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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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7. Kapitel

Ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr der Unruhe, der ansteigenden Krise, der wachsenden Ratlosigkeit. In Siebenwasser liegen viele Fabriken still. Nur bei Weber wird noch gearbeitet. Drei Tage in der Woche. In den Büros der Banken, der Rechtsanwälte und der kaufmännischen Betriebe ist die Zahl der Angestellten bis zur Hälfte gekürzt. Wer nicht bereit ist, bei vermindertem Gehalt zehn oder mehr Stunden zu arbeiten, kann gehen. Hunderte warten auf des einen Platz. Es war anders als in der Inflation. Nicht das Geld, sondern der Mensch wurde entwertet.
Nach der Septemberwahl lebte Kalahne in dem Zustand eines kalten Triumphs. Der Durchbruch der neuen Bewegung war mit einer Vehemenz geschehen, die bis in die höchsten Parteikreise überrascht hatte. Seine These von der Eroberung der Macht auf legalem Weg war glänzend gerechtfertigt. Kalahne hatte sich in jener Nacht, als noch das Brausen des Siegs über der Stadt lag, sofort in seine Wohnung zurückgezogen und sie erst drei Tage später verlassen.
Allein, ohne Dern und Hungrich, die als Sieger des Tags bejubelt in Mutter Dörings Weinstube saßen, hatte er den Plan für den weiteren Vormarsch ausgearbeitet. Der „Alarm" erschien ab 1. Oktober täglich. In einem Kasten neben dem Titel stand als Motto: Gegen den jüdischen Kapitalismus! Für den deutschen Sozialismus! Das Bild Jürgen Winklers, den sie ohne Geistlichen beerdigt hatten, befand sich auf der ersten Seite. „Er starb für dich, deutscher Arbeiter." Kalahne hatte einige Geschichten geschrieben, die in naiver Form Jürgens Leben erzählten. Raubeinige Legenden mit rührseligen Untertönen. Nach langem Grübeln war ihm ein Wort eingefallen, das als Vermächtnis des Toten gelten konnte: „Arbeiten und sein Vaterland lieben, das ist deutscher Sozialismus!" Zum Glück war es ihm gelungen, diese suspekte Maria aus Siebenwasser wegzuschaffen. Sie hatte zwar geheult, sie wolle bei Jürgen bleiben, der doch so allein auf dem Friedhof liege, aber Kalahne verstand keinen Spaß. Dreimal schon war sie von der Staatsanwaltschaft vernommen worden, und sie hatte das eisige Misstrauen gespürt, das man ihr entgegenbrachte. Kalahne hatte sie aus dem Verfahren gegen den Staubsaugerjakob herausgehalten. Jetzt verlangte der Doktor den Preis. Maria verschwand ohne Aufsehen aus Siebenwasser, kaufte sich mit Hilfe ihres Sparkassenbuchs einen Zigarrenladen in einem Städtchen am Main, ließ Jürgens Bild vergrößern und hängte es so in der Stube auf, dass sie immer die geliebten Augen sah, beim Einschlafen und beim Erwachen.
Die Propagandawelle, die Kalahne sofort nach der Wahl entfachte, beschränkte sich nicht nur auf Versammlungen. Er schuf das System der Blockwarte, dergestalt, dass er in jedem Häuserblock einen zuverlässigen Parteigenossen ausfindig machte und alle zusammen in einer Organisation vereinigte, die völlig nach seinen Parolen zu arbeiten hatte. Neben der positiven Propaganda in Gesprächen, durch Verteilen von Schriften, durch Gründung von Zellen, oblag ihr auch die Überwachung der einzelnen Familien, die Verbreitung von Gerüchten, die dem Staat und den herrschenden Parteien schädlich waren, und vor allem die Kontrolle politischer Gegner bis in ihr Privatleben hinein. Portiersinstinkte und Abenteuerlust vereinigten sich zu einer unsichtbaren Waffe, mit deren Hilfe Kalahne immer mehr das gesellschaftliche Leben der Stadt zu beherrschen begann, vorläufig noch unsichtbar, aber er knüpfte das Netz von Tag zu Tag enger. Dieser Verächter und Hasser des bürgerlichen Individualismus pries den Septembersieg als die Tat eines einzigen Mannes. Mit hymnischen Worten stellte er das Bild Adolf Hitlers gegen die anonyme Vielfalt der Parteien, die Einzelpersönlichkeit gegen den mechanischen bürokratischen Apparat. Er wusste, dass der Mensch in Zeiten der Not den Retter sehen will. Fleisch und Blut musste er haben, greifbar musste er sein — keine Institution, kein Gremium nachdenklicher Köpfe, sondern ein Mann, aufgerichtet vor allem Volk. Das tat Kalahne. Damit trieb er die Bewegung vorwärts, durch dieses einzige Wort: „Glaubt an ihn!" In vielen Variationen, oft schon ins Mythische gesteigert, bot Kalahne den Massen das Bild. Zuerst war es der
Unbekannte Soldat, der in Deutschland auferstanden war, dann verschmolz er mit Sankt Georg, der auszieht, den Drachen zu töten, während die alten Ratsherren berieten, ob es nicht besser sei, mit dem Drachen zu verhandeln. Aus dem Ritter wuchs Christopherus, der das arme Kind Deutschland durch das Blutmeer der Not trägt. Aus Christopherus stieg ernst und gütig Meister Eckehart, endlich erlöst aus den Sagen und Märchen — Eckehart, der Getreue, der Retter des Volks. Der christlich-germanische Mythos wurde aufgerufen, und seine Kraft erwies sich stärker als zwanzig Parteiprogramme.
„Wir fangen die Geschichte wieder von vorne an!" schrieb Kalahne im „Alarm", „seit der Stauferzeit ist das deutsche Volk auf einem Irrweg. Das Blut der Besten floss umsonst. Jetzt schreit dieses Blut durch die Jahrhunderte hindurch: Baue das Reich! Rette dein Volk!"
Ein dunkler Hauch traf die Seelen. Grab um Grab riss Kalahne auf. Heinrich der Löwe, Meister Eckehart, Thomas Münzer, Ulrich von Hutten — in jedem Grab lag ein verratener deutscher Held. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kapitalismus, Börsenkrach — alles schob sich ins Mythische, wurde uralte Verschwörung. Fenriswolf wurde der Jude. Der Papst hieß die babylonische Hure. Und Frankreich. Hort des Marxismus und der Freimaurerei, war nicht mehr wie einst bei den Alldeutschen der über das Grab hinaus hassende Richelieu — es leuchtete in allen Farben eines afrikanischen Götzenbildes, und wie es das nordische Blut der Hugenotten ehemals verraten hatte, so holte es jetzt zum letzten Schlag aus, um die germanische Rasse in Europa zu brechen.
Obwohl Kalahne bewusst den Rausch beschwor, verlor er nicht die klare Linie seiner Methode. Das Predigen des Judenhasses überließ er Dern. Er selbst schuf das Bild von Sankt Georg, das Mal des Drachentöters. Er hielt die Fackel, während der Postsekretär die Geißel schwang. So mischten sie brodelndes Dunkel und gleißendes Licht zu einer Ekstase, vor der die verstandesgebundenen Argumente ihrer Gegner notwendigerweise versagten. Als in einer Versammlung ein sozialdemokratischer Stadtverordneter den Doktor ironisch fragte, ob er ihm die merkwürdigen Widersprüche des Parteiprogramms begreiflich machen könne, da hatte Kalahne mit flammenden Augen gerufen: „Der neue Mensch stirbt nicht für ein Programm, das er begreift. Er stirbt für einen Glauben, den er liebt." Der Stadtrat hatte laut gelacht. Aber Kalahne kannte die Deutschen besser. Er wusste, dass der Mythos in diesem Land immer den Verstand besiegt hatte, und sein Wort, herausfordernd für jeden Intellektuellen, für jeden Menschen des bon sens, brannte sich in die Herzen der Jugend. Denn es schien dieser arbeitslosen Generation besser, zu glauben und zu sterben, als zu leben und zu verzweifeln. So war im Lauf eines einzigen Jahres die Atmosphäre in Siebenwasser durchsetzt von Rausch, Traum und Hass. Die Realitäten zerfielen. Die Wirtschaftskrise wurde apokalyptisch überschattet. Sie erweiterte sich zur Existenzkrise des deutschen Menschen, wie ihn fünf Jahrhunderte geformt. Das Unheimliche, ja, das Erstaunliche jedoch war, dass sich die Leiter dieser Bewegung nicht im Rausch verloren. Dass die Schwarmgeister es verstanden, politisch kalt und scharfäugig zu bleiben. Dass sie bei aller Trunkenheit eine eisige Nüchternheit bewahrten. Besessene mit der Kühle von Ingenieuren... oder machtkalte Preußen, die wie Derwische tanzen, bis nicht sie, sondern das Volk umfällt? fragte sich Bäuerle.
Er war nach dem politischen Vulkanausbruch im September nach Nauheim gefahren, um die Bäder zu gebrauchen. Vier Wochen hatte er jenseits der Ereignisse gelebt. Als er nach Weißenfels zurückkam, schwieg er. Seine Gefühle, seine Vorstellungen, seine Liebe zu Deutschland waren in ein schmerzliches Schwanken geraten. Mit traurigem Lächeln hörte er Schraders Beschwichtigungsversuche. Er winkte nur ab, wenn er das Wort Vernunft hörte. Wie hohl das plötzlich in Deutschland klang. Als riefe einer in einem Labyrinth: Ausgang vorne! Nein, es war besser, man schwieg. Es war besser, man blieb allein. Als jedoch Schrader als letztes Argument anführte, das Ausland werde die Regierung dieses Mannes niemals dulden, da war Bäuerle aufgesprungen. Gebrüllt hatte er, dass der Wein in den Gläsern schaukelte und Irene herbeilief.
„So", hatte er geschrien, „so... das Ausland... Und ihr? Habt ihr denn gar nichts Eignes mehr, ihr Freiheitshelden, ihr?"
Lange, nachdem Schrader gegangen war, saß er noch bleich auf dem Stuhl. Es wurde ihm schmerzlich deutlich, dass dieses Deutschland der Demokratie ein Verlegenheitsprodukt aus den Friedensverträgen war, und nicht, wie er geträumt hatte, die Erfüllung einer geschichtlichen Sendung. Sie wollen nicht, denkt Bäuerle, wenn er den „Alarm" liest, den Gesang der SA. hört und das wachsende Rauschen der Bewegung durch die Dörfer und Städte vernimmt. Sie wollen einfach nicht. Bäuerle war Amerikaner genug, um nüchtern zu denken. Die Widerstände, die sich in den Zeitungen, bei den Intellektuellen, ja auch in den Versammlungen der Arbeiter erhoben, täuschten ihn nicht. Wie schwunglos war das alles im Grunde. Wie zerspalten in Interessen, durch Rücksichten gelähmt, nur durch die Abwehr mühsam zusammengehalten. Nein, das trug alles den Schimmel der Verlegenheit. Selbst in den Propagandamethoden hinkten sie diesem genialischen Kalahne nach. Dieser schmale, blasse Mann, kaum über Dreißig, vernachlässigt durch die Natur, brannte in einer Leidenschaft, die nicht gespielt sein konnte. Hier war der absolute Wille zur Macht. Was half es den Sozialisten, wenn sie Marx zitierten, Widersprüche festnagelten, mit der Logik operierten. Vor Sankt Georg, vor Meister Eckehart versank dieser gescheite Marx zu Asche. Gegen einen Traum hilft keine Logik ... Nein, ich bin doch nicht blind. Und wenn diese Jugend, dieser Aufstand gegen meine Welt, diese blonde, blauäugige Lästerung meiner Gesetze auch über mich hinwegschreitet, soll ich dann sagen, sie sei keine Realität, das ginge vorüber, das Ausland dulde so etwas nicht? Johann Kaspar rast gegen dieses Wort vom Ausland. Das ist also eure
Demokratie, eine Präambel von Versailles. Ein Angstzustand des geschlagenen Bürgers. Angeekelt sitzt er auf Weißenfels. Bitter schmeckt das Brot, und der Wein im Becher wird schal.

Irene war die Veränderung des Vaters nach der Nauheimer Reise nicht entgangen. Es schien ihr, als sei er jäh aus einem Traum aufgewacht und grüble immer noch über ihn nach. Er arbeitete bis spät in den Abend, und wenn es Nacht wurde, hörte sie ihn oft durch das Haus gehen, als suche er etwas. Nur noch undeutlich entsann sie sich seines Gesichts während des Krieges in Baltimore. Aber ähnlich musste es wohl gewesen sein in jenen Tagen. Viele Bücher fand sie auf seinem Schreibtisch. Bücher mit Hakenkreuzen, Bücher mit Sichel und Hammer, ein Schlachtfeld von Büchern. Als sie eines Morgens den „Mythos des 20. Jahrhunderts" halb verkohlt im Kamin fand und ihn später in ihrem Zimmer, so gut es ging, reinigte, entdeckte sie auf der ersten Seite einen Satz in Vaters Schrift. „Nein", stand dort, „nein, und nochmals nein!"
Sie schwieg, aber sie erschrak dennoch, als sie am gleichen Tag an der dunkel getäfelten Wand im Esszimmer, wo die Familienbilder hingen, unter der verblassten Photographie, die den Urgroßvater darstellte, ein Schild entdeckte: „Friedrich Konrad Bäuerle, in Rastatt erschossen, 1848, von den Preußen — sein Opfer war umsonst." Besorgt hatte sie Hans gefragt, wer das eigentlich sei, die Preußen. Hans hatte gelacht. „Sie wohnen im Norden, wo kein Wein wächst. Manchmal ziehen sie nach Süden, um Wein zu holen. Dann gibt es Krieg." Zornig war Irene von der Wiese gegangen, wo Hans gerade im Heu saß und vesperte. Der foppte sie auch noch. Aber sie sagte nicht, was sie bedrückte.
Drei Tage später räumte sie Bäuerles Papierkorb aus. Sie fand viele zerrissene Bogen im Strohgeflecht. Begonnene Briefe waren es, Briefe an Freund Baker in Baltimore. Mit der Geduld ihrer weiblichen Neugierde setzte sie die Fetzen zusammen. Die Bogen waren kaum zur Hälfte beschrieben, aber immer wieder konnte Irene den Satz lesen: „... und so frage ich mich oft, lieber Baker, gehöre ich noch zu diesem Volk oder bin ich wieder heimatlos geworden?" Irene hatte die Zettel verbrannt. Aber immer, wenn sie den Vater über das Feld gehen sah, war es ihr, als hinke diese Frage neben ihm her.

Hans steht im Garten. Er gräbt. Scharf sticht der Spaten in den schweren Grund. Es ist gesunder, schwarzer Boden, den das Eisen umwirft. Hans ist froh. Die Arbeit eilt nicht, und er hat so richtig Zeit, vor sich hinzudenken. Langsam setzt er Scholle neben Scholle. Wie glatt der Spaten in die Erde greift! Vor zwei Jahren noch konnte er kein Gartenbeet umlegen, ohne blutige Schwielen an die Handflächen zu bekommen. Heute geht das aus den Armen, als wäre das Werkzeug ein Stück von ihm selbst. Ja, er war sicher. Es war alles ruhig und ordentlich in ihm. Irene, das ist schon kein Traum mehr. Das webt in ihm. Das bewegt sich in ihm. Das ist wie das Blut. Das lebt. Davon redet man nicht.
Hans lacht. Er denkt an die Angst in jener Nacht, als er vor Gerhard zu Irene floh. Er kann es gar nicht mehr begreifen, dass er so zittern konnte, jetzt, da er hier steht, auf seinen hohen, harten Beinen, und gräbt.
Nach Jürgens Beerdigung hatte er Gerhard getroffen. Sie waren flussaufwärts gegangen, bis zur Schleuse, wo der Weg nach Weißenfels abbiegt. Dort hatten sie sich in einem roten Steinbruch auf eine alte Kipplore gesetzt, neben einem Wellblechhäuschen, das eingestürzt war. Sie hatten geraucht und auf den Fluss gesehen, und zuerst schien es, als würde dieses Ende endlos sein.
Aber dann hatte Hans die Wahrheit gesagt, ganz einfach die Wahrheit, und es waren nicht viele Worte gewesen, weil es die Wahrheit war. Der Offizier hatte geschwiegen, und als Hans ihn fragte, ob er ihn für einen Verräter halte, da hat er den Kopf geschüttelt und gar nicht gesprochen. Später waren sie nach Weißenfels hinaufgestiegen, zwischen den Reben hindurch, da standen überall die Bottiche mit Trauben, und Hans hatte gemeint, ob es so schlimm wäre, wenn er ein Mädchen liebe und ein Bauer geworden sei. Jawohl, ein ganz simpler Bauer. Und wenn Gerhard ihn verdamme, so habe er ihn halt überschätzt. Er sei nur ein einfacher Mensch. Das habe er jetzt endlich heraus. Der Offizier war gut und freundlich gewesen. Er hatte von dem siegreichen Aufstieg der Bewegung erzählt, und wie herrlich der Führer sei, aber immer wieder hatte Hans von den Äckern begonnen, wie schwer das alles sei mit den Steinen, mit dem Unkraut, und wie das alles zerfallen hier war, sogar der Wald und die Rebberge. Nein, er war nicht davon losgekommen. Das war in ihm drinnen, dieses Gut Weißenfels mit seinen Sorgen und Ernten. Und er war kein Kämpfer mehr, er freute sich viel zu viel an dem, was wuchs und gedieh, schrecklich war das, aber es war die Wahrheit.
Und plötzlich hatte Gerhard gelacht. Sie sind ins Dorf gegangen. In der Wirtschaft haben sie Wein getrunken, und Brot und Käse haben sie gegessen, und es war ein goldbrauner Abend gewesen, im Herbst, mit einem bisschen Dunst am Waldrand. Als sie nach Siebenwasser zurückgingen, hatten sie zweistimmig gepfiffen, und Gerhard, der eine schwarze Uniform trug, hatte mit dem Fuß Steine vor sich hergeschnickt — so froh waren sie. Woher das kam? Ei, das kam nur von der Wahrheit. Auf dem Bahnsteig jedoch war der Offizier ernst geworden. Er hatte Hans unter den Arm gefasst. Wie früher gingen sie daher unter dem Licht und zwischen den vielen Leuten. Gerhard sprach kein Wort. Nur den Arm hielt er ihm fest, als wolle er ihn nie mehr loslassen. Dann aber war der Zug gekommen, der Offizier war eingestiegen, aus dem Fenster hat er lange auf Hans gesehen, und als die Waggons anrollten, da hatte er sich tief heruntergebückt. „Ich beneide dich", hat er leise gerufen, und dann war nur noch weißer Rauch da und in ihm ein rotes schwankendes Licht.
So war es vorübergegangen, ein wenig traurig und dunkel, aber jetzt grabe ich, denkt Hans. Was soll ich sonst tun als graben und stille sein? Nein, er ist
kein Verräter. Gerhard hat es gesagt. Er ist nur ein einfacher Mensch, doch das hat er früher nicht gewusst. Da wollte er immer über sich hinaus. Da wollte er immer verbrennen. Aber jetzt lebt er in Irene. Jetzt brennt er nicht mehr. Nein, das ist kein Feuer — jetzt ist Wärme in ihm. Rasch wirft Hans die Erde um. Er sticht eine Furche grade. Er durchhaut eine Wurzel. Das Eisen trifft einen Stein und knirscht.
Ich beneide dich... Ich beneide dich... Das geht ihm nicht aus dem Ohr. Seit einem Jahr hört er es, wenn er bei Irene ist, wenn er neben den schwankenden Erntewagen hergeht, wenn die Kartoffeln in die Keller rollen und die Milch süß im Glas steht. Und wenn sie die Traubenpresse füllen und der Saft grün in die hölzernen Bottiche fließt, dann hört er es auch.
Hans gräbt und gräbt. Und während er die Schollen wendet und der Geruch des satten Lehms ihm in die Nase steigt, während vom Dorf her die Vesperglocke tönt und durch das breite Tor ein hoher Wagen mit Grummet schwankt, fällt ihm jenes Wort Gerhard Trägers ein, das er ihm vor zwei Jahren nach Hanau geschrieben hatte: „Wir waren Kinder, und dann wurden wir Soldaten." Das ist es, denkt Hans, ihr habt nie wirklich gelebt! Er stößt den Spaten in den Boden. Schweiß läuft ihm über die Augen. Über den Hof kommt Irene und trägt eine dunkle, schwere Traube in der Hand.

Es ist ein wunderbar weicher und milder Herbst in diesem Jahr. Längst ist die Weinlese zu Ende, schon gärt der Most und zischt bleigrau im Fass, aber immer noch liegt die Sonne schwer und warm über den Wäldern.
Johann Kaspar hatte das Fest auf den fünfzehnten Oktober angesetzt. Auf der Wiese ließ er ein großes Zelt bauen mit einem Bretterpodium für den Tanz. Tische und Bänke wurden in den Boden gepflockt. Zwei Halbstückfässer Wein lagen stichfertig auf einem Wagen. Und die Bratstelle für den Ochsen war nach altem Brauch ordentlich hergerichtet. In der Bäckerei schichteten sich die Brote zu kleinen, braunen Bergen. Körbe voll Tellern, Gläsern und Bestecken kamen aus Siebenwasser herauf. Das klapperte und schwirrte durch das Tal, als wolle der liebe Gott Hochzeit halten.
Zusammen mit Henrici ging Johann Kaspar über die Wiese. Sie zählten die Tische und die Stühle. Sie berechneten die notwendige Menge des Geschirrs. Sie besprachen sich mit den Zapfmeistern und ließen die Musikkapelle am Tage vorher eine Stunde lang zur Probe spielen.
Was war mit Bäuerle geschehen? Niemand sah den Grund für diesen plötzlichen Ausbruch von Freude. Über Nacht war der Mann wie ausgewechselt. Auch Irene begriff den Wechsel der Stimmung nicht. Dass Weißenfels zum ersten mal seit der Ursel Fabricius wieder eine richtige Weinernte hatte, erklärte nicht diesen Aufwand an Arbeit und Geld. Auch Henrici brummte. „Dreitausend kostet uns mindestens der Spaß", brummte er und schüttelte den Kopf. Bäuerle jedoch antwortete nur: „Und wenn er fünftausend kostet", dann fuhr er mit Hans an den Waldrand
und holte kleine Birkenstämme, die sie zwischen die Tische und vor das Tor in den Boden steckten. Hell und klar kam der Tag. Um die Fenster und Giebel hängen die Girlanden. Über dem taubenweißen Zelt flattert die schwarzrote Fahne. Im Stall fällt der Ochse, und die Kinder des Dorfs tollen schon auf dem Spielplatz neben der Wiese. Still sieht Bäuerle in das weiche Licht. Durch den fernen Staub der Straße blitzen die Instrumente der anfahrenden Musikanten. In den Kellern rumort der Wein, und der Duft frischgebackenen Brotes erfüllt Zimmer und Hof. Johann Kaspar atmet tief. Ganz nah ist sie ihm jetzt, die Heimat, er hat sie gerufen, für diesen einen Tag will er alles vergessen, nur dieses Licht will er sehen, diesen Wein will er schmecken, und er will, dass alle, die um ihn sind, teilnehmen an der Freude, die er erzwingt. Ja, er erzwingt sie. Er hat das Zelt gebaut, er hat die Musik bestellt, er hat den Ochsen geopfert, er hat die Menschen aus Siebenwasser gerufen und die Bauern von Weißenfels. Sie sollen tanzen und trinken, die Nacht hindurch. Ohne Hass. Ohne Not. Zwölf Stunden lang. Bäuerle lächelt. Er weiß, dass das eine Utopie ist, eine Marotte, eine amerikanische. Und die dreitausend Mark wehen morgen durch den Kamin, pfff, wie ein Strohfeuer. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, dieses Fest. Er will diesen Salut, bevor der Winter kommt. Es wird ein langer Winter werden. Langsam geht er die Stiegen hinab. Er freut sich an den Girlanden, an den wehenden Fahnen, an der Schönheit des herbstlichen Augenblicks. Tschimmbumm... Tschimmbumm... Ich... schieß
... den Hirsch... im wilden... Forst... im... hm.. hm... hm... das Reh... tatü... tata... tata... tatü... tata... tatü... tataaa... und dennoch... hab ich haarter Maaann... die Liebe auch gespüürt... Rummschrumm... so siehste aus... Rummschrumm... so siehste aus... Rummschrumm...
Im Hof steht die Musik. Wie Gewehre setzen die
Bläser die Instrumente ab.
„Kaffee!" ruft Fräulein Degerloch, „Kaffee!"
Da laufen schon die Mägde mit den Kannen herbei, und die Männer gehen lachend in die ausgeräumte Scheune.
Es ist fünf Uhr. Auf der Wiese vor dem Zelt drängen sich die ersten Besucher aus Siebenwasser. In geschlossener Ordnung ist der Odenwaldverein heraufmarschiert. Er besetzt die linke Seite des Zelts. Die Männer tragen Touristenstöcke aus Eichenholz und an dem linken Revers eine Plakette. Ihre Damen, wie sie ihre Frauen nennen, haben für alle Fälle Beutel voll belegter Brote mitgebracht. Man weiß ja nie, wie es klappt mit der Organisation auf so einem Fest. Da jachtern zwei Erntewagen heran. Bauernburschen vom Dorf Weißenfels mit ihren Mädchen. Bänder flattern im Wind, rote und grüne. Dumpf klingen die Hupen der Autos, mit denen Schrader und die Spitzen der städtischen Behörden die Serpentinen hochfahren. Hinter ihnen her kommt Kommerzienrat Aschaffenburg in seinem Steyrkabriolett. Und über die Hänge der Hügel, da kommen sie in Scharen. Bauern aus den nahen Dörfern. Arbeiter aus Siebenwasser, Beamte, Angestellte.
„Guck doch", sagt Kilian Kern oben am Waldrand zu seiner Frau, „wir brauchen uns gar nicht zu genieren. Es sind viele Menschen da." Als sie das Zelt betreten, werden die Stückfässer angeschlagen, und der Duft des bratenden Ochsen vermischt sich mit der herbstlichen Luft. Vom Herrenhaus zieht mit klingendem Spiel die Musik ein, hinter ihr wiegen sich, zu Ketten eingehakt, in bunten, hellen Trachten, die Mädchen. In hohen, schwarzen Stiefeln, Lederhosen, dunkelblauen Joppen mit goldenen Knöpfen und steifen Hüten kommen die Knechte, und zwischen ihnen, im Arbeitsanzug, ein rot und gelb gemustertes Taschentuch um den Hals, marschiert Johann Kaspar Bäuerle, lachend und singend, ein fröhlicher Mann. Unter lauten Zurufen erreicht der Zug das Tanzpodium, und während der Wein in hölzernen Krügen über die Tische verteilt wird, steht Johann Kaspar unter den bunten Tüchern und den goldbraunen Girlanden auf der Bühne und nimmt aus der Hand der jüngsten Magd den mit Weinlaub bekränzten Humpen. Ein Tusch. Mit fester Hand hebt Johann Kaspar den großen Pokal. Die Sonne trifft das hellgeschliffene Glas. „Gott zum Dank! Den Menschen zur Freude! Und den Reben ein ewiges Leben!" Groß und breit steht der Mann vor dem sinkenden Tag. Mit beiden Händen setzt er den Pokal an den Mund, und während er trinkt, erhebt sich das ganze Zelt, und das Blut der Hügel fließt in die Kehlen.

Es ist Nacht geworden. Eine blaue, wolkenlose Nacht. Von der Wiese her schmettert die Musik. Das
Lachen der Tanzenden, das Gegröl der ersten Betrunkenen, das Aufkreischen der Weiber und dazwischen die weiche Melodie eines Walzers — der Wind trägt es über das Feld und verweht es in den schweigenden, unendlichen Raum. Hans und Irene gehen den Weg hinter dem Pumpwerk empor. Es ist ihnen gleichgültig, wohin sie gehen. Sie wollen nur weg aus dem Lärm, aus dem immer dicker werdenden Dunst des Festes. Sie brauchen nicht zu tanzen, um die Einheit ihrer Herzen zu spüren. Irene ist es schwindlig geworden, vorhin bei dem Walzer. Sie ist den Wein nicht gewohnt und die vielen lustigen Menschen. Warum Vater auch nur dieses Fest gab?
Jetzt sitzt er mitten zwischen den Bauern und trinkt und würfelt mit ihnen. Dann springt er wieder auf und tanzt mit einem Mädchen, ganz außer Atem ist er, und er lacht, als wäre er eingeladen von den vielen Leuten, die gekommen sind. Irene bleibt stehen. Sie hat den Kopf an Hans gelegt, und sie spürt seinen Atem warm über ihrem Haar.
Lange stehen sie so. Kein Gedanke engt sie ein. Mit dem endlosen Blick der Liebenden sehen sie in die blau verschwebende Nacht, deren Sterne sich neigen bis auf den Rücken des Waldes. Wortlos gehen sie weiter. Weit hinter ihnen auf der Wiese lacht und johlt das Zelt. Ihre Schritte berühren gleichmäßig den Boden, und der Junge führt Irene, damit sie nicht stolpere.
Schweigen, nichts als Schweigen, weich und zart wie der Nebel dort zwischen den Stämmen. Sie setzen sich auf eine Bank. Tiere huschen davon. Manchmal fällt ein Blatt hart auf den Boden. Hans bewegt sich nicht. Er spürt Irene neben sich atmen, und seine Hand, die streichelt sie plötzlich, und jetzt küsst sie ihn ganz zart auf den Puls. „Du?" fragt er, „ist es auch wahr?" Sie antwortet nicht. Sie dehnt sich nur. Ihr warmer Mund berührt sein Ohr. Er merkt, wie sie nickt. Und wieder ist das Schweigen um sie. Mag die Musik in dem Zelt so laut plärren, wie sie will. Jetzt halten sie sich an den Händen. Ganz fest haben sie die Finger ineinandergelegt. Genau so saßen sie gestern, als Irene zum ersten Mal davon sprach. „Wann?" sagt Hans, und es ist ihm, als frage er nicht Irene, sondern gerade hinaus, dort in das Land, das er nicht sieht.
„Im April", antwortet das Mädchen, „aber vielleicht auch schon im März." Sonst sprechen sie nichts mehr. Vor ihnen in der Dunkelheit weht der Wind, und auf den Wellen der Zeit treiben die Monate wie kleine, fliehende Lichter.

Es ist zwölf Uhr in der Nacht. Laut und dröhnend bricht der Gesang aus dem Zelt. Der Wein nässt den Boden. Der Ochse ist verzehrt. Jetzt dampfen Würste in großen Schüsseln, und Brotlaibe werden wie Bälle über die Tische geworfen. Der Odenwaldverein ist kollektiv betrunken. Immer wieder singt er seine Vereinshymne, die Vater Allwohn gedichtet hat.

Ei, wie grün sind deine Berge,
Ei, wie lieblich ist das Tal,
In dem Land der guten Zwerge
Möcht ich wandern allzumal...


Die Bauern brüllen dazwischen. Sie wissen, was es mit den grünen Bergen und dem lieblichen Tal auf sich hat. Aber da kam das Bier, blondes, schäumendes Würzburger Bier in irdenen Krügen. Der Gesang ging unter in dem allgemeinen Jubel, hell sprang die Musik dazwischen: „Heut gehn wir gar net mehr, gar net mehr heim..."
Bäuerle saß an Schraders Tisch. Er spürte den Wein, und die laute Freude der Menschen im Zelt stimmte ihn froh. Schrader hatte zwar wieder einen seiner Anfälle von Traurigkeit. Es war eine höfliche, unaggressive Trauer, aber dafür kicherte der Kommerzienrat Aschaffenburg immer so ulkig vor sich hin, dass ihm das rötliche Fleisch an den Bäckchen wackelte. „So ein Volksfest", sagte er zu Bäuerle fast zärtlich, „so ein Volksfest ist doch das Lustigste auf der Welt." Da werden durch ein Ziegengespann zwei neue Bierfässer angefahren, und oben auf der Bühne ist plötzlich Gott Gambrinus zu sehen, Rettiche und Rüben umkränzen seinen Kopf, und er hebt den Hopfenstab und ruft: „Mir gehört jetzt die Stunde!" Ein Brausen, ein riesenhaftes Lachen ist die Antwort, und die Männer hängen sich Wurstpaare um die Ohren und tanzen so zwischen den Tischen und auf dem Podium herum, jauchzend, als begänne jetzt erst das richtige Fest. Kommerzienrat Aschaffenburg ist hingerissen, Bier trinkt er zwar nicht, aber Wein, Wein, drei Gläser, denken Sie. Und der Vater Allwohn, der trinkt ihm zu, und als der Kommerzienrat „Stimmung!" sagt, da lacht der Alte und ruft: „Na, du armes Jüdchen..." Es ist herrlich. Seit Jahren ist der Kommerzienrat wieder einmal so recht unter dem Volk. Und er hat gar keine Angst. Nein, wo der Bäuerle sitzt, da gibt's keinen Hass. Er trinkt, und er denkt, so drei Gläschen, und wupp sind die Sorgen vorbei. Morgen wird er seinen Buchhalter beauftragen, Wein zu bestellen. Denn der Kommerzienrat hat nur Blutorangenlikör zu Hause im Wandschrank, für den Fall, dass jemand einmal etwas Scharfes will.
„Trink! Trink! Brüderlein trink! Lass doch die Sorgen zu Haus..."
„Ja, ja!" ruft Aschaffenburg da dem Bäuerle ins Ohr, „weg mit den Sorgen, weg mit der Tristesse!" Und er wiegt seinen schweren Oberkörper in dem Takt der Musik, und der Wein vor ihm im Glas, der schaukelt mit.
Bäuerle sieht über den Tisch. Was ist das nur? Das Zelt wird immer voller. Seh ich doppelt? Aber da kommen immer mehr Leute. In Gruppen. Ledergamaschen haben sie an. Wie? Tanzen nicht, singen nicht, drücken sich da an der Zeltwand herum. „Henrici, he!" Der kommt und macht ein saures Gesicht. „Mulmig", sagt er. Johann Kaspar betrachtet genau den Saal. Es wird getanzt, getrunken, gelacht und gegrölt wie vorher. Aber plötzlich ist da etwas anderes. Das lauert wie der Frost hinter dem Nebel. Bäuerle sieht sich um. Da steht der Vater Allwohn auf dem Tisch, hat seinen Spazierstock über den linken, gebogenen Arm gelegt und fiedelt sich eins. Da liegt der Aschaffenburg im Stuhl. Halb geschlossen sind seine Augen. Er singt. Was singt er? „... lass doch die Sorgen zu Haus..." „Weg mit den Gespenstern", sagt Bäuerle, und er gießt Henrici ein Glas voll. Der Verwalter trinkt, die Paare schieben sich durch das Zelt, hemdsärmelig sitzt die Musik auf dem Podium und bläst drauflos.
Da, was ist das? Sie verlassen die Tanzmelodie, sie gehen über in ein anderes Lied. Deutscher, deutscher, deutscher Rhein, du sollst immer meine Freude sein. Und dann kam ein Paukenschlag, die Paare stocken. Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall... Bäuerle springt auf. Wie eine Mauer stehen die Menschen im Zelt. Sie singen das Lied. Und was ist das? Sie heben die Hände.
Der erste Vers ist verklungen, als plötzlich Vater Allwohn auf den Tisch springt. Die Arme hat er gehoben wie ein Prophet. „Und ich dulde das nicht!" brüllt er, „wir feiern hier ein deutsches Fest, und ein Jud sitzt am Tisch. Ein Jud!"
Er deutet auf Aschaffenburg, der fassungslos in die veränderte Welt starrt.
„Sind Sie verrückt?" schreit Johann Kaspar und fasst den Vater Allwohn am Bein. Der aber legt die Hände zu einem Trichter. „Juden rrauss!" schreit er. „Juden rraauussss!"
Und sein Ruf fängt sich im Zelt. Er wächst zum Orkan. „Juden raus!" Bäuerle ist auf die Bühne gesprungen. „Ruhe!" schreit er. Aber die schreiende Masse hört nicht auf ihn. Wie ein antiker Chor setzt der Odenwaldverein einen Fuß vor und ruft: „Juden raus!" Mitten zwischen den Tischen stehen die jungen Leute. „Deutschland erwache!" schreien sie. Bäuerle wird es für eine Sekunde dunkel vor den Augen. Er hört Henrici hinter sich etwas von abgekarteter Demonstration reden. Dann wird er plötzlich ganz nüchtern. Er sieht Schrader und Aschaffenburg nach dem Ausgang gehen. „Sie bleiben hier!" ruft Johann Kaspar. Aber schon sind sie in der Nacht. Ein Gelächter folgt ihnen. Mitten im Zelt steht Dern. Um ihn sind die jungen Leute. „Wer tut Ihnen denn etwas?" ruft der Postsekretär zu Bäuerle, „warum regen Sie sich denn so auf?" Aber Johann Kaspar antwortet ihm nicht. Er geht zur Musik. „Einpacken!" sagt er. Dann tritt er an die Rampe. „Schluss!" ruft er, „Schluss mit dem Fest!"
Da lacht Dern. Es ist ein starkes, lautes Lachen. Und die SA.-Leute um ihn lachen mit, und bald ist es das ganze Zelt, das lacht. Dern springt auf die Bühne. Ja, Schluss, lieber Bäuerle, der geigt dir etwas. Da steht er, und alle sehen an ihm empor, als hätte er Manna in den Händen.
„Wer macht den Mittelstand kaputt?" ruft Dern. „Die Juden!" antwortet's im Chor. „Wer bestiehlt den Bauern?" „Die Juden!"
„Wer nimmt dem Arbeiter sein Vaterland?" „Die Juden!"
„Wer verdirbt unsere Rasse?" „Der Jude!"
Gewaltig ist der Schrei. Allein steht Bäuerle neben Dern. Er hat seine Fingernägel ins Tannengeländer gepresst. Das genügt ihnen also, denkt er, davon können die leben? Und plötzlich bricht er los, der Gesang. Die Musik fällt ein. Ja, die Musik spielt mit. Alle im Zelt heben die Hände. Und aus vierhundert Kehlen dringt es herauf: „Die Straße frei den braunen Bataillonen, SA. marschiert in sichrem, festem Schritt..."
Still verlässt Johann Kaspar die Bühne. Mitten durch den Gesang geht er hindurch, wie durch ein Meer. Er sieht die fiebernden Gesichter. Und es ist ihm, als schlage eine Blutwelle hoch hinauf bis zu den Streben des Zeltdachs.
Auf der Treppe des Gutshauses steht Fräulein Degerloch. Sie hat die Hände über den Leib gefaltet. „Ach wie ergreifend", sagt sie zu Bäuerle, der, von Henrici gefolgt, wortlos die Halle betritt. In den Sesseln sitzen Schrader und Aschaffenburg. Der Kommerzienrat stürzt auf Bäuerle zu. „So etwas", ruft er, „dieser Vater Allwohn. Vor fünf Jahren noch hab ich ihm Geld gegeben, damit er seine Odenwaldsagen drucken lassen kann. Und jetzt..." Der Mann weint. Er hält sich an Bäuerle fest. „Entschuldigen Sie", ruft er, „entschuldigen Sie die Störung durch meine Person." Johann Kaspar geht schweigsam auf und ab. Was liegt ihm an Allwohn. An Deutschland liegt ihm. An dieser Barbarei dort im Zelt. An dem Verrat, den sie dort begingen. An dem Wahnsinn, unter dem sie aufblühen wie Arsenikfresser. „Nein!" schreit er plötzlich und stampft mit dem Fuß auf, als wolle er die Toten zu Hilfe rufen, „nein!" Dann horcht er.
„Siegreich woli'n wir Frankreich schlagen...", dröhnt es aus dem Zelt. Da erhebt sich der Verwalter. Er geht zum Pumpwerk und löscht das Licht auf Weißenfels.

„Es ist dunkel", sagte Irene, „hast du den Mond ausgeblasen?" Hans war aufgesprungen. Der Gesang, den er gehört hatte, brach ab. Und dann kam Geschrei, Fluchen, Kommandos und plötzlich wieder Musik. Das blies durch die Nacht. Das schmetterte durch den Mondschein. Und jetzt stand es vor dem Hof, und dahinter war es schwarz von Menschen. Hans und Irene liefen bergab. Als sie in die Menge kamen, sahen sie Dern auf einem Wagen stehen. Er hatte den Mantel abgeworfen. Offen stand er da in seiner Uniform.
„Volksgenossen!" rief er, „ja, es war eine abgekartete Demonstration. Ja, auch die Musik wusste Bescheid, und der Parteigenosse Allwohn hat es über sich gebracht, so lange mit dem Juden am Tisch zu sitzen, bis wir das Zeichen gaben. Nennt das unhöflich, nennt das taktlos. Wir lachen nur. Wir sind zu allem bereit, wenn es Deutschland gilt. Und wir dulden kein Fest mehr in diesem Land, das nicht auch Kampf ist. Kampf der jüdischen Pest! Kampf dem jüdischen Staat! Kampf bis aufs Messer!" Hans hielt Irene fest. Sie zitterte nicht. „Wo ist Vater", flüsterte sie dauernd, „wo ist Vater?" Da geschah es, dass sich das Tor des Herrenhauses öffnete, dass das Licht plötzlich wieder aufflammte und alle sich sahen. Johann Kaspar ging über den Hof. Ruhig sah er den Menschen entgegen. Er stieg auf keinen Wagen, er brauchte keine Erhöhung. Allein stand er da, und seine Stimme war ohne jede Erregung, als er sagte: „Ich verlange von dem Postsekretär Dern, dass er sofort Weißenfels verlässt. Wenn er den Hass predigen will, so gibt es in Siebenwasser Säle genug. Auf meinem Boden ist kein Platz für diese Sprache!"
So einfach die Worte waren, sie wirkten. Ruhig, fast höflich, stand Bäuerle unter dem Portal. Traurig blickte er auf die Menschen. Da flatterten noch die Bänder der Mädchen im Nachtwind, und auf den Gesichtern, die sich ihm zuwandten, leuchtete noch ein Rest der Freude.
Ob ihn der Herr Postsekretär verstanden habe? „Ja", schrie Dern, „ich habe Sie verstanden. Aber dieser Boden, auf dem wir hier stehen, ist nicht Ihr Boden. Dieser Boden ist Deutschland!" Da ging Bäuerle einige Schritte vor. Ja, dieser Boden sei Deutschland. Und er habe auch gar nicht die Absicht, ihn aufzufressen. Wenn aber der Herr Postsekretär glaube, er könne bestimmen, was Deutschland sei, so müsse er leider die Unhöflichkeit besitzen und ihn einen gefährlichen Narren nennen. Einen Augenblick war Stille. Dann sprang Dern vom Wagen herab. Er wirkte plötzlich klein, wie er auf Johann Kaspar zuging. Er schlug sich, wie zur Ermunterung, mit der Reitpeitsche auf die Gamaschen. In seinem roten Gesicht waren weiße Flecken. Einige Meter entfernt standen sich die Männer gegenüber. Es war, als scheue jeder des anderen Geruch. Sie maßen sich mit den Blicken. „Judenknecht!" zischte Dern. „Sonst fällt Ihnen nichts ein?" antwortete
Bäuerle höflich, mit einer leichten Verbeugung. „Blutsverräter!"
Der Postsekretär schrie es in die Nacht, die sich immer stärker bewölkte. Und hinter ihm antwortete es im Chor. „Judenknecht! Volksverräter!" Johann Kaspar betrachtete die Menschen aus Siebenwasser, er betrachtete die Bauern und vor allem die jungen Burschen, deren Mäuler auf- und zuklappten wie Automaten. Deswegen war er also nach Deutschland gekommen, deshalb hatte er die Heimat gesucht, damit ihn der Bluthass anschrie, das scharlachrote Tier des Untergangs? Da stand Dern und brüllte ihm „Volksverräter" ins Gesicht, weil er sich weigerte, dem Hass zu verfallen. Da stießen sie ihn aus, aus ihrer Gemeinschaft, weil er ein anderes Deutschland im Herzen trug als den Tanz um das völkische Kalb. Aber es waren nicht Zorn, nicht Wut, nicht Empörung über den Abfall, die ihn erfüllten, es war Trauer, eine riesengroße, alles überschattende Trauer, die sich über ihn senkte. Still hob er die Hand. Da stand er im Mondlicht, der Johann Kaspar, und die Wolken schossen wie Dämonen über den Himmel, und vor ihm waren diese Gesichter, von Hass und Besessenheit gefleckt. „So sei ich denn ein Verräter", sagte Bäuerle, und seine Stimme war ohne Groll, „werft nur alles hinweg, was den Menschen erhöht! Reißt nur die Liebe aus eurem Herzen! Verschreibt euch nur dem Blut! Aber ich sage euch: wer sich dem Blut verschreibt, geht darin unter. Ja..." Jetzt hob sich seine Stimme. Jetzt wurde sie hart, drohend — ein beschwörender Ruf. „Ja, es ist ein ganz besonderer Saft. Mit dem
Teufel unterschreibt man Verträge mit Blut. Oh, ihr Männer und Frauen, spürt ihr's denn nicht, wie er euch an den Haaren hat? Wie er euch Stärke, Kraft, Reichtum und alle Schätze der Welt vorgaukelt, wenn ihr die menschliche Würde verratet? Oh, ich kenne ihn! Er ist schlauer und teuflischer als in euren Märchen. Ich..."
„Schluss!" schrie da Dern, „Schluss mit der Altweiberpredigt!"
Er trat auf Bäuerle zu. „Dummer Pfaff", lachte er. Er hob die Peitsche.
Da aber sprang aus der Menge ein Schrei. Mitten über den Hof humpelte Kilian Kern. Dumpf klang das Holzbein auf dem Boden. Dumpf brüllte er auf, als er den Stecken hob. Pfeifend traf der Schlag mitten in Derns Gesicht.
Hans wusste nicht, wie er plötzlich in die tobende Menge geraten war. Er sah Irene über den Hof laufen. Er sah, wie sie den Vater umarmte. Dann war er plötzlich mitten drinnen in der Körperwoge, in dem rasenden Wirbel der Glieder. Er hieb um sich. Er hörte Henrici neben sich. Sie rissen die Körper wie Säcke aus dem kämpfenden Klumpen. Da lag er, unten im wütenden Gekreiß. Er kroch, er schnappte nach Luft, er blutete. Hans packte ihn, er schleifte ihn über den Boden, er riss ihn hoch, er warf ihn über die Schulter, und während die Knechte rasselnd das Tor schlossen und das Geschrei der Menge durch die Nacht tobte, trug er Kilian Kern hinauf in die Stube, neben das Bad, wo die Verbandwatte war und das Kuvert mit dem Leukoplast.

 
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