der Angst vor dir, Irene, so ist es..."
„Ob der Feuersalamander noch da ist?" fragte Irene. Hans bückte sich und schob die Pflanzen in dem Gefäß zur Seite. „Hier sitzt er!" Dicht an ihn gedrängt betrachtete Irene das Tier. „Ob er wohl Angst hat?"
„Sicher, es ist keine Kleinigkeit, unter die Menschen zu geraten..."
Da schrie Irene auf. Ihre Hand zeigte nach vorn. Ihr Kopf warf sich zurück. Sie riss Hans an der Schulter. „Dort", schrie sie, „sieh doch, dort!" Hans sah. An der Decke des Pavillons hing ein Mann. Er schwebte am Querbalken grinsend wie ein Clown. Hans warf die Büchse auf den Boden, das Wasser floss aus, die Pflanzen lagen zerstreut auf der Erde, der Feuersalamander watschelte rasch davon. Hans rannte zum Pavillon.
Irene folgte ihm. Es war ihr, als sei er in großer Gefahr.
Als sie den Pavillon betrat, sah sie Hans auf dem Tisch stehen und den schwebenden Mann mit den Armen umschlingen. „Hans", schrie sie.
„So fass doch an", antwortete er, „hier an den Beinen!"
Sie fasste an, aber sie sah nichts. Sie fühlte nur etwas Schweres herniedersinken, dann legte es sich. Ihre Hände streiften die Erde.
„Nimm diesen Arm!" Sie nahm einen Arm. „Los, wie ich sage..." Und schon zählte er. „Eins, zwei drei... eins, zwei drei..." Mechanisch bewegte sie den Arm.
„Hans", flüsterte sie, „ach du..."
„Eins, zwei, drei... eins, zwei, drei... Lass..."
Sie öffnete die Augen. Es war auf einmal still. „Der ist hin", sagte Hans. „Das war der Bäckermeister Stählin."
Irene sah die Leiche. Über die Zunge war das Gebiss gerutscht. Die Adern des Halses waren gedunsen, und das Hemd über der Brust war gesprengt. Da war plötzlich eine furchtbare Angst in ihr, ein wortloses Aufschreien riss sie hoch, sie sprang über den Toten, sie fasste Hans um die Schulter, zitternd tasteten ihre Hände an ihm herunter, den Rücken hinab und wieder hinauf bis zum Nacken, waren das Küsse, waren das Tränen, sie wusste es selbst nicht... sie spürte nur, dass er sie festhielt. Lange standen sie so, bis sie sich lösten. Der Tote lag im Schein der westlichen Sonne. Von Siebenwasser her läutete es zu Abend. Über das Tal spann sich in weichen Streifen der erste Nebel.

Lange hatten sie überlegt, was sie tun sollten. Erst plante Hans, nach Siebenwaser zu laufen und die Polizei zu holen. Aber das wäre ein Abmarsch von einer Stunde gewesen. Und die Leiche einfach so hier liegen lassen, das ging nicht an. So beschlossen sie, den toten Stählin auf das Gut zu bringen. Kaum zehn Minuten waren es zum Wagen. Sie empfanden keine Scheu, die Leiche zu heben. Sie trugen sie durch den Wald. Es dunkelte schon, als sie den Wagen erreichten. Sie legten den Toten auf Erde, die Hans mit der Schippe von einem Beet herunternahm. Dann warfen sie eine Zeltbahn über ihn, die sie im Schuppen fanden.
Hans nahm die Leine, und das Pferdchen trabte. Hell stieg der Mond über die Wiese. Sternschnuppen fielen im Osten. Das Grummet duftete, und der Nebel quoll aus dem Tal.
Als sie in Weißenfels einfuhren, sahen sie zwei Gendarmen, die gekommen waren, um den Wald abzusuchen. Sie trugen die Leiche in die Maschinenhalle. Bäuerle und Schrader bahrten sie auf. Hinter ihnen stand der Bankdirektor Megerle. Er hielt einen Brief. „Offener Selbstmord", sagte er, „er hat ihn mir vorher genau avisiert." Die Gendarmen verfassten ein Protokoll. Hans unterschrieb es mit Irene zusammen.
Dann gingen sie ins Haus.
Niemand sah. dass sie sich an den Händen führten. So groß war die Nacht.

 
Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur